Nanopark - Uwe Hermann - E-Book

Nanopark E-Book

Uwe Hermann

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Beschreibung

Wenn dich deine Feinde jagen, mach dir die Illusion zum Freund!

Nanopark, Deutschlands modernster Freizeitpark, in dem virtuelle Welten und Wirklichkeit zu einem unvergesslichen Erlebnis verschmelzen, wird überfallen. Terroristen nehmen 2975 Besucher als Geiseln. Nur Simon Klein, ehemaliger Polizist, gelingt die Flucht.

Von den Geiselnehmern gejagt und ohne eine Möglichkeit, Realität und Schein unterscheiden zu können, kämpft er ums Überleben und sucht einen Weg aus der hermetisch abgeriegelten Kuppel, während um ihn herum der Park zur Todesfalle wird.

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UWE HERMANN

NANOPARK

ERLEBE DEINE FANTASIE!

© 2021 Polarise

Ein Imprint der dpunkt.verlag GmbH

Wieblinger Weg 17

69123 Heidelberg

www.polarise.de

1. Auflage 2021

Autor: Uwe Hermann

Lektorat: Martin Wohlrab

Copy-Editing: Irina Sehling

Satz: Veronika Schnabel

Illustration Cover: Timo Kümmel

ISBN:

Print

978-3-947619-69-6

PDF

978-3-947619-70-2

ePub

978-3-947619-71-9

mobi

978-3-947619-72-6

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über www.dnb.de abrufbar.

Uwe Hermann, geboren 1961 in Sulingen in Niedersachsen, ausgezeichnet mit dem Kurd-Laßwitz-Preis und dem Deutschen Science-Fiction-Preis, schreibt seit 1990 Kurzgeschichten und Romane. Letzte Veröffentlichungen: Userland – Berlin 2069, Atlantis Verlag, 2019 und Der Raum zwischen den Worten: Kurzgeschichten – Band 5, Selbstverlag, 2019

https://www.kurzegeschichten.com/

Inhalt

Unkontrollierbare Fahrzeuge und schwierige Frauen

Die Macht der Manipulation oder Zuckerwasser in achtundneunzig verschiedenen Geschmacksrichtungen

Ungebetene Gäste und die Schwierigkeit, eine Frau ins Bett zu bekommen

Von Zwillingen, Muskelpaketen und Egomanen

Gestresste Smileys und eine feindliche Übernahme

Abtretende Direktoren und ein schielender Löwe

Anhängliche Tiere und wildes Wasser

Gekappte Leitungen und ein nachtragender Gorilla

Intriganten und ein gewaltiger Hilferuf

Rothaarige Mädchen und andere Katastrophen

Achterbahnen und andere Todesarten

Solokampagne für Fortgeschrittene

Durchgeknallte Kollegen oder der Ritt nach Afrika

Auflflösungserscheinungen und ein Essen mit dem König

Der schlimmste aller Tage

Schlimmer geht immer

Jägerprogramme und andere Schadsoftware

Das Geheimnis der Springerstiefel

Unerwarteter Besuch und abschließende Worte

Von Psychopathen, Löwen und anderen Gefahren

Ein Keller voller fliegender Autos

Aufgetaucht und zurück ins Licht

Noch nicht vorbei

Nanopark und seine Themenbereiche

Personen der Handlung

Unkontrollierbare Fahrzeuge und schwierige Frauen

Simon Klein ärgerte sich, dass er den Fall angenommen hatte. Als sein Abteilungsleiter zu ihm gekommen war, hätte er Nein sagen müssen. Stattdessen hatte er den Datenstick mit der Akte genommen, seine Sachen gepackt und sich am nächsten Morgen in aller Frühe auf den Weg gemacht. Was für ein Fehler! Simon mochte weder Kinder noch Menschenmassen, doch all das erwartete ihn nun am Ende seiner Fahrt. Wie hatte er nur so dumm sein können? Die Antwort war einfach: Weil sein Vorgesetzter nicht gefragt, sondern angeordnet hatte, und weil Simon es sich nicht hatte leisten können, abzulehnen. Und obwohl er das alles wusste, war er wütend. Wütend auf sich, seinen Vorgesetzten und den Schmerz in seiner Schulter, der sein Leben verändert hatte.

Ein selbstfahrender LKW mit zwei Anhängern rauschte wie ein Geschoss an seinem Wagen vorbei. Simon verbannte den Ärger aus seinen Gedanken und gab ebenfalls Gas. Sein roter E-Audi beschleunigte mit dem leisen Surren einer Katze.

Obwohl im Jahr 2052 das autonome Fahren längst zur Normalität geworden war, steuerte er seinen Wagen selbst. So hatte er wenigstens jetzt das Gefühl der Kontrolle. Wenn schon nicht über sein Leben, dann doch zumindest über seinen E-Audi. Das Lenkrad in den Händen zu halten, zu beschleunigen und zu bremsen, fühlte sich gut an, auch wenn die Elektronik seines Fahrzeuges jede seiner Entscheidungen überwachte und bei einem Fahrfehler sofort eingegriffen hätte.

Auf Höhe Brandenburg verließ er die Autobahn. Er wartete eine Lücke im Verkehr ab, bevor er auf den mehrspurigen Zubringer zum Freizeitpark wechselte und die A 13 hinter sich ließ. Es war Pfingstmontag, der 10. Juni, und entsprechend viel Verkehr rollte den Zubringer entlang, doch im Gegensatz zu den Menschen, die in ihren Fahrzeugen saßen, freute sich Simon nicht auf ein paar aufregende Tage im modernsten Freizeitpark der Welt. Seit seinem Abschied aus dem Polizeidienst arbeitete er als Ermittler für eine Versicherungsgesellschaft. Ab einer gewissen Höhe der Versicherungssumme wurde er hinzugezogen, wenn der Polizeibericht nicht den Interessen der Versicherungsgesellschaft entsprach. Oder anders ausgedrückt, wenn eine Summe fällig zu werden drohte, auf deren Auszahlung sein Arbeitgeber gern verzichtet hätte. Wie auch in diesem Fall. Ein Mitarbeiter des Freizeitparks war ums Leben gekommen. Trotz fehlender Beweise hatte der ermittelnde Beamte »Unfall« als Todesursache in seinen Bericht geschrieben. Simons Arbeitgeber hoffte auf Selbstmord, weil er in so einem Fall nicht zu zahlen brauchte, und hatte ihn geschickt, um den Suizid möglichst zu bestätigen.

Simon griff nach dem Datenstick mit der Akte von Robert Neuhaus, der zusammen mit zehn Tafeln Vollmilch-Nuss-Schokolade neben ihm auf dem Beifahrersitz lag. Er hatte die Schokolade bei seinem letzten Halt in einer Tankstelle spontan gekauft, obwohl er sich eigentlich nichts aus Süßem machte. Wie so oft explodierte ein kurzer, aber heftiger Schmerz in seiner rechten Schulter, der ihn zwang innezuhalten.

