3,99 €
In diesem Buch finden Sie fantastische und skurrile Kurzgeschichten von Uwe Hermann, die in den Jahren 1998 bis 2006 in der c´t – dem Magazin für Computertechnik – erschienen sind. Lernen Sie den Mann kennen, der seine große Liebe in einem Automaten findet, den Filmschauspieler, der im Jahre 2020 an einem Filmcasting teilnimmt und seitdem auf der Jagd ist, oder den Reiseveranstalter, der Zeitreisen zu historischen Höhepunkten anbietet.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
In dieser Reihe sind bisher erschienen:Das Amt für versäumte Ausgaben (in Vorbereitung)
Die Arbeitsplatz-Lotterie
Der Liebhaberautomat
Der Gesundheitswächter
Außerdem sind erschienen:
Lehrjahre einer Magierin – Ein Land voller Magie
Originalausgabe
Version Oktober 2015
© 07/2012 Uwe Hermann, 49419 Wagenfeld, Fritz-Cordingstraße 61
Covergrafik: Uwe Hermann
Besuchen Sie mich auf www.KurzeGeschichten.com
Oder folgen Sie mir auf Twitter oder Facebook
© 2012/2015 Uwe Hermann. Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Viele Geschichten in diesem Buch erschienen in den Jahren 1998 bis 2006 in der c’t – Magazin für Computertechnik (Heise Zeitschriftenverlag, Hannover). »Summe der Erinnerungen« schaffte es auf die Nominierungsliste für den Literaturpreis des Science-Fiction Clubs Deutschlands. Der Vollständigkeit halber ist in dieser Auflage auch »Cyrarurr, der Söldner« zu finden. Diese in die Jahre gekommene Kurzgeschichte war meine erste Veröffentlichung. Sie erschien im April 1990 auf der Leserkontaktseite des Perry Rhodan-Romans Nr. 898 (3. Auflage). Viel Spaß beim Lesen wünscht Ihnen Uwe Hermann.
Der Planet Troubadour war berühmt für seine Nachtclubs, Diskotheken, Spielkasinos – und für seine Frauen. Aus diesem Grund hatte ich ihn ausgewählt: Ich suchte eine Frau. Nicht irgendeine, sondern die Frau fürs Leben, die mich glücklich machte, meine Wäsche wusch und mir den Haushalt führte. Ich war jetzt siebenunddreißig, ein Alter, in dem andere bereits wieder geschieden waren und ich hatte noch nicht einmal eine Freundin. Es wurde Zeit, sich Gedanken über die Zukunft zu machen. Also hatte ich zwei Wochen auf Troubadour gebucht, der sündigsten Welt der Galaxis.
Mittlerweile war mein Urlaub fast herum, ohne dass der Planet meine Erwartungen erfüllt hätte. Zwar gab es hier so viele Frauen wie Sterne am Nachthimmel – wunderschöne dazu , aber nicht von der Sorte, wie ich sie mir vorstellte. Keine von ihnen war bereit, mich zu heiraten. So endete meine Suche regelmäßig damit, dass ich betrunken, aber ohne Begleiterin zurück ins Hotel wankte. So auch in dieser Nacht.
*
Ich lehnte mich in einer schmalen Hinterhofgasse zwischen überquellenden Mülltonnen an einen Laternenpfahl, während die schäbigen Gebäude um mich herum meinen Kopf wie Satelliten umkreisten. Verdammter Alkohol! Wieder einmal hatte ich auf der Suche nach einer passenden Frau nur die Kassen der Barkeeper gefüllt. Ich holte die Schachtel mit den Ausnüchterungspillen aus der Tasche, nahm eine heraus und schluckte sie. Die Bilder nackter Frauen, die sich auf Bühnen und Tischen räkelten, tanzten noch immer in meinem Kopf herum. Wahrscheinlich würde ich Tage lang die aromatisierte Luft der Bars riechen und das Hämmern ihrer Musik in meinem Kopf spüren. Von den Nachwirkungen des Alkohols ganz zu schweigen.
