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Das russische Zarenreich zur Zeit Alexanders II.: Irkutsk, die Hauptstadt Ostsibiriens, ist telegraphisch nicht mehr zu erreichen, doch der dortige Großfürst, der Bruder des Zaren, muss vor dem Verräter Ogareff gewarnt werden. Eine Depesche muss nach Sibirien – und überbringen soll sie der junge Offizier Michael Strogoff. Von Moskau aus geht es quer durch das Reich nach Irkutsk in Sibirien. Eine abenteuerliche Reise, die in die Weiten des russischen Zarenreichs führt und für den unerschrockenen Kurier zahlreiche Intrigen und Gefahren bereithält. Eine Erzählung über die Entschlossenheit und den Mut eines Helden, der vor dem historischen Hintergrund der Eroberung Sibiriens seine Mission, sein Leben und seine Liebe verteidigen muss. – Mit einer kompakten Biographie des Autors
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Seitenzahl: 335
Jules Verne
Der Kurier des Zaren
Aus dem Französischen übersetzt von Gisela Geisler
Nachbemerkung von Margot Krauss-Weideheim
Reclam
Französischer Originaltitel:
Michel Strogoff. Moscou – Irkoutsk (1876)
2008, 2015 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
Copyright für die Übersetzung © 1985 Gisela Geisler, Schwalbach
Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman
Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen
Made in Germany 2017
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-960804-4
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020386-6
www.reclam.de
Erster Teil
Erstes Kapitel
Ein Fest im Neuen Palais
Zweites Kapitel
Russen und Tataren
Drittes Kapitel
Michael Strogoff
Viertes Kapitel
Von Moskau nach Nischnij-Nowgorod
Fünftes Kapitel
Eine Verordnung des Gouverneurs
Sechstes Kapitel
Bruder und Schwester
Siebtes Kapitel
Stromabwärts auf der Wolga
Achtes Kapitel
Stromaufwärts auf der Kama
Neuntes Kapitel
Tag und Nacht im Tarantass
Zehntes Kapitel
Ein Unwetter im Ural
Elftes Kapitel
Reisende in Not
Zwölftes Kapitel
Eine Herausforderung
Dreizehntes Kapitel
Die Pflicht geht über alles
Vierzehntes Kapitel
Mutter und Sohn
Fünfzehntes Kapitel
Die Baraba-Sümpfe
Sechzehntes Kapitel
Letzte Anstrengung
Siebzehntes Kapitel
Bibeltexte und Liederverse
Zweiter Teil
Erstes Kapitel
Ein Feldlager der Tataren
Zweites Kapitel
Wieder in Freiheit
Drittes Kapitel
Schlag um Schlag
Viertes Kapitel
Der Triumphzug
Fünftes Kapitel
»Sieh dich um mit allen deinen Augen!«
Sechstes Kapitel
Ein guter Freund
Siebtes Kapitel
Die Fahrt über den Jenissei
Achtes Kapitel
Ein Hase läuft über den Weg
Neuntes Kapitel
In der Steppe
Zehntes Kapitel
Baikal-See und Angara
Elftes Kapitel
Zwischen den Ufern der Angara
Zwölftes Kapitel
Irkutsk
Dreizehntes Kapitel
Ein Kurier des Zaren
Vierzehntes Kapitel
Die Nacht vom 5. zum 6. Oktober
Fünfzehntes Kapitel
Schluss
Nachbemerkung
Hinweise zur E-Book-Ausgabe
Zum Hofball im Neuen Palais der kaiserlichen Residenz waren die höchsten Würdenträger des russischen Reiches geladen. Gegen zwei Uhr nachts hatte das glanzvolle Fest seinen Höhepunkt erreicht. Seit Stunden schon spielten die Kapellen der Regimenter von Preobrajensky und von Paulowsky zum Tanz auf. Polka, Mazurka, Schottischer Tanz und Walzer lösten einander ab, und die Großfürsten, ihre Adjutanten und Kammerherren vom Dienst führten die tanzenden Paare an. Unter den strahlenden Kronleuchtern, deren Licht von den Spiegelwänden hundertfach zurückgeworfen wurde, ordnete man sich jetzt zur Polonaise, dem Nationaltanz der Gesellschaft. Die eleganten spitzenüberrieselten Ballroben der Damen mischten sich mit den prächtigen ordensgeschmückten Galauniformen der Herren, und über den Tänzern schienen aus der gewölbten mattgoldenen Decke des Großen Salons unzählige Sterne zu funkeln.
Einige Gäste mochten sich nicht an den Tänzen beteiligen. Sie hatten sich in die tiefen Fensternischen zurückgezogen und beobachteten das Spiel von Licht und Finsternis auf dem Vorplatz des Schlosses. Die mächtigen Lichtkegel, die aus den Rundbogenfenstern der Salons fielen, erfassten die Silhouette einiger Glockentürme und, weiter unten noch, die ungefüge Form der großen Schiffe, die draußen auf dem Strom langsam vorbeizogen. Schweigsame Wachtposten mit geschultertem Gewehr marschierten im Garten des Schlosses auf und ab. Die Spitzen ihrer Pickelhauben blitzten hell auf, wenn sie in den Lichtstrahl einer Fensteröffnung gerieten. Vom Vorplatz des Palais schollen die Anrufe der Posten herüber. Man hörte die schweren Tritte der Patrouillen, die an Exaktheit noch die Tanzschritte drinnen auf dem Parkett übertrafen. Der Gastgeber des heutigen Festes wurde dicht umringt von einem Kreis festlich gekleideter Gäste. Ihm selbst war aller Pomp zuwider. Er trug, wie an anderen Tagen auch, die schlichte Uniform eines Offiziers der Gardejäger. Mit freundlicher, wenn auch ein wenig sorgenvoller Miene schritt er von einer Gruppe zur andern, sprach aber wenig und schenkte weder dem heiteren Geplauder der Jugend noch den ernsteren Gesprächen der hohen Beamten und Offiziere rechte Aufmerksamkeit. Einige der stets scharf beobachtenden Politiker glaubten in den Zügen des Gastgebers Zeichen von Unruhe zu entdecken. Den Grund dafür konnten sie sich nicht erklären, wagten aber auch nicht, danach zu fragen; denn dem Zaren lag offensichtlich daran, die Feststimmung nicht durch seine Sorgen zu beeinträchtigen. Im Übrigen war das riesige Reich dazu erzogen, selbst noch den unausgesprochenen Gedanken seines Herrschers zu gehorchen.
So nahm der Ball ungestört seinen Fortgang.
Die Polonaise hatte gerade begonnen, als der General Kissoff den Großen Salon betrat, sofort den Gastgeber ansprach und sich mit ihm in eine der Fensternischen zurückzog. Der General überreichte dem Zaren ein Telegramm.