Vier Jahre lag sein Unfall jetzt zurück und obwohl er sich die Schulter dabei nicht verletzt hatte, schmerzte sie seitdem, als wolle sie verhindern, dass er diesen Tag jemals wieder vergaß. Keiner der Ärzte, bei denen er vorstellig geworden war, hatte den Grund für seine Schmerzen gefunden. Jeder bestätigte ihm, dass er kerngesund sei. Leider kümmerte sich der Schmerz nicht um ihre Diagnosen. Schließlich konnte Simon nicht mehr im Außendienst arbeiten. Ein halbes Jahr lang versuchte er es hinter einem Schreibtisch, aber Berichte auszufüllen oder zu telefonieren war nicht seine Welt. Schließlich quittierte er den Polizeidienst und nahm den vermeintlich besseren Job in der Versicherungsgesellschaft an. Bereits in den ersten Tagen wurde ihm klar, dass man ihn dort nur wegen seiner Kontakte zur Polizei eingestellt hatte.

Der Schmerz in seiner Schulter verging so schnell, wie er gekommen war. Zurück blieb nur ein dumpfes Pochen.

Erneut griff Simon nach dem Stick – diesmal vorsichtiger – und steckte ihn in die Datenbuchse der Mittelkonsole. Der Inhalt erschien auf dem Bildschirm im Armaturenbrett. Er überflog den Text, während er gleichzeitig versuchte, die Straße im Auge zu behalten. Das Foto in den Unterlagen zeigte einen siebenundfünfzigjährigen Mann mit schütteren Haaren, dem Versuch einer Gesichtsbehaarung und einer schwarzen, großen Kunststoffbrille, deren Gläser ein Gesicht wie zerknittertes Papier bedeckten. Robert Neuhaus schien in seinem Leben viel erlebt zu haben, dennoch sah er nicht aus wie jemand, der sich freiwillig von einem Dach in den Tod stürzte. Er hinterließ eine Frau und zwei erwachsene Kinder und nach allem, was Simon bisher gelesen hatte, trauerte seine Familie ehrlich um ihn, was nicht auf eine zerrüttete Ehe hindeutete. Laut den medizinischen Unterlagen war der Tote weder depressiv noch gesundheitlich angeschlagen gewesen. Größere Schulden hatte er auch nicht gehabt. Warum also hätte er sich freiwillig in den Tod stürzen sollen?

Simon zog den Stick aus der Buchse im Armaturenbrett und legte ihn zurück auf den Beifahrersitz. Auch wenn es seinem Arbeitgeber nicht gefiel, schien es, als hätte der Beamte mit der Einschätzung der Todesursache recht. Alles sah nach einem Unfall aus.

Neben dem Datenstick lag ein Hochglanz-Videoflyer des Freizeitparks. Als Simon ihn vom Sitz nahm, schaltete sich das Video in der Vorderseite ein. Eine Wildwasserbahn durchbrach eine Wand aus Wasser und raste auf den Betrachter zu. Dann ging es mit einer Achterbahn hinab auf den Grund eines ausbrechenden Vulkans, um anschließend in einem Raumschiff über einer futuristischen Stadt abzustürzen. Eine Frauenstimme, untermalt von Musik, warb für den besten Freizeitpark der Welt, für ein vollkommenes Erlebnis und für die perfekte Verschmelzung von Augmented Reality mit allen Sinnen. Simon berührte den aufgedruckten Mute-Button und stellte den Ton ab. Die linke Hand immer noch am Lenkrad, faltete er mit der rechten den Flyer auseinander.

Nanopark unterteilte sich in verschiedene Themenbereiche. Gleich hinter dem Eingang betrat der Besucher Die Stadt der Zukunft mit ihren Restaurants, Verkaufsständen, Shows und Karussells. Von dort erreichte man das Untergeschoss mit dem Themenbereich Mittelpunkt der Erde oder man fuhr hinauf in die erste Etage und besuchte Port Royal, eine Mischung aus Mittelalter und Fantasywelt. Eine Ebene darüber lag Der Wilde Westen mit einer spektakulären Loopingbahn. Wer es etwas ruhiger angehen lassen wollte, schaute sich Die Dschungelsafari an, einen der afrikanischen Tier- und Pflanzenwelt nachempfundenen Bereich mit virtuellen Löwen, Elefanten, Gazellen, Affen und vielem mehr.

Simon startete das Video des Parkaufbaus. Einige der Fahrgeschäfte begannen ihre Fahrt im Erdgeschoss und beendeten sie auf der untersten Ebene. Es gab ein Riesenrad, eine Wildwasserbahn und mehrere Achterbahnen, eine davon mit zwei Loopings, sowie unzählige weitere Fahr- und Spaßgeschäfte. Das eigentliche Highlight aber war die perfekte Verschmelzung von Realität und virtueller Grafik. Sobald die Besucher durch eine der Schleusen das Innere der Kuppel betraten, beeinflussten der Atemluft zugesetzte Nanoroboter die Sinne und sorgten dafür, dass sie in eine unvergessliche Traumwelt eintauchten.

Simon blätterte weiter. Auf der nächsten Seite waren verschiedene Zusatzprogramme aufgeführt, die die Besucher dazubuchen konnten. Wer das nötige Geld besaß, nahm an einer Großwildsafari teil und jagte das Raubtier seiner Wahl, flog zu einem fremden Planeten und traf auf Außerirdische oder er tauchte auf dem Grund des Ozeans in einem versunkenen Piratenschiff nach Schätzen – inklusive untoter Piraten. Dabei konnten die Teilnehmer den Schwierigkeitsgrad und den Realitätslevel frei wählen. Ein Erlebnis, das dank Augmented Reality von der Wirklichkeit nicht zu unterscheiden war, versprach das Video des Flyers. Aber auch an Besucher ohne Familien und Singles hatten die Parkbetreiber gedacht. Wer Nanopark allein besuchte, konnte sich virtuelle Freunde mieten und mit ihnen einen unvergesslichen Tag erleben.

Unvermittelt bremste vor Simon ein Wagen. Bevor er reagieren konnte, übernahm sein Fahrzeug die Kontrolle und reduzierte die Geschwindigkeit. Obwohl Simons Fuß noch immer auf dem Gaspedal ruhte, wurde sein E-Audi langsamer. Verärgert verzog er das Gesicht. Er hasste es, der Technik ausgeliefert zu sein. Selbst in so einem Moment, in dem sie ihn vor einem Auffahrunfall bewahrt hatte.

In dem Fahrzeug vor sich sah er zwei Kinder, die auf dem Rücksitz herumbalgten. Ein etwa zwölfjähriges Mädchen mit kurzen roten Haaren schaute zu ihm herüber und streckte ihm die Zunge raus. Offensichtlich beruhte seine Abneigung gegenüber Kindern auf Gegenseitigkeit. Auch er zeigte ihr die Zunge. Woraufhin das Kind den Mittelfinger hob. Dann beschleunigte der Wagen, der Abstand vergrößerte sich, und er verlor das Mädchen aus den Augen.