Nach einiger Zeit spürte ich, wie die Ausnüchterungspille wirkte. Meine Gedanken ordneten sich. Das Schwindelgefühl verschwand und die Gebäude um mich herum stoppten ihre wahnwitzige Umkreisung. Ich schickte ein Dankgebet an den Erfinder der Ausnüchterungspille. Es war mir ein Rätsel, wie ganze Generationen von Junggesellen ohne sie hatten überleben können.
Der Gestank aus den Mülltonnen, vermischt mit dem Geruch einer nahen Pizzeria wehte zu mir herüber. Ich wartete noch ein paar Minuten, bis der Alkoholgehalt in meinem Blut einen erträglichen Level erreicht hatte. Dann ließ ich den Laternenpfahl los und machte mich auf den Weg zum Hotel.
Ich verstand nicht, wieso ich keine Frau fand. Sicher, ich war keine Schönheit, aber ich hatte als Beamter der Weltraumbehörde einen sicheren Arbeitsplatz und mit meinem Einkommen konnte ich leicht eine Familie ernähren. Außerdem besaß ich ein eigenes Haus. Im Moment gehörte es zwar noch meiner Mutter, aber nach ihrem Tode würden meine Frau und ich dort alleine wohnen. Alles gute Gründe, um mich zu heiraten. Und dann waren da ja noch meine inneren Werte. Hieß es nicht immer, nur die inneren Werte zählten? Alle meine Bekannten und selbst meine Mutter, sagten, ich sei eine gute Partie, aber trotzdem machten die Frauen einen Bogen um mich.
Ich ließ meinen Frust an einer leeren Bierflasche aus, die vor mir auf dem Bürgersteig lag, und kickte sie zurück in die Dunkelheit. Verdammte Weiber!
Nachdem ich die schummrige Hinterhofgasse zur Hälfte durchschritten hatte, hörte ich eine lockende Frauenstimme: »Na, Süßer, wie wär’s mit uns beiden?«
Ich schaute mich um. Es war niemand zu sehen, dennoch sprach die Stimme erneut: »Warum denn so schüchtern, komm’ doch näher!«
Im flackernden Licht einer uralten Leuchtreklame, die für ein Potenzmittel Werbung machte, sah ich einen an die Wand geschraubten Automaten, dessen beleuchteten Tasten im Rhythmus der Worte aufflackerten. Er hatte die Größe eines Zigarettenautomaten. Auf der Frontplatte, unter dem leuchtenden, farbig animierten Schriftzug »Virtuell Sex!« saßen rechteckige Schalter. Einige waren dunkel, doch die meisten zeigten die Abbildungen spärlich bekleideter Frauen in erotischen Posen. Die Frauen waren so wunderschön, dass ich näher heranging, um sie zu betrachten.
»Bist du bereit für den Sex deines Lebens? Du brauchst nur deine Kreditkarte in meinen Schlitz zu stecken und es geht los!«, hauchte mir der Automat entgegen.
Zwar gab es auch auf meiner Heimatwelt Automaten mit Sprachausgabe, aber diese machten für Getränke oder Rauschmittel Werbung, allenfalls noch für Kondome, aber nicht für Sex. Ich wollte weitergehen, doch dann zögerte ich. Die Frauen auf den Abbildungen waren von einer übernatürlichen Schönheit. Obwohl ich ahnte, dass es Computergrafiken waren, weckten sie meine Neugierde.
