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Eine Fantasy-Welt, die ihrer Magie beraubt wurde. Ein Privatdetektiv, der unsagbare Schuld auf sich geladen hat. Willkommen in Sunder City – wo Drachen vom Himmel fallen und Magier nicht mehr zaubern können! Niemand in Sunder City kann sich das Verschwinden von Professor Rye erklären, der 400 Jahre alte Vampir hat ein Herz aus Gold und wird nicht nur von seinen Schülern geliebt. Doch seit die Magie die Welt verlassen hat, ist in Sunder City nichts mehr so, wie es war: Drachen fallen vom Himmel, Sirenen werden von ihren Männern verlassen und Elfen schlagartig von den Jahrhunderten ihres Lebens eingeholt. Wenn irgendjemand Professor Rye helfen kann, dann der Privatdetektiv Fetch Phillips, der sich tagtäglich für die nun hilflosen magischen Geschöpfe einsetzt. Was keiner seiner Klienten ahnt: Es ist Fetchs Schuld, dass die Magie verschwunden ist … »Der letzte Held von Sunder City« ist ein Fantasy-Roman, der mit einer ungewöhnlichen Idee spielt: Was passiert mit all den magischen Geschöpfen, wenn ihre Welt der Magie beraubt wird? Mit dem Privatdetektiv Fetch Phillips hat der australische Drehbuch-Autor, Schauspieler und Regisseur Luke Arnold einen raubeinigen Anti-Helden erschaffen, der nicht nur mit inneren Dämonen zu kämpfen hat.
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Seitenzahl: 403
Luke Arnold
Der letzte Held von Sunder City
Roman
Aus dem Englischen von Christoph Hardebusch
Knaur e-books
Niemand in Sunder City kann sich das Verschwinden von Professor Rye erklären, der 400 Jahre alte Vampir ist nicht nur bei seinen Schülern äußerst beliebt. Doch seit die Magie die Welt verlassen hat, ist in Sunder City nichts mehr so, wie es war: Drachen fallen vom Himmel, Sirenen werden von ihren Männern verlassen und Elfen schlagartig von den Jahrhunderten ihres Lebens eingeholt. Wenn irgendjemand Professor Rye helfen kann, dann der Privatdetektiv Fetch Phillips, der sich tagtäglich für die nun hilflosen magischen Geschöpfe einsetzt. Was keiner seiner Klienten ahnt: Es ist Fetchs Schuld, dass die Magie verschwunden ist.
»Tu Gutes«, hatte sie gesagt.
Nun, das hatte ich versucht, oder etwa nicht? Meine Karriere bestand nur aus sinnlosen und frustrierenden Fällen. So wie damals, als Mrs Habbot mich angeheuert hatte, ihren verschwundenen Hund zu finden. Zwei Wochen Arbeit, drei gebrochene Knochen, dann starb die alte Schrulle, bevor ich mein Geld hatte, und ich durfte zwei Monate Hundesitter für einen blinden, inkontinenten Pudel spielen. Gerade lange genug, dass ich Gefühle für den verdammten Köter entwickeln konnte, bevor auch er das Zeitliche segnete.
Ruhe in Frieden, Pompo.
Dann war da noch meine kurze Zeit als Leibwächter von Aaron King. Volles Honorar, keins meiner Haare gekrümmt, aber dem reichen Geck bei seinem Geheule über die Erbschaft zuhören zu müssen bedeutete viereinhalb Tage Agonie. Noch heute ziehe ich mir seine Beschwerden mit Pinzetten aus dem Gehörgang.
Nach einer Serie von ähnlich unnützen Jobs saß ich im Halbschlaf in meinem Büro, dreiviertelbetrunken und ohne Kaffee im Haus. Das war’s dann. Kein Kaffee. Genug, um das ganze bescheuerte Spiel endgültig zu beenden. Ich stand auf und öffnete die Tür.
Nicht die erste Tür. Die erste Tür aus meinem Büro ist die mit dem kleinen Glasfenster, auf dem FETCH PHILLIPS, MANN FÜR ALLES steht und die ins Wartezimmer und dann hinaus in den Hausflur führt. Nein, ich öffnete die andere Tür. Diejenige, die fünf Stockwerke über der Main Street ins Nichts führt. Die Vorbesitzer hatten sie benutzt, aber ich war noch nie hinausgegangen. Bis jetzt zumindest.
Der Herbstwind schlug mir geradezu ins Gesicht, als ich meinen Fuß über die Kante hängen ließ und auf Sunder City hinabsah. Sechs Jahre, seit alles den Bach runtergegangen war. Sechs Jahre des Herumstolperns in der Hoffnung, dass ich auf irgendwas stoßen würde, das mich all die dummen Fehler wiedergutmachen ließ.
Warum hat sie jemals gedacht, dass ich irgendwas erreichen könne?
Klingelingeling.
Das zweiteilige schwarze Telefon erschien mir wie ein Bettler, der nach Kleingeld fragte. Ich sah es an und fragte mich, ob es mir mehr Ärger einbringen würde, dranzugehen oder es zu ignorieren.
Klingelingeling.
Klingelingeling.
Ich nahm das Ohrteil ab. »Hallo?«
»Spreche ich mit Mr Phillips?«
»Am Apparat.«
»Hier ist Schuldirektor Simon Burbage von der Ridgerock-Akademie. Hätten Sie heute Nachmittag Zeit, vorbeizukommen? Ich fürchte, ich benötigte Ihre Hilfe.«
Ich kannte die Adresse, aber er sagte sie mir trotzdem noch einmal. Unser Termin war nach Schulschluss, wenn alle Kinder schon nach Hause gegangen sein würden, aber er bat mich, etwas früher einzutrudeln.
»Falls möglich, seien Sie doch um halb drei vor Ort. Es gibt eine Präsentation, die Sie vielleicht interessiert.«
Als ich dem früheren Termin zustimmte, legte er auf.
Der Wind fuhr mir wieder ins Gesicht. Dieses Mal atmete ich die kalte Luft tief ein und blies sie wieder hinaus in die Nacht. Meine Lider öffneten sich mit einem kratzenden Gefühl. Mein Blut taute wieder auf. Ich rieb mir mit der Hand übers Gesicht, das rau und trocken war wie ein Stück Salzfleisch.
Ein Klient. Ein Fall. Einer, der vielleicht wirklich etwas ändern konnte.
Schnell nahm ich Portemonnaie, Feuerzeug, Schlagring und Messer, dann versetzte ich der zweiten Tür einen Tritt, sodass sie zuflog.
Nach einer Woche Regen zeigte sich endlich ein Riss in den Wolken, und zur Abwechslung sahen die Straßen mal sauber aus. Es war der erste Auftrag seit über zwei Wochen, und ich musste dafür sorgen, dass alles glattging. Deshalb trug ich meinen geflickten grauen Anzug mit dem weißen Hemd und der schwarzen Krawatte, dazu mein bestes Paar Stiefel und den marineblauen Mantel mit Pelzbesatz, der quasi ein Teil von mir war.
Die Ridgerock-Akademie bestand aus drei einstöckigen Betonbauten hinter einem Drahtzaun. Das größte Gebäude war mit schmerzhaft bunten Wandmalereien von lachenden Gesichtern, Sonnenstrahlen und Sternen verziert.
Eine Sicherheitsfrau wartete mit einer Kaffeekanne und einem papierdünnen Lächeln auf mich. In ihren Augen zeigten sich Lust auf Ärger und die schamlose Freude an einem winzigen bisschen Macht. Als sie mich nach meinem Namen fragte, antwortete ich brav.
»Fetch Phillips. Ich habe einen Termin mit dem Direktor.«
»Versammlungshalle. Geradeaus, dann die roten Türen links.«
Auch wenn es nicht meine Schule war und ich noch nie hier gewesen war, bedeckte alles eine dicke Schicht Nostalgie; das unvergessliche Aroma von Grasflecken, rotzverschmierten Ärmeln, Angst, Verwirrung und einer Woche alten Erdnussbuttersandwiches.