Nach einem Kilometer tauchte am rechten Straßenrand ein Hinweisschild auf. Noch auf der Autobahn hatte Simons Wagen sein Kommen gemeldet und die Verkehrslage abgefragt. Nun wechselte der Text auf dem Straßenschild: »Willkommen, Simon Klein, Nanopark freut sich auf dich. Bitte benutze Parkplatz B.«

Noch konnte Simon nichts von dem markanten Gebäude des Freizeitparks sehen, doch das sollte sich bald ändern. Hinter einem Hügel tauchte eine gewaltige farbige Kuppel auf, die hoch in den Himmel ragte. Auf der Rückseite, noch verborgen vor seinem Blick, lagen die Verwaltungsgebäude, mehrere langgezogene Lagerhallen und die Einfahrten für die Lieferanten.

Simon verließ die Hauptzufahrt und wechselte wie alle anderen auf die zum Parkplatz führenden Fahrspuren. Der Parkplatz umfasste mehrere Bereiche und war doch im Vergleich zu der Kuppel winzig. Das eigentliche Parkdeck lag unterirdisch. Ein Computer holte über ein Hydrauliksystem die Fahrzeuge in die Tiefe und bewegte sie über ein ausgeklügeltes, vollautomatisches Schienensystem in winzige Parknischen, um jeden Zentimeter Platz ausnutzen zu können. Gerade versank neben Simons E-Audi eine Parkbucht samt Fahrzeug im Boden. Augenblicke später deutete nichts mehr darauf hin, dass dort zuvor ein Wagen gestanden hatte.

Von den Parkplätzen aus führten Wege zu den fünf nebeneinanderliegenden Eingängen der Kuppel. Menschenmassen wälzten sich in Richtung Freizeitpark. Simon fröstelte. Der Anblick war schlimmer, als er befürchtet hatte.

Das Leitsystem des Parks schickte seinem Wagen die Position des für ihn reservierten Parkplatzes. Ungefragt übernahm sein E-Audi die Kontrolle und fuhr selbstständig in eine Parknische, sehr zu Simons Unwillen. Als wollte die KI seines Wagens noch einen draufsetzen, stellte sie einfach den Motor ab, ohne ihn darüber zu informieren, dass er sein Ziel erreicht hatte.

Eine Zeitlang blieb Simon im Auto sitzen und sah den Besuchern zu, die in Richtung der Eingänge strömten. Dann griff er nach dem Datenstick und stieg aus.

Die Juniwärme schlug ihm entgegen. In der Luft lag der Geruch von Popcorn, der von einem Stand vor dem Eingang zu ihm herüberwehte, doch noch intensiver als der Geruch von gebratenem Mais war der Lärm der Kinder. Aus einem Bus, der vor dem Eingang hielt, drängte eine ganze Schar von ihnen. Eine völlig überforderte Aufsichtsperson versuchte sie unter Kontrolle zu bringen. Simons Blick wurde abgelenkt, als ein Ehepaar an ihm vorbeirannte. Sie eine blondgelockte, magere Schönheit in einem Minirock, für den sie bereits ein paar Jahre zu alt war. Er ein Glatzenträger mit einer Körperfülle, die ihn wie einen Ballon aussehen ließ. Der Mann zog einen Trolley voller Koffer hinter sich her. Beide versuchten zwei Kinder einzuholen, die nur noch Augen für den Park hatten und auf keinen ihrer Rufe reagierten.

Simon holte seine Sporttasche aus dem Kofferraum. Viel hatte er nicht eingepackt. Er hoffte, dass er nicht länger als zwei Tage bleiben musste. Er dachte an seinen Abteilungsleiter, der ihm zum Abschied jovial auf die Schulter geklopft und gesagt hatte, dass er ihn beneide. Denn welcher Mitarbeiter dürfe schon ein paar Tage auf Firmenkosten im besten Park der Welt verbringen. Nur die, auf die man in der Firma verzichten konnte, hatte Simon gedacht. Und dennoch hatte er geschwiegen. Mit dreiundvierzig Jahren konnte man nicht mehr so einfach seinen Beruf wechseln und hoffen, sofort einen neuen zu finden.

Kurz überlegte er, ob er sein Jackett im Auto lassen sollte. Es hingen wenige Wolken am Himmel. Die Sonne wärmte wie eine Heizspirale und in dem Jackett würde er noch mehr schwitzen. Außerdem hatte er es nicht nötig, seriös zu wirken und einen guten Eindruck zu hinterlassen – schließlich wollte er keine Lebensversicherung verkaufen. Doch letztendlich zog er es trotzdem an. Das Jackett war ein Teil seiner Arbeitskleidung, wie die Uniform, die er als Polizist getragen hatte. Simon schloss den Kofferraum.

»Bitte halte deine personalisierte Eintrittskarte zur Identifizierung bereit!«, erklang hinter ihm eine Stimme aus einer knapp anderthalb Meter hohen Edelstahlsäule, an deren Oberseite eine rote Leuchte blinkte. Darunter befand sich ein Sensor mit einem Bildschirm, auf dem ein Text ihn aufforderte, sein Ticket an den Sensor zu halten. Simon tat der Elektronik den Gefallen.

Sie identifizierte ihn. »Willkommen, Simon Klein. Nanopark freut sich auf deinen Besuch. Bitte tritt von deinem Fahrzeug zurück!«

Simon ging bis an den Rand der Parkbucht und drehte sich um. Ein Sicherheitsgitter schob sich vor ihm in die Höhe. Dahinter versank die Plattform samt seinem Wagen im Boden. Simon fragte sich, wie oft allzu neugierige Besucher wohl schon hinterhergestürzt waren.

Er steckte die Eintrittskarte in seine Jacketttasche und schloss sich widerwillig den Menschen an, die auf die Eingänge des Parks zuströmten. Vor ihm erhob sich die Kuppel des Freizeitparks, so hoch, dass der Kölner Dom darin Platz gefunden hätte. Alle paar Augenblicke lief eine regenbogenfarbene Welle aus Lichtern über ihre Oberfläche und ließ sie in einer anderen Farbe zurück. Im Augenblick leuchtete die Kuppel in einem von hell nach dunkel verlaufenden Lila. Der computeranimierte Schriftzug ›Nanopark‹ und sein Slogan ›Erlebe deine Fantasie!‹ wanderten in riesigen animierten weißen Buchstaben um die Kuppel herum. Die Wege zu den fünf Ein- und Ausgängen begrenzten Hecken und – dank Genmanipulation – wochenlang blühende Kirschbäume. Auf dem Gelände des Freizeitparks gab es unzählige Bereiche wie diesen hier, mit Grünpflanzen, Liegewiesen und sogar einem Teich voller Goldfische und mit einer gewaltigen Wasserfontäne.