»Was willst du mir andrehen? Filme? Magazine? Oder machst du Werbung für einen bestimmten Nachtklub?«
»Aber nicht doch!« Die Stimme des Automaten klang tatsächlich beleidigt. »Bei mir bekommst du die Erfüllung all deiner Träume! Ein erotisches Abenteuer, von dem du noch lange erzählen wirst. Ich biete dir nicht weniger als den perfekten Sex!«
Meine Stirn legte sich in ungläubige Falten. »Sex? Wie soll das denn funktionieren? Du bist doch nur eine Maschine.«
»Virtuell!«, säuselte der Automat. »Virtuellem Sex gehört die Zukunft! Vorbei ist die Zeit, wegen fünf Minuten Spaß Jahre lang Unterhalt zahlen zu müssen. Vergnüge dich, wann immer du willst. Und so oft du willst. Ein Automat kennt keine Migräne. Er ist jederzeit zu allem bereit. Aber das Beste: Du brauchst dich für den Sex noch nicht einmal auszuziehen!«
Ein Schauer lief mir über den Rücken. »Das ist pervers! Ich treibe es doch nicht mit einem Automaten!« Aber das erwachende Feuer zwischen meinen Beinen war anderer Meinung.
»Warum so ablehnend? Schon heute können wir Maschinen viele Dinge besser als ihr Menschen. Wir werden nur für eine bestimmte Aufgabe konstruiert und die beherrschen wir perfekt. Glaub’ mir, für dich wäre der Sex vollkommen real. Du kannst nicht unterscheiden, ob die Bilder, die du siehst, echt sind oder von einer Datenhaube kommen. Davon abgesehen sind meine Frauen besser als in der Wirklichkeit. Sie lesen dir nicht nur jeden Wunsch von den Augen ab – sie erfüllen ihn dir auch!«
Mein Mund klappte auf. Ich ertappte mich dabei, dass ich ernsthaft daran dachte, den Automaten zu benutzen.
Ein Pärchen ging kichernd vorbei und ich bückte mich und tat so, als ob ich etwas verloren hätte. Oh mein Gott, was machte ich hier eigentlich? Sollte ich nicht längst in meinem Bett liegen und schlafen?
»Alleine schlafen!«, rief meine innere Stimme gehässig.
Das Pärchen verschwand in der Dunkelheit und ich erhob mich. Ich konnte meinen Blick nicht von den Frauen nehmen. Warum waren sie auch nur so unverschämt scharf? Der Restalkohol in meinem Blut tat sein Übriges. Während sich am Nachthimmel dichte Wolken zusammenrotteten und erste Tropfen auf den Asphalt klatschten, zog ich meine Kreditkarte aus der Tasche und steckte sie in den Schlitz des Automaten. Eine kurze Melodie erklang, bevor erneut die Frauenstimme säuselte: »Willkommen in der Welt der virtuellen Liebe. Wähle jetzt bitte deine Partnerin!«
Ich entschied mich für eine langhaarige Blondine mit dem sinnlichsten Mund, den ich jemals gesehen hatte. Mit angehaltenem Atem drückte ich die Auswahltaste. Es klickte und aus der Wand über dem Automaten fuhr ein Arm mit einer Datenhaube heraus.
Mein Herz raste wie damals, als mich meine Nachbarin im Wäschekeller verführt hatte. Noch heute dachte ich oft an die Abdrücke zurück, die der Wäschetrockner auf meinem Rücken hinterlassen hatte.
»Julia ist bereit für dich, sobald du die Datenhaube aufsetzt«, schnurrte der Automat.
Ich versicherte mich, dass niemand in der Nähe war. Dann zog ich die Haube herunter. Sie hatte die Form einer halben Kugel und bedeckte Augen, Nase und Mund.
Einen Augenblick lang geschah nichts. Dann senkten sich Elektroden auf meine Kopfhaut. Ein Kribbeln explodierte in meinem Gehirn, raste meine Wirbelsäule hinunter und ergriff von meinem Körper Besitz. Der Schmerz dauerte nur kurz, bevor ein unbeschreiblich schöner Duft ihn ablöste. Plötzlich stand ich in einem Schlafzimmer. Ich war nackt und ich hatte einen Körper mit Qualitäten, von denen ich in der Realität nur träumen konnte.