»Eine neue Depesche, Majestät.«
»Woher?«
»Aus Tomsk.«
»Und östlich von Tomsk ist die Leitung unterbrochen?«
»Seit gestern kommen von dort keine Nachrichten mehr durch.«
»General, wir müssen stündlich ein Telegramm nach Tomsk aufgeben lassen. Ich möchte auf dem Laufenden gehalten werden.«
Der Zar überflog den Inhalt der Depesche, und seine Miene verdüsterte sich zusehends. Unwillkürlich fuhr seine Hand zum Degengriff, glitt dann aber weiter zu den Augen und beschattete sie einen Moment. Man konnte meinen, der Schein der tausend Kerzen blende den Monarchen, und er suche die Dunkelheit, um seine Gedanken besser zu ordnen. Der General wartete vergeblich auf die Erlaubnis, sich zurückziehen zu dürfen. Der Zar begann noch einmal Fragen zu stellen.
»Wir haben also seit gestern keine Verbindung mehr mit meinem Bruder in Irkutsk?«
»Leider nein, Majestät, und wir fürchten, dass bald überhaupt keine Telegramme mehr über die Grenze nach Sibirien gelangen werden.«
»Aber die Truppen in Jakutsk, im Amur-Gebiet und in Transbaikalien haben doch schon Marschorder nach Irkutsk erhalten?«
»Ja, Majestät, mit dem letzten Telegramm, das noch über den Baikal-See hinausging.«
»Und wie steht es mit der Verbindung nach Jenisseisk, Omsk, Tobolsk und Semipalatinsk?«
»Von dort bekommen wir noch Nachrichten. Wir wissen auch, dass die Tataren zur Stunde den Irtysch und den Ob noch nicht überschritten haben.«
»Und was wissen Sie von diesem Verräter Iwan Ogareff?«
»Leider gar nichts«, antwortete General Kissoff. »Der Chef der Polizei vermag nicht zu sagen, ob er sich diesseits oder jenseits der sibirischen Grenze befindet.«
»Lassen Sie seine Personenbeschreibung unverzüglich nach Nischnij-Nowgorod, Perm, Omsk, Tomsk, Kolywan und an alle anderen Poststationen durchgeben, mit denen wir noch Verbindung haben. Und, bitte, bewahren Sie Stillschweigen über den Fall Ogareff.«
»Die Befehle Eurer Majestät sollen sofort ausgeführt werden.«
Der General verbeugte sich knapp, tauchte in der Gästeschar unter und verließ bald darauf unbemerkt das Neue Palais.
Der Zar blieb noch kurze Zeit in Gedanken verloren stehen, mischte sich dann aber wieder mit ruhiger und gefasster Miene unter die kleinen Gruppen von Offizieren und Diplomaten im Großen Salon.
Die Ereignisse, die den Zaren und den General Kissoff beschäftigten, waren der Öffentlichkeit nicht ganz so verborgen geblieben, wie die beiden Männer glaubten. Man sprach zwar nicht über die Vorgänge jenseits der Grenze, aber einige hohe Beamte waren doch schon mehr oder weniger genau informiert.
Nur zwei Ballgäste kümmerten sich nicht um die stillschweigende Vereinbarung, die jüngsten Ereignisse zu ignorieren. Die beiden Herren trugen weder Uniformen noch irgendwelche Auszeichnungen, die üblicherweise zur Teilnahme an dergleichen Hoffesten berechtigten. Aus ihren leise geführten Gesprächen war jedoch zu entnehmen, dass sie über erstaunlich genaue Informationen verfügten.
Aus welchen Quellen bezogen diese gewöhnlichen Sterblichen ihr Wissen, wenn selbst sehr hochgestellte Persönlichkeiten noch im Dunkeln tappten? Einer der Herren war Engländer, der andere Franzose. Sie waren beide hochgewachsen und schlank, der eine aber hatte die dunklen Züge des typischen Südfranzosen, während der andere mit seiner frischen Gesichtsfarbe an einen Landedelmann aus Lancashire denken ließ. Der kühle, fast phlegmatische Angelsachse gab sich sparsam in Worten und Bewegungen, während der Galloromane mit Lippen, Augen und Händen zugleich sprach. War der Franzose stets »ganz Auge«, so der Engländer »ganz Ohr«. Der Gesichtssinn des einen war durch dauernde Übung geschärft wie das Auge des Taschenspielers, während sein Kollege die Umwelt ausschließlich über den Gehörsinn aufzunehmen schien. Hatte er eine Stimme nur einmal gehört, erkannte er sie unter tausend anderen selbst nach zehn oder zwanzig Jahren wieder.
Diese Vollkommenheit von Auge und Ohr kam beiden Männern bei der Ausübung ihres Berufes zustatten. Der Engländer, Harry Blount, war Korrespondent des ›Daily Telegraph‹, und der Franzose, Alcide Jolivet, arbeitete für – ja, wen eigentlich? Auf direkte Fragen antwortete er stets scherzhaft, er korrespondiere mit seiner ›Cousine Madeleine‹. Trotz seiner zur Schau getragenen Redseligkeit war er sogar noch ein wenig verschwiegener als der Korrespondent des ›Daily Telegraph‹.
Beide übten ihren Beruf mit Leidenschaft aus. Es gab für sie kein Hindernis, sie setzten über Hecken und Flüsse, wenn es galt, die letzte Neuigkeit zu erjagen.
Zur Ehre der beiden Journalisten muss noch hinzugefügt werden, dass sie das Privatleben ihrer Umgebung stets achteten, also nur im besten Sinne des Wortes die »politischen und militärischen Korrespondenten« ihrer Blätter waren, wie man ihresgleichen seit Kurzem zu nennen pflegte.
Ihre Zeitungen geizten übrigens nicht mit Geld, das auch heute noch am schnellsten und sichersten zur besten Information verhilft.
In dieser Nacht vom fünfzehnten zum sechzehnten Juli waren beide Journalisten beruflich auf dem Hofball anwesend. Sie begegneten sich zum ersten Mal und beobachteten sich argwöhnisch, denn beide jagten im selben Revier. Andererseits suchte einer die Gesellschaft des anderen, um vielleicht noch eine Neuigkeit zu erfahren, die ihm selbst entgangen war.
Beide spürten an diesem Abend, dass etwas in der Luft lag. Nachdem General Kissoff den Salon verlassen hatte, versuchten sie vorsichtig, miteinander ins Gespräch zu kommen.
Alcide Jolivet begann die Unterhaltung mit einer ausgesprochen französischen Redewendung.
»Ein entzückendes Fest, nicht wahr?«, sagte er zu Harry Blount, und der antwortete kühl und sehr englisch: »Wirklich splendid! Habe schon Bericht telegraphiert.«
»Allerdings«, fuhr Jolivet fort, »musste ich meiner Cousine mitteilen …«
»Ihrer Cousine?«, wiederholte Blount erstaunt.