Auf den roten Türen gab es das versehentliche Graffiti von Kindern, die mit Fingermalfarben hantierten. Ich zog sie auf, nahm mir einen Moment Zeit, mich an die dahinterliegende Dunkelheit zu gewöhnen, und trat so leise wie möglich ein.
Die riesige Sporthalle wurde auch als Auditorium genutzt. An einer Wand waren ordentlich Stühle gestapelt, an der gegenüberliegenden stand das Sportgerät. Dazwischen schnitt das warme Licht eines Filmprojektors durch die Finsternis und beleuchtete eine glatte weiße Leinwand. Staub tanzte über den hundert Kids, die tuschelnd auf dem Boden saßen. Ich glitt nach hinten, lehnte mich an die Wand und wartete auf das, was da kommen mochte.
Ein Mädchen quietschte. Einige Jungs lachten. Dann trat ein mausartiger Mann mit weißem Haar und Brille in den Lichtstrahl.
»Ruhe bitte. Die Präsentation beginnt jetzt.«
Mir kam die Stimme gleich vom Anruf her bekannt vor.
»Ja, Mr Burbage«, antworteten die Kinder in einstudiertem Singsang.
Der Schuldirektor ging zum Projektor, und das grelle Licht zeichnete harte Linien in sein Gesicht. Als er eine Filmrolle auspackte und auf die Spule schob, ging eine Welle der Aufregung durch die Schüler. Die Lautsprecher knackten, und eine überbetonende Stimme erklang.
»Opus präsentiert …«
Ich verschluckte mich. Opus waren meine alten Arbeitgeber, und wir hatten uns nicht gerade freundlich getrennt. Falls Burbank mir das zeigen wollte, musste er einen Teil meines Lebens kennen. Das gefiel mir ganz und gar nicht.
»… Mein Körper und ich: Aufwachsen nach der Coda.«
Ich wurde zappelig, zog an einem losen Faden meines Ärmels. Nun sprach ein Mann in dem Film, in diesem überfreundlichen, unechten Ton, den ich mit Verkaufspersonal, Betrügern und korrupten Cops assoziierte.
»Hallo an euch alle! Wir wollen heute über euren Körper sprechen. Jetzt soll es aber nicht unbehaglich werden, denn euer Körper ist wirklich was Besonderes, und es ist wichtig, dass ihr wisst, warum das so ist.«
Eins der Kinder stöhnte auf, suchte wohl nach einem Lachen aus dem Publikum, aber es kam keins. Ich war nicht als Einziger nervös.
»Alle Körper sind unterschiedlich, und das ist voll okay so. Anders zu sein bedeutet auch, besonders zu sein, und wir sind alle auf unsere ganz eigene Art besonders.«
Zwei Zeichentrick-Kids erschienen auf der Leinwand: ein Junge und ein Mädchen. Sie winkten den Schülern im Auditorium zu, als wären es Freunde.
»Vielleicht hast du etwas an deinem Körper, das deine Freunde nicht haben. Oder sie haben etwas, das du nicht hast. Diese Unterschiede können verwirrend sein, wenn man nicht weiß, woher sie stammen.«
Die kleinen Zeichentrick-Kinder spielten den Kommentar aus und zuckten mit den Achseln, während über ihren Köpfen Fragezeichen erschienen. Dann begannen sie, sich zu verändern.
»Vielleicht hat deine Freundin spitze Zähne.«
Das Mädchen auf der Leinwand öffnete den Mund und präsentierte scharfe Fangzähne.
»Vielleicht hast du Buckel auf dem Rücken.«
Der Zeichentrick-Junge drehte sich um, um zwei Beulen auf seinen Schulterblättern zu zeigen.
»Du könntest wundervolles braunes Fell haben oder mehr Augen als deine Klassenkameraden. Hast du glänzende Haut? Tolle lange Beine? Vielleicht einen Schweif? Was auch immer du bist, wer auch immer du bist, du bist ganz besonders. Und du bist aus gutem Grund so.«
Das Bild wurde zu einer Landschaft: Berge, Flüsse und Ebenen, wie in einem unschuldigen Kinderbuch. Obwohl der Film sich alle Mühe gab, es anders darzustellen, wusste ich verdammt gut, dass es keine schöne Geschichte war.
»Seit Anbeginn der Zeit hat unsere Welt ihre Macht von einer natürlichen Energiequelle bekommen, die wir Magie nennen. Magie war Teil so ziemlich jeder Kreatur, die es gab. Magier konnten sie nutzen, um Zauber zu wirken. Drachen und Greifen flogen durch die Luft. Elfen blieben viele Jahrhunderte lang jung und schön. Jedes Wesen war im Einklang mit dem Geist der Welt, und das machte sie unterschiedlich. Besonders. Magisch.
Aber vor sechs Jahren, bevor einige von euch überhaupt geboren wurden, gab es einen Zwischenfall.«
Der Faden riss, als ich fest daran zog. Ich wickelte ihn eng um meinen Finger.
»Eine Spezies war nicht mit der Magie des Planeten verbunden: Menschen. Sie waren eifersüchtig auf die Macht um sie herum, und so versuchten sie, das zu verändern.«
Ein altbekannter Schmerz stach mir links in die Brust, also griff ich in mein Jackett und zog meine Medizin hervor: ein Päckchen Clayfield Heavies. Clayfields sind die modern hergestellte Variante eines Schmerzmittels, das die Leute in der Gegend hier seit Jahrhunderten verwenden. Im Grunde sind es Stückchen von der Rinde des Recusbaums, so groß wie ein Zahnstocher. Ich schob mir einen dünnen Zweig zwischen die Zähne und biss darauf, während der Film weiterlief.
»Um ihre natürliche Unterlegenheit auszugleichen, schufen Menschen Maschinen. Sie erfanden eine große Anzahl Waffen, Werkzeuge und seltsame Geräte, aber es reichte nicht aus. Sie wussten, ihre Maschinen würden niemals so mächtig sein wie die sie umgebende Magie.
Da hörten die Menschen eine Legende, die von einem heiligen Berg erzählte, wo der magische Fluss aus dem Inneren des Planeten an die Oberfläche stieg; ein Portal direkt ins Herz der Welt. Dieser uralte Mythos brachte die Menschen auf eine Idee.«
Das Bild wurde zu einer Armee von wütenden Soldaten mit gezogenen Schwertern, die eine riesige Bohrmaschine anschoben.
»Da sie die natürliche Magie des Planeten für sich selbst wollten, überfiel die Armee der Menschen den Berg und besiegte seine Beschützer. In der Hoffnung, dass sie die Macht des Flusses für ihre eigenen Zwecke nutzen könnten, schlossen sie ihre Maschinen direkt an die Seele unserer Welt an.«
Vor meinen Augen zeigte der naive Zeichentrickfilm die Ereignisse, die heute nur noch als die Coda bezeichnet wurden.
Stumm starrten die Kinder die Zeichentrickarmee an, während sie über den Berg kam. Auf der Leinwand sah es aus wie ein Spiel mit Figuren, die über ein Brett geschoben wurden. Sie hörten nicht die Schreie. Sie rochen nicht die Feuer. Sie sahen nicht das Blutvergießen. Die Leichen.
Sie sahen nicht mich.
»Die Armee der Menschen sandte ihre Maschinen zum Berg, aber als sie versuchten, sich die Macht des Flusses untertan zu machen, geschah etwas viel Schrecklicheres. Der glitzernde Fluss reiner Magie gefror von Nebel zu festem Kristall. Das Herz der Welt verstummte, und jedes magische Wesen spürte die Veränderung.«
Mir stieg Galle in den Mund.