Simon ging im Schatten der Bäume zum Eingangsbereich hinüber und stellte sich an das Ende der Warteschlange. Hier bestand der Boden aus einer riesigen Videofläche, die alle paar Augenblicke ein anderes Bild zeigte. Mal schien es, als stünden die Wartenden auf einem schmalen Bergpfad, inmitten einer Schneelandschaft. Dann flogen sie scheinbar hoch in der Luft. Nur um gleich darauf auf dem Meeresboden zu stehen, umgeben von Fischschwärmen und Korallen. Simons Magen grummelte. Hinter ihm riss sich ein kleines Mädchen von der Hand seiner Mutter los und versuchte, auf einen der Fische zu springen. Das Bild der Videofläche flackerte sekundenlang, nur um sich sofort wieder aufzubauen. Obwohl der Park bereits geöffnet hatte, schien die Schlange der Besucher nicht kürzer zu werden. Simon fühlte sich inmitten der vielen Menschen unwohl. Ohne dass er es bemerkte, trat er von einem Bein auf das andere. Ein paar Meter vor sich sah er das rothaarige Mädchen aus dem Auto wieder. Auch sie erkannte ihn und erneut tauschten sie und Simon Unhöflichkeiten aus. Dann öffnete sich vor ihr das Absperrgitter und die Kleine verschwand im Inneren des Gebäudes.

»Simon Klein?« Eine Stimme rief seinen Namen.

Er drehte sich um und sah eine kleine, leicht übergewichtige Frau zielstrebig auf sich zukommen. Weder ihre kurzen, auffallend roten Haare noch die unvorteilhafte Zusammenstellung ihrer Kleidung, die unter ihrem geöffneten weißen Kittel hervorschaute, deuteten darauf hin, dass sie sich irgendwelche Gedanken über ihr Aussehen machte. Die knapp 30-jährige Frau blieb vor Simon stehen. »Willkommen im Nanopark«, begrüßte sie ihn, während ihre Augen zu fragen schienen: »Und wann fahren Sie wieder?«

Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Mein Name ist Hanna Lehnhardt. Ich soll mich während Ihres Aufenthalts um Sie kümmern.«

Er ergriff kurz ihre Hand. »Wie haben Sie mich erkannt?«

»Habe ich nicht. In Ihrer Eintrittskarte steckt ein RFID-Chip, der mir Ihre Position verraten hat.« Sie drehte sich um und bedeutete mit dem Zeigefinger, dass er ihr folgen solle. »Kommen Sie, wir benutzen den VIP-Eingang!«

Er löste sich erleichtert aus der Schlange der Wartenden und schloss sich ihr an. »Ein RFID-Chip? Mit dem Datenschutz nehmen Sie es hier wohl nicht so genau?«, fragte er grinsend.

»Lesen Sie die AGB auf unserer Website. Als Sie die Karte kauften, haben Sie ihnen zugestimmt«, antwortete die Frau abweisend.

»Genau genommen hat die Sekretärin meines Abteilungsleiters die Eintrittskarte besorgt.«

»Dann beschweren Sie sich bei ihr!«

Spätestens jetzt wurde Simon klar, dass er alles andere als willkommen war. Vielleicht befürchteten die Verantwortlichen, dass er Ärger machen wollte. Oder sie hatten etwas zu verbergen. Er seufzte lautlos. Warum musste immer alles so kompliziert sein?

Simon folgte Hanna zu einem weiteren Eingang, vor dem keine Menschenschlange wartete. Sie hielt ihre Zugangskarte vor ein Lesegerät und die Tür öffnete sich mit einem leisen Klicken.

Simon betrat hinter ihr die Kuppel. Sie gelangten in einen großzügig eingerichteten Wartebereich, mit Tischen, Sesseln und einer chromblitzenden Bar. Der dunkle Teppich auf dem Boden führte sie an der Sitzecke vorbei, wo einige der betuchten Besucher mit einem Drink in der Hand saßen und sie abschätzig musterten. Hanna bot ihm keinen Alkohol an, aber er hätte sowieso abgelehnt. Wer so früh trank, hatte es aufgegeben, seine Probleme lösen zu wollen, und sich stattdessen entschieden, sie zu ertränken. Und so verzweifelt war Simon noch nicht.

Hanna blieb schließlich vor einer braunen Kordel stehen, die von zwei hölzernen Säulen gehalten den Gang versperrte.

»Ihre Eintrittskarte!«, verlangte sie und streckte die Hand aus.

Er gab ihr sein Ticket und sie hielt es vor ein in die Wand eingelassenes Lesegerät. Die Elektronik gab einen wimmernden, unfreundlich klingenden Ton von sich.

»Sie haben Ihre Gesundheitserklärung noch nicht unterschrieben. Ohne die dürfen Sie die Kuppel nicht betreten.«

Simon wollte endlich mit der Arbeit beginnen und den Park so schnell wie möglich wieder verlassen. »Ich habe nicht vor, die Attraktionen zu benutzen. Außerdem sagte ich bereits, dass nicht ich das Ticket gekauft habe, sondern jemand anderes.«

»Und ich habe das bereits mitbekommen«, antwortete Hanna schnippisch, »trotzdem dürfen Sie ohne eine Gesundheitserklärung den Park aus versicherungstechnischen Gründen nicht betreten. Gerade Sie müssten das doch verstehen.« Sie verschränkte die Arme. »Entweder unterschreiben Sie oder Sie fahren wieder zurück in Ihr Büro!«

Simon begriff, dass Hanna genauso wenig Lust auf ihren derzeitigen Job hatte wie er auf den seinen.

»Strohhalm oder Münze?«, fragte er.

Sie schaute ihn verwirrt an. »Ich verstehe nicht.«

»Haben Sie und Ihre Kollegen Strohhalme gezogen oder eine Münze geworfen, um herauszufinden, wer meinen Babysitter spielen muss?«

Plötzlich lächelte sie. »Weder noch. Meine Chefin hat es angeordnet.«

Schlagartig wurde sie ihm sympathischer. Auch sie hatte eine Aufgabe übernommen, zu der sie keine Lust hatte. »Willkommen im Club«, sagte er, während er auf dem Display des Bildschirms die Gesundheitserklärung unterzeichnete. »Mir wurde dieser Fall auch aufs Auge gedrückt. Glauben Sie mir, wenn ich die Wahl gehabt hätte, wäre einer meiner Kollegen hier.«

»Nun, da Sie es sind, scheinen Sie wohl nicht allzu beliebt zu sein.«

Er überlegte. »Scheint so.«

Sie reichte ihm seine Eintrittskarte zurück. »Die brauchen Sie, wenn Sie etwas kaufen wollen und um die Tür Ihres Hotelzimmers zu öffnen.«

Er sah, dass ihre hellblauen Augen dezent geschminkt waren. Außerdem hatte sie ihre Fingernägel lackiert. Vielleicht legte sie ja doch Wert auf ihr Äußeres.

Hanna bemerkte nicht, dass er sie musterte. »Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«, fragte sie zögernd.

