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Der packende Krimi von Bestsellerautor Jo Nesbø: spannend, überraschend und spektakulär! »Weltweit einer der besten Kriminalautoren.« Daily Express Zwei Brüder, eine Stadt – nur einer kann hier König sein! Das kleine Os im Norden Norwegens ist ein Naturparadies. Der Tourismus boomt. Die Brüder Carl und Roy planen ein Wellness-Hotel und einen Vergnügungspark. Da droht der Bau eines Tunnels den kleinen Ort von den Touristenströmen abzuschneiden. Der drohende Ruin lässt alle die Messer wetzen. Carl und Roy versuchen zu retten, was zu retten ist. Doch als die Dämonen der Vergangenheit ins Spiel kommen und Fragen nach dem Tod ihrer Eltern aufkommen, ist schnell klar, gemeinsam werden sie nicht gewinnen: nur einer kann hier König sein. *** Fans von Jussi Adler Olsen und Hjorth & Rosenfeldt werden Jo Nesbø lieben! Dieser Kriminalroman wird Sie in den Bann ziehen und Ihnen den Schlaf rauben! ***
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Der König
JO NESBØ, 1960 geboren, ist Ökonom, Schriftsteller und Musiker. Er gehört zu den renommiertesten und erfolgreichsten Krimiautoren weltweit. Jo Nesbø lebt in Oslo.
GÜNTHER FRAUENLOB, Jahrgang 1965, übersetzt aus dem Norwegischen und Dänischen, u. a. Lars Mytting, Gard Sveen und Trude Teige. Er lebt in der Nähe von Freiburg.
Ein neuer Nesbø - ein neuer Bestseller!
Das kleine Os im Norden Norwegens ist ein Naturparadies. Der Tourismus boomt. Die Brüder Carl und Roy planen ein Wellness-Hotel und einen Vergnügungspark. Da droht der Bau eines Tunnels den kleinen Ort von den Touristenströmen abzuschneiden. Der sich ankündigende wirtschaftliche Niedergang lässt alle die Messer wetzen. Carl und Roy versuchen zu retten, was zu retten ist. Doch als die Dämonen der Vergangenheit ins Spiel kommen und Fragen nach dem Tod ihrer Eltern aufkommen, ist schnell klar, gemeinsam werden sie nicht gewinnen: nur einer kann hier König sein.
Jo Nesbø
Kriminalroman (Ihr Königreich 2)
Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob
Ullstein
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Die Originalausgabe erschien 2024unter dem Titel Kongen av Osbei Aschehoug, Oslo.
ISBN 978-3-8437-3303-8
© 2024 by Jo Nesbø© der deutschsprachigen Ausgabe2024 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinPublished by Agreement with Salomonsson AgencyWir behalten uns die Nutzung unserer Inhaltefür Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Alle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenUmschlagmotiv: GettyImages/© Patty Lagera,arcangel/Collaboration JS, GettyImages/duncan1890Autorenfoto: © Linda Bournane Engelberth | VII | Redux | laifE-Book powered by pepyrus
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Impressum
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Cover
Titelseite
Inhalt
1
Jeder hat eine Achillesferse. Das hat Papa mir schon eingetrichtert, als er mir das Boxen beigebracht hat. Ich war kleiner als die anderen Jungs, er aber hat mir gezeigt, dass selbst der Furcht einflößendste Gegner eine Lücke in seiner Deckung hat, eine ungeschützte Stelle, und immer wieder zu denselben Fehlern neigt. Und dass es nicht ausreicht, diese Stelle zu finden, sondern man kalt genug sein muss, diese Schwachstelle, ohne zu zögern, auszunutzen. Und damit sind wir auch schon bei meiner Schwachstelle. Mein Herz schlägt für solche wie mich, für Menschen mit denselben Schwächen. Mit der Zeit habe ich aber viel dazugelernt, und mein Herz ist kälter geworden. Wie ein erkalteter, längst verloschener Vulkan. Der letzte, finale Ausbruch liegt inzwischen acht Jahre zurück. Aber auch schon da war mein Herz kalt. So kalt, dass es mich zum Mörder hat werden lassen.
Genau diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich auf der Treppe vor dem Einfamilienhaus mit Garage und herbstlich goldenem Apfelgarten in Oslo-Kjelsås stand. Ich war ein Mörder.
Es war Samstagabend, kurz vor acht, und ich hatte gerade auf den Klingelknopf gedrückt. Darunter hing ein kleines, herzförmiges Keramikschild mit der Aufschrift ›Hier wohnt die Familie Halden‹, ergänzt durch einen Smiley.
Ich weiß nicht, ob ich an mich als Mörder dachte, weil ich schon in diesem Moment ein schlechtes Gewissen hatte oder weil ich mir ins Gedächtnis rufen wollte, dass ich diese Seite in mir habe und schon schlimmere Sachen gemacht hatte.
Mein Herz schlug schneller, als ich drinnen Schritte hörte. Immer mit der Ruhe. Scheiß drauf und bring es hinter dich.
Die Tür ging auf.
»Guten Abend?«
Der Mann war größer, deutlich größer als ich mit meinen 175 Zentimetern. Schlank, fast dünn. Graue Haare, junges Gesicht. Er war 41 Jahre alt, das hatte ich vorher gecheckt. Hinter ihm im Flur hingen zwei Matschanzüge, darunter Schuhe in allen Größen, das übliche organisierte Chaos von Familien mit kleinen Kindern. Laut Grundbuchauszug, den ich im Internet eingesehen hatte, gehörte ihnen das Haus seit vier Jahren. Ich tippte darauf, dass Bent Haldens Frau auf die Idee mit dem Eigenheim gekommen war, als sie mit dem zweiten Kind schwanger gewesen war, weil sie bald mehr Platz brauchten. So was in der Art war jedenfalls ihrem Insta-Konto zu entnehmen. Während er vermutlich lieber ein Haus etwas weiter oben am Hang und damit näher an den Joggingstrecken und Skigebieten gehabt hätte. Bei Google tauchte sein Name auf diversen Teilnehmerlisten von Ski- und Orientierungslaufwettbewerben auf. Die letzte Teilnahme lag inzwischen ein paar Jahre zurück, vermutlich fehlte ihm die Zeit zum Trainieren. Zwei Kinder sind nämlich mehr als doppelt so viel wie eins. Vielleicht war auch die Firma, die er gemeinsam mit Jon Fuhr gegründet hatte, der Grund – Selbstständigkeit hat ihren Preis. Natürlich waren das alles nur Vermutungen, ich war mir aber ziemlich sicher, dass ich recht hatte. Die Firma hieß GeoData und hatte den Auftrag, die geologischen Gegebenheiten eines möglichen Todde-Tunnels zu analysieren, durch den die neue Trasse des Riksveis verlaufen sollte, der heute noch durch Os führte. Die immer schon durch Os geführt hatte, auch schon lange bevor die Straße 1931 zum Riksvei erklärt worden war.
Ich räusperte mich. »Roy Opgard. Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern.« Ich versuchte, mein joviales, vertrauenswürdiges Bauer-in-der-Stadt-Gesicht aufzusetzen. Nicht gerade meine Spezialität, vermutlich sah ich noch immer aus wie Roy. Und damit etwas grüblerisch, verschlossen, reserviert. Zu meinem Glück scheine ich damit aber zu dem Typ Mensch zu gehören, dem die Leute in diesem Land vertrauen. Vermutlich glauben wir wirklich, dass es einen Zusammenhang zwischen Schüchternheit, sozialen Hemmungen und Ehrlichkeit gibt. Nun, ich vertraue eigentlich auch darauf, also lassen wir das.
Bent stieß ein lang gezogenes »Aaah« aus, ein Zwischending zwischen »ja« und »keine Ahnung«.
»Ich habe Ihr Auto repariert, als Sie für einen Auftrag in Os waren«, half ich ihm.
Bent machte mit dem Zeigefinger eine Art Peitschenschlag. »Natürlich! Gute Arbeit haben Sie da geleistet.« Seine Stirn zog sich besorgt in Falten. »Habe ich etwa die Rechnung nicht bezahlt?«
»Doch, doch.« Ich versuchte mich an einem Lachen. »Sorry, ich hätte vorher anrufen sollen, aber bei uns auf dem Land ist es üblich, einfach so vorbeizukommen und an der Tür zu klingeln. Ich war in Polen, bin eben erst gelandet, und als ich in die Stadt kam, ist mir wieder eingefallen, dass ich noch so ein Teil von Ihnen im Handschuhfach habe. Das hier.«
Ich hielt es ihm vor die Nase und sah, dass Bent, wie erwartet, nicht die geringste Ahnung hatte, um was es sich handeln könnte. »Es ist mir erst aufgefallen, nachdem Sie den Wagen abgeholt haben. Ich hatte damals dummerweise vergessen, es wieder einzusetzen. Sie merken beim Fahren nichts davon, es ist aber besser, wenn es da ist. Wo steht Ihr Wagen?«
»Das Auto? Jetzt? Kann ich das nicht selbst montieren? Was ist das eigentlich für ein Ding?«
»Und wie wollen Sie es dann montieren?«
Bent sah mich lächelnd an und schüttelte den Kopf. »Da sagen Sie was.«
»Sie haben mich für eine Arbeit bezahlt, die ich ganz offensichtlich nicht gründlich ausgeführt habe. Es dauert nur fünf Minuten. Wo …?«
»In der Garage«, sagte Bent, schlüpfte aus den Hausschuhen, nahm den Schlüssel des Audis vom Haken und zog sich Joggingschuhe an. »Camilla! Ich bin mal kurz in der Garage!«
Die Antwort kam irgendwo aus dem Haus. »Aber Sigurd muss jetzt ins Bett gebracht werden.«
»Fang schon mal an. Ich übernehme dann das Lesen.«
»Haben Sie Kinder?«, fragte Bent über das Knirschen des Kieses auf dem Weg zu der großen weißen Garage hinweg. Ich war auf die Frage nicht vorbereitet und schüttelte den Kopf, schob krampfhaft den Gedanken beiseite, dass sie jetzt sieben Jahre alt gewesen wäre. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, dass es ein Mädchen geworden wäre, irgendwie glaube ich aber immer mehr daran. Ich schluckte. Der Kloß in meinem Hals ist mit den Jahren etwas kleiner geworden, weigert sich jedoch, ganz zu verschwinden.