»Ganz recht, ich korrespondiere mit meiner Cousine Madeleine, und sie erwartet stets genaue und schnelle Nachrichten. Ich musste also meiner Cousine mitteilen, dass die Stirn unseres hohen Gastgebers leicht umwölkt war.«
»Das möchte ich nicht behaupten; ich fand seine Laune glänzend«, erwiderte Harry Blount, der seine wahre Meinung zu diesem Thema nicht preisgeben wollte.
»Also lassen Sie den Monarchen in den Spalten des ›Daily Telegraph‹ auch strahlen?«
»Natürlich.«
»Herr Blount«, fuhr Jolivet fort, »Sie erinnern sich doch noch der Ereignisse von Wilna im Jahre 1812. Dann wissen Sie auch, dass Zar Alexander während eines Balles die Nachricht erhielt, Napoleon habe den Njemen überschritten. Der Zar wusste genau, dass seine Herrschaft in Gefahr war, aber er zeigte sich nicht beunruhigter als …«
»… der Gastgeber des heutigen Abends, nachdem er von General Kissoff erfahren hatte, dass die Telegraphenleitung nach Irkutsk unterbrochen sei.«
»Sie kannten schon die Einzelheiten?«
»Aber sicher. Meine letzte Depesche kam nur bis Krasnojarsk«, sagte Blount selbstzufrieden.
Doch Jolivet ergänzte voller Genugtuung:
»Meine nur bis Udinsk. Dann wissen Sie natürlich längst, dass die Truppen in Nikolajewsk Marschbefehl erhalten haben und dass die Kosaken im Gouvernement Tobolsk zur Verteidigung aufgerufen worden sind.«
»Natürlich. Man wird einen interessanten Feldzug verfolgen können, Herr Jolivet.«
»Dann sehen wir uns vielleicht auf einem Terrain wieder, das weniger sicher ist als das Parkett dieser Salons … jedenfalls weniger glatt!« Mit diesen Worten fing Alcide Jolivet seinen Kollegen, der auszugleiten drohte, in den Armen auf.
Als sich die Journalisten trennten, wussten beide, dass keiner dem anderen auch nur eine Nasenlänge voraus war.
Nun wurden die Türen zu den angrenzenden Sälen geöffnet. Man sah mehrere große Tische, die verschwenderisch mit erlesenem Porzellan gedeckt waren. Der mittlere, der den Prinzen, Prinzessinnen und Mitgliedern des Diplomatischen Korps vorbehalten war, trug als Krönung einen Tafelaufsatz von unschätzbarem Wert aus Londoner Werkstätten. Rund um dieses Meisterwerk der Goldschmiedekunst funkelten im Glanz der Kerzen unzählige Stücke herrlichen Geschirrs aus den Manufakturen von Sèvres. Man begab sich gerade zur Tafel, als General Kissoff wieder eintrat und auf den Zaren zuging.
»Wie ist die Lage?«, fragte der Monarch sogleich.
»Tomsk schweigt, Majestät!«
»Sofort einen Kurier besorgen!«
Der Zar verließ den Großen Salon und begab sich in ein danebenliegendes einfach möbliertes Arbeitskabinett. Dort riss er ein Fenster auf, als fiele ihm das Atmen schwer. Dann trat er auf den Balkon hinaus und sog die laue Luft der schönen Julinacht in tiefen Zügen ein.
Vor seinen Augen lag im Mondlicht ein befestigter Stadtteil, aus dem sich die Silhouetten von zwei Kathedralen, drei Palästen und einem Waffenarsenal erhoben. Außerhalb der Befestigungsanlagen waren deutlich drei ausgedehnte Stadtteile zu erkennen, Kitai-Gorod, Beloi-Gorod und Semljano-Gorod. Diese großen chinesischen, europäischen und tatarischen Wohnviertel wurden überragt von unzähligen Türmen und Minaretten, von dreihundert Kirchen mit grüngoldenen Kuppeln und silbernen Kreuzen darauf. Ein Fluss mit vielfach gewundenem Lauf fing hier und da die Mondstrahlen ein. Dieser Fluss, jene Wohnviertel und der befestigte Stadtteil hier, die der Zar so nachdenklich betrachtete, das waren die Moskwa, Moskau und der Kreml, die alte Stadt der Moskowiter.
Nun bestand also kein Zweifel mehr: Eine furchtbare Invasionsarmee drohte die sibirischen Provinzen der russischen Oberherrschaft zu entreißen. In diesem ungeheuer weiten Steppenland, das sich vom Ural bis zum Pazifischen Ozean und vom Arktischen Meer bis China erstreckt, lebten damals etwa zwei Millionen Menschen. Das ganze Gebiet war in sieben Gouvernements und Distrikte aufgeteilt, über die zwei Generalgouverneure als Vertreter des Zaren geboten. Irkutsk, die Hauptstadt Ostsibiriens, war der Sitz des einen, während der andere in Tobolsk in Westsibirien residierte. Ein Nebenfluss des Jenissei, die Tschuna, bildete die Grenze zwischen den beiden Herrschaftsbereichen.
Sibirien war sowohl Deportationsort für Verbrecher wie Exil für jene, die ein Ukas aus der Heimat verbannt hatte. Noch durchquerte keine Eisenbahn das riesige Land, obschon man bereits wusste, dass es unermesslich reiche Bodenschätze barg. Man hatte nur zwei Möglichkeiten zu reisen: sommers mit dem Pferdefuhrwerk, winters mit dem Schlitten. Eine direkte Verbindung zwischen der westlichen und der östlichen Grenze Sibiriens gab es allerdings schon, nämlich die Telegraphenleitung. Dieser Draht war nicht weniger als 8536 Kilometer lang und führte über die wichtigsten Stationen Sibiriens: Jekaterinburg, Tobolsk, Omsk, Kolywan, Tomsk, Krasnojarsk, Irkutsk bis zur Grenze der Mongolei.
Diese ungeheuer wichtige Leitung war unterbrochen worden, zuerst jenseits von Tomsk und nun auch noch zwischen Tomsk und Kolywan. Nur ein Kurier konnte jetzt noch eine Verbindung zu diesen Orten schaffen. General Kissoff war bereits auf der Suche nach dem geeigneten Mann.
Zunächst jedoch erschien der Chef der Polizei im kaiserlichen Arbeitskabinett.
»Treten Sie ein, General«, sagte der Zar kurz, »und teilen Sie mir alles mit, was Sie über Iwan Ogareff in Erfahrung gebracht haben.«
»Ogareff ist ein äußerst gefährlicher Mann, Majestät«, begann der Polizeichef.