Überall um mich herum brannten Kerzen, die die Luft mit exotischen Düften erfüllten. Die Wände und die Decke waren mit rosafarbenen Tüchern bespannt. In der Mitte des Raumes stand ein schneeweißer Bettroboter, einer dieser ganz neuen runden Ausführungen, der Gute-Nacht-Geschichten erzählte oder seinen Benutzer in den Schlaf massierte. Dann sah ich Julia, wie sie sich zwischen den Bettlaken räkelte und ich stand kurz vor einem Schlaganfall.
*
Ich kam in der schummrigen Gasse, inmitten der stinkenden Mülltonnen wieder zu mir. Es regnete so heftig, dass selbst meine Schuhe durchnässt waren. Doch ich merkte weder das, noch die Kälte, die mich zittern ließ. Ich dachte nur an Julia und die Erinnerungen heizten meinen Körper wieder auf.
Es war nicht der Sex, der mich so umgehauen hatte – obwohl ich sicher war, dass kein Mann jemals etwas Ähnliches erleben durfte , sondern der Umstand, dass Julia die perfekte Frau war. Nach ihr hatte ich gesucht! Und wir lagen auf einer Wellenlänge. Welches Thema ich auch angeschnitten hatte, sie war die vollkommene Gesprächspartnerin gewesen. Selbst meinen Lieblingsfußballverein kannte sie. Es war unglaublich. Umso heftiger war der Verlust, als mich der Automat wieder in die trostlose, kalte Realität entließ.
In mir war eine Leere, die ich mit sämtlichen Alkoholvorräten der Galaxis nicht wieder würde füllen können. Ich hatte meine Traumfrau gefunden, aber sie war nicht aus Fleisch und Blut. Ohne zu zögern steckte ich meine Kreditkarte erneut in den Schlitz des Automaten. Ich musste Julia wiedersehen!
*
Dieses Mal war es sogar noch unglaublicher. Wir liebten uns inmitten einer Blumenwiese auf einem Bett von der Größe eines Schlafzimmers. Hinterher rauchten wir jeder eine Zigarre und sprachen über Sport und welche Biersorte die beste war. Ich hätte den Rest meines Lebens auf dieser Blumenwiese verbringen können, doch irgendwann war das Guthaben meiner Kreditkarte aufgebraucht und die Umgebung verblasste.
*
Ich erwartete vor dem Automaten wieder zu mir zu kommen, doch stattdessen stand ich plötzlich in einem verräucherten Wartezimmer. Auf schäbigen Stühlen saßen Männer – große, kleine, dicke, dünne , und blätterten in Magazinen, oder starrten gelangweilt Löcher in die Luft.
Ich taumelte ein paar Schritte, bis ein Stuhl meine unkontrollierte Bewegung stoppte. Meine Beine fühlten sich taub an.
Die Männer blickten auf. Einige hielten Bierdosen in den Händen, deren Inhalt schon nach einem kurzen Augenblick interessanter war als ich.
»Wo bin ich?«, stammelte ich. Meine Stimme klang seltsam, als gehörte sie nicht zu mir.
»Ein Neuer«, sagte jemand, bevor auch er sich wieder seinem Bier widmete.
Ich schaute mich um. Der Raum besaß weder eine Tür noch Fenster. An den Wänden hingen geschmacklose Bilder. Ein Blumentopf mit einer vertrockneten, mittlerweile braunen Zimmerpflanze in einer Ecke des Zimmers diente als Aschenbecher. Daneben stand ein Regal voller zerlesener Zeitschriften. Es waren überwiegend Männermagazine mit nackten Frauen und schnellen Autos auf den Titelbildern. Über mir baumelte eine schmuddelige Neonleuchte und verbreitete ein unruhiges Licht. Der Raum wirkte auf eine schwer zu beschreibende Art künstlich. Ich bemerkte, dass das Aussehen der Wände sich alle paar Meter wiederholte, als wäre es nur ein Bild, eine Textur, die ein Drahtgittermodell bedeckte.