»Sie betreiben also diese Autowerkstatt in Os?«, fragte Bent in freundlichem Ton.
»Nein, die ist längst geschlossen. Aber ich bin ausgebildeter Automechaniker und kümmere mich hin und wieder um ein paar Autos. Eigentlich mehr zum Spaß. Ich betreibe die Tankstelle neben der alten Werkstatt.«
Vor der Garage hob Bent den Autoschlüssel an. Das Garagentor öffnete sich automatisch. Es war eines dieser wirklich teuren Modelle. Heute hätte Bent sicher eine andere Wahl getroffen.
»Ja, jetzt erinnere ich mich. Mir hat jemand im Ort den Tipp gegeben, mich an Sie zu wenden. Sie sind der Bruder dieses … dieses …«
»Carl Opgard ist mein Bruder«, sagte ich.
»Ja.« Bent lachte, als wir in die Garage gingen. »Der König von Os.«
Mir entging nicht, dass ihm noch im selben Moment aufging, wie herablassend das klang. Als wäre Os ein kleines Scheißkaff, in dem Carl wie irgendein komischer König herumstolzierte. Der König auf dem Misthaufen.
»Ich … meinte das nicht so … mir ist nur, als ich da war, aufgefallen, dass ihm fast der ganze Ort gehört.«
»Ihm gehört ein Großteil von Os Spa. Schließen Sie das Auto auf?«
»Ja, aber ist man dann nicht auch König von Os?«
Ich setzte mich auf den Fahrersitz, und Bent schob sich neben mich. Ich nahm einen Schraubenzieher, löste die Verkleidung unter dem Lenkrad und begann zu arbeiten. Bent sah mir mit gespieltem Interesse zu.
»Wie sieht es denn aus?«, fragte ich, während ich die Kabel hin und her schob. »Aus Ihrem vorläufigen Bericht entnehme ich, dass Sie das Gestein für den Tunnelbau für geeignet halten?«
»Das ist richtig, ja.«
»Hm. Und wie sicher sind Sie sich?«
»Ziemlich sicher.«
»Kann man das bei den Gesteinsschichten, die man gar nicht sieht, denn sein?«
»Schon. Aber natürlich gibt es bei der Auswertung seismischer Daten immer eine gewisse Unsicherheit.«
»Und Sie – oder besser gesagt Ihre Firma, nehmen diese Auswertung vor und ziehen die entsprechenden Schlüsse daraus?«
»Ja. Mein Partner und ich.«
»Jon Fuhr.«
»Ja, ja. Wir sind die geologischen Sachverständigen.«
»Ihnen gehören sechzig Prozent, ihm vierzig. Was machen Sie, wenn Sie sich mal nicht einig sind?«
»Ui, Sie wissen aber viel über uns. Woher …?«
»Ach, dafür muss man nur einen Blick in das Firmenregister in Brønnøysund werfen. Ich wollte neulich die Bilanzen einer amerikanischen Firma überprüfen, die Achterbahnen herstellt. Nicht so leicht, das kann ich Ihnen sagen. Dabei ist mir wieder klar geworden, wie selbstverständlich für uns hier in Norwegen die Transparenz ist. In unserem Land ist Vertrauen dermaßen grundlegend, dass ein Amerikaner das sicher als vollkommen naiv bezeichnen würde. Aber vermutlich vertrauen wir einander, weil wir immer alles über den anderen wissen. Genau wie auf dem Dorf. In Os wissen wir alle über jeden Bescheid. Wenigstens fast. Das heißt nicht, dass sich alle mögen, wir gehen aber davon aus, dass die Menschen die Wahrheit sagen. Wie die Straßenbaubehörde auf Ihre und Jons Expertise vertrauen wird.«
»Wir haben schließlich ein gutes Renommee.«
»Wirtschaftlich sieht es allerdings weniger gut aus.« Ich hob den Blick und lächelte ihn entschuldigend an. »Immer vorausgesetzt, dass das, was im Brønnøysund-Register vermerkt ist, auch der Wahrheit entspricht.«
Bents Lächeln wirkte etwas verkrampfter. »Die Pandemie war nicht ganz leicht für uns. Was wollen Sie eigentlich?«
Ich konzentrierte mich wieder auf meine Arbeit: »Ich frage mich, wie sicher Sie sich sind, dass dieser Tunnelbau mit dem für die neue Trasse vorhandenen Budget wirklich umgesetzt werden kann. Sagen wir mal: auf einer Skala von eins bis zehn.«
»Tja«, sagte Bent. »Acht. Vielleicht neun, wenn wir von der Annahme ausgehen, dass die Kosten sich nicht mehr als verdoppeln.«
»Warum nicht zehn?«
Statt zu antworten, sah er mich lange an.
Ich hob den Schraubenzieher an. »Was müsste passieren, damit Sie Ihre Meinung ändern?«
»Was wollen Sie … Roy? Das ist doch Ihr Name, oder?«
Ich lächelte. »Tut mir leid, Bent. Die Frage stammt aus einem wissenschaftlichen Lehrbuch über Überredungstechniken. Man versucht mit diesen Fragen, den anderen glauben zu lassen, dass er im Unrecht ist. Das Buch habe ich von meinem Bruder. Der macht das oft.«
»Überreden?«
»Ja. Wenn er seine Projekte verkaufen will. Er ist ziemlich gut darin.«
»Dann sind Sie hier … um mir etwas zu verkaufen?«
»Könnte man so sagen. Dann kann ich mir das ganze Gerede ja sparen …«
»Also?«
»… und Sie stattdessen auf die alte Weise überzeugen. Ich gebe Ihnen und Ihrem Partner zwölf Millionen Kronen, wenn in dem Bericht für die Straßenbaubehörde steht, dass der Tunnel nicht gebaut werden sollte.«
Es wurde still.
»Sie … wollen mich bestechen?«, fragte Bent.
Ich nickte. »Ja, hört sich nicht gut an, trifft die Sache aber ziemlich genau.«
Bent grinste ungläubig. »Und was, um alles in der Welt, lässt Sie glauben, dass das geht?«
»Zuallererst die Art, wie Sie antworten.«
»Häh?«
»Wenn der Gedanke für Sie vollkommen absurd wäre, hätten Sie den Konjunktiv benutzt. Was lässt Sie glauben, dass so etwas gehen KÖNNTE? Das habe ich auch aus dem Buch. Die Wortwahl verrät manchmal, was wir denken, bevor wir uns selbst darüber im Klaren sind.«
Bent schnaubte. »Außerdem?«
»Was?«
»Sie haben ›zuallererst‹ gesagt.«
»Oh ja!« Ich öffnete das Handschuhfach, nahm den Fahrzeugschein heraus und hielt ihn ihm hin. »Ich hab da mal einen Blick drauf geworfen, als ich Ihr Auto repariert habe. Da steht, dass Ihnen der Wagen gar nicht gehört, sondern dass er im Namen der Firma geleast ist. Leasing ist alles andere als wirtschaftlich, das wissen Sie, oder?«
»Na und?«
»Im Handschuhfach lagen auch drei unbezahlte Strafzettel, noch dazu längst überzogen. Mir sagt das, dass Sie und Ihre Firma ein echtes Cashflow-Problem haben, Bent.«
»Und deshalb glauben Sie, dass Sie mich bestechen können? Hören Sie, Roy. Ich würde eher Konkurs anmelden als eine Straftat begehen.«
Er war laut geworden, ich zweifelte aber daran, dass ich ihn in seiner Ehre gekränkt hatte. Er spielte das nur. Ich legte den Kopf zur Seite. »Bleibt die Frage, wie kriminell das denn wirklich ist? Es weiß doch niemand, was in dem Berg ist. Vielleicht ist da eine Wasserader. Oder zu viel Lockermaterial. Acht von zehn, das heißt, dass das Risiko, dass Ihr vorläufiger Bericht falsch ist, zwanzig Prozent beträgt. Das ist nicht nichts, oder? Es geht doch nur darum, die Sache aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten und zu überlegen, ob die Daten nicht auch anders gedeutet werden könnten. Richtig?«
Bent antwortete nicht.