»Was wollen Sie wissen?«

»Sind Sie hier, um einen Grund zu finden, damit die Versicherung nicht zu zahlen braucht?«, platzte es aus ihr heraus. »Sollen Sie Roberts Tod als Selbstmord hinstellen? Das war es nämlich nicht! Er hat sich nicht selbst umgebracht. Das hätte er niemals getan!«

Simon schwieg einen Moment, überrascht von ihrem emotionalen Ausbruch. Dann überwog in ihm das Bedürfnis, sich zu rechtfertigen. »Sie haben recht, mein Arbeitgeber wäre erleichtert, wenn sich Neuhaus’ Tod als Selbstmord herausstellen sollte, aber das gilt auch für Ihren Chef, Direktor Schuster. Bei einem Selbstmord müsste der Park keine Schadensersatzforderungen der Hinterbliebenen befürchten. Von einer schlechten Presse ganz zu schweigen.«

»Und Sie haben vor, so lange nach Beweisen zu suchen, bis das Ergebnis unseren Arbeitgebern gefällt?«

Ihre Wortwahl gefiel Simon nicht, deutete sie doch an, dass er im Sinne der Versicherung ermitteln würde. »Ich bin nicht hier, um etwas Bestimmtes zu beweisen. Ich will die Wahrheit herausfinden«, erwiderte er.

»Ach, und das können Sie?« Ihr spöttischer Blick traf ihn härter, als er erwartet hatte.

»Ich denke schon. Ich war früher mal Polizist.« Das hatte er eigentlich nicht erwähnen wollen, aber diese Frau hatte das Talent, ihn mit jedem zweiten Satz auf die Palme zu bringen.

Sie sah ihn verwundert an. Einen Moment lang dachte er, sie würde seine Erklärung kommentarlos akzeptieren, doch anscheinend konnte sie so etwas nicht. »Na, hoffentlich sind Sie für diesen Job dann nicht überqualifiziert.« Sie nahm ihm seine Tasche aus der Hand und stellte sie in ein Fach unter dem Lesegerät. »Ihre Sachen werden im Hotel auf Sie warten.« Dann löste sie den Karabinerhaken an einer Seite der Kordel und winkte ihn durch.

»Warum sind Sie eigentlich so fest davon überzeugt, dass es kein Selbstmord war?«, fragte Simon, während sie nebeneinander den Flur entlanggingen.

Sie sah ihn an. »Robert redete ständig von seinem nächsten Urlaub. Ich meine, jemand, der eine Reise plant und die auch schon bezahlt hat, springt doch nicht von einem Dach. Das macht doch niemand!«, stieß sie hervor.

Simon überraschte es, wie viel Energie in dieser kleinen Frau steckte. Entweder war sie in einer Familie aufgewachsen, in der die Männer dominiert hatten, oder man hatte sie in ihrem Leben so oft verletzt, dass sie nun lieber zuerst austeilte. Zu gern hätte er mehr über sie erfahren, aber auf ihre Akte hatte er keinen Zugriff mehr.

»Direktor Schuster hat doch sicher angeordnet, dass Sie mit mir kooperieren, damit ich im Sinne des Parks entscheide. Stattdessen versuchen Sie mich davon zu überzeugen, dass es kein Selbstmord war. Ich denke, Ihr Boss wäre nicht begeistert, wenn er davon wüsste.«

Hanna stieß wütend die Luft aus. »Das ist mir egal! Ich sage, was ich denke.«

»Dann ecken Sie bei Ihren Vorgesetzten wohl oft an?«

Ihr verärgerter Gesichtsausdruck entspannte sich. »Ständig, aber ich lasse mir keinen Maulkorb anlegen.«

»Darauf wette ich.«

Vor einer Schleusentür blieben sie stehen. Hanna zog erneut ihre Zugangskarte aus der Tasche. Bevor das Lesegerät in der Schleusentür sie erfassen konnte, zögerte sie. »Warum machen Sie sich eigentlich die Mühe einer Untersuchung, wenn sowieso jeder der Beteiligten lieber einen Selbstmord hätte? Einigen Sie sich doch einfach darauf, dass Robert freiwillig in den Tod gesprungen ist. Das würde uns allen eine Menge Arbeit ersparen und ich müsste Sie nicht herumführen.«

Er ignorierte ihren sarkastischen Tonfall. »In der Polizeiakte steht ›Unfall mit Todesfolge‹ und ohne eine erneute Untersuchung ändert sich daran auch nichts. Außerdem bekämen seine Hinterbliebenen bei einer Selbsttötung weder eine Entschädigungszahlung noch Schmerzensgeld. Darüber wären sie bestimmt nicht erfreut.«

»Und dieses Geld wollen Sie ihnen vorenthalten?«

»Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, dass ich hier bin, um die Wahrheit herauszufinden, und nicht, um etwas Bestimmtes zu bestätigen«, erwiderte Simon ärgerlich.

Abrupt wechselte sie das Thema. Vielleicht hatte sie gemerkt, dass sie dabei war, den Bogen zu überspannen. »Ich nehme an, Sie sind das erste Mal hier?« Jetzt hielt sie ihre Zugangskarte vor das Lesegerät.

Er nickte. »Ja, aber dieser Freizeitpark wird auch nicht anders sein als die anderen.«

Sie lächelte in sich hinein. »Da werden Sie sich aber wundern.«

Die Schleusentür entpuppte sich als Eingang zu einer Raumschiffzentrale, die aus einem Science-Fiction-Film der späten sechziger Jahre hätte stammen können. An metallverkleideten Wänden hingen Röhrenmonitore und Schilder mit Verhaltensregeln für den Notfall. Auf einer Schalttafel voller analoger Anzeigeinstrumente blinkte ein Dutzend Lichter. Zwei lächerlich aussehende humanoide Roboter mit drehenden Antennen auf dem Kopf bedienten klobige Schalter.

Simon verkniff sich einen Kommentar. Hinter ihm und Hanna schloss sich die Tür. Eine Stimme forderte sie auf, sich auf einem der Sitze anzuschnallen. Als sie die Gurte angelegt hatten, zählte ein Countdown von zehn abwärts. Der Raum vibrierte und aus verborgenen Öffnungen stiegen Rauchwolken auf. Die Simulation war gut gemacht, aber alles andere als das beeindruckende Erlebnis, das Hanna ihm versprochen hatte. So etwas hatte Simon auch schon anderswo erlebt. Und dort sogar besser.

»Die Nanoroboter, die Sie seit Betreten der Schleuse einatmen, brauchen einen Moment, bis sie an die Rezeptoren in Ihrem Gehirn angedockt haben. Deshalb dieses Theater«, erklärte Hanna.

Simon lauschte in sich hinein. »Ich spüre nichts von irgendwelchen Nanorobotern.«

Sie lachte kurz auf. »Das will ich hoffen. Wenn Sie sie spüren würden, liefe etwas falsch.«

»Wie gefährlich sind denn die Nanoroboter?«

»So gefährlich wie Hustensaft.«

»Da würden Ihnen ihr Konstrukteur Harald Kocher und sein Team sicher widersprechen. Wenn sie dazu noch in der Lage wären.«

Nun wurde sie ärgerlich. »Die Explosion in seinem Forschungslabor war ein Unfall. Ein Mitarbeiter der Stadtwerke hatte ein falsches Ventil geöffnet. Das hat er selbst zugegeben und dafür wurde er auch verurteilt. Die Nanoroboter dafür verantwortlich zu machen, ist völliger Unsinn!«

»Trotzdem leben Kocher und die restlichen Mitarbeiter seiner Forschungsgruppe nicht mehr.«

»Jeden Tag sterben Menschen, selbst wenn keine Nanoroboter in der Nähe sind«, antwortete sie sarkastisch.