»Er war doch Oberst, nicht wahr, und ziemlich intelligent?«
»Hochintelligent sogar, aber vollkommen disziplinlos und von zügellosem Ehrgeiz besessen. Er ließ sich sehr bald mit einer Verschwörergruppe ein und musste von seiner Kaiserlichen Hoheit, dem Großfürsten, degradiert und nach Sibirien verbannt werden.«
»Wann war das?«
»Vor zwei Jahren. Er durfte aber schon sechs Monate später durch einen Gnadenerlass Eurer Majestät nach Russland zurückkehren. Er ist dann noch ein zweites Mal nach Sibirien gegangen, diesmal jedoch freiwillig.«
Diesem Bericht fügte der Polizeichef mit leiserer Stimme hinzu: »Es gab einmal eine Zeit, da war die Reise nach Sibirien eine Reise ohne Wiederkehr.«
»Mag sein. Aber solange ich lebe, ist und wird Sibirien ein Land sein, aus dem man wiederkehrt.«
Der Chef der Polizei erwiderte zwar nichts, war aber ganz offensichtlich nicht einverstanden mit dieser Haltung des Zaren.
»Ist Ogareff«, fragte der Zar weiter, »nicht von Sibirien aus auch noch ein zweites Mal nach Russland zurückgekehrt?«
»Jawohl, doch den Zweck dieser Reise konnten wir nicht herausfinden. Wir haben ihn aber überwacht, denn ein Verbannter wird erst vom Tag seiner Begnadigung an wirklich gefährlich.«
Die Miene des Zaren verdüsterte sich einen Augenblick, und der Polizeichef musste fürchten, zu weit gegangen zu sein. Der Monarch überhörte jedoch die indirekten Vorwürfe gegen seine Innenpolitik und fuhr mit der Befragung fort.
»Wo befand sich Iwan Ogareff zuletzt, und was trieb er?«
»Er war in Perm, schien keine bestimmte Beschäftigung zu haben, erregte aber auch durch seine Lebensweise keinerlei Verdacht. Er verließ die Stadt im März mit unbekanntem Ziel, und seither haben wir ihn aus den Augen verloren.«
»Ich aber nicht!«, unterbrach der Zar den Bericht. »Man hat mir, unter Umgehung der Polizeibehörden, anonym gewisse Hinweise zukommen lassen, und angesichts der Ereignisse jenseits der Grenze habe ich allen Grund, an ihre Richtigkeit zu glauben.«
»Wollen Majestät damit sagen, dass Iwan Ogareff bei der Invasion der Tataren die Hand im Spiele hat?«
»Allerdings, General. Und ich kann Ihnen noch mehr sagen: Iwan Ogareff verließ Perm, um den Ural zu überqueren und nach Sibirien in die Kirgisische Steppe zu gehen. Dort gelang es ihm, die Nomadenvölker aufzuwiegeln. Daraufhin reiste er weiter nach Süden bis in das unabhängige Turkestan. Er fand die Khans von Buchara, Kokand und Kunduz bereit, ihre Tatarenhorden in unsere sibirischen Provinzen zu werfen und gemeinsam mit den Kirgisen den Aufstand gegen die russische Herrschaft in Asien zu entfesseln. Wir sind vom Ausbruch dieser Erhebung vollkommen überrascht worden. Alle Verbindungswege zwischen Ost- und Westsibirien sind abgeschnitten, und überdies trachtet der rachsüchtige Iwan Ogareff meinem Bruder nach dem Leben.«
Während des Sprechens lief der Zar erregt auf und ab. Der Polizeichef unterdrückte jede Bemerkung, sagte sich aber im Stillen, dass Iwan Ogareff niemals eine Chance gehabt hätte, wenn der Herrscher aller Reußen nicht so oft politische Verbannte begnadigen wollte. Nach einigen Augenblicken des Schweigens begann der Zar, der sich jetzt in einen Sessel geworfen hatte, wieder zu sprechen. »Unser letztes Telegramm, das bis nach Nischnij-Udinsk durchgegeben werden konnte, war noch der Marschbefehl für die Truppen der Gouvernements Jenisseisk, Irkutsk und Jakutsk sowie der Amur- und Baikal-Provinzen. Außerdem ziehen die Regimenter von Perm und Nischnij-Nowgorod in Eilmärschen zum Ural. Leider werden sie mehrere Wochen brauchen, ehe sie auf die Tataren treffen können.«
»Und seine Kaiserliche Hoheit, der Großfürst, hat keine Verbindung mehr mit Moskau?«
»Nein, das Gouvernement Irkutsk ist von der Außenwelt abgeschnitten.«
»Er weiß doch aber aus den letzten Depeschen von den Gegenmaßnahmen, die Euer Majestät befohlen haben, und aus welchen benachbarten Gouvernements er Hilfe erwarten kann?«
»Er ist unterrichtet«, antwortete der Zar. »Was er aber nicht wissen kann, ist, dass er in Iwan Ogareff einen eingeschworenen Feind hat, der nicht nur die Rolle des Rebellen, sondern auch die des Verräters spielen will. Ogareff verdankte seine Verbannung meinem Bruder, der ihn unglücklicherweise noch nie zu Gesicht bekommen hat. Der Oberst plant nun, sich unter falschem Namen in Irkutsk in die Dienste des Großfürsten zu schleichen, und wenn die Tataren Irkutsk umzingelt haben werden, will er die Stadt und meinen Bruder ausliefern. Mein Bruder muss umgehend erfahren, dass sein Leben bedroht ist.«
»Dazu brauchen wir einen intelligenten, mutigen Kurier.«
»Den erwarte ich gerade.«
»Und sehr schnell muss er sein, denn, Euer Majestät mögen mir die Bemerkung gestatten, ganz Sibirien ist der Rebellion verdächtig.«
Der Zar fuhr auf. »General, Sie glauben doch nicht, dass die Verbannten mit den tatarischen Eindringlingen gemeinsame Sache machen könnten? Ich traue ihnen mehr Patriotismus zu!«
Der Chef der Polizei glaubte in der Tat nicht an die Treue der Verbannten, versuchte aber, ausweichend zu antworten.
»Verzeihung, Euer Majestät«, stammelte er, »in Sibirien gibt es außer den Exilierten noch andere Häftlinge.«
»Die Verbrecher! Diesen Auswurf der Menschheit überlasse ich Ihnen, General; sie kennen kein Vaterland. Die Erhebung oder, besser, der Einfall ist aber nicht gegen den Zaren gerichtet, sondern gegen unser russisches Vaterland, das die Verbannten mit Recht noch einmal wiederzusehen hoffen. Nein, nie wird ein Russe auch nur einen Augenblick lang einen Tataren unterstützen, wenn es darum geht, unsere Vorherrschaft zu untergraben!«
Selbst wenn der Zar dem Patriotismus der politisch Verbannten trauen wollte, blieb die Lage sehr ernst, denn ein Teil der kirgisischen Bevölkerung würde sich bestimmt den Eindringlingen anschließen.