»Natürlich können Sie die Firma dichtmachen und Konkurs anmelden. Bei Ihrer Familie da oben geht das aber nicht.« Ich nickte in Richtung des Hauses. Das Zucken in seinem Augenlid verriet mir, dass ich ihn gefunden hatte. Seinen schwachen Punkt. Die Familie. Genau wie bei mir. Ich verdrängte das Mitgefühl, das sicher bald wieder in mir aufsteigen würde, und bewahrte ein kühles Herz.
»Ich habe auch einen Blick in das andere Register geworfen. Ihr Haus ist bis zum Schornstein mit Krediten belastet. Ebenso das von Ihrem Partner Jon. Vermutlich mussten Sie ein bisschen mehr investieren, als Sie die Firma gegründet haben.«
Bent hockte wie erstarrt da, in seinem Blick machte ich aber so etwas wie ein Nicken aus.
»Und dann kam die Pandemie.« Ich seufzte. »Okay, Ihr Vorteil ist, dass Sie kaum Schwierigkeiten haben werden, Jon zu der Sache zu überreden.«
Bents Augen weiteten sich. »Sie spinnen doch, Jon ist …«
»… wegen Unterschlagung vorbestraft«, fiel ich ihm ins Wort. »Und wegen Körperverletzung.«
Bents Kiefer blieb offen stehen.
»Auch diese Gerichtsurteile sind öffentlich zugänglich«, erklärte ich. »Hat er Ihnen das nicht erzählt? Es waren eigentlich nur Peanuts. Er hat als Student in einer Bar gearbeitet, aber trotzdem, er hat ein halbes Jahr auf Bewährung bekommen. Es steckt also in ihm. Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen, Bent. Den Rest können Sie dann mit ihm aushandeln. Sonderlich schwer sollte das nicht sein.«
Bent schluckte. Senkte den Kopf und starrte auf den Schweller. Ich würde sagen, dass er ziemlich resigniert aussah. Ich weiß aber noch, was Papa immer gesagt hat, wenn er Carl und mir erzählt hat, wie man Wildpferde in Amerika einreitet. Der kritischste Zeitpunkt ist immer der, wenn man glaubt, den Willen des Tieres gebrochen zu haben. Aber die Ruhe ist trügerisch, denn meistens legt das Tier dann noch ein letztes Mal los.
»Auch wenn ich mit der Firma in Konkurs ginge, würde ich schon morgen einen Job als Geologe bekommen, egal wo«, sagte Bent plötzlich mit scharfer Stimme. »Und dabei mehr verdienen als jetzt.«
Er hatte recht, das wusste ich. Ich wusste aber auch, dass es nicht das war, was ihn antrieb. Er wollte selbst etwas aus der Taufe heben, sein eigener Herr sein. Als er gesagt hatte, dass ich diese Autowerkstatt betrieb, war ich kurz davor gewesen, ihn zu korrigieren und zu sagen, dass sie mir gehörte. Aber ich hatte mich zusammengerissen und sogar gesagt, dass ich die Tankstelle betreibe. Besitzen klingt einfach zu pompös, zu prahlerisch. Ich weiß noch, wie Mari, Carls Jugendliebe, mich gefragt hat, warum ich so anders bin und nicht so prahle wie er. Ich hatte ihr damals geantwortet, dass ich mir vermutlich selbst genug bin. Was natürlich Blödsinn war. Was ich bin, reicht mir absolut nicht, und das war schon immer so. In meinem Kopf bin ich nicht mehr als ein Scheißtagelöhner oder Knecht. Ein wortblinder, sozial isolierter Eigenbrötler ohne andere Ausbildung oder Bildung als das, was ich mir in diesem Kaff mühsam eigenhändig erworben habe. Während mein Bruder alles hatte, was ich nicht hatte. Die Schule ist ihm leichtgefallen, die Mädchen sind ihm nur so zugeflogen, ja eigentlich alle. Carl braucht keine Register, um zu wissen, auf welche Knöpfe er drücken muss, er ist das Register.
»Vertrauen ist gut«, sagte ich und drückte die Verkleidung wieder an ihren Platz »Das ist das Beste an unserem Land, viel wertvoller als alles Öl. Die Behörden werden Ihrem Bericht vertrauen. Wie sie dem Wetterbericht geglaubt haben, der besagt hat, dass es in Hurum so und so viele Nebeltage gibt, weshalb sie den Hauptstadtflughafen schließlich nach Gardermoen verlegt haben. Erinnern Sie sich? Das war 1994. In der Wirtschaft hatten sich viele für den Flughafen in Gardermoen ausgesprochen. Doch dann hat dieser Ingenieur – Wiborg – zu meckern begonnen und immer wieder angedeutet, dass die Daten falsch sind. Als er seine Berechnungen dann aber dem Parlament vorlegen sollte, war er plötzlich tot. Selbstmord, hieß es. Auch wenn niemand erklären konnte, wie er es vollkommen allein und splitterfasernackt geschafft haben konnte, durch das doppelte Thermopenfenster seines Hotelzimmers im vierten Stock zu springen.«
Bent blinzelte und blinzelte. Der Typ tat mir wirklich leid. Natürlich. Wie mir die Typen leidgetan hatten, die nach dem Tanz auf dem Festplatz Streit suchten, weil Carl mit ihren Freundinnen geflirtet hatte. Ihre Eifersucht war vollkommen verständlich. In der Regel kamen sie von außerhalb und wussten deshalb nicht, dass Carl einen großen Bruder hatte, der zwar klein war, sie aber trotzdem vertrimmen würde. Und wie. Mir hat das damals keine Freude gemacht, und das macht es mir auch heute nicht. Es gab einfach keine Alternative. Schließlich ging es um die Familie.
Bent atmete langsam aus und starrte durch die Windschutzscheibe auf das Garagentor. Ihm entging sicher nicht, dass er eingesperrt war. Eigentlich dachte ich nicht wirklich an Tod oder Verstümmelung, ich wollte ihm einfach ein paar weitere Argumente für die Diskussion liefern, die er an diesem Abend noch mit sich führen würde. Damit er sich selbst davon überzeugen konnte, dass das hier nichts mit Gier zu tun hatte, nein, nein, sondern er nur auf seine Gesundheit achtete. War er so weit? War meine Arbeit erledigt? Ich hoffte es inständig. Meine letzte Karte wollte ich nämlich wirklich nicht ausspielen. Nicht den Namen seiner Frau und die seiner Kinder erwähnen oder in welchen Kindergarten sie gingen.
Außerdem, brachte man erst mal die Familie ins Spiel, konnte man nie wissen, was passiert.
Ich hielt das Metallteil hoch. »Ui«, sagte ich. »Jetzt habe ich doch wirklich schon wieder vergessen, das Ding zu montieren.«
Kann jeder zum Mörder werden? Oder haben einige – ja, die meisten von uns – eine Art mentale oder moralische Sperre, die sie daran hindert, zu töten? Ich rede nicht davon, jemanden in Notwehr oder im Affekt zu töten, sondern davon, ganz normale, anständige Menschen, wie zum Beispiel Bent Halden, dazu zu bringen, einen Mitmenschen kaltblütig und ohne ein anderes Motiv, als das eigene Leben etwas besser oder leichter zu machen, zu töten. Solche Dinge gingen mir durch den Kopf, während ich mich mit meinem Volvo V60 durch die Dunkelheit pflügte. Es war spätabends, sodass ich auf der Strecke von Oslo nach Os wie immer etwas schneller vorankam. Kurz nach Mitternacht hielt ich auf der Anhöhe am Straßenrand, von der aus man tagsüber das Ortsschild und den Teil von Os sieht, der am Budalsvannet liegt.
Os ist eine kleine Gemeinde mit etwa tausend Einwohnern im Ortskern und weiteren zweitausend im Umland. Sie liegt 600 Meter über dem Meer, die Sommer sind kurz, aber warm und trocken, während die Winter kalt und hart sein können. Der Ortskern und die meisten Höfe – wir befinden uns hier im Bauernland – liegen geschützt unten im Tal, während andere – wie Opgard – oben am Rand der gebirgigen Hochfläche zu finden sind, mit viel Weideland, aber wenig bebaubarem Boden. Dem Klischee nach wohnen hier zähe, schweigsame Menschen, die es gelernt haben, in der kargen Gegend zu überleben, und in diesem Klischee steckt verdammt viel Wahrheit. Vielleicht bringen gerade solche Bedingungen Gemeinschaften hervor, die ein verbissener, warmherziger Zusammenhalt und klaustrophobisches Getratsche und Neid charakterisieren.