Plötzlich heulte eine Sirene auf. Sämtliche Lichter auf der Schaltkonsole blinkten rot und die Computerstimme meldete Probleme mit dem Triebwerk. Einer der Roboter fiel aus. Funken stoben aus seinem Kopf und er sackte in sich zusammen, als hätte man seinen Stecker gezogen.

Simon sah sich beunruhigt um. »Keine Sorge, das gehört zur Show«, erklärte Hanna.

Noch mehr Rauch füllte die Zentrale. Schließlich ertönte ein ohrenbetäubendes Krachen und der Boden kippte zur Seite. Teile der Wandverkleidung lösten sich. Die Deckenbeleuchtung stürzte herab und stoppte knapp über ihren Köpfen. Auch der zweite Roboter verabschiedete sich mit einem Kurzschluss.

Eine in die gegenüberliegende Wand eingelassene Schleusentür öffnete sich. »Verlassen Sie augenblicklich das Raumschiff! Es besteht Explosionsgefahr«, forderte sie eine Stimme auf.

Hanna deutete auf die Tür. »Bitte, nach Ihnen.«

Simon schnallte sich los und betrat Nanopark.

Die Macht der Manipulation oder Zuckerwasser in achtundneunzig verschiedenen Geschmacksrichtungen

Nach ein paar Schritten blieb Simon wie angewurzelt stehen. Der Anblick war so überwältigend, dass er glaubte, jemand würde ihm den Boden unter den Füßen wegziehen. Er wollte etwas sagen, aber er brachte kein Wort heraus.

Vor sich sah er eine futuristische Stadt mit unzähligen größeren und kleineren Verkaufsgeschäften, Parks und Karussells. Gewaltige Wolkenkratzer, in deren unteren Etagen sich Themenrestaurants befanden, schraubten sich in einen von einem leuchtenden Schutzschirm überspannten Sternenhimmel. Dazwischen folgten fliegende Autos einem unsichtbaren Highway. Auf den Parkwegen, inmitten von Trauben aus Besuchern, bewegten sich Roboter. Es gab Selbstbedienungsstände mit Getränken, Eis, Waffeln und Snacks. An einer Haltestelle schwebten chromblitzende Limousinen der sechziger Jahre, mit gewaltigen Triebwerken im Heckbereich. Gesteuert wurden sie von menschenähnlichen Maschinen, die wie Chauffeure gekleidet waren.

Simon sah sich fassungslos um. Nichts deutete mehr darauf hin, dass er sich im Inneren einer Kuppel befand. Das alles hatte keine Ähnlichkeit mit der Stadt der Zukunft, wie er sie sich vorgestellt hatte. Diese Szene wirkte eher wie das zum Leben erweckte Cover eines Science-Fiction-Romans aus den Sechzigern: Chrom und Glas, und anstatt rechter Winkel Rundungen und geschwungene Linien.

»Beeindruckend, oder?«, fragte Hanna, die offensichtlich Spaß daran hatte, ihn so zu sehen.

Er nickte. »Das kann man wohl sagen.«

Aus den Eingängen schob sich ein stetiger Strom an Besuchern und Hanna zog Simon mit sich zu einem der Schwebewagen hinüber. Sie wählte ein blaues Cabrio ohne Türen aus, hinter dessen Lenkrad ein Roboter sie begrüßte. Sie setzten sich auf den Rücksitz. Im Heckbereich wummerte ein gewaltiges Triebwerk. Hitze stieg in die Höhe und ließ die Luft flimmern.

»Dieser Wagen schwebt doch nicht wirklich?«, fragte Simon.

»Natürlich nicht. Er rollt auf Rädern, wie jeder andere Wagen auch, aber der Parkcomputer sorgt dafür, dass Sie sie nicht sehen. Der Rest ist ein 3D-Modell, das in Echtzeit abhängig von Ihrer Blickrichtung generiert und über das echte Fahrzeug gelegt wird. Die Manipulation Ihrer Wahrnehmung, zusätzliche Videooberflächen mit der richtigen Animation und etwas optische Täuschung sorgen dafür, dass Sie glauben, der Wagen würde schweben. Aber natürlich ist das nur eine Illusion. Genauso wie seine Triebwerke.«

Simon streckte die Hand nach den Flammen aus. »Ich kann die Wärme aber spüren.«

»Das glauben Sie nur. In Wirklichkeit gibt es das Triebwerk ja gar nicht. Was Sie fühlen, sind Impulse der Nanoroboter, die Ihrem Körper vorgaukeln, dass er die Hitze spürt.«

»Es ist so unglaublich … echt.«

»Ich weiß. Anfangs passten wir sogar die Kleidung unserer Besucher dem jeweiligen Themengebiet an, aber das haben wir schnell wieder aufgegeben. Zum einen kostete dieses Echtzeitrendering eine Menge an zusätzlicher Prozessorleistung, doch der Hauptgrund war, dass es den Gästen Angst machte. Zu viel Realität. Niemand wusste mehr, wer ein virtueller Charakter und wer ein Besucher war. Manche vergaßen sogar, dass sie sich in einem Freizeitpark aufhielten. Zwar können die Besucher auch heute noch ihr Aussehen in einem unserer Shops verändern, aber da das Geld kostet, nutzen nur die wenigsten diese Möglichkeit. Außerdem haben wir den Grad der Perfektion verringert. Bewusst nehmen die Besucher die Fehler nicht wahr, aber ihr Unterbewusstsein registriert sie und erinnert sie daran, wer sie sind und wo sie sich befinden.«

»Geht mir nicht so. Ich habe das Gefühl, in einen Science-Fiction-Film gebeamt worden zu sein.«

Sie lachte. »Das ist ja auch der Sinn des Ganzen.«

»Und das bewerkstelligen ausschließlich diese Nanoroboter?« Simon dachte an sein Schulterproblem. »Wie mächtig sind sie? Können die auch medizinische Probleme beseitigen?«

Hanna verneinte. »Das funktioniert nur im Film. Nanoroboter sind dumme Maschinen. Unsere können nur an die Nervenenden im Gehirn andocken und die Informationen, die von unserem Computer kommen, weitergeben. Aber das machen sie so gut, dass auch heute noch Besucher vergessen, dass alles um sie herum nur eine Illusion ist. Sie zücken ihre Telefone, schießen fleißig Fotos und glauben, so ihre Erlebnisse festhalten zu können, dabei ist nichts von dem, was sie sehen, real. Im Internet finden Sie unzählige Aufnahmen, auf denen nur nackte Betonwände zu sehen sind. Und obwohl jedermann weiß, dass Fotografieren und Filmen keinen Sinn ergibt, werden es immer mehr Aufnahmen. Aber unsere Nanoroboter beeinflussen nicht nur die visuelle Wahrnehmung.« Sie deutete auf einen Eisstand, vor dem sich eine lange Schlange aus Wartenden gebildet hatte. »Dort können die Besucher aus achtundneunzig verschiedenen Eissorten wählen. Schauen Sie sich den Selbstbedienungsautomaten an. Glauben Sie, in den passen achtundneunzig verschiedene Eissorten?«