Schlagartig begriff ich. »Das ist nicht echt! Ich bin immer noch in einer virtuellen Realität!«
Eine bärtige Gestalt, mit wulstigen Lippen und einer roten Nase, nickte. »Willkommen in deinem neuen Leben. Von jetzt an bist du Teil des Automaten.«
Mein Magen zog sich zusammen. Ich würgte, und für einen Moment dachte ich, ich müsste mich übergeben.
»Keine Sorge, das geht vorüber«, sagte mein Gegenüber. »Das sind nur die Nachwirkungen der Speicherung.«
In meinem Kopf herrschte Chaos. Ich versuchte einen klaren Gedanken zu fassen, doch sie hüpften davon, kaum dass sie gekommen waren. »Speicherung?« Ich begriff nur, dass etwas nicht so war, wie es sein sollte. Himmel, in was hatten mich meine Hormone nur hineingeraten lassen? Plötzlich konnte ich nicht mehr atmen. Ich japste nach Luft, die nur aus Zigarettenrauch zu bestehen schien.
Der bärtige Mann sprang auf, durcheilte den Raum und griff nach meinem Arm. »Heh, beruhige dich! Du siehst ja aus, als ob dein Programm gleich abstürzt.« Er führte mich zu einem freien Stuhl und ich setzte mich.
»Was hat man mit mir gemacht?«, brachte ich heraus.
Der bärtige Mann tätschelte beruhigend meine Hand. »Atme erst einmal tief durch, sonst hängen sich noch deine Routinen auf. Es ist alles halb so schlimm. Nichts, weswegen man sich aufregen müsste.«
Jemand drückte mir ein Bier in die Hand. Es war warm und schmeckte grässlich, doch nachdem ich ein paar Schlucke getrunken hatte, ging es mir besser. Ich hob den Kopf und schaute meinen Gegenüber an. »Was ist mit mir passiert?«
Der Bärtige fing an zu erzählen: »Du bist jetzt einer von uns! Der Automat hat deine Persönlichkeit gespeichert. Mit diesen Daten erschafft er neue virtuelle Charaktere. Das Aussehen, die Stimme und der ganze Rest erzeugt der Automat, aber die Persönlichkeit ist echt. Nur deshalb sind die Frauen dieses Automaten so vollkommen, weil ihre Vorbilder reale Menschen sind.«
Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was er mir erzählt hatte. Dann schüttelte ich entsetzt den Kopf. »Man hat mich entführt! Aber damit kommen die nicht durch! Man wird mich vermissen. Meine Mutter weiß, wo ich bin. Sie wird nach mir suchen lassen.«
Ein blasser Junge, vielleicht sechzehn, warf mir einen verächtlichen Blick zu. »Quatsch! Niemand wird dich vermissen. Der Automat hat dir nicht dein Gehirn ausgesaugt oder so etwas, er hat nur deine Persönlichkeit kopiert. Dein Original ist schon längst auf dem Heimweg und kratzt sein letztes Geld für eine neue Nummer zusammen. Der weiß überhaupt nicht, dass es dich gibt!«
Der bärtige Mann nickte. »Es stimmt! Wir alle sind nur Kopien.«
Ich hatte das Gefühl, als würde mein Kreislauf jeden Moment versagen; vielleicht waren es aber auch nur meine Bits und Bytes, die kollabierten. »Aber … aber das können die doch nicht tun! Das muss doch strafbar sein.«
Der Junge kicherte. »Nur wenn dein Gehirn einen Kopierschutz hat und der geknackt wurde.«
Der Bärtige lächelte beruhigend. »Nun defragmentiere erst einmal deinen Speicherbereich. So schlimm, wie es sich anhört, ist es nicht. Der Automat erschafft für uns eine eigene virtuelle Welt. Wir bekommen alles, was wir brauchen: Bier, Steaks, Zigaretten, Männermagazine. Außerdem sind wir eine lustige Truppe, du musst uns nur etwas näher kennenlernen.«
Plötzlich musste ich an Julia denken. »Wo sind die Frauen?«
»Frauen? Hier gibt es keine Frauen. Oder glaubst du wirklich, eine Frau würde jemals so einen Automaten benutzen?«
»Aber Julia …«
Er zwinkerte mir zu. »Ich war Julia.« Erst jetzt merkte ich, dass er immer noch meine Hand hielt. Hastig zog ich sie zurück.