Die Einkünfte basierten größtenteils auf dem Tourismus, dem Verkauf von Bauland für Sommerhäuser, dem Os Spa und dem Campingplatz, der auch Hütten vermietete. Bevor das Os Spa gebaut wurde und Carl zum König von Os aufstieg, war Willum Willumsen der Herrscher im Ort gewesen. Ihm gehörten der Gebrauchtwagenhandel und die Campinghütten. Offiziell regiert hat natürlich Bürgermeister Aas, der dem Ort als Vertreter der Arbeiterpartei sein Leben lang vorstand, bis er selbst die Entscheidung traf, von seinem Amt zurückzutreten. Wobei er als graue Eminenz dem neuen Bürgermeister noch immer das ein oder andere aus dem Hintergrund einflüstert.
Der Mond stand blass über dem Ottertind, der Himmel war sternenklar. Ich kenne mich mit Sternen nicht sonderlich aus, das ist ein so großes Feld, und sie sind so weit weg. Wäre ich nicht allein gewesen, hätte ich aber eine ganze Menge über Os erzählen können. Ich hätte den Arm ausstrecken und ihr erzählen können, wessen Häuser da im Dunkeln unter uns leuchteten.
Für einen Moment verlor ich die Kontrolle, und plötzlich saß sie wieder neben mir auf dem Beifahrersitz, während unser Kind von der Rückbank aus aufmerksam zuhörte. Und ich erzählte ihnen, dass da, wo das meiste Licht ist, der Dorfplatz liegt und dass das Licht dahinter, ganz oben am Hang, aus dem großen Haus kommt, das Onkel Carl gerade baut.
Dann riss ich mich zusammen und kämpfte mich zurück in die Realität.
Ich war drei Tage weg gewesen und hatte mich schon nach zweien davon zurückgesehnt. Ich weiß nicht, warum. Ich hatte an diesem Ort alles verloren. Vermutlich aber auch alles gewonnen, was ich jemals hatte. Ich hasste Os, und ich liebte es. Kann man mehr von einem Heimatort verlangen?
Ich legte den Gang ein und fuhr weiter. Kam in den Ort, rollte an der Werkstatt und meiner Tankstelle vorbei, dem Haus von Smitt, mit den vom Straßenstaub schmutzigen Fenstern und dem riesigen Plakat, das auf verquere Weise Reklame für den Friseur und das Solarium machte, dass Uneingeweihte unweigerlich glauben mussten, beides würde hier gleichzeitig geschehen.
Hundert Meter dahinter lag das alte Bethaus. Die Farbe blätterte von den weißen Wänden, was aber morgen schon anders sein konnte. Seit meiner Kindheit war das Dorf in unregelmäßigen Abständen von Erweckungswellen ergriffen worden, und mit der neuen Begeisterung für alles Spirituelle waren dann auch die Kollekten für die neuen Anstriche gekommen. Es hatte allerdings nie lange gedauert, bis der Teufel im Ort wieder die Oberhand gewann und das Haus erneut leer stand, während drinnen im Dunkeln noch das Zungenreden und die Bekenntnisse widerhallten. Wie den herumreisenden, immer lächelnden Predigern, die wie aus dem Nichts auftauchten und dann für ein paar Monate im Ort lebten, haftete auch dem Haus etwas Beklemmendes an. Als wäre hinter der Tür unter dem großen Kreuz etwas passiert, worüber niemals gesprochen werden sollte. Neben all den herrlich skandalösen Dingen, über die gesprochen wurde, obwohl sie vermutlich niemals geschehen waren.
Im Zentrum ging ich vom Gas – wenn der kleine Platz denn so genannt werden kann. Ich ließ das Fenster herunter und sah zum Freien Fall hinüber, dem einzigen Ort, an dem man in Os die Samstagabende verbringen konnte. Ich erkannte Eriks zierliche Handschrift auf der Tafel vor der Kneipe DJ ERIK. HAPPY HOUR EVERY HOUR. Der Bass der Musik war bis zum Auto zu hören, die Stimmung war sicher gut und der Laden voll. Als ich Erik Nerell die Kneipe für einen Appel und ein Ei abgekauft habe, habe ich das nicht getan, weil ich mir einbildete, dass man mit einer Kneipe in Os Geld verdienen kann, sondern weil ich mir die Immobilie sichern wollte. Eines Tages – sollte alles nach Plan laufen – würde sie deutlich mehr wert sein als der Preis, den ich Erik gezahlt hatte. Dass er verkaufen musste, ging auf seine eigenen Fehler zurück, er hatte den Laden einfach nicht richtig betrieben. Ein Teil des Deals war, dass Erik weiterhin dort arbeiten konnte, ich zusätzlich als Geschäftsführerin aber Julie anstellte – die mir in der Tankstelle gezeigt hatte, zu was sie in der Lage war, auch wenn ich einmal nicht da war. Sie hatte den Billardtisch rausgeschmissen und stattdessen einen Pizzaofen und eine Espressomaschine gekauft und das Biersortiment um zwanzig internationale Sorten erweitert. Geöffnet war von zehn bis zehn, freitags und samstags von zehn bis eins. Und der Laden lief, er war zwar keine Goldgrube, wertete Os aber auf, sodass auch noch nach fünf was los war, was nicht zu unterschätzende Synergieeffekte haben konnte.
Im Westen des Freien Falls zeichnete sich vor dem Mond die Silhouette des Hauses ab, in das Carl in einem halben Jahr einziehen wollte, wenn es fertig gebaut war. Die Leute nannten es nur den Königshof, und ja, es lag derart herrschaftlich oben am Hang, dass ich unweigerlich an den Springsteen-Song »Mansion On The Hill« denken musste.
Ich bog nach rechts ab und fuhr an Nergard vorbei. Bemerkte – wie nur Leute vom Land es bemerken –, dass Grete Smitts Wagen hinter Simons auf dem Hofplatz parkte. Dann wurde die Straße schmaler und stieg steil an. Vor der Japankurve und der letzten, Geitesvingen genannten Haarnadelkurve, schaltete ich runter. Dann fuhr ich auf den Hofplatz und parkte zwischen der Scheune und dem kleinen Haus neben Carls BMW.
Opgard. Zuhause.
Carl war noch wach. Er trug einen Anzug und saß in Papas altem Schaukelstuhl im Wintergarten und trank ein Bier. Es war Papas Idee gewesen, dass das ansonsten ärmliche Haus, das er hier oben auf dem Hof gebaut hatte, eine amerikanische Porch bekam. Und Mama hatte darauf bestanden, dass die überdachte Terrasse verglast und Wintergarten genannt wurde. Wahrscheinlich sagt das einiges darüber aus, woher die beiden kamen. Sie hatte als Dienstmädchen und Haushälterin für eine Reederfamilie in der Stadt gearbeitet und liebte es, wenn Dinge englische Namen hatten und nach Oberklasse klangen, weshalb sie zu unserem immer nach Stallstiefeln stinkenden Flur auch Halle gesagt hatte. Papa war auf einer Farm in Minnesota aufgewachsen, mit Cadillac, Methodistenkirche und dem Streben nach Glück, und hatte mir und Carl jeweils als zweiten Vornamen den eines Republikaners gegeben. Ich hieß Calvin nach Präsident Calvin Coolidge und Carl Abel, zu Ehren von Abel Parker Upshur, dem Kerl, der die Annektierung von Texas durchgesetzt hatte. Vom Wintergarten aus konnten wir die gesamte Ortschaft überblicken. Das Os Spa lag in unserem Rücken, hinter dem Hügel, es war zu Fuß über die Vidda aber nur eine Viertelstunde entfernt. Mit dem Auto über die steile Straße nach unten und dann über den asphaltierten neuen Weg wieder nach oben zum Hotel dauerte es genauso lange. Ich hatte Carl gefragt, warum er darauf bestand, die Strecke immer mit dem Auto zu fahren. Zu Fuß könne er vielleicht ja auch ein paar der Kilos loswerden, die er mit jedem Jahr zulegte, während ich immer dünner wurde. Seiner Meinung nach musste ein Hotelchef aber standesgemäß zur Arbeit erscheinen, und die zusätzlichen Kilos würden ihm lediglich etwas mehr Würde verleihen.
Ich setzte mich neben Carl, nahm die Schachtel Berry Snus heraus und schob mir ein Beutelchen unter die Unterlippe. Papa hatte mich gelehrt, dass es dorthin gehört und nicht unter die Oberlippe, wie es die Leute hier machten. Außerdem musste es Berry sein, nicht der skandinavische Mist, den die anderen kauften.
»Und?«, fragte Carl.
»Wir werden sehen«, erwiderte ich, nahm die letzte, ungeöffnete Flasche Bier vom Fensterrahmen, zog mein Messer aus der Scheide und öffnete die Flasche. Es schmeckte gut. Ein Bier schmeckt immer gut. Nur der Durst nach mehr unterschied mich von Papa und Carl. Ich war der nüchterne Typ, der als Carls Fahrer auserkoren war, kaum dass ich alt genug zum Fahren gewesen war, also lange vor dem Führerschein. Seit ich sechzehn war, hatte ich Carl und Mari zum Festplatz gefahren, wenn dort etwas los war. Ich hatte gewartet, Cola getrunken, mich geprügelt und sie nach Hause gebracht. Die Sache mit Mari war dann allerdings zu Ende gegangen, nachdem ihre beste Freundin – Grete Smitt – ihr gesteckt hatte, dass Carl und sie etwas miteinander gehabt hatten. Carl war zum Studieren in die USA gegangen und fünfzehn Jahre später mit einer Frau und Plänen für das Os Spa nach Hause gekommen. Das war jetzt etwas mehr als acht Jahre her, und während es seine Frau nicht mehr gab, stand das Hotel in all seiner Pracht da. Eine mit fünf Sternen ausgezeichnete Goldgrube, ein Hochgebirgshotel, der ganze Stolz der Gemeinde und das, wofür Os berühmt war.