»Drachen stürzten aus dem Himmel. Elfen alterten in wenigen Sekunden viele Jahrhunderte. Die Körper von Werwölfen wurden instabil und deformiert. Die Magie schwand aus den Kreaturen der Welt. Von uns allen. Und so ist es seitdem geblieben.«
In der Dunkelheit bewegten sich die Köpfe der Kids. Winzige Körper untersuchten sich selbst, sahen ihre Nachbarn an. Jetzt war auch ihre ganze Welt von der Trauer bedeckt, die der Rest seit sechs Jahren sah.
»Vielleicht trägst du noch die Wunder von einst in dir. Flügel, Fänge, Klauen und Schweife sind deine Gaben vom großen Fluss. Sie künden von deinen Vorfahren und sind nichts, wofür man sich schämen muss.«
Die Clayfield brach in zwei Teile, als ich zu fest zubiss. Irgendwo im Publikum weinte ein Kind.
»Denk immer daran, auch wenn da keine Magie ist, bist du dennoch … besonders.«
Der Film kam an sein Ende und flappte ein Dutzend Mal laut klickend um die Spule, bis der Projektor erlahmte. Burbage schaltete das Licht ein.
»Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit. Falls ihr Fragen zu euren Körpern, eurer Spezies oder ihrem Leben vor der Coda habt, werden eure Lehrer und Eltern sie euch gern beantworten.«
Während Burbage die Präsentation beendete, gab ich mein Bestes, um mit der Wand hinter mir zu verschmelzen. Ein Schweißfilm bildete sich auf meiner Stirn, und ich tupfte sie mit einem alten Taschentuch ab. Als ich aufsah, bemerkte ich den neugierigen Blick eines Augenpaars.
Sie waren neblig grün mit winzigen Pupillen: elfisch. Jung. Aber das Gesicht war alt. Die Haut von Elfen hat keine Spannkraft. Nicht mehr. Unter den Augen wölbten sich Säcke, die ein Jahrzehnt Schlaf gebrauchen könnten, aber er war nicht älter als fünf. Sein Haar war weiß und ohne Glanz, und sein winziger Leib war verdreht. Er verzog keine Miene, sah mir einfach nur direkt in die Seele.
Und ich schwöre, er wusste es.
Ich wartete in dem kleinen Raum vor dem Büro des Schuldirektors auf einer Bank, die so niedrig war, dass meine Knie meine Brust berührten. Hinter einer Glastür sprach Burbage in ein Telefon. Die Worte konnte ich nicht verstehen, aber er klang abwehrend. Meiner Vermutung nach war irgendwer nicht ganz glücklich mit dem Film, wohl jemand aus der Fakultät. Immerhin war ich nicht der Einzige.
»Ja, ja, Mrs Stanton, das muss ein Schock für ihn gewesen sein. Ich verstehe, dass er ein sehr sensibler Junge ist. Vielleicht ist es genau das Teilen dieser Erkenntnis mit anderen Schülern, was sie enger zusammenbringt … ja, genau, ein Gefühl von Verbundenheit.«
Unbewusst schob ich meinen linken Ärmel etwas hoch und rieb über die Haut an meinem Handgelenk. Dort, wo die vier schwarzen Ringe wie flache Armbänder tätowiert waren, von meiner Hand bis zum Ellbogen: eine Linie, ein detailreiches Muster, ein militärisches Erkennungszeichen und ein Barcode.
Manchmal fühlte es sich an, als würden sie brennen. Was nicht sein konnte. Man hatte mich vor Jahren tätowiert, der Schmerz der Nadeln war längst verklungen. Nein, es war die Schande dessen, wofür sie standen, die wieder in mich hineinkroch.
Die Bürotür schwang auf. Ich ließ den Arm fallen, um den Ärmel nach unten zu schütteln, aber ich war zu langsam. Burbage erhaschte einen Blick darauf und sah mich mit einem wissenden Lächeln an. »Mr Phillips, bitte treten Sie ein.«
Das Büro des Schuldirektors war in eine Ecke des Gebäudes gedrückt, vom Licht der Nachmittagssonne unerreicht. Der Schreibtisch wurde von einem gut gefüllten Bücherregal und einem staubigen Globus flankiert. Auf dem Tisch stapelten sich Unterlagen, benutzte Servietten und Lehrbücher mit geknickten Seiten. An der Kante stand eine grüne Lampe, die den Raum erhellte, als wäre das etwas Gutes.
Burbage war so ungepflegt, dass es sogar mir auffiel. Eine braune Hose und ein zerknittertes fahlblaues Hemd ohne Krawatte. Ungekämmtes, schulterlanges Haar entsprang einem Kranz unterhalb seiner Glatze auf dem Schädel. Er nahm in einem mit Leder bezogenen Lehnstuhl Platz, und ich setzte mich ihm gegenüber, sehr bemüht, gerade zu sitzen.
Dann putzte er erst mal in aller Ruhe seine Brille. Er nahm sie ab, legte sie auf den Schreibtisch, zog ein blütenweißes Tuch aus der Brusttasche. Hob die Brille ins Licht, strich sorgfältig über die Gläser. Während er so rieb, bemerkte ich seine Hände. Genau, wie ich sollte. Nur dafür zog er die Vorstellung ab.
Als er sicher sein konnte, dass ich seine Darbietung gebührend bewundert hatte, schob er die Brille auf die Nase, legte seine Hände flach auf den Schreibtisch und ließ die Finger auf das Holz trommeln. Vier an jeder Hand. Keine Daumen.
»Wissen Sie, was Ditarum ist?«, fragte er.
»Soll ich hier zur Schule gehen?«
»Ich möchte nur sichergehen, dass Sie keine Nachhilfe benötigen. Man hat mir gesagt, dass Sie viele Leben gelebt haben, Mr Phillips. Mehr Erfahrung, als Ihr Alter vermuten lässt. Ich muss wissen, ob diese Reputation gerechtfertigt ist.«
Auch wenn ich ungern wie ein Zirkustier durch Reifen sprang, brauchte ich doch zu dringend das Geld, das auf der anderen Seite warten konnte.
»Ditarum: die Technik, die Zauberer nutzen, um Magie zu kontrollieren.«
»Das ist korrekt.« Er hob die rechte Hand. »Indem wir mit vier Fingern spezifische, komplexe Muster schufen, öffneten wir winzige Portale, durch die pure Magie strömen konnte. Die Meister des Ditarums – und es gab immer nur eine Handvoll solcher, müssen Sie wissen – waren als Lumrama geehrt. Wussten Sie das?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Nein.« Ein befremdliches Lächeln hing zwischen seinen Ohren. »Das hätte ich auch nicht erwartet. Die Lumrama waren Magier von solchem Können, dass sie Magie für alles nutzen konnten. Von Angriffen auf einem Schlachtfeld bis zu den einfachsten Aufgaben des Alltags. Mit nur vier Fingern konnten sie alles tun, was nötig war. Und um das zu beweisen …«
BÄMM! Er schlug mit der Hand auf den Tisch, wollte wohl, dass ich zusammenzuckte. Den Gefallen tat ich ihm nicht.
»Um das zu beweisen«, wiederholte er, »schnitten die Lumrama ihre Daumen ab. Daumen sind primitive, grobe Werkzeuge. Indem wir sie entfernten, konnten wir zeigen, dass wir uns über die einfache irdische Existenz erhoben und von unseren sterblichen Verwandten abgesetzt hatten.«
Der alte Mann streckte mir seine Hand entgegen, wackelte mit den Fingern und kicherte, als sei das ein guter Scherz.
»Was für eine Überraschung auf uns wartete!«
Burbage lehnte sich zurück und inspizierte mich, was mich hoffen ließ, dass wir endlich zum geschäftlichen Teil kommen würden.