Das Volk der Kirgisen bildete drei »Horden«, die als die Große, die Mittlere und die Kleine bezeichnet wurden. Insgesamt zählten sie etwa 400_000 »Zelte«, das sind ungefähr zwei Millionen Seelen. Eine der Gruppen war unabhängig, während die beiden anderen die russische beziehungsweise die turkestanische Oberhoheit anerkannten. Das von der Großen Horde bewohnte Gebiet reichte bis zu den Gouvernements von Omsk und Tomsk. Sollten sich die Kirgisenvölker nun erheben, so konnten sie sehr wohl die russische Herrschaft in Sibirien östlich des Jenissei zu Fall bringen. Omsk als militärisches Zentrum Westsibiriens sollte die kirgisische Bevölkerung in Schach halten. Jetzt musste man befürchten, dass die Stadt schon sehr bedroht war. Offensichtlich hatten die Angreifer die Linie der kosakischen Grenzposten, die von Omsk bis Semipalatinsk reichte, schon mehrfach durchbrochen. Außerdem würden sich die Kirgisen der Tatarenherrschaft willig beugen: beide Völkerschaften waren Mohammedaner, während die Russen der griechisch-orthodoxen Kirche angehörten.
Die Tataren, die damals das russische Reich bedrohten, stammten aus Turkestan. Ihre Herrscher nannte man Khans, deren Herrschaftsgebiete Khanate. Das Khanat von Buchara war zu jener Zeit am mächtigsten und einflussreichsten. Schon die Vorgänger des derzeitigen Feofar-Khan hatten sich mit Russland in kriegerische Auseinandersetzungen um die Oberherrschaft über die Kirgisen verwickelt. Man schätzte damals die Bevölkerung des Khanates auf zweieinhalb Millionen Seelen. Der ehrgeizige Feofar-Khan verfügte über dreißigtausend Reiter und sechzigtausend Mann Fußvolk, deren Zahl in Kriegszeiten verdreifacht werden konnte.
Die herrliche Stadt Buchara inmitten eines reichen, fruchtbaren Landes, von Avicenna und anderen Gelehrten des zehnten Jahrhunderts schon gefeiert, war heute Mittelpunkt des islamischen Glaubens; Samarkand wiederum beherbergte in seinen Mauern das Grabmal des großen Tamerlan und jenen blauen Stein, auf dem sich jeder Khan bei Antritt seiner Regierung niederlassen musste; Karschi, dreifach von Mauern umgeben, durch Sümpfe geschützt, war fast uneinnehmbar und wie alle anderen Städte durch eine starke Streitmacht gesichert. So war das Khanat von Buchara ein Gegner, den man fürchten musste und nur mit erheblichen militärischen Kräften schlagen konnte. Feofar nun hatte sich, gestützt auf die anderen nicht weniger grausamen und räuberischen Khans, an die Spitze des Invasionsheeres gestellt, dessen Seele kein anderer als Iwan Ogareff war. Er war es, der Feofar-Khan und seine Horden auf die russische Grenze gehetzt hatte, wo die Kosaken der zahlenmäßigen Übermacht der Angreifer gewichen waren. Nun zog Feofar, ein moderner Dschingis-Khan, raubend, sengend und mordend von Stadt zu Stadt, reihte in sein Heer, was sich unterwarf, tötete, was ihm widerstand. Hinter ihm her zog der Tross seiner Frauen und Sklaven, die unausbleiblichen Anhängsel eines orientalischen Hofstaats.
Wo standen seine Soldaten in dem Augenblick, als die Nachricht von der Invasion Moskau erreichte? Hatte nur eine Vorhut der Tataren den Telegraphendraht zwischen Tomsk und Kolywan zerschnitten, oder war Feofar-Khan schon mit seinem ganzen Heer bis zu der Provinz von Jenisseisk vorgedrungen? Niemand vermochte es zu sagen, und es gab im Augenblick auch keine Möglichkeit, den Großfürsten im eingeschlossenen Irkutsk vor Iwan Ogareff zu warnen.
Nur ein Kurier konnte noch den unterbrochenen Draht ersetzen. Aber er würde viel Zeit benötigen, um die 5523 Kilometer zwischen Moskau und Irkutsk zurückzulegen, und er musste, um die Linien der Rebellen und Feinde durchbrechen zu können, übermenschlichen Mut und außerordentliche Intelligenz besitzen.
Die Tür zum Arbeitskabinett des Zaren öffnete sich wiederum, und ein Wachtposten meldete den General Kissoff.
»Und der Kurier?«, fragte der Zar.
»Ist bereits zur Stelle, Euer Majestät«, erwiderte der General.
»Halten Sie den Mann wirklich für geeignet?«
»Ich glaube mich für ihn bei Eurer Majestät verbürgen zu können.«
»Hat er schon im Schloss Dienst getan, und ist er Ihnen persönlich bekannt?«
»Ja, er hat schon mehrmals Sonderaufgaben zur Zufriedenheit durchgeführt.«
»Auch im Ausland?«
»Sogar schon in Sibirien.«
»Was wissen Sie sonst über seine Eigenschaften, seine Herkunft, sein Alter?«
»Er ist dreißig Jahre alt und stammt aus Omsk, ist also gebürtiger Sibirier. Wir wissen, dass er kaltblütig, hochintelligent und sehr mutig ist. Bei seiner kräftigen Konstitution muss er weder Kälte noch Hunger und Durst oder übermäßige Anstrengungen fürchten. Er sollte noch da erfolgreich sein können, wo die meisten Männer aufgeben müssen.«
»Sein Name?«
»Michael Strogoff.«
»Ist er bereit, sofort abzureisen?«
»Er erwartet nur noch die genauen Instruktionen Eurer Majestät.«
»Ich möchte ihn sprechen.«
Wenige Augenblicke später betrat der Kurier Michael Strogoff das kaiserliche Arbeitskabinett.
Er war ein hochgewachsener, breitschultriger Mann, dessen wohlgeformter Kopf die besten Merkmale der kaukasischen Rasse zeigte. Dichtes welliges Haar bedeckte das mächtige Haupt über den meist blassen Gesichtszügen, die sich nur dunkler färbten, wenn Strogoffs Herz aus irgendeinem Grunde schneller schlug. Der lebhafte Ausdruck seiner tiefblauen Augen unter den stets ein wenig zusammengezogenen Augenbrauen verriet den Mut des echten Helden, den »Mut ohne Zorn«, wie die Physiologen sagen. Die kräftige Nase mit den breiten Nasenflügeln über einem schöngeschnittenen Mund mit ein wenig vorspringenden Lippen ließen auf einen großmütigen und sauberen Charakter schließen.
Strogoff war ein Mann wohlüberlegter, aber blitzschneller Entschlüsse. Da er sparsam mit Worten wie mit Gesten umging, fiel es ihm leicht, vor einem Vorgesetzten bewegungslos wie ein guter Soldat zu stehen. Im Schreiten aber drückten seine Bewegungen Anmut und Sicherheit zugleich aus, Zeichen seines gut entwickelten Selbstvertrauens. Er schien immer etwas vorzuhaben, aber auch nie mit der Ausführung neuer Aufgaben zu zögern.
Michael Strogoffs elegante Uniform glich etwa der eines Offiziers der berittenen Feldjäger. Er trug eine braune pelzverbrämte Husarenjacke mit gelben Schnüren, den sogenannten Dolman, und dazu eng anliegende Beinkleider, Stiefel und Sporen. Auf seiner breiten Brust funkelten ein Kreuz und mehrere andere Orden.