»Und, was glaubst du?«, fragte Carl und unterdrückte ein Rülpsen.
Ich zuckte mit den Schultern. »Neunzig Millionen Kronen für eine Achterbahn sind viel.«
»Ich meine den Geologen. Hat er das Angebot angenommen?«
»Keine Ahnung. Ich habe ihm Bedenkzeit gegeben.«
»Oh? Heißt das, er hat Zweifel?«
»Das heißt, dass er moralische Bedenken hat. Zum Glück.«
»Zum Glück?«
»Ja.« Ich trank einen Schluck. »Wenn sich sein Gewissen jetzt schon meldet, dann quält es ihn wenigstens nicht später.«
»Und das ist gut für uns?«
»Das heißt, dass er es nicht hinterher bereut und sich dann umentscheidet, also nachdem er erst einmal Ja gesagt hat. Und weil er Moral hat, versucht er auch gar nicht erst, uns zu täuschen.«
»Manchmal könnte man meinen, du wärest der Klügere von uns beiden«, sagte Carl, setzte die Flasche an und leerte sie.
Es war ein Witz, trotzdem steckte viel Wahrheit darin. Im Allgemeinen galt Carl als der Klügere.
»Wir haben Post vom Amt für Verkehrssicherheit«, sagte er und stand auf. »Bier?« Ich hob meine Flasche an, um ihm zu zeigen, dass ich noch hatte. Er verschwand, und gleich darauf hörte ich die Tür des Kühlschranks.
Das war wieder mal typisch Carl. Er setzte seine Pausen genau, um die Erwartungen zu steigern. Vermutlich funktionierte das, wenn er irgendwelchen Kunden neue Projekte schmackhaft machen wollte, ich war dagegen aber immun, ich starb weder vor Spannung, noch wurde ich ungeduldig oder ärgerlich. Ich hörte ihn die Flasche öffnen, während mein Blick nach draußen zur Geitesvingen ging. Die Kurve lag im Mondlicht. Seit Jahren stritten wir mit dem Amt darüber, wo die öffentliche Straße endete und unser privater Weg begann. Wir vertraten, dass es in der Verantwortung des Amtes lag, an der Außenkante Leitplanken anzubringen, schließlich ging es dort hundert Meter senkrecht in eine schmale Schlucht, die nur widerwillig zurückgab, was sich in sie verirrt hatte, egal ob Ziegen oder Menschen. Und bekam sie Autos zu fassen, gab sie diese gar nicht mehr her.
Ich war fast achtzehn gewesen, Carl noch keine siebzehn, als Papa und Mama umkamen. Wir sahen Papas schwarzen Cadillac DeVille in die Kurve einfahren und in den Abgrund stürzen. Hätte es dort eine Leitplanke gegeben, wäre der Unfall nie passiert. Das wusste auch das Amt. Aber erst nachdem zwei weitere Wagen in der Schlucht verschwunden waren, waren sie zu Kreuze gekrochen und hatten sich zu ihrer Verantwortung bekannt.
Carl kam zurück und setzte sich.
»Sie fangen nach dem Wochenende an.«
»Ui«, sagte ich. »Das sind gute Nachrichten. Wie hast du sie dazu gebracht, so schnell zu kommen?«
»Ich war Carl«, sagte er voller Ernst. »Sie wollen wissen, in welcher Farbe wir die Leitplanke wollen.«
Ich lachte, und wir prosteten uns zu.
»Es gibt aber auch weniger gute Nachrichten, vorher wollen sie nämlich die Autos heben.«
Ich hätte mich fast an meinem Bier verschluckt. »Du machst Witze?«
»Nein. Sie gehen davon aus, dass sie zwei Kranwagen und eine Winde brauchen. Das mit der Winde verstehe ich nicht, aber dir wird das wohl was sagen.«
Ich nickte. Obwohl ich nur die Theorieprüfung zum Automechaniker gemacht habe, verstehe ich, wo welche Kräfte wirken. Außerdem hüpfen die Buchstaben nicht mehr ganz so wild herum, wenn sie zusammen eine Formel bilden.
Carl verstand sich auf Businessfragen. Nachdem er das Abi gemacht und mit Mari gebrochen hatte, hatte Bürgermeister Aas irgendwie dafür gesorgt, dass Carl von einer Vereinigung für ausgewanderte Norweger in Minnesota ein Uni-Stipendium bekam. Danach habe ich nur von ihm gehört, wenn er Geld gebraucht hat. Ganze fünfzehn Jahre habe ich ihn nicht gesehen. Doch nachdem er dann vor etwa acht Jahren aus den USA zurückgekommen ist, ist kaum ein Tag vergangen, an dem ich ihn nicht gesehen habe.
Die Leute wunderten sich vermutlich darüber, dass wir – zwei erwachsene Männer – zusammen auf einem Bergbauernhof wohnten. Alte Geschichten und Gerüchte kursierten wieder. Die meisten handelten von mir. Feiert man an einem Ort wie Os seinen dreißigsten Geburtstag, ohne bis dahin eine Familie gegründet zu haben, machen sich die Leute langsam Gedanken.
Ein Gerücht besagt, dass ich meinen kleinen Bruder missbraucht habe, als er Teenager war. Ja, dass wir, wie auch immer, ein Paar waren. Das Gerücht verstummte nicht einmal, als Carl und Mari zusammenkamen. Es war etwas leiser zu hören, als die Leute die Köpfe zusammensteckten und darüber spekulierten, ob ich als Siebzehnjähriger wirklich etwas mit der Frau von Willum Willumsen hatte. Jedenfalls redete danach niemand mehr über die zwölf Ziegen, die mir ja oben auf Opgard zur Verfügung stünden. Vermutlich dachten sie, dass ich doch nicht so pervers sein konnte, wenn ich etwas mit der Königin von Os, Rita Willumsen, hatte. Und Carl war als Schürzenjäger viel zu berüchtigt, um noch als Schwuler durchzugehen, außerdem hatte er ja auch eine Frau aus Amerika mitgebracht.
Die Leute glaubten so viel und wussten so wenig. Für uns war das in Ordnung. Sagen wir es so: Es war besser, sie zerrissen sich das Maul über Opgard und nahmen das Schlimmste an, denn schlimmer war nur die Wahrheit.
»Entspann dich«, sagte Carl. »Die werden die Wagen doch eh gleich auf den Schrottplatz bringen.«
»Glaubst du wirklich?«, sagte ich. »Du hast von weniger guten Nachrichten gesprochen.«
»Ich dachte mir schon, dass du das nicht gut finden würdest. Für mich ist es in Ordnung, wenn wir diese Autos endlich loswerden. Dann hängt die Sache nicht mehr wie ein Sisophos-Schwert über uns.«
»Sisyphos«, sagte ich. »Und das ist der mit dem Stein. Der mit dem Schwert ist Damokles.«
Carl lachte. »Es war so schräg, als ich nach Hause kam und du plötzlich alles wusstest. Als wärst du irgendwo auf eine Schule gegangen, von der niemand etwas ahnte.«
»Von der Schule wusste wirklich niemand«, sagte ich leise und studierte das Etikett der Flasche.
Carl amüsierte sich. »Stimmt. Aber Rita Willumsen kann dir in der kurzen Zeit doch nicht alles beigebracht haben.«
»Sie hat aber etwas in Gang gesetzt. Außerdem weiß ich wirklich nicht alles, es ist nur so, dass ihr Bauerntrampel so verdammt leicht zu beeindrucken seid.«
»Beeindruckt? Wir kotzen, das hast du doch wohl kapiert?«
Wir lachten wieder. Carl bewegte sich im grünen Bereich, dort ging es ihm gut. In Momenten wie diesen dachte ich, dass es hier einsam werden würde, wenn er erst sein herrschaftliches Haus bezogen hatte. Ich wusste aber nur zu gut, dass sich das alles mit ein paar weiteren Bieren komplett ins Gegenteil verkehren konnte. Dann war er im Papa-Bereich. In der schmerzerfüllten, einsamen Dunkelheit, die die meine gewesen war, die Carl aber – der charmante, sorglose Lebenskünstler, für den ihn alle hielten – immer öfter aufsuchte.
»Verflucht, diese Rita war wirklich ein Geschoss«, sagte Carl und starrte verträumt aus dem Fenster.
»Das ist sie noch immer«, erwiderte ich und trank einen Schluck.