»Also, Sie sind der Mann für alles?«
»So ist es.«
»Wieso bezeichnen Sie sich nicht einfach als Privatdetektiv?«
»Ich hatte Sorge, dass das zu intellektuell klingt.«
Der Direktor hob die Augenbrauen. Er wusste nicht, ob ich versuchte, lustig zu sein, und noch weniger, ob es mir gelang. »Wie ist Ihre Beziehung zur Polizei?«
»Wir haben eine, aber ich versuche, sie so klein wie möglich zu halten. Wenn sie an meine Tür klopfen, muss ich ihnen aufmachen, aber die Privatsphäre meiner Klienten hat Priorität. Es gibt Grenzen, aber ich schiebe sie so weit nach außen, wie ich kann.«
»Gut, gut«, murmelte er. »Es ist nicht so, dass es um etwas Illegales geht, aber es ist eine delikate Angelegenheit, und die Polizei ist wie ein Eimer mit einem Loch.«
»Kein Widerspruch von mir.«
Er lächelte. Er lächelte gern. »Einer unserer Lehrer wird vermisst. Professor Rye. Er unterrichtet Geschichte und Literatur.«
Dabei schob er mir einen Ordner zu. Darin befand sich ein dreiseitiges Dossier über Edmund Albert Rye: Vollzeitlehrer, 1,95 Meter groß, dreihundert Jahre alt …
»Sie lassen hier Vampire-Kinder unterrichten?«
»Mr Phillips, ich weiß nicht, was Sie über das Blutvolk wissen, aber sie sind seit den Horrorgeschichten der alten Zeiten weit gekommen. Vor über zweihundert Jahren haben sie die Liga der Vampire gegründet, eine Vereinigung, die sich geschworen hat, die schwächeren Wesen dieser Welt nicht zu jagen, sondern zu beschützen. Nahrung nehmen sie nur von freiwilligen Blutspendern an oder von jenen, die per Gesetz zum Tode verurteilt wurden. Abgesehen von einigen Renegaten ist das Blutvolk meiner Meinung nach das edelste, das je aus dem großen Fluss gestiegen ist.«
»Verzeihen Sie mir. Ich selbst habe noch nie einen getroffen. Wie ist es ihnen nach der Coda ergangen?«
Mein Unwissen gefiel ihm. Er war die Sorte Mann, die gern die Ungebildeten belehrte. »Die vampirische Bevölkerung hat ebenso gelitten wie alle anderen Wesen dieser Welt, wenn nicht mehr. Die magische Verbindung ihres Akts des Bluttrinkens wurde gekappt. So erhalten sie keine Unze der magischen Lebenskraft mehr, die einst ihr Überleben gesichert hat. Kurz gesagt, sie sterben. Langsam und qualvoll. Vergehen zu Staub, wie Leichen in der Sonne.«
Im Ordner war ein Foto, das ich mir genauer ansah. Die einzigen Lebenszeichen im Gesicht von Edmund Rye waren die intensiven Augen, die aus tiefen Höhlen starrten. Ansonsten war er kaum mehr als ein Geist: höhlenartige Nasenlöcher, Haare wie Spinnweben und schuppige Haut.
»Wann wurde das aufgenommen?«
»Vor zwei Jahren. Seitdem ist es schlimmer geworden.«
»War er Mitglied der Liga?«
»Selbstverständlich. Edmund war sogar essenzieller Teil der Gründung.«
»Gibt es sie noch?«
»Theoretisch ja. Aber in ihrer momentanen Schwäche können die Mitglieder der Liga ihrem Eid des Schutzes nicht mehr gerecht werden. Sie existiert noch, ist aber kaum mehr als ein Name.«
»Wann hat er sich entschieden, Lehrer zu werden?«
»Vor drei Jahren habe ich verkündet, dass ich Ridgerock gründen werde. Das hat für einiges Aufsehen in der Presse gesorgt. Vor der Coda wäre eine Inter-Spezies-Schule recht unpraktisch gewesen. Stellen Sie sich nur mal vor, man wollte Zwerge dazu bringen, in einem Kurs über Tränke zu sitzen, oder Gnome und Oger zusammen auf einem Sportplatz. Es wäre unmöglich, allen eine angemessene Bildung zukommen zu lassen. Aber dank Leuten wie Ihnen sind nun alle auf einem niedrigen Niveau vereint.«
Es war ein Köder. Ich entschied mich, nicht hineinzubeißen.
»Edmund besuchte mich gleich in der nächsten Woche. Ihm war bewusst, dass ihm nicht mehr viele Jahre blieben, und an dieser Schule konnte er das Wissen und die Weisheit weitergeben, die er in seinem langen, eindrucksvollen Leben erlangt hatte. Seit unserer Eröffnung hat er loyal gedient und ist ein beliebtes Mitglied unserer Fakultät.«
»Wieso ist er dann verschwunden?«
Burbage zuckte mit den Schultern. »Seit einer Woche ist er nicht zum Unterricht erschienen. Wir haben den Schülern gesagt, er habe aus persönlichen Gründen frei. Er lebt über der Stadtbibliothek. Die Adresse ist in der Akte, und bei der Bibliothek erwartet man Sie bereits.«
»Noch habe ich den Auftrag nicht angenommen.«
»Sie werden. Deshalb habe ich Sie gebeten, früher zu kommen. Ich wollte wissen, welche Art Mann eine Karriere wie die Ihre anstrebt. Jetzt weiß ich es.«
»Und welche Art Mann ist das?«
»Die schuldbewusste Art.«
Er beobachtete meine Reaktion mit seinen schmalen Alleswisser-Augen. Ich schob das Bild zurück in den Ordner. »Da bereits eine Woche vergangen ist – warum sind Sie nicht zur Polizei gegangen?«
Burbage schon einen Umschlag über den Tisch. Ich konnte die bronzefarbenen Scheine darin sehen. »Bitte finden Sie meinen Freund.«
Also stand ich auf, nahm den Umschlag und zählte so viel daraus ab, wie mir fair vorkam. Das war etwa ein Drittel von dem, was er anbot. »Das deckt die Woche ab. Sollte ich bis dahin nichts herausgefunden haben, reden wir über eine Verlängerung.«
Damit steckte ich das Geld ein, rollte den Ordner zusammen und verstaute ihn in einer Innentasche. Beim Rausgehen hielt ich in der Tür inne. »Dieser Film … er hat keinen Unterschied zwischen der Armee und dem Rest der Menschen gemacht. Ist das nicht ein wenig verantwortungslos? Es könnte für die menschlichen Schüler gefährlich sein.«
Im fahlen Licht sah ich wieder das herablassende Lächeln, das er so gut beherrschte.
»Mein lieber Herr«, hob er munter an. »Es würde uns nicht im Traum einfallen, ein menschliches Kind aufzunehmen.«
Draußen kühlte die Luft den Schweiß an meinem Hals. Die Sicherheitsfrau ließ mich ohne Kommentar hinaus, und ich bat um keinen. Ich ging die Vierzehnte Straße entlang, wohl wissend, dass es nicht viel Hoffnung gab, etwas Gutes herauszufinden. Professor Edmund Albert Rye, ein Mann, dessen Lebenserwartung seit einigen Jahrhunderten abgelaufen war. Ich bezweifelte, dass ich mit viel mehr als einer traurigen Geschichte zurückkehren würde.
Damit lag ich nicht falsch. Aber in der Geschichte steckten dennoch einige Elemente mit Biss.
Sunderia war ein karges, unbewohntes Land. Im Jahre 4390 sah eine Gruppe von Drachentötern Flammen am Horizont und dachte, sie wären ihrer Beute auf der Spur. Stattdessen fanden sie den Eingang zu einer unterirdischen Feuerhöhle. Statt über ihren Irrtum zu lamentieren, machten sie das Beste daraus.