Er schüttelte den Kopf. »Wohl eher nicht.«

»Richtig. Die Kunden bekommen alle die gleiche geschmacksarme Grundsubstanz aus Eiern, Milch, Sahneersatz und viel Zucker, doch mit dem entsprechenden Befehl an die Nanoroboter schmeckt eben jedes Eis anders. Genauso ist es mit den Getränken, die sie hier im Park bekommen. Nur Zuckerwasser, auch wenn die Besucher glauben, sie bekämen das, was sie bestellt haben.«

Simon spürte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten. »Eine erschreckende Vorstellung.«

Hanna nickte. »Eine erschreckende und faszinierende zugleich. Darauf beruht die Technik unseres Parks.«

»Ich lasse mich aber nicht gerne manipulieren.«

»Tja, dann gehören Sie eben nicht zu unserer Zielgruppe«, antwortete sie schroffer, als Simon erwartet hatte.

Da war sie wieder, die Abneigung, die er schon anfangs bei ihr gespürt hatte. So wie sie diese Technik verteidigte, hatte sie mit Menschen schlechte Erfahrungen gemacht. Anscheinend verließ sie sich jetzt lieber auf die Computer. Dazu passten auch ihr Aussehen und ihre schroffe Art, die signalisierte: Lasst mich in Ruhe! Vielleicht hatte sie eine gescheiterte Ehe hinter sich oder eine unglücklich zerbrochene Freundschaft. Er schaute auf ihre Hand und suchte nach einem Ring, doch er fand keinen.

Sie erriet seine Gedanken. »Analysieren Sie mich etwa?«

Simon sah sie mit einem unschuldigen Blick an. »Nein«, log er.

Hanna hielt ihre Identifikationskarte vor den Scanner des Roboters. Dabei fiel Simon ein Kunststoffarmband mit einem winzigen Bildschirm auf, das sie um ihr Handgelenk trug. Ihr elektronischer Fahrer fragte nach dem Ziel.

»Wollen Sie in Ihr Hotel oder möchten Sie zuerst sehen, wo Robert ums Leben gekommen ist?«, wollte Hanna wissen.

Simon überlegte kurz. Je eher er mit seiner Arbeit begann, umso früher konnte er wieder nach Hause. »Bitte zuerst zum Unfallort.«

Hanna nickte. »Halten Sie sich fest!« Sie gab dem Roboter ein Zeichen.

Kurz bevor ihr Wagen beschleunigte und mit aus Turbinen schlagenden Flammen und einem infernalischen Dröhnen davonfuhr, sah Simon erneut die Kleine mit den roten Haaren. Sie hatte einen jüngeren Begleiter, der wohl ihr Bruder war. Beide stellten sich ans Ende der Warteschlange vor dem Eisautomaten.

Der Wagen, in dem Simon und Hanna durch den Park fuhren, bewegte sich langsamer, als das tiefe Wummern der Triebwerke vermuten ließ, das übrigens nur im Inneren ihres Fahrzeugs zu hören war. Für die Besucher am Rand der Strecke fuhren sie fast lautlos vorbei. Die Erbauer des Parks hatten durch ein cleveres Design und mithilfe der Computer und ihrer Nanoroboter dafür gesorgt, dass die Themenwelt der Stadt der Zukunft größer erschien, als sie in Wirklichkeit war. Hanna erzählte Simon, dass alles oberhalb der ersten Stockwerke der Hochhäuser nur Fassade sei und aus dem Computer stamme. Ebenso viele der Gebäude, die sie in der Ferne sahen. Und natürlich der Schutzschirm, samt Sternenhimmel und Raumschiffen. Der Park verteilte sich auf sechs Ebenen innerhalb der Kuppel und auf zwei darunterliegende. Die Bauzeit der Anlage hatte ganze acht Jahre betragen.

Ein Handy klingelte. Hanna zog ein rosafarbenes Empathiephone mit gesprungener Vorderseite aus der Tasche ihres Kittels und schaute darauf.

»Wichtig?«, fragte Simon.

»Eher das Gegenteil.« Sie drückte den Anrufer weg. In den nächsten Minuten klingelte ihr Telefon noch einige Male, bis sie es schließlich ausschaltete.

»Jede der insgesamt fünf für die Besucher zugänglichen Ebenen besitzt ein eigenes Thema«, erklärte Hanna weiter. »Wir verlassen gleich die Stadt der Zukunft und fahren in den unterirdischen Bereich Der Mittelpunkt der Erde. Dort befinden sich unsere Wasserattraktionen. Die gigantische Wildwasserbahn, mit einer Streckenlänge von fast fünfhundert Metern, eine Raftingbahn, verschiedene Restaurants, außerdem das Freizeitbad mit dem Wellnessbereich und dem angrenzenden Hotel und den Bungalows. Ihr Zimmer befindet sich übrigens auch dort unten.«

»Und wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich anstatt nackter Felswände einen Karibikstrand. Richtig?«

Sie lachte schallend. »Nein, das würde ja nicht zum Thema Der Mittelpunkt der Erde passen.«

Der Wagen rumpelte, als sie über eine Bodenunebenheit fuhren, aber natürlich ließen der Parkcomputer und seine Nanoroboter nicht zu, dass Simon etwas davon sah. Auf den Wegen herrschte dichtes Gedränge. Massen an Besuchern schoben sich durch den Park. In den Wartebereichen der einzelnen Attraktionen hatten sich schon jetzt lange Schlangen gebildet. Simon hörte das Geschrei der Menschen und war froh, dass er im Wagen saß und Abstand zu ihnen halten konnte.

Hanna ahnte, was er dachte. »Die Menschenmassen verlaufen sich in den nächsten Minuten. So früh nach der Eröffnung herrscht hier immer dichtes Gedränge. Wenn die Besucher sich erst einmal auf die einzelnen Ebenen verteilt haben, wird es besser.«

Ihr Fahrzeug fuhr an einem Kettenkarussell vorbei, in dem die Besucher in zigarrenförmigen, schlanken Gondeln saßen. Auf der Spitze drehte sich ein strahlend blauer Planet, den etliche Monde gegenläufig umrundeten. Der Computer des Parks sorgte dafür, dass die Ketten des Karussells nicht sichtbar waren, und so schien es, als umkreisten die Besucher mit ihren Raumschiffen eine unbekannte Welt.

So interessant Hannas Erzählungen auch waren, Simon war nicht hier, um etwas über den Park zu erfahren. Er sollte den Tod von Robert Neuhaus untersuchen und je früher er damit begann, umso schneller konnte er wieder fahren.