Michael Strogoff stand im Offiziersrang bei den Kurieren des Zaren, einer besonderen Elitetruppe. Der Zar konnte sofort erkennen, dass dieser Kurier bereit war, erhaltene Befehle unbedingt auszuführen. Er besaß damit nach den Worten Turgenjews jene Eigenschaft, die im Moskowiterreich oft zu höchsten Ehren und Ämtern führte.
Konnte überhaupt ein Mensch diese gefahren- und hindernisreiche Reise von Moskau nach Irkutsk erfolgreich bestehen, so war es Michael Strogoff.
Es traf sich ausgezeichnet, dass er das Land jenseits des Urals bestens kannte und sogar seine verschiedenen Sprachen und Dialekte beherrschte.
Sein Vater, der alte Peter Strogoff, war vor zehn Jahren in Omsk verstorben, und seine Mutter Marfa lebte noch heute in dieser Stadt. Peter Strogoff, ein harter sibirischer Jäger, hatte den jungen Michael auf ihren gemeinsamen Zügen durch die wilde Steppenlandschaft der Provinzen von Omsk und Tobolsk für das Leben gestählt. Der alte Strogoff war Jäger mit Leib und Seele. Bei der sengenden Hitze des sibirischen Sommers und in der klirrenden Kälte der Wintermonate durchstreifte er unermüdlich die endlosen Ebenen, Lärchen- und Birkenhaine und die Tannenwälder seiner Heimat, stellte Fallen, erlegte das kleine Wild mit dem Gewehr und das große mit Spieß und Waidmesser. Das Großwild war nichts Geringeres als der gefürchtete sibirische Bär, und Peter Strogoff hatte mehr als vierzig dieser Ungetüme erlegt.
Schon der elfjährige Michael versäumte keine Gelegenheit, den Vater zur Jagd zu begleiten. Er trug dann die Rogatina, einen gegabelten Spieß, mit dem er dem Vater zu Hilfe kommen konnte, der nur mit dem Messer bewaffnet war. Mit vierzehn Jahren hatte Michael ganz allein seinen ersten Bären erlegt und auch noch das Fell des mächtigen Tieres über viele Meilen bis zum väterlichen Haus geschleppt, eine Leistung, die bereits beim Knaben auf ungewöhnliche Kräfte schließen ließ. Der Alte hatte den heranwachsenden Sohn in alle Künste und Geheimnisse der Jagd eingeweiht, und diese Kenntnisse kamen dem erwachsenen Mann zugute. Er konnte seinen Weg nach fast nicht mehr wahrnehmbaren Zeichen in der Natur finden, nach der Lage der Eisnadeln, der Stellung winziger Zweige, den schwächsten Wildfährten im Gras. Er vermochte noch das geringste Geräusch zu deuten und sich nach dem Zug der Vögel im Nebeldunst zu richten. Der Schnee Sibiriens hatte seine Gesundheit gefestigt wie die Wasser von Damaskus den Stahl.
Michael Strogoff kannte nur eine Leidenschaft, die Liebe zu seiner Mutter. Nach dem Tod ihres Mannes hatte sich die alte Marfa nicht von ihrem schon so lange bewohnten Haus in Omsk an den Ufern des Irtysch trennen können. Als der Sohn Omsk verließ, war sie sehr traurig, aber er hatte versprochen, sie zu besuchen, wenn es die Umstände nur irgend erlaubten, und an dieses Versprechen hielt er sich gewissenhaft.
Mit zwanzig Jahren hatte Michael in die persönlichen Dienste des Zaren treten dürfen. Als Angehöriger der Kuriertruppe hatte er zunächst Gelegenheit bekommen, sich bei zwei Sonderaufgaben zu bewähren. Die erste Reise hatte ihn in ein aufrührerisches Gebiet im Kaukasus geführt, die zweite sogar bis nach Kamtschatka, zur äußersten Grenze des asiatischen Russland. Hier hatte er alle seine angeborenen und erworbenen Fähigkeiten gebrauchen können und die Anerkennung und Gunst seiner Vorgesetzten erworben, so dass sein beruflicher Aufstieg sicher war.
Den Urlaub, der Michael Strogoff nach seinen anstrengenden Expeditionen zustand, hatte er stets bei seiner Mutter verbracht. Da ihn seine letzten Aufträge aber im äußersten Süden des Landes festgehalten hatten, war er schon drei Jahre lang – er meinte, es wären dreihundert! – nicht mehr daheim gewesen. Jetzt aber sollte er in wenigen Tagen seinen Urlaub antreten, und er hatte schon die Vorbereitungen zur Abreise nach Omsk getroffen, als die Ereignisse eintraten, von denen wir bereits unterrichtet sind. Michael Strogoff wurde also zum Zaren befohlen, ohne im Geringsten ahnen zu können, was man von ihm verlangen würde.
Der Zar prüfte die Erscheinung des Kuriers mit durchdringendem Blick, ohne ein Wort zu äußern, während Michael Strogoff vollkommen regungslos vor ihm stand.
Der Zar war mit dem Ergebnis seiner Prüfung offensichtlich zufrieden. Er kehrte zum Schreibtisch zurück und forderte auch den Chef der Polizei durch eine Handbewegung auf, dort Platz zu nehmen. Dann diktierte er ihm mit gesenkter Stimme einen kurzen Brief. Das fertige Schreiben las der Monarch noch einmal mit größter Aufmerksamkeit durch, schließlich setzte er seinen Namenszug und die Worte »so geschehe es«, die offizielle Bestätigungsformel der Zaren, darunter und steckte den Briefbogen in ein Kuvert, das mit dem kaiserlichen Wappensiegel verschlossen wurde.
Darauf erhob er sich wieder, winkte Michael Strogoff heran und schaute ihn, Auge in Auge, fest an. Dann begann er zu sprechen. »Name?«
»Michael Strogoff, Euer Majestät.«
»Dienstgrad?«
»Hauptmann bei den Kurieren des Zaren.«
»Sie kennen Sibirien?«
»Ich bin Sibirier.«
»Geboren in …?«
»Omsk.«
»Leben noch Verwandte in Omsk?«
»Meine alte Mutter.«
Der Zar unterbrach einen Augenblick die Befragung und wies auf den Brief, den er noch in der Hand hielt.