Der Bärtige lächelte. »Sieh es positiv: Du wolltest doch den Rest deines Lebens mit mir verbringen, das kannst du jetzt!«
Splitterfasernackt stand ich in einer langen Reihe von Wartenden und versuchte mit meiner Laufkarte, die man mir an der Anmeldung ausgehändigt hatte, meine Blöße zu bedecken, doch entweder war die Laufkarte zu klein oder meine Blöße zu groß, denn die Blicke, die mir einige Frauen und ein Mann zuwarfen, waren alles andere als zufällig. Selbst die Fotos der Filmschauspieler an den weiß getünchten Wänden schienen nur auf mein bestes Stück zu starren.
Seit fünfzehn Jahren war ich am Theater und ich hatte durchaus schon die eine oder andere Nacktszene gespielt, und auch wenn sich diese nur auf meinen bloßen Oberkörper beschränkt hatten, war ich doch keineswegs prüde. Hätte ich allerdings geahnt, wie sich das Filmcasting entwickeln würde, hätte ich unter keinen Umständen dem Drängen meines Agenten nachgegeben und wäre hier erschienen. Jo Klein, das war der Name meines Agenten, hatte mit Sicherheit gewusst, wie freizügig man hier mit dem Begriff Intimsphäre umging. Doch anstatt mich vorzuwarnen, hatte er mir erklärt, dass es sich um ein ganz gewöhnliches Casting für einen neuen Film handelte. Als ich nun inmitten unzähliger, extrem leicht bekleideter Menschen stand, wurde mir plötzlich bewusst, dass ich überhaupt nicht gefragt hatte, für welche Art Film ich denn nun vorsprechen sollte. Jo konnte nur hoffen, dass er mir in der nächsten Zeit nicht über den Weg lief, andernfalls hätte Hollywood einen Theateragenten weniger.
Ich spürte, wie mir jemand auf die nackte Schulter tippte. »Träumen Sie?«
Als ich mich umschaute, sah ich einen älteren Herrn, nur bekleidet mit einem gewaltigen Schmierbauch und einer angelaufenen Nickelbrille. Ärgerlich schwenkte er seine Laufkarte und deutete auf die Schlange vor mir, die bereits einige Meter weiter gewandert war. Ich beeilte mich tippelnd (mehr ließ die Größe der Laufkarte nicht zu) den Anschluss wiederzufinden.
Weit vor mir, zwischen den nackten Körpern hindurch, sah ich manchmal einige elektronische Geräte aufblitzen, doch es sollten weitere vierzig Minuten vergehen, bis ich mein Ziel endlich erreicht hatte. Dann stand ich vor einer zwei mal drei Meter großen Nische in der Wand. Mehrere Stufen führten zu einem erhöhten Podest in der Mitte, das von etlichen elektronischen Apparaten und einem unübersichtlichen Gewirr aus Kabeln und Leitungen umgeben war. Vor der Nische, auf einem quietschenden Bürostuhl, saß eine schlaksige Frau (komplett bekleidet!), mit bartstoppelkurzen, regenbogenfarbenen Haaren und blickte gelangweilt auf einen Bildschirm vor sich.