»Erzählen Sie mir etwas über den Toten. Was war er für ein Mensch?«

Hanna dachte nach. Ihr wurde klar, dass sie Robert eigentlich kaum gekannt hatte. Obwohl sie lange Kollegen gewesen waren, wusste sie nichts über ihn. Er hatte weder von seinen Hobbys erzählt noch davon, wie er seine Freizeit verbrachte. »Wir sahen uns nur morgens und abends auf dem Parkplatz oder während der wöchentlichen Besprechung im Nebengebäude. Er war für das Parkdeck zuständig, während ich in der Steuerzentrale sitze und mich um die Computer des Parks kümmere und neue Kampagnen entwerfe.«

»Und trotzdem sind Sie sich sicher, dass er keinen Selbstmord begangen hat?«

»Wie ich schon sagte, er plante seinen Urlaub. Auf der Besprechung letzte Woche hat er mir Fotos von seinem Urlaubsort und dem Hotel gezeigt. Eine wahnsinnig teure Hütte, irgendwo auf einer Karibikinsel. Jemand, der so viel Geld für eine Reise ausgibt, bringt sich nicht um. Jedenfalls nicht vor seinem Urlaub.«

»Wenn er für das Parkdeck verantwortlich war, warum ist er dann in der Kuppel gewesen?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Es gibt zwar einen Zugang vom Parkdeck zur unteren Ebene, aber der ist verschlossen und nur für das Wartungspersonal gedacht. Außerdem hätte Robert keinen Grund gehabt, ihn zu benutzen. Er musste nicht in die Kuppel. Was er im Park zu suchen hatte, kann ich Ihnen also nicht sagen.«

Sie ließen das Kettenkarussell hinter sich zurück.

»Wie viele Mitarbeiter arbeiten in der Steuerzentrale?«

»Wir sind zu siebt.«

»Ist das nicht etwas wenig, um so einen Park zu steuern?«

»Wir steuern gar nichts, das erledigt der Computer. Wir haben einen der größten und leistungsfähigsten Rechner in Europa. Selbst das Hotel im Untergeschoss arbeitet vollautomatisch. Dort gibt es nur eine Handvoll Angestellte, die sich um das Wohl spezieller Gäste kümmern. Unsere Aufgabe in der Steuerzentrale ist es, den Ablauf im Park zu überwachen und die Szenarien für die Einzelspieler zu starten. Den Supercomputer bedient eine Gruppe Techniker in der fünften Etage.«

»Und, kommt es oft zu Problemen?«

»Niemals«, schwindelte Hanna. »Außerdem sorgen außerhalb der Kuppel weitere zweihundert Mitarbeiter dafür, dass alles reibungslos funktioniert. Sie erledigen Reparaturen, nehmen Waren an, pflegen die Grünflächen, entwerfen neue Attraktionen und – ganz wichtig – sie zahlen uns unser Gehalt.« Sie deutete nach vorn. »Wir kommen gleich zum Mittelpunkt der Erde. Dort unten ist Robert verunglückt.«

An einer Weggabelung bog ihr Fahrzeug auf die rechte Spur ab und steuerte auf den Eingang einer Höhle zu, die in ein gewaltiges, hoch aufragendes Bergmassiv führte. Der Felsen sowie der Bereich mit seinen startenden und landenden Raumschiffen, an dem sie kurz zuvor vorbeigekommen waren, existierten nicht wirklich. Kein Besucher würde sie je erreichen können. Sie bestanden aus etwas Pappmaché und den Bits und Bytes des Parkcomputers.

Dann fuhren sie in die Höhle und im gleichen Moment veränderte sich ihr Fahrzeug. Plötzlich saßen sie in einer offenen, verrosteten Kipplore, die sich auf Schienen quietschend durch einen grob bearbeiteten Tunnel bewegte. Simon lehnte sich hinaus. Ihr Fahrzeug schien nicht mehr zu schweben, stattdessen drehten sich unter ihnen wuchtige Eisenräder. Die Wände bestanden aus Gestein und wurden alle paar Meter von dem Licht flackernder Öllampen beleuchtet. Verdreckte und verschwitzte Arbeiter, mit Spitzhacken und Schaufeln in den Händen, förderten Erz und verluden es in weitere Loren, die in Nebenschächten standen. Obwohl Simon wusste, dass keine der Gestalten echt war, fiel es ihm schwer, diese Tatsache nicht zu vergessen.

»Das kommt mir vor wie Zauberei«, sagte er, während er sich umschaute. Über seinem Kopf stützten morsche Holzbalken die Decke. Das Skelett eines Dinosauriers schaute zur Hälfte heraus.

Hanna nickte. »Ein guter Vergleich. Das alles ist wie die Magie in den Zaubershows. Jeder weiß, dass sie nicht echt ist, aber man will trotzdem daran glauben. So ist es auch hier. Die Besucher wissen, dass neunzig Prozent von dem, was sie sehen, aus dem Computer stammt, trotzdem kommen sie immer wieder und versuchen das Erlebte auf Fotos festzuhalten.«

Ihre Lore änderte überraschend die Richtung. Als Simon sah, dass die Schienen vor ihnen steil abwärtsführten, verkrampfte er sich. Er wollte etwas sagen, da kippte ihr Fahrzeug auch schon nach vorn weg und raste mit funkensprühenden Rädern in die Tiefe. Er stieß einen Schrei aus. Seine Nackenhaare richteten sich auf. Er klammerte sich krampfhaft an den Haltegriffen fest. Kurz schoss der bekannte Schmerz durch sein Schultergelenk. Rechts und links sausten Felsen vorbei, manche so nah, dass er glaubte, sie würden ihn treffen. Einmal sprangen sie ein paar Meter von einem Schienenstrang auf einen anderen. Und noch immer wurde die Lore schneller. Schließlich ging es in einer Spiralbewegung abwärts, bis der Schacht in einer Grotte mit einer gigantischen Wildwasserbahn im Zentrum endete. Rechts von ihnen stürzte ein Wasserfall in die Tiefe und ergoss sich in den See eines Erlebnisbades mit verschiedenen Wasserrutschen und einer Insel in der Mitte. Aus den Felswänden dahinter ragte das Hotelgebäude hervor. Auf Terrassen saßen Menschen an Tischen und frühstückten.

Simon war schweißgebadet. »Sie hätten mir auch sagen können, dass ich in einer Achterbahn sitze.«

»Dann hätte ich aber auf Ihr entsetztes Gesicht verzichten müssen.« Ihre Augen blitzten vor Schalk.

»Ich nehme an, es gibt auch noch einen anderen Weg in diese Ebene.«

»Sicher, aber der wäre nicht so aufregend gewesen – und außerdem länger.«

Die Lore fuhr jetzt in einem gemächlichen Tempo weiter, bis sie an ihrer Endstation stoppte. Hanna stieg aus. »Wir sind da.«

Auch Simon erhob sich. Er stellte ärgerlich fest, dass seine Beine zitterten. Obwohl er wusste, dass nichts