»Ach ja? Läuft da was mit ihr?«
Ich grinste. »Kurt Olsen und sie haben sich letzte Woche verlobt, ich gehe also mal davon aus, dass du vom Campingplatz sprichst.«
»Natürlich.«
»Der Ball liegt noch immer bei ihr, ich habe noch nichts gehört.«
»Sie wird kein besseres Angebot bekommen. Sollte GeoData allerdings einen Bericht vorlegen, aus dem hervorgeht, dass der Tunnel nicht gebaut werden kann, schießt der Preis in die Höhe.«
Ich nickte. Die Immobilienpreise in Os waren schlagartig in den Keller gegangen, als die Pläne für die neue Streckenführung des Riksveis publik geworden waren. Nach dem Bauentscheid für das Os Spa hatten sie wieder etwas angezogen, aber was ein Hotel für eine Gemeinde ohne direkte Verkehrsanbindung bewirken kann, hat seine Grenzen – selbst wenn dort nur etwas mehr als dreitausend Menschen leben. Während die Immobilienpreise in Os auf niedrigem Niveau stagnierten und schließlich noch etwas sanken, stiegen sie im restlichen Land ins Unermessliche. Der norwegische Immobilienmarkt boomte. Kurz gesagt, bekamen die Leute erst mit, dass die Straße auch in Zukunft durch Os verlaufen würde, mussten zwanzig Jahre steigender Immobilienpreise irgendwie nachgeholt werden, und das würde – mehr oder weniger – über Nacht geschehen. Der Campingplatz mit seiner Lage am See nur zweihundert Meter vom Ortszentrum entfernt wäre dann das Filetstück, dessen Preis sich vervielfachen würde. Also ja, es eilte, den Kaufvertrag zu unterschreiben.
Willum Willumsen, Gott hab ihn selig, hatte dem Klischee des gerissenen Gebrauchtwagenhändlers nicht nur entsprochen, sondern es weit übertroffen. Ich habe einmal Papa gefragt, ob es stimmt, was sie in der Schule sagen und ob Willumsen ihn wirklich übers Ohr gehauen hat, als er ihm den alten, heruntergekommenen Cadillac DeVille verkauft hat, aber alles was er sagte, war: »Wir Opgards handeln nicht.« Ich denke, dass in diesem Satz ebenso viel Verbitterung wie Stolz steckte. Und vielleicht ein bisschen Scham.
»Sie wird morgen zum Spiel kommen«, sagte Carl.
»Woher weißt du das?«
»Morgen kommen alle. Wenn wir gewinnen, steigen wir auf. Sieben Spieltage vor Ende der Saison.«
»Wirklich? In welche Liga?«
Carl stöhnte. »Ist ja okay, dass du dich nicht für Fußball interessierst, aber das ist wirklich unsere Mannschaft.«
Eigentlich war das nur zum Teil richtig. Auf Carls Initiative hin war der Klub in eine Aktiengesellschaft umgewandelt worden, von der Os Spa achtzig Prozent der Aktien hielt. Da ich vor einigen Jahren den Großteil meiner Aktien am Hotel an Carl verkauft hatte, war mein Anteil am Klub eher gering, was meinem Interesse entsprach. Carl interessierte sich auch nicht sonderlich für Fußball, er wollte aber um jeden Preis geliebt werden und glaubte fest daran, dass der Weg zum Herzen einer kleinen Gemeinde unweigerlich über den Fußballverein führte. Erst waren wir Sponsoren. Dann gründete Carl die Aktiengesellschaft und sicherte sich die Mehrheit der Anteile, sodass wir ein paar gute Spieler einkaufen und bezahlen konnten, plus einen Trainer. Für einen Klub in der fünften Liga gehörte sich das eigentlich nicht, und die Leute meinten entsprechend auch, dass nur Russen oder irgendwelche Scheichs sich eigene Klubs leisteten. Sie staunten aber nicht schlecht, als der Verein eine nigerianische Sturmspitze verpflichten und den ehemaligen Schlüsselspieler Kurt Olsen als Teilzeittrainer gewinnen konnte. Die Mannschaft stieg in die vierte Liga auf, ohne ein einziges Spiel verloren zu haben. Und wenn ich richtig gerechnet hatte, jetzt also in die dritte.
»Okay, ich komme«, sagte ich. »Noch irgendwas?«
»Ich habe die Firma in Deutschland endlich dazu gebracht, mir diese Küchensonderanfertigung zu bauen, die ich oben im Haus haben will. Und auf dem Steinssetra ist ein Wolf gesehen worden.«
»Wirklich?«
»Keine Ahnung. Simon Nergard hat ihn gesehen.«
Wir lachten. Nergard war unser unmittelbarer Nachbar, obwohl sein Hof weit unter unserem am Fuß des Hangs lag. Er war als Lügenbold bekannt, der viele Gerüchte in die Welt setzte. In diesem Punkt wurde er nur von seiner Geliebten, Grete Smitt, übertroffen, der Chefin des Friseur- und Tratschsalons des Ortes.
»Erik Nerell hat gestern in derselben Gegend aber auch ein gerissenes Schaf gefunden«, sagte Carl. »Er war sich sicher, dass das ein Raubtier war. Von dem Tier war aber noch viel übrig, sodass es vermutlich kein Rudel, sondern nur ein einsamer Wolf ist.«
Ich schüttelte den Kopf. »Hier gibt es seit fünfzig Jahren keine Wölfe mehr. Das war bestimmt bloß ein wildernder Hund. Würde mich nicht wundern, wenn es Simons Rottweiler war und er jetzt nur vor dem Wolf warnt, um seinen Köter zu schützen.«
Carl brummte amüsiert. »Was aber, wenn es wirklich ein Wolf ist? Wäre das für das Wandergebiet eine gute oder schlechte Nachricht?«
»Tja«, erwiderte ich. »Der wird da so oder so nicht lange sein.«
»Du meinst, der zieht weiter?«
»Ich meine, dass er sterben wird. Wölfe leben von großen Beutetieren, und um die zu erlegen, braucht es ein Rudel.«
»So wie wir?«
»In etwa so wie wir, ja«, sagte ich und trank einen Schluck. Ich fühlte mich warm und müde. Es entspannte mich, so mit dem Menschen zusammenzusitzen, den ich am besten kannte, wie eine Erweiterung von mir selbst. Wenn Carl einen Satz begann, wusste ich nach drei Wörtern, wie er enden würde, und das galt sicher auch umgekehrt, weshalb wir in der Regel mit wenigen Worten auskamen. Es war fast wie allein zu sein, man schonte die Stimmbänder und sparte Energie.
»Das war’s?«, fragte ich.
»Ja oder nein. Wir haben eine neue Marketingchefin eingestellt. Eine junge, begabte Frau, die kommt sogar von hier.«
»Ach ja?«
Carl tat es wieder. Er trank langsam und ließ mich warten. Atmete tief durch. Doch statt des Namens folgte ein langer Rülpser.
» Jeeesus, Carl. Heute noch?«
»Sorry. Die Tochter vom Klempner. Moe.«
»Natalie?«
»Du erinnerst dich an sie? Ach ja, da war ja diese Geschichte. Hatte ich fast vergessen.«
Das war natürlich Unsinn, denn Carl hatte es nicht vergessen, es allenfalls verdrängt. Denn »diese Geschichte« hatte ich nur Carl erzählt.
Es war direkt nach Carls Rückkehr gewesen, Natalie Moe war damals auf die weiterführende Schule gegangen, und das dünne, blasse Mädchen mit dem verängstigten Blick war etwas zu oft in der Tankstelle aufgetaucht, um die »Pille danach« zu kaufen. Ich hatte damals Julie, die in der Tankstelle gearbeitet hat und in dieselbe Klasse wie Natalie ging, gefragt, ob Natalie einen Freund hat, dem sie vielleicht Kondome vorschlagen könnte, aber Julie meinte nur, Natalie würde rumvögeln. Ich weiß nicht, aber für mich passte das nicht zusammen. Und eines Tages stand dann ihr Vater da, Klempnermeister Moe, und wollte auch eine dieser »Pillen danach«.
Die Scham in seinem Blick war mir bekannt vorgekommen, und mit einem Mal hatte ich alles verstanden.
Ich habe damals vergeblich versucht, unseren Polizisten, Kurt Olsen, auf die Sache anzusetzen, und die Sache dann schließlich selbst in die Hand genommen. Ich bin zu Moe gefahren, habe ihn halb totgeschlagen und ihm gesagt, dass ich mein Werk vollenden würde, wenn er seine Tochter nicht am nächsten Tag in sicherem Abstand zu ihm auf einer anderen Schule unterbringen würde. Im Gegenzug würde ich den Mund halten. Natalie hat die Schule dann in Notodden abgeschlossen. Ich habe sie dort einmal zufällig in einem Café zusammen mit ein paar Freunden gesehen. Ich habe nicht mit ihr gesprochen, wohl aber bemerkt, dass der verängstigte Gesichtsausdruck weg war.
»Hast du mit den Franzosen geredet?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln. Es gibt gewisse Dinge, über die Carl und ich nicht gerne sprechen.