Sunder City hat seine Ursprünge also in einer riesigen Fabrik, die jenen gehörte, die sie gegründet hatten. Die ersten Jahrzehnte lebten hier nur Arbeiter, die ihre Tage damit verbrachten, Eisen zu schmelzen, Ziegel zu brennen und Grundsteine zu legen. Mit der Zeit fand die Stadt ein Gleichgewicht, und jene, deren Verträge ausliefen, waren weniger erpicht darauf, sie zu verlassen. Also schufen sie hier ihr Zuhause und gründeten Geschäfte. Schließlich benötigte die Stadt eine Führung jenseits der Fabrik, also wurde der erste Gouverneur gewählt: ein zwergischer Baumeister namens Ranamak.
Ranamak war nach Sunder City gekommen, um bei Bauten zu beraten, und hatte dann irgendwie den Absprung verpasst. Er hatte alle Eigenschaften, die Sunderiten schätzten: Stärke, Erfahrung und Zugänglichkeit. Da er ein einfacher Bursche mit viel Fachwissen über Minenarbeiten war, empfanden ihn die meisten Bewohner als perfekten Anführer.
Selbst nach zwanzig Jahren war der Großteil der Stadt noch mit seiner Arbeit zufrieden. Die Wirtschaft brummte. Die Straßen mit den Werkstätten und Geschäften waren immer voll, und alle Geldbeutel füllten sich zunehmend. Nur der Gouverneur selbst glaubte, seine Führungsfähigkeit reiche nicht aus.
Denn Ranamak hatte die ganze Welt bereist und wusste, dass Sunder Gefahr lief, von Produktivität und Gewinn besessen zu sein und dabei andere Lebensbereiche zu vernachlässigen. Seine Angst war, dass die Kultur der Stadt übersehen wurde, und er suchte einen Weg, um Sunder City eine eigene Seele zu verleihen. Mitten in diesem Bemühen traf er jemanden, der komplett außerhalb der Wirtschaft existierte.
Sir William Kingsley war zu seiner Zeit eine kontroverse Figur; als in Ungnade gefallener Sprössling einer stolzen menschlichen Familie kehrte er seinen Pflichten den Rücken und begann ein nomadisches Leben. Er las, er aß, er schrieb, und er betrieb die oft geschmähte Kunst der Philosophie.
So kam Kingsley nach Sunder und verbreitete Gedichte und Ideen, und irgendwie fand er seinen Weg in Ranamaks Büro. Der Legende nach wurde er irgendwann zwischen der vierten und fünften Flasche Wein zum ersten Minister für Theater und die Künste ernannt.
In den nächsten drei Jahren wurden höhere Steuern erhoben, um Kingsleys Kreationen zu finanzieren: ein Amphitheater, einen Tanzsaal und eine Kunstgalerie. Er begründete das Ministerium für Bildung und Geschichte, welches das Museum baute. In wenigen Jahren verwandelten Ranamak und Kingsley Sunder von einem reinen Ort der Arbeit in eine schillernde, lebendige Metropole. Dann wurden sie von einem Mob wütender Steuerzahler dafür ermordet.
Heutzutage teilen Sunderiten alle die eine Meinung: Es musste geschehen, es ging ein wenig zu weit, aber die Jahre unter Kingsley haben die Stadt zu dem gemacht, was sie heute ist, und alle können stolz auf das Erreichte sein.
Am Jahrestag der Morde bauten die Einwohner von Sunder die Sir-William-Kingsley-Bibliothek, um seiner zu gedenken, ein großartiges Gebäude aus rotem Holz auf einem kleinen Hügel im östlichen Teil der Stadt. Nach einem kurzen Gang hinauf kam ich an die bronzene Statue des geräumten Sir William. Er war ein vergnügt dreinschauender Mann mit einem runden Gesicht und Glatze. In einer Hand ein Buch, in der anderen eine Weinflasche. Am Podest gab es eine Gedenktafel mit den ikonischen Versen aus seinem berühmtesten Gedicht Die Reisenden:
Der Funke wird das Feuer zünden,
Und das Feuer folgt der Spur.
Vorwärts geht es durch den Sumpf,
doch niemals mehr zurück.
Die Bibliothek war eines der wenigen hölzernen Gebäude, die die Angewohnheit der Stadt, hin und wieder spontan in Flammen aufzugehen, überlebt hatten. Vor der Coda, als die Feuer noch frei flossen, ermöglichten die Gruben kostenlose Heizungen und Energie für alle Bewohner, solange man sich nicht daran störte, dass Teile der Stadt immer mal wieder zu Asche wurden.
Ihr einsamer Hügel hatte die Bibliothek bislang beschützt. Fast zumindest. Einmal waren die Flammen ihr so nah gekommen, dass ihr goldenbraunes Holz schwarze Striemen aufwies. Ihre Buntglasfenster, Bögen und Turmspitzen gaben ihr den Charme vergangener Zeiten; eine geradezu spirituelle Aura, beinahe seltsam für ein Gebäude, das den Zweck erfüllte, Bücher zu beherbergen.
Ich mag Bücher. Sie sind ruhig, würdevoll und unabdingbar. Ein Mann mag Schwäche zeigen, aber seine Worte, einmal auf Papier gebannt, bleiben stark.
Die breiten Türen öffneten sich mit dem Geräusch eines gähnenden Bären, und der Geruch alter Bücher drang in meine Nüstern.
Das Innere der Bibliothek wirkte eher wie eine Privatsammlung denn wie ein öffentliches Gebäude. Die Gänge waren darauf ausgelegt, die Architektur zu betonen, weshalb sie nie dorthin führten, wo man es erwartete. Nur allzu gern hätte ich den Tag damit verbracht, nach dem perfekten Buch für mich zu suchen, aber zur Abwechslung trieb mich mal ein Auftrag hierher.
Es war offensichtlich, dass der Rest der Stadt meine Leidenschaft für die Bücherei nicht teilte. Erst als ich fast alle der labyrinthartigen Gänge abgesucht hatte, fand ich die einzig andere lebende Seele vor einem Bücherregal hockend. Die Bibliothekarin war Anfang dreißig, in blauer Strickjacke und grauer Hose. Wir waren im selben Alter, aber die Zeit hatte sie wie guten Wein behandelt und mich wie Milch, die man in der Sonne stehen gelassen hatte. Eine braune Haarsträhne war ihr in den Nacken gefallen und hob sich nur wenig von ihrer etwas helleren Haut ab. Sie sah mich und lächelte mit Lippen, die man einem Ertrinkenden hätte zuwerfen können.
»Ah, Sie müssen der Laufbursche des Direktors sein.« Damit erhob sie sich, und wir schüttelten einander die Hände. Ihre Finger waren lang und dünn und umfassten meine zur Gänze. Hände, für die Hexerei geschaffen.
»Fetch Phillips«, stellte ich mich vor. »Woher wissen Sie, dass ich kein Besucher bin?«
»Ich kann einen Trinker auf den ersten Blick erkennen. Die Sonne geht unter, und Sie haben dennoch kein Glas in der Hand. Deshalb würde ich darauf wetten, dass Sie beruflich unterwegs sind.«
Die Frau hatte ihr Wissen sowohl von der Straße als auch aus Büchern. Ich hätte gedacht, dass all diese Blumen schon längst aus diesem Garten gepflückt worden wären.