»Ihre Laufkarte!«, sagte sie und streckte ihre Hand aus, ohne den Blick von ihrem Monitor zu nehmen.
Zögernd reichte ich ihr mein letztes noch verbliebenes Kleidungsstück und sah zu, wie die Frau meine Laufkarte mit dem aufgedruckten Datenspeicher in einen Spalt in ihrem Kontrollpult steckte.
»Stellen Sie sich auf das Podest, strecken Sie ihre Arme seitlich aus, schließen Sie die Augen, bewegen Sie sich nicht, und bitte etwas zügig, es warten noch mehr Leute!«
Ich beeilte mich die Stufen hinauf zu kommen. Rechts vor der Nische hing ein zusammengeschobener, gelber Plastikvorhang mit orangefarbenen Sonnenblumen von der Decke und ich überlegte einen Moment, ob ich ihn hinter mir zuziehen sollte. Doch da er so aussah, als wäre er das letzte Mal von Buster Keaton persönlich benutzt worden, unterließ ich es und stellte mich stattdessen so auf das Podest, dass ich mit dem Gesicht zur Wand stand.
»Bitte anders herum, mit dem Gesicht zu mir!«
Widerstrebend drehte ich mich um und schaute in die unzähligen Gesichter der Wartenden. Direkt vor mir, neben dem Mann mit der Nickelbrille, stand eine junge Frau mit einem Silberblick und himmelte meinen Körper völlig ungeniert an.
»Augen zu!«, hörte ich die Stimme der Frau am Kontrollpult.
Ich kniff die Augen fest zusammen. Das Brummen, das aus den Apparaturen um mich herum drang, wurde lauter. Ich glaubte spüren zu können, wie ein Dutzend Laserstrahlen über meinen Körper tanzten und jeden Millimeter scannten. Leise hörte ich das Kichern der Wartenden und ich stellte mir vor, wie sie ihre Köpfe zusammensteckten und tuschelnd auf meinen Körper zeigten. Jo Klein war ein toter Mann!
Der peinlichste Moment in meinem Leben schien Ewigkeiten zu dauern.
Das Brummen verstummte.
»Der Nächste!«
Als ich die Augen öffnete, stand bereits der Mann mit der Nickelbrille neben mir auf dem Podest und schob mich zur Seite. Ich eilte die Stufen hinunter, griff nach meiner Laufkarte, die mir die Frau mit der ungewöhnlichen Frisur reichte, und verließ fluchtartig den Raum durch eine Seitentür. Ich vergaß sogar, meine Blöße zu bedecken.
Im angrenzenden Umkleideraum stellte ich eine neue persönliche Bestzeit im Ankleiden auf. Danach fühlte ich mich wohler. Das Sichtfenster auf meiner Laufkarte hatte sich grün verfärbt und so folgte ich der grünen Markierung auf dem Fußboden zu meiner nächsten Station. Diesmal war die Warteschlange und damit die Zeit, die ich mir die Beine in den Bauch stehen musste, sogar noch länger.
In einer schalldichten Kabine musste ich ein Dutzend Sätze von einem Bildschirm ablesen und in ein Mikrofon sprechen. Als der Computer meine Stimmcharakteristik auf dem Datenstreifen meiner Laufkarte gespeichert hatte, folgte ich der nun roten Markierung zu meiner letzten Station, wo mein Gesicht in höchster Auflösung gescannt wurde. Als ich schließlich wieder auf dem Rückweg zur Anmeldung war, schmerzten meine Füße, als wäre eine Herde Elefanten darüber gelaufen.
Die fünf Frauen hinter dem chromglänzenden Tresen mit dem Schriftzug Schock Produktion taten nichts anderes, als die Laufkarten einzusammeln und in ein Lesegerät zu schieben, von dem die Daten in den Zentralrechner überspielt wurden. Ich gab meine Karte ab und beeilte mich, aus dieser Irrenanstalt zu verschwinden.