»Jeden Tag«, sagte Carl. »Unsere Bilanzen und Entwicklungspläne gefallen ihnen, und sie sind so begeistert von den Erweiterungsplänen, dass am Mittwoch zwei Ingenieure kommen, um sich das Ganze genauer anzusehen.«
»Gut«, sagte ich. Der Plan für die Erweiterung des Os Spa war von der Generalversammlung, die lediglich aus Investoren aus unserem Ort bestand, darunter auch ich, zu Beginn recht skeptisch aufgenommen worden. Die Sorgen waren begründet, da niemand wusste, wie sich die Besucherzahlen entwickeln würden, wenn der Riksvei über die neue Trasse führte. Carl hatte sich schließlich aber doch mit seinen Argumenten durchgesetzt. Er meinte, Konsolidierung sei Selbstmord, das Hotel müsse der Grund für einen Umweg über Os sein. Wir sollten offensiv, groß und spektakulär denken. »Wachsen oder sterben«, sagte Carl. »Wir dürfen kein Fünf-Sterne-Boutique-Hotel bleiben. Es ist essenziell, dass die Leute uns auf dem Schirm haben, und dann reicht es nicht, an Qualität zu denken. Auch was die Größe angeht, müssen wir die kritische Masse erreichen. Ich will, dass nicht nur diese Gemeinde, sondern die ganze Provinz stellvertretend für das Os Spa steht. Wenn die Leute Os Spa hören, sollen sie nicht nur an ein Hotel mit warmem Bad denken, sondern an ein ganz besonderes Erlebnis. Und dafür müssen wir investieren, nicht alles verzögern.«
Anschließend war heftig, aber kurz diskutiert worden, ob man über die Emission neuer Aktien externe Investoren einbinden sollte. Schließlich hatte aber die Vernunft gesiegt, denn es gab Grenzen, wie viel Kapital aus Os kommen konnte. Die französische Hotelgruppe Alpin hielt seit der Refinanzierung nach dem Feuer einen Aktienanteil von 15 Prozent – Carl kannte den Geschäftsführer von Alpin aus seiner Zeit in der Immobilienbranche in Toronto. Alpin war also ein Paket angeboten worden, mit dem sie dann 45 Prozent der Aktien halten würden. Die Kontrolle läge also noch immer in unseren Händen hier in Os, während wir das Risiko teilen würden und die erfahrenen Franzosen uns helfen könnten, das Hotel auch international zu bewerben. Sobald man sich über den Aktienpreis einig war, sollte die Transaktion über die Bühne gehen und der Erweiterungsbau beginnen. Es lag natürlich auf der Hand, dass die Franzosen bereit waren, einen wesentlich höheren Preis zu zahlen, sollte GeoData vom Bau des Tunnels abraten.
»Ich geh dann schlafen«, sagte Carl und stand auf.
»Okay, gute Nacht.«
»Gute Nacht. Du siehst so nachdenklich aus.«
Ich nickte. »Weißt du, woran ich gedacht habe, als ich bei Halden geklingelt habe?«
»Dass du dich für die Mannschaft opferst?«
»Ja. In erster Linie dachte ich aber daran, dass ich ein Mörder bin. Dass wir Mörder sind.«
Carl sah mich an und zog eine Augenbraue hoch. »Schlaf gut«, sagte er und ging. Es gibt, wie gesagt, gewisse Themen, die wir meiden.
Ich blieb sitzen und starrte ins Dunkel, während ich oben im Schlafzimmer seine Schritte hörte. Sieben Morde.
Carl und ich hatten zusammen sieben Menschen auf dem Gewissen. Und einen Hund.
Ich leerte meine Flasche.
Nein, es gefiel mir gar nicht, dass die Autowracks gehoben werden sollten.
Am Abend vor meinem Besuch bei Halden und dem Angebot, ihm zwölf Millionen Kronen für einen falschen Bericht zu zahlen, war ich in Polen gewesen. Genauer gesagt in Zator, einer Stadt mit rund viertausend Einwohnern im Süden des Landes. Noch genauer gesagt in Energylandia, Polens größtem Vergnügungspark. Und um es genau auf den Punkt zu bringen, hatte ich in einem Wagen der Zadra gesessen, der weltgrößten hölzernen Achterbahn. Streng genommen ein Hybrid aus einer Stahl- und einer Holzbahn, so hat es mir jedenfalls der Architekt Glen Moore von Rocky Mountain Constructions über den klickenden Laut der Schienen hinweg erklärt. Bei dem Geräusch musste ich an die Ankerkette eines Schiffs denken. Oder an die Ketten, an denen Tierkadaver in einer Schlachterei hochgezogen und aufgehängt werden. Ich habe versucht, Moore zuzuhören, als er mir die technischen Details erklärt hat, aber es ist nicht leicht, sich zu konzentrieren, wenn man weiß, dass man Sekunden später über 62,8 Meter frei in die Tiefe fallen wird.
Er sah mich an, und mir wurde klar, dass er mir eine Frage gestellt hatte.
»Sorry?«
»I asked if there’s much wind.«
»Yes«, antwortete ich,
»Low temperatures?«
»Yes, it’s in the mountains«
»Then I would not recommend wood, but steel.«
»No«, sagte ich. »It needs to be a wooden roller coaster.«
Moore sah mich fragend an.
Ich hatte nicht die Zeit, es ihm zu erklären, auch wenn ich es gewollt hätte, denn plötzlich waren wir oben. Das Rasseln der Ketten verstummte, und ich sah keine Schienen mehr vor mir, nur noch flachen polnischen Boden, der sich bis zum Horizont erstreckte. Hätte ich es mit einer kurzen Zusammenfassung versucht, hätte ein Name gereicht. Shannon Alleyne.
Der Wagen blieb an der Kante beinahe stehen, als graute auch ihm vor dem Abgrund. Dann kippte die Nase langsam nach unten. Immer weiter. Als ich die Beschleunigung in meinem Bauch spürte und glaubte, vertikal nach unten zu rauschen, waren vor mir noch immer keine Schienen zu sehen, als bögen sich diese nach innen. Ich dachte, so fühlt es sich also an, in einem Auto zu sitzen, das bei uns aus der Geitesvingen-Kurve fliegt, über die Kante rauscht und vom schweren Motorblock nach unten in den Abgrund gezogen wird. Und man nur noch die Tiefe vor sich sieht. Ich schloss die Augen.
Als Shannon Alleyne vor acht Jahren in mein Leben trat, war ich 35 Jahre alt, single, ein mehrfacher Mörder und ganz offenbar bereit, eine Familie zu gründen.
Ich schreibe offenbar, weil ich diesen Gedanken nie konkret gedacht hatte, bis sie mir plötzlich eines Tages erzählte, dass sie ein Kind von mir erwartete. An meiner Reaktion habe ich dann gemerkt, dass ich mir das gewünscht hatte. Ich war vollkommen über dem Mond, wie man drüben sagt. Kann gut sein, dass es mir nicht um die Familie als solche ging, sondern einzig und allein darum, dass Shannon Alleyne die Mutter meines Kindes war. Denn Shannon war perfekt. Eine kleine, blasse Frau mit Engelsgesicht, Baritonstimme und einem derart scharfen Verstand, dass man verdammt aufpassen musste, wollte man es mit ihr aufnehmen. Ihre Familie gehörte zu der meist betrunkenen, armen, weißen Unterschicht der Redlegs in Barbados, Nachkommen von Schotten und Iren, die vor ein paar Hundert Jahren ausgewandert waren. Keiner in ihrer Familie hatte mehr als die Volksschule geschafft, aber auch in diesem Punkt bildete Shannon die Ausnahme. Sie studierte Architektur in Kanada, und als eine der Besten ihres Jahrgangs wurde ihr eine große Zukunft vorhergesagt. Sie war hartnäckig, sentimental und komplett verrückt. Und sie wusste nur zu gut, dass sie eine ganz spezielle Begabung hatte, und war extrem ehrgeizig. Nicht um ihrer selbst willen, sondern wegen der Sache, ihres Projekts. Sie kämpfte wie eine Löwin für das von ihr entworfene minimalistische Meisterwerk eines Spa-Hotels, während die Investoren aus der Gemeinde etwas Billigeres, Einfacheres, Traditionelleres wollten. Oh ja, wenn es um ihre Ideen und um Menschen ging, die sie zu ihrer Familie zählte, war Shannon loyal bis in den Tod. Eine Kriegerin, die man auf der eigenen und nicht auf der Seite des Feindes wissen wollte. Und im Bett so wunderbar leidenschaftlich und gierig, als wäre die Liebe ein Kampf, ganz anders als die langsame, sinnliche Zärtlichkeit, die ich mit Rita Willumsen erlebt hatte.
Shannon Alleyne war, wie schon gesagt, perfekt. Die Sache hatte nur einen Haken.
Sie war die Frau meines Bruders.
Als Shannon schwanger wurde, stand Carl persönlich wie wirtschaftlich kurz vor dem Ende und war komplett verzweifelt. Sein Hotel wurde gebaut, er hatte das Budget aber aus den Augen verloren und sich heimlich und zu Wucherzinsen Geld bei Willumsen geliehen. Außerdem setzte Shannon ihm kontinuierlich zu, wenn ihre Entwürfe nicht auf Punkt und Komma umgesetzt wurden. Der Druck, der auf ihm lastete, mag vielleicht wenigstens teilweise erklären, warum er Shannon in regelmäßigen Abständen verprügelte. Ich war verzweifelt verliebt, schon seit über einem Jahr, und ihr ging es ähnlich. Ohne es zu wissen, steuerten wir bereits eine ganze Weile auf das Unausweichliche zu und landeten schließlich in Notodden in einem Hotelzimmer. Wo ich dann ihre blauen Flecken bemerkt habe.