»Das ist ein großartiges Gebäude. Sind Sie schon lange hier?«
»Zehn Jahre«, erklärte sie, während ihre Finger von meinem Handgelenk glitten. »Durch Feuer, Coda, Vampire.«
»Was war das Schlimmste?«
»Wollen Sie das wirklich wissen, Soldat?« Sie warf mir einen wissenden Blick zu, der dennoch nicht wertend war, und zwängte sich dann an mir vorbei durch den Gang. »Es war sicherlich nicht Ed. Zuerst war ich einfach froh, hier Gesellschaft zu haben, aber es hat nicht lange gedauert, bis mir klar wurde, wie viel Glück ich hatte, dass sich unsere Pfade gekreuzt haben. Der Professor ist fraglos die intelligenteste Kreatur, die ich jemals getroffen habe. Kommen Sie, ich zeige Ihnen sein Zimmer.«
Sie führte mich durch einen engen Gang aus Büchern bis zu einer Leiter an der hinteren Wand. Sie führte vorbei an der Romanzenabteilung bis zum Dach. »Bitte.«
Ich trat auf die erste Sprosse, und die Leiter rutschte ein wenig auf den Dielen.
»Sie kommen auch?«
»Natürlich, aber Sie tragen eine Jacke und ich eine enge Hose. Ich denke, ein anständiger Kerl würde anbieten, als Erster zu gehen.«
Das ließ mich wie blöde grinsend nicken, dann begann ich den Aufstieg. Als sie mir folgte, wackelte die Leiter.
»Der alte Herr ist jeden Tag hier hochgeklettert?«
»Nicht flink und nicht, ohne zu stöhnen, aber er hat immer gesagt, die Bewegung würde ihm guttun.«
Ich half der Bibliothekarin das letzte Stück hoch auf einen schmalen Absatz, von dem aus ich Gelegenheit hatte, die verschlungene Architektur der Halle zu bewundern. Bücherregale bogen sich und flossen geradezu in jede Ecke, wie die Wurzeln eines gewaltigen Baums. Das Ordnungssystem musste ein Albtraum sein.
Die langen Finger der Hexe öffneten eine Tür, hinter der sich eine Art Dachboden verbarg. Sie duckte sich unter dem Türrahmen hindurch und führte mich in den sonnendurchfluteten Raum.
Erst einmal hielten wir inne, um uns an das letzte Licht des Nachmittags zu gewöhnen. Die Wände bestanden fast nur aus Fenstern. Draußen reflektierten die Wolken ein Glühen, das in meinen verkaterten Augen brannte.
»Ursprünglich gab es diese Zwischendecke nicht, und die Oberlichter haben das gesamte Gebäude erhellt. Aber das Sonnenlicht war nicht gut für die Bücher, deshalb hat man diese Plattform eingezogen. Als Edmund es sah, hat er darum gebeten, hier einziehen zu dürfen.«
»Das hier ist das Heim eines Vampirs?«
Das Schlafzimmer war eine Welt ohne Schatten. Offen und kreisförmig, mit einem ausgefallenen Bett im Zentrum und niedrigen Holzregalen an allen Wänden.
»Es ist das Blut.«
»Wie meinen Sie das?«
»Früher hätte Edmund nie an einem solchen Ort hausen können. Aber nachdem sich alles verändert hatte und Blut ihn nicht mehr nährte, hatte auch die Sonne nicht mehr diese Wirkung auf ihn. Ich glaube, deshalb mochte er das Zimmer so. Es entschädigte irgendwie für all die vielen Jahre in der Dunkelheit.«
Ich ließ mir Zeit dabei, den Raum zu betrachten. Die Bücher in den Regalen waren wild durcheinander und von jeder Art. An einer Wand stand ein eindrucksvolles Weinregal, in dem sich neben einigen leeren Flaschen nur Staub befand.
Auf einem Beistelltisch lag ein beeindruckender Stapel ungeöffneter Post. Der Umschlag ganz oben trug das Symbol eines blauen Sterns in einem Kreis mit den Buchstaben LdV: Liga der Vampire. Darin befand sich ein mehrseitiges gedrucktes Rundschreiben mit Neuigkeiten, Todesanzeigen, Lokalgruppentreffen, Kleinanzeigen und sonstigem Alltagskram.
»Die bekommt er jede Woche«, erklärte sie. »Die verbliebenen Mitglieder der Liga bleiben so in Verbindung, erzählen Geschichten, helfen sich gegenseitig. Edmund ignoriert die meisten.«
Ein kurzer Blick in den Rest der Briefe bestätigte ihre Ausführungen: verstrichene Einladungen und traurige Artikel über ihr Heimatland Norgari.
»Hat er vielleicht die Stadt verlassen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Das hätte er mir gesagt, und ich wüsste auch nicht, wie. Er braucht schon eine Stunde, nur um zur Schule zu gehen, und eine Pferdekutsche würde ihn in kleine Stücke schaukeln.«
In einer massiven Holzkiste am Fußende des Betts fand ich sechs identische Ledertaschen: die Schulunterlagen von Rye. In jeder waren die notwendigen Dokumente für ein Fach: Schülerlisten, Kursmaterialien, Lesestoff, Beurteilungen. Jede Mappe war sorgsam beschriftet, mit Lesezeichen versehen und ordentlich gepflegt; eine Achtsamkeit, die sich im Rest seines Lebens nicht zeigte.
Die letzte Tasche hatte keine Beschriftung und enthielt nur einen Satz farbiger Ordner mit Schülerbewertungen.
»Einzelunterricht«, erläuterte die Bibliothekarin. »Einige der Kinder mit Interesse an manchen Fächern haben Stunden bei ihm genommen, um von ihm zu lernen. Ich glaube nicht, dass ihnen vorher bewusst war, worauf sie sich einlassen. Edmund ist sehr großzügig mit seiner Zeit, verlangt im Gegenzug aber totalen Einsatz. Manchmal war er ein wenig streng, aber nur aus Leidenschaft. Er hat nie verstanden, warum nicht alle seinen Wissensdurst teilen.« Ein kleines Lachen entfloh ihren Lippen, bevor Sorge ihre Krallen hineinschlug. »Ich fürchte, die Sterblichkeit hat ihn in Panik versetzt. Er will so viel wie möglich aufnehmen, solange er kann, bevor es alles vorbei ist.«
Ein Blick durch die Akten verschaffte mir eine rasche Orientierung. Edmund brachte einem jungen Werwolf die Evolutionstheorie der Mensch-Tier-Hybriden bei, die in ihrer Gesamtheit als Lycum bekannt waren. Eine junge Sirene wollte Sängerin werden, also lehrte er sie die gesamte Musikgeschichte. Eine ganze Reihe von Schülern hatte einen Kurs über »Moderne Mensch-Magie-Politik«. Sollte ich den Professor finden, würde ich da vielleicht ein bisschen Nachhilfe nehmen.
»Wie ging es ihm gesundheitlich?«
Ihr festes Lächeln sank herab. »Als ich ihn zum ersten Mal sah, dachte ich, dass es jeden Tag zu Ende gehen müsste. Irgendwie hat er die ganzen Jahre lang weiter durchgehalten, aber die letzten Monate waren die schlimmsten. Sein Geist kämpft, aber sein Körper gibt auf.«
Noch einen letzten Blick durch den Raum wandern lassen. Würde es irgendjemanden überraschen, falls Edmund Rye tot war? Natürlich nicht. Das Überraschende war, dass er überhaupt so lange durchgehalten hatte.
»Ich werde tun, was ich kann«, stellte ich fest. »Aber es sieht so aus, als ob der Blutmangel ihn einfach eingeholt hat.«
Sie wollte etwas erwidern, aber die Worte blieben ihr im Hals stecken. Stattdessen wandte sie den Kopf ab und sah aus den großen Fenstern. Ich nahm die Mappe mit den Schülerbewertungen, dazu einige persönliche Gegenstände wie seinen Ausweis, einen Notizblock, seine Lehrerlaubnis. Unten in der Kiste, halb unter den Ledertaschen verborgen, lag ein dicker Stapel Papier, eingeschlagen in einen Einband. Ich öffnete ihn und las: Eine Untersuchung von Veränderung – von Professor Edmund Albert Rye. Schien so, als würde der Prof ein eigenes Buch schreiben. Ich steckte es mit den restlichen Akten ein. »Ich nehme das hier mit, wenn Sie damit einverstanden sind. Natürlich bringe ich es zurück, sobald ich fertig bin.«
Sie nickte lediglich, den Körper immer noch ins Licht gedreht. Also gab ich vor, noch mit dem Raum beschäftigt zu sein, bis sie ihre Traurigkeit wieder verbarg und bereit war, hinabzusteigen.