»Ich vertraue Ihnen diesen Brief an, Michael Strogoff. Ich beauftrage Sie, ihn eigenhändig dem Großfürsten und niemand anderem zu übergeben.«
»Der Großfürst wird den Brief erhalten.«
»Mein Bruder ist in Irkutsk.«
»Ich werde nach Irkutsk reisen.«
»Sie werden ein Gebiet durchqueren müssen, das von Rebellen und Tataren unsicher gemacht wird, die ein Interesse daran haben, mein Schreiben abzufangen.«
»Ich komme durch.«
»Hüten Sie sich vor einem Verräter namens Iwan Ogareff. Er könnte Ihren Weg kreuzen.«
»Ich werde ihm mit Vorsicht begegnen.«
»Werden Sie den Weg über Omsk nehmen?«
»Das ist die kürzeste Strecke.«
»Wenn Sie Ihre Mutter besuchen, laufen Sie Gefahr, erkannt zu werden. Sie dürfen Ihre Mutter nicht sehen.«
Michael Strogoff zögerte einen Augenblick. Dann sagte er:
»Ich werde meine Mutter nicht besuchen, Majestät.«
»Schwören Sie, dass nichts und niemand Sie bewegen kann, Ihren Namen und Ihren Auftrag preiszugeben.«
»Ich schwöre es!«
»Nehmen Sie also dieses Schreiben, von dem das Heil ganz Sibiriens und vielleicht sogar das Leben meines Bruders, des Großfürsten, abhängt.«
»Ich werde es überbringen oder sterben.«
»Ich bedarf aber Ihres Lebens.«
»Ich werde leben und mein Ziel erreichen«, sagte Michael Strogoff.
Die selbstsicheren und ruhig-bestimmten Antworten des Kuriers hatten den Zaren befriedigt. »So reisen Sie mit Gott, Michael Strogoff, reisen Sie für Russland, meinen Bruder und den Zaren!«
Michael Strogoff grüßte militärisch, verließ sogleich das Arbeitskabinett des Kaisers und wenige Minuten später auch das Neue Palais.
»Ich glaube, Sie haben bei der Wahl des Kuriers eine glückliche Hand gehabt!«, sagte der Zar, zu General Kissoff gewendet.
»Ich hoffe es, und Euer Majestät können versichert sein, dass Michael Strogoff alles nur Menschenmögliche tun wird, um seinen Auftrag durchzuführen.«
»Er scheint in der Tat ein ganzer Mann zu sein«, bemerkte der Zar abschließend.
Vor Michael Strogoff lag ein Reiseweg von nicht weniger als 5523 Kilometern. Früher, als es noch keinen Telegraphendraht zwischen dem Ural und der ostsibirischen Grenze gegeben hatte, war der Depeschendienst ausschließlich von Kurieren besorgt worden. Selbst wenn man diesen Boten die besten Transportmittel zur Verfügung stellte, brauchten die allerschnellsten achtzehn Tage für die Strecke von Moskau nach Irkutsk; die meisten aber benötigten vier bis fünf Wochen.
Da Michael Strogoff weder Frost noch Schnee fürchtete, wäre er lieber zur kalten Jahreszeit gereist. Er hätte dann für die gesamte Reisestrecke den Pferdeschlitten benutzen können. Im Winter sind die mannigfachen Hindernisse, die das Fortkommen in Sibirien schwer machen, durch die hohe Schneedecke beseitigt. Kein Wasserlauf verlegt den Weg, und der Schlitten kann über die glatten Eisflächen nur so dahinfliegen. Natürlich bringt der Winter auch besondere Gefahren für den Reisenden. Er muss den dichten Nebel fürchten oder auch die ungeheuer heftigen Schneestürme, denen ganze Reisekarawanen zum Opfer fallen. Nicht selten machen ausgehungerte Wölfe zu Tausenden die Ebenen unsicher. Trotzdem hätte Michael Strogoff den Winter zur Ausführung seines Auftrags vorgezogen; denn eines war gewiss: die Kälte würde die tatarischen Eindringlinge in die Städte treiben, die Steppe würde nicht durch Marodeure unsicher gemacht, und jede Truppenbewegung wäre unmöglich. Bei der gefährlichen Lage der Dinge konnte er aber weder Zeit noch Stunde wählen, er musste unverzüglich abreisen.
Diesmal kamen ihm nicht die üblichen Vorrechte eines Zarenkuriers zustatten. Niemand durfte auch nur den leisesten Verdacht haben, dass er im Sonderauftrag des Monarchen reiste, und das vom Feind überfallene Land wimmelte sicher von Spionen. So hatte ihm General Kissoff zwar eine großzügig bemessene Geldsumme übergeben, die die Reise erleichtern sollte, dazu aber nur einen einfachen Pass ohne den Zusatz ›im Sonderauftrag des Zaren‹, der dem Kurier sonst alle Türen öffnete.
Der Pass war ausgestellt auf den Namen Nikolaus Korpanoff, Kaufmann aus Irkutsk. Das Papier berechtigte Korpanoff, sich nötigenfalls von ein oder zwei Personen begleiten zu lassen; ferner erlaubte es dem Inhaber, Russland zu verlassen, auch wenn die Regierung eine allgemeine Ausreisesperre verhängen sollte. Außerdem gestattete der Pass Michael Strogoff, Postpferde zu requirieren. Von dieser Erlaubnis durfte er aber nur Gebrauch machen, solange seine Person keinen Verdacht erregte, auf jeden Fall nur, solange er sich auf europäischem Boden befand. Danach musste er seinen eigenen Kräften und seiner Erfindungsgabe vertrauen. Für ihn gab es jetzt nur ein Ziel: sich einzuprägen, dass er der Kaufmann Nikolaus Korpanoff war, dass er keinerlei Sonderrechte in Anspruch nehmen durfte und Irkutsk unerkannt erreichen musste.
Noch vor dreißig Jahren bestand die Eskorte eines Sibirienreisenden von Stand aus nicht weniger als zweihundert berittenen Kosaken, zweihundert Mann Fußvolk, fünfundzwanzig Baschkiren zu Pferde, dreihundert Kamelen, vierhundert Pferden, fünfundzwanzig Wagen, zwei tragbaren Booten und zwei Kanonen. Nur so ausgerüstet wagte man die Reise durch Sibirien.
Michael Strogoff freilich durfte weder über Kanonen noch Reiter, noch Tragtiere verfügen. Er musste im Wagen, zu Pferd oder, wenn nötig, zu Fuß vorwärtskommen. Die ersten 1493 Kilometer zwischen Moskau und der russischen Grenze konnten kaum Schwierigkeiten bereiten. Eisenbahnen, Postkutschen, Dampfer, Pferde zum Wechseln waren allen Reisenden, folglich auch Michael Strogoff, zugänglich.
Schon früh am Morgen des 16. Juli begab er sich zum Bahnhof. Statt seiner Uniform trug er einen einfachen Überrock, der in der Taille eng gegürtet wurde, weite Beinkleider und eng anliegende Stiefel. Dazu hatte er einen Reisesack geschultert. Dem Anschein nach war der Reisende unbewaffnet; er trug aber einen Revolver und das Waidmesser der sibirischen Jäger wohlverborgen unter dem Gürtel.
Auf dem Bahnhof in Moskau herrschte großes Gedränge. Die russischen Bahnhöfe sind beliebte Treffpunkte, nicht nur für die Reisenden, sondern auch für bloße Zuschauer. Man benutzt sie fast als kleinen Umschlagplatz für Nachrichten.