War das der Moment, in dem es mir zum ersten Mal gelungen war, Carl zu hassen? Oder war das erst später gekommen, als mir klar geworden war, dass Carl sich Geld von Willumsen geliehen und ihm dafür meinen Teil des Königreichs als Sicherheit geboten hatte? Oder war ich nicht einmal da bereit, ihn zu hassen? Wogen die Schuld und die Scham aus unserer Kindheit noch immer zu schwer?
Am Neujahrsmorgen brannte das Os Spa dann nieder. Eine Sylvesterrakete, hieß es. Versicherungsbetrug munkelten ein paar andere. Carl vertraute mir dann aber an, dass er die Feuerversicherung gekündigt hatte, um Geld zu sparen, was bedeutete, dass er mit dem Kredit nicht nur seinen Teil des Erbes, sondern auch meinen in den Wind geschossen hatte. Mir gehörte nur ein kleiner Teil des Hotels. Nach Plan – einem Plan, der nun zum Teufel gegangen war – sollte ich ausbezahlt werden, wenn der Laden lief, damit ich die Tankstelle kaufen konnte, die ich gepachtet hatte. Etwas musste passieren.
Willumsens Kredit wurde fällig, und bei uns oben auf Opgard tauchte ein dänischer Geldeintreiber in einem weißen Jaguar auf. Es war ein kalter Wintertag, an dem ich Carls und meiner Liste einen weiteren Todesfall hinzufügte, indem ich in der Geitesvingen-Kurve Wasser auf die Straße kippte, bis es zu spiegelblankem Eis gefroren war. Polizist Kurt Olsen stellte den Unfall anschließend infrage, wie auch den Umstand, dass Willumsen tot in seinem Bett gefunden worden war. Unfälle gibt’s nun mal, antwortete ich. Und Selbstmorde, das sollte ihm doch schon seit dem Tod seines Vaters und Vorgängers bei der Polizei bekannt sein. Ich sah den Hass in Kurts Blick, er konnte mir aber – wie vor ihm schon sein Vater – nichts nachweisen.
Im Gegensatz dazu meinte das hinzugezogene Kriminalamt, Beweise gefunden zu haben, dass der Geldeintreiber Willumsen und damit seinen eigenen Auftraggeber ermordet hatte.
Wir Opgards hatten die unmittelbaren Probleme damit gelöst. Eines aber blieb bestehen.
Carl.
Ich weiß nicht mehr recht, ob es Shannons oder meine Idee war, aber irgendwann wussten wir, dass es nur einen Ausweg gab, wollten wir zusammen sein und uns wirtschaftlich irgendwie ans Ufer retten. Wir mussten Carl aus dem Weg räumen. Es war keine leichte Entscheidung, als sie aber erst einmal gefallen war, schmiedeten wir recht schnell einen Plan. Man neigt dazu, Erfolge zu wiederholen, weshalb unsere Idee nicht sonderlich originell war.
Ich ließ die Bremsflüssigkeit aus Carls Auto ab, damit er die Kurve nicht schaffte.
An jenem Tag – er sollte später noch zu einem Investorentreffen in Sachen Wiederaufbau des Hotels – konfrontierte Carl Shannon mit ihrer Schwangerschaft und sagte ihr, dass er wisse, wer der Vater sei. Ihm sei der Name des Amerikaners, der so offen mit ihr geflirtet hatte, auf der Gästeliste des Hotels in Notodden nicht entgangen. An dem Tag, an dem auch sie dort gewesen war. Shannon begann zu lachen, und in blinder Wut schlug Carl ihr mit dem Bügeleisen gegen den Kopf. Und dann gestand sie es ihm. Nicht, mit wem sie ihn betrogen, sondern dass sie das Hotel angesteckt hatte. Damit es neu gebaut werden konnte, dann aber nach ihren Plänen.
Carl schlug noch einmal zu, und danach war ihr weder nach Lachen noch nach Atmen zumute. Nie wieder.
Anschließend tat Carl das, was er schon getan hatte, als er damals den Polizisten umgebracht hatte. Er rief mich an und bettelte um Hilfe. Ich sollte hinter ihm aufräumen.
Wir setzten Shannon hinter das Steuer von Carls Cadillac DeVille, ließen den Motor an und schoben den Wagen in Richtung Geitesvingen. Ich starrte den roten Rücklichtern nach, bis sie gemeinsam mit der Frau, die ich liebte und die unser Kind in sich trug, im Abgrund verschwanden. Dann weinte Carl sich an meiner Schulter aus.
Als ich die Augen in Zator, Polen, wieder öffnete, sah ich das Skelett der Bahn auf uns zurasen, während die roten Schienen sich vor uns drehten und wanden, als versuchten sie, irgendwie davonzukommen. Wir klammerten uns aber an ihnen fest, sogar noch, als wir kopfüber fuhren. Mir war erklärt worden, dass die Bahn drei solcher »inversions« hatte, und das Gefühl der Schwerelosigkeit, das sich dabei einstellte, war wirklich seltsam. Eine neuerliche, enge Kurve zog eine Seite meines Körpers in die Länge.
Dann, eine Minute nach dem höchsten Punkt, war es vorbei. Der Wagen bremste in einer sanften Rechtskurve und hielt an.
»What do you think?«, fragte Moore und sah mich an.
Ich nickte zustimmend. Es hatte mehrere steile Partien gegeben, kein Absturz war aber wie das erste Mal gewesen. Nichts war wie das erste Mal.
Fünf Minuten vor Spielbeginn parkten wir Carls BMW hinter den Deutschenbaracken, die seit dem Krieg als Umkleidekabinen für den Sportklub dienten. Papa hat immer wieder darauf hingewiesen, dass die norwegischen Straßen und die Infrastruktur des Landes nicht auf dem heutigen Stand wären, hätten die Deutschen das Land nicht fünf Jahre besetzt. Und dass die durchschnittliche Lebenserwartung in Norwegen damals gestiegen und nicht gesunken sei, während Engländer, Amerikaner und Russen für uns in den Kampf gezogen sind. Hatte er ein paar Bier zu viel, wussten wir immer schon, was kommen würde. Nicht selten sagte er dann mit vor Wut zitternder Stimme:
»Wisst ihr eigentlich, dass im Kampf gegen die Nazis auf norwegischem Boden mehr Russen als Norweger gefallen sind? Auf norwegischem Boden! Wir sind wirklich das feigste Volk, das Europa je gesehen hat. Nur eine Handvoll Menschen hat zu den Waffen gegriffen und das eigene Land verteidigt, während zwei Millionen Amerikaner über den großen Teich gekommen sind und ihr Leben riskiert haben to save our ass!«
Danach schnappte er sich immer seine Remington-Flinte, und wir mussten mit ihm nach draußen und auf irgendwelche Ziele schießen, die er uns zeigte.
»Dieser Ort hier, das ist unser Königreich«, posaunte er dann herum. »Und wenn jemand kommt und es uns nehmen will, verteidigen wir es bis zum letzten Blutstropfen. Habt ihr das verstanden?«
Carl und ich hatten genickt und die imaginären Nazis und Kommunisten erschossen, die sich in der Heide versteckten.
Wir stiegen hinter den Baracken aus dem Wagen und gingen an den anderen parkenden Autos vorbei. »Habe ich doch gesagt, sie ist hier«, sagte Carl, als wir an Rita Willumsens 58er Saab Sonett vorbeikamen. Ein Roadster und damit das einzige Cabriolet des Ortes. Man muss schon einen gewissen Stil haben, will man in Os in einem offenen Saab Sonett herumfahren, ohne sich lächerlich zu machen. Rita Willumsen löste diese Aufgabe mit Bravour.
Gerade als wir um die Baracken herumgingen, liefen die Spieler auf dem Platz ein. OS FK in roten Trikots mit diversen Sponsorenaufdrucken. Der größte zentral auf der Brust: Os Spa.
Die Spieler wurden mit Applaus empfangen. Ich schätzte, dass auf den Rängen etwa dreihundert bis vierhundert Zuschauer zusammengekommen waren, was nicht schlecht war. Die meisten standen auf der Westseite des Platzes entlang der Seitenlinie, wo die Baracken etwas Windschutz boten. Dort war auch die sieben Meter breite und zweieinhalb Meter hohe Holztribüne, die als VIP-Loge für die Unterstützer des Vereines diente. Ganz oben standen der Sparkassendirektor und Bürgermeister Voss Gilbert, der auch erster Vorsitzender des Vereins war. Auch Ex-Bürgermeister Aas war natürlich gekommen, neben ihm seine Tochter Mari und sein Schwiegersohn Dan Krane. Krane war Redakteur der Lokalzeitung Os Blad