Als wir unten waren, zog ich eine Visitenkarte aus der Tasche und reichte sie ihr.
»Entschuldigen Sie bitte, aber Ihr Name war …?«
»Eileen Tide.«
»Danke für Ihre Hilfe, Eileen. Mir ist oben eine Weinsammlung aufgefallen. Gab es ein bestimmtes Etablissement, das er gern aufgesucht hat?«
»Jimmy’s. Dritte Straße, über den Gerbern.«
Ich nickte und lächelte beim Versuch, so zu tun, als sei dieser Fall nicht komplett hoffnungslos. »Vielleicht taucht er wieder auf«, bot ich eine Aussicht an, die wie ein Sturm donnerte.
»Das hoffe ich. Falls Sie mich noch brauchen, bin ich hier. Wir verändern gerade einiges. Es wird wieder gedruckt. Auf Menschenart. Neue Geschichten kommen aus allen Ecken des Kontinents, und es gibt Überarbeitungen von Büchern, um die neue Welt zu zeigen. Wir müssen die meisten Prä-Coda-Veröffentlichungen ausräumen.«
»Aber Sie können doch nicht die ganze Geschichte einfach wegwerfen.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich gehe alles durch, um die Sachen zu finden, die noch Sinn ergeben. Aber es bringt nichts, so zu tun, als hätte sich die Welt nicht verändert.«
Ihre Stimme klang weit entfernt, als spreche sie durch eine schlechte Telefonverbindung. Eine Verabschiedung, dann ging sie hinein, schloss die Tür, und ich hörte, wie die Bolzen vorgeschoben wurden.
Auf dem Weg nach draußen kam ich an Sir William vorbei. Ewig lächelnd. Ewig trinkend. Mein Blick fiel auf die Flasche in seiner bronzenen Hand.
»Na gut«, murmelte ich. »Du lässt mir keine Wahl.«
Seit Jahren hatte sich Der Graben nicht verändert. Nicht die Luft. Nicht der lange getrocknete Blutfleck auf dem Boden. Nicht der alte, große Boris hinter der Bar. Alles schien nur noch dichter zu werden.
Es war ein zugiger Klotz um die Ecke von meiner Haustür. In Betonwänden klafften Risse, und sie zündeten erst dann ein Feuer an, wenn es schon schneite. Sitznischen aus Holz, ein paar Tische und ein selten leerer Tresen.
Boris war ein Banshee, inzwischen stumm (wie alle seiner Art). Er bewachte eine beeindruckende Sammlung von importiertem Alkohol, aber sein Hauptgeschäft waren billiges Bier und meist selbst gebrannter Schnaps.
Im Graben ging es ungezwungen zu, und die Getränke kamen schnell. Man bekam sein Glas, hielt die Klappe, und es gab keine unnötige Gastfreundschaft. Es war perfekt.
Ein älterer Zauberer namens Wentworth hielt von seinem üblichen Thron aus Hof: ein metallener Hocker, den er von Tisch zu Tisch zog. Er war dünn wie ein Bleistift, unrasiert mit einem Schnurrbart, der wie ein nasses Taschentuch unter seiner Nase hing. Sobald er spürte, dass eine Unterhaltung seine besondere Expertise vermissen ließ, drängte er sich dem ihn dieserart kränkenden Tisch auf. Er war so gut wie taub und hatte auch sonst nicht mehr alle beisammen, aber wir alle tolerierten seine Einmischungen. Wenn man mit ihm diskutierte oder ihn gar berichtigte, blieb er nur länger. Am besten nickte man also nur, tat überzeugt und hoffte, dass ihn ein anderer Tisch ablenkte.
Ich steckte zwei Münzen in das Münztelefon am Ende der Bar. Auf dem Hörer prangte eine Stahlplakette mit der Aufschrift Mortales.
Als der heilige Fluss gefror, versagte all die magische Technologie, und die meisten Wesen hatten keine Möglichkeit, sich anzupassen. Zwergenschmieden erkalteten, Riesen waren zu schwach zum Arbeiten, und die Wissenschaft der Elfen ergab keinen Sinn mehr. Die Gremlins und Goblins, die Vermögen mit dem Erfinden magischer Gegenstände gemacht hatten, saßen auf Lagerhäusern voller unnützer, machtloser Instrumente. Alles, was blieb, waren die Funken, das Öl und die Kolben der menschlichen Fabriken.
Die Armee der Menschen hatte den Krieg gewonnen, aber dabei die Beute zerstört. Die Magie, die wir zu erlangen hofften, war verschwunden, und so änderten sie ihre Namen und Ziele. Die Generäle wurden zu Managern und die Soldaten zu Verkäufern. Sie warteten aus Höflichkeit einige wenige Monate nach ihrer Zerstörung der Welt, bevor sie anboten, ihre Produkte an die Überlebenden zu verkaufen.
Natürlich wollte kein ehemalig magisches Geschäft sein Kapital an die Idioten übergeben, die unser aller Zukunft zerstört hatten, aber welche Wahl blieb ihnen? Als Mortales damit begann, Öfen und Radios billig anzubieten, wurden selbst die ärgsten Menschenhasser schwach.
Danach kamen die Telefone; leuchtende Kästen an den Straßenkreuzungen oder den Wänden von Geschäften. Als sie einmal die Drähte durch die ganze Stadt geschlungen hatten, hörten wir auf, uns wegen der moralischen Fragen zu sorgen, und akzeptierten ihre Präsenz als ein notwendiges Übel. Aber immer noch schnitt jede Münze, die ich einwarf, in meine Finger.
»Sunder City, Vermittlung«, erklang die Stimme. »Wohin darf ich Sie verbinden?«
Ich nannte die Dienststelle der Polizei und dann Richie Kites. Er sagte zu, mich nach Dienstschluss zu treffen, was wohl in so zwei Drinks sein würde. Um die musste ich nicht einmal bitten. Boris hatte mir einen Burnt Milkwood gemixt, ich verzog mich damit in die Ecke, und wir freundeten uns an.
Hinten spielten zwei schwankende Elfen eine endlose Partie Darts an einer dieser besonderen Dartscheiben, wie es sie nur in Sunder gab.
Nach dem Mord an Ranamak nahm ein Mensch aus Sunder seinen Platz ein. Gouverneur Ingot war Geschäftsmann. In der Theorie passte das der Gesellschaft, aber am Ende zeigte sich, dass er mehr Interesse daran hatte, Sunder an die Welt zu verkaufen, als sich um die Einwohner zu kümmern.
Das erste Stück Propaganda war eine neue Karte. Nicht von der ganzen Welt, nur von unserem Kontinent: Archetellos. Alle anderen Inseln wurden ausgelassen. Archetellos war so verdreht und skaliert, dass Sunder in der Mitte lag. Auch wenn es eine neuartige Idee war, blieb der Eindruck für alle mit einem Basiswissen an Geografie beleidigend.
Die Poster wurden auf dicke Bretter gespannt und überall in der Stadt verteilt. Der Plan war eigentlich, sie in die ganze Welt zu schicken, um andere Länder von der Bedeutung Sunder Citys zu überzeugen, aber das Unternehmen wurde so vehement verlacht, dass es beinahe sofort wieder eingestellt wurde.
Nur eine Handvoll wurde in Geschäften aufgehängt, vermutlich als Scherz. Und eines Abends, als die anderen Dartscheiben belegt waren, kamen ein paar betrunkene Kneipengänger auf eine Idee.