Die Eisenbahn sollte Michael Strogoff zunächst nach Nischnij-Nowgorod bringen. Die Stadt war Endstation einer Linie, die von St. Petersburg über Moskau führte, und der Zug würde für die 426 Kilometer etwa zehn Stunden brauchen. In Nischnij-Nowgorod konnte er sich dann für die Weiterreise zu Land oder zu Wasser entscheiden; auf jeden Fall musste er die schnellste Reisemöglichkeit zum Ural nutzen.
Der Kurier machte es sich auf einem Eckplatz seines Abteils bequem. Er konnte ein braver Bürger sein, den seine Geschäfte nicht sonderlich beunruhigten und der sich die lange Reisezeit durch ein bisschen Schlaf verkürzen wollte. Da er nicht allein im Abteil war, schlief er sozusagen nur mit einem Auge, lauschte dafür aber umso aufmerksamer und mit beiden Ohren den Gesprächen der Mitreisenden. In der Tat war das Gerücht von der Erhebung der Kirgisen und dem Einfall der Tataren schon durchgesickert. Die vom Zufall hier zusammengewürfelten Reisenden sprachen davon jedoch noch mit einer gewissen Zurückhaltung.
Der ganze Zug war besetzt mit Kaufleuten, die zur großen Handelsmesse nach Nischnij-Nowgorod fuhren. Juden saßen neben Türken, Kosaken und Weißrussen neben Georgiern und Kalmücken; doch fast alle beherrschten die russische Sprache.
Man besprach das Für und Wider der Entwicklung, die sich jenseits des Ural anbahnte, und die Kaufleute schienen einschränkende Maßnahmen der Regierung für die Grenzgebiete und damit auch für ihren Handel zu befürchten.
Sie betrachteten den Krieg, also die Niederschlagung der Erhebung und den Kampf gegen das Invasionsheer, ausschließlich vom Gesichtswinkel ihrer gefährdeten Geschäfte. Die Anwesenheit eines einzigen einfachen Soldaten in Uniform hätte genügt, die Rede dieser Kaufleute zu zügeln, hatte man doch in Russland außerordentlichen Respekt vor der Uniform. Aber da Michael Strogoff sein Inkognito wahrte, glaubte man unter sich zu sein und schwatzte munter darauf los.
»Die Preise für Karawanentee sollen heraufgehen«, sagte ein Perser, dessen Nationalität man an der pelzbesetzten Mütze und dem Schnitt des ein wenig fadenscheinigen weitfaltigen Rockes erkannte.
»Der Teehandel hat wirklich nichts zu befürchten«, antwortete ein verdrießlich dreinschauender Jude. »Die Messeware jedenfalls kann mit hohen Absatzpreisen im Westen des Reiches rechnen. Mit den Teppichlieferungen aus Buchara steht es da weit schlechter.«
»Erwarten Sie denn eine Sendung?«, fragte der Perser.
»Nicht aus Buchara, aber aus Samarkand, was noch unsicherer ist. Verlassen Sie sich einmal auf Einfuhren aus einem Land, das bis hinunter zur chinesischen Grenze von den Khans aufgewiegelt ist!«
»Sie haben recht«, warf ein anderer Reisender ein. »Waren aus Asien wird es auf der Messe kaum geben, keine Teppiche aus Samarkand, keine Wollwaren, keine Seifen, keine Öle, keine Seidentücher.«
Ein russischer Reisender, der den Gesprächen mit spöttischer Miene zugehört hatte, unterbrach die Aufzählung.
»Na, Väterchen, nehmen Sie sich nur in Acht, dass Sie keine Fettflecke in die Seidentücher bekommen, wenn Sie sie mit den Seifen und Ölen zusammenpacken!«
»Das finden Sie wohl sehr komisch!«, erwiderte der Angeredete mit säuerlicher Miene.
»Und wenn Sie sich jetzt die Haare raufen und Asche aufs Haupt streuen, ändern Sie den Lauf der Dinge um keinen Deut.«
»Sie sind sicher kein Kaufmann!«
»Gott behüte! Nein! Ich verkaufe weder Hopfen noch Tee, auch nicht Pökelfleisch, Kaviar, Bänder, Leder oder sonst etwas.«
»Aber vielleicht kaufen Sie davon?«, warf der Perser ein.
»So wenig wie möglich, und nur für meinen Privatbedarf«, entgegnete der Russe augenzwinkernd.
»Das ist ein Spaßvogel«, meinte der Jude.
»Oder ein Spion«, erwiderte der Perser. »Wir wollen vorsichtig sein und nicht mehr als nötig reden. In solchen Zeiten ist die Polizei nicht gerade feinfühlig, und man weiß nicht, mit wem man zusammensitzt.«
In einer anderen Ecke des Abteils sprach man weniger von Handelsgeschäften, umso mehr aber vom Tatareneinbruch und seinen möglichen Folgen.
Ein Reisender meinte: »Man wird in Sibirien alle Pferde requirieren. Es wird kaum noch Verbindungswege zwischen den Provinzen von Zentralasien geben.«
Und sein Nachbar fragte: »Stimmt es denn, dass die Kirgisen der Mittleren Horde mit den Tataren gemeinsame Sache machen?«
»Das sagt man jedenfalls«, antwortete der Angesprochene halblaut. »Aber wer kann in diesem Land schon behaupten, etwas mit Sicherheit zu wissen!«
»Ich hörte von Truppenzusammenziehungen an der Grenze. Die Don-Kosaken sollen bereits an der Wolga stehen. Man will sie den Kirgisen entgegenwerfen.«
»Wenn die Kirgisen dem Lauf des Irtysch gefolgt sind, muss auch die Straße nach Irkutsk unsicher sein«, bemerkte einer der Reisenden. »Ich wollte übrigens gestern ein Telegramm nach Krasnojarsk aufgeben, das ist nicht mehr durchgekommen. Ich fürchte, die Tataren brauchen nicht lange, um ganz Ostsibirien zu isolieren.«
»Also haben die Kaufleute ganz recht, wenn sie um ihre Geschäfte besorgt sind. Sind die Pferde erst einmal requiriert, kommen die Schiffe an die Reihe und nach und nach alle anderen Transportmittel, und zuletzt wird man im ganzen Reich nicht mehr einen Schritt tun dürfen. Die Messe wird wohl kaum so glänzend enden, wie sie begonnen hat. Aber was hilft es! Geschäfte sind eben nur Geschäfte, und die Sicherheit Russlands geht vor.«
Im ganzen Zug wurde über dasselbe Thema gesprochen. Ein unvoreingenommener Beobachter kam aber nicht umhin, festzustellen, dass alle Gespräche mit auffallender Zurückhaltung geführt wurden. Wagte sich jemand auf das Gebiet der Tatsachen, ging er nie so weit, Spekulationen über die Absichten der Regierung anzustellen oder gar ihre Maßnahmen zu kritisieren.