Sunder City, in die Mitte von Archetellos verzerrt, ist fünfzig Punkte wert. Elfische Orte wie das Opus-Hauptquartier oder ihre Heimat in Gaila bringen dreißig. Sowohl die Stadt Perimoor im Osten als auch die Klippen von Vera sind fünfundzwanzig wert. Die Zwergenberge im Norden bringen zwanzig, aber dahinter liegt die Zerklüftete Ebene, und wenn man die trifft, gibt es nur fünf.
Alle Inseln sind zehn Punkte wert, sowohl Ember (von wo die Faeries stammen) als auch Keats (wo man Zauberer ausbildet). Eine Landung im Wasser wird nicht bestraft, aber es gibt jede Menge Hausregeln. Im Graben ist die Heimat der Banshees, Skiros, fünfunddreißig Punkte wert, aus Respekt vor Boris.
Städte der Menschen sind gar nichts wert. Weatherly, Mira und die alte Basis der Menschenarmee sind ein vergeudeter Dartpfeil. In manchen Kneipen verliert man gleich das ganze Spiel.
Die betrunkenen Elfen warfen immer noch die meisten Pfeile ins Wasser, als Richie ankam.
Seit er vor ein paar Jahren Polizist geworden war, hatte er etwa ein Pfund pro Woche zugelegt. Oger können unberechenbar sein, aber Richie war ein in der Stadt aufgewachsener Halb-Oger.
Um sein linkes Handgelenk wand sich eine Tätowierung, wie ich auch eine hatte: Das verschnörkelte Muster blitzte im Licht grün auf. So wie ich hatte er in seiner Jugend einige Jahre bei Opus verbracht. Damals gab es kein Problem, dass seine Vorschlaghämmer von Fäusten nicht lösen konnten. Jetzt betete er in der Kirche der Bürokratie. Für gewöhnlich tänzelte ich an den Grenzen unserer Freundschaft herum. Rein geschäftlich waren wir Feinde, aber hin und wieder konnte ich mich darauf verlassen, dass er Augen und Ohren im Establishment für mich offen hielt.
»Milkwood? Du trinkst immer noch diesen zuckrigen Scheiß?«
Ich schüttete den Rest meines Cocktails runter und gab Boris ein Zeichen, uns eine weitere Runde zu bringen.
»Für mich ein Bier«, rief Richie, als er sich mir gegenüber hinsetzte, »weil ich kein Mädchen bin. Also, was ist dein Problem?«
Ohne Genaueres zu sagen, fragte ich Ritchie, was er über das Blutvolk gehört hatte.
»Vampire, ja? Fetch, wenn du schon irgendwo gräbst, wo du nichts zu suchen hast, bleib wenigstens dem Friedhof fern.« Boris brachte unsere Drinks. Richie nahm einen langen Schluck aus dem Humpen und leckte sich den Schaum von den Lippen.
»Wie viele gibt es noch?«
Er zuckte mit den Achseln. »Nicht viele. Die meisten hausen da oben im Schloss in Norgari, wie damals zu Zeiten der Liga. Sie nennen es die Kammer. Denke nicht, dass es mehr als hundert oder so sind. In der Stadt vielleicht ein Dutzend. Sie hängen im alten Teehaus da an der Piazza ab. Der Krumme Zahn.«
Davon hatte ich noch nie gehört. Die Piazza war die Art Touristenfalle, die ich zu meiden suchte. »Das klingt, als ob du Ahnung hättest. Bedeutet das, die Cops behalten die Vampirgemeinschaft im Auge?«
Richie sah mich mit einem blutunterlaufenen Auge an. Ihm war bewusst, dass er genau nachdenken musste, bevor er mir irgendwas erzählte. Mehr als einmal hatte er zu frei geredet, und es hatte uns später beide in den Arsch gebissen.
»Fetch, es gibt seit Jahrzehnten keinen Grund mehr, sich wegen des Blutvolks Sorgen machen zu müssen. Sie sind alt. Sie sind harmlos.«
Meiner Kehle entrang sich ein nichts verratendes Knurren, und Richie trank noch einen Schluck.
»Wie sterben sie?«
Mitten im Zug hielt er inne und setzte den Humpen ab. »Schmerzhaft«, zischte er. »Sie sind leere Hüllen. Gefäße, die man nicht füllen kann. Sie trocknen aus wie Obst und zerfallen zu Staub. Früher hat das die Sonne mit ihnen gemacht, in wenigen Sekunden. Heute dauert es einige Tage, wenn sie Glück haben.«
»Also sind sie sterblich. Muss es immer noch ein Pflock durchs Herz sein, oder fallen sie einfach hin, schlagen sich den Schädel an und krepieren wie der Rest?«
Richie kaute auf seiner Unterlippe. Diese Gespräche waren nie einfach. Allen machte die Coda zu schaffen. Sogar Richies Herz, das so groß wie eine Bowlingkugel war, zerbrach.
»Sie sind weniger als sterblich. Keine Ahnung, was sie antreibt, aber es verschwindet. Eines Tages in nicht allzu ferner Zukunft wird ein Lufthauch sie alle davonwehen, und wir werden ihre Art niemals wiedersehen.«
Damit trank er den letzten Schluck, glitt aus der Nische und ließ mich allein mit der Rechnung zurück. Keine Verabschiedung. Vermutlich wusste er, dass er mich bald wiedersehen würde.
Sunder City begann als eine Arbeiterstadt voll mit Schmieden, Minen- und Metallarbeitern. Nicht alles war ehrliche Arbeit, aber es war die Sorte, die ich verstand: in der Erde graben oder Kram von A nach B schaffen. Diese Art Arbeit ergab für mich Sinn.
An der Piazza gab es aber jene Sorte Abzocke, die mir Übelkeit bereitete.
Schnell redende Leute, die versuchten, einen in überteuerte Restaurants zu bugsieren. Edel gekleidete Betrüger mit falschen Dialekten, die einem Touren nach Nirgendwo andrehen wollten. Straßenkünstler, deren Haupteinnahmequelle es war, Taschendieben als Ablenkung zu dienen.
Um den kleinen Platz herum standen Fackeln, um das Geschäft auch nach Sonnenuntergang am Leben zu halten. Ich bewegte mich mit klarem Ziel durch die langsam lichter werdende Menge, die Hände tief in den Taschen vergraben.
Ein Paar Kobolde beobachtete mich aus den Schatten. Sie stammten nicht aus diesem Teil der Welt. Kobolde haben so eine Art Chamäleon-Haut, die sich je nach ihrer Umgebung verändert. Stadtkobolde waren grau und haarlos, aber die Burschen waren blau wie ein Bergsee, mit prächtigen Mähnen um den Hals: Neuankömmlinge aus dem wilden fernen Norden. Zwei weitere verlorene Seelen, die darauf hofften, ein Stück von Sunder abzubekommen. Ich zeigte ihnen meinen Schlagring und bedachte sie mit einem Blick, hinter dem eigentlich nichts lag. Aber er tat seine Schuldigkeit. Sie wandten ihre gelben Augen ab, und ich verschwand in einer Nebenstraße.
Das Schild des Krummen Zahns entdeckte ich an einem Gebäude, das einst eine Apotheke beherbergt hatte. Als ich damals in die Stadt gekommen war, hatte ich für eine alte arthritische Hexe dort Besorgungen erledigt, während sie mich warnte, dass ich auf mich aufpassen müsse, sollte sie jemals einen Verjüngungstrank in die Finger bekommen. Das war mir immer wie ein Scherz erschienen, aber nach der Coda hörte ich, dass sie sich aus Versehen selbst mit einem Gebräu aus Schwarzmarktkräutern vergiftet hatte, in der verzweifelten Hoffnung, das Altern umzukehren.
Die Teerstraße war leer, aber aus dem Fenster des Krummen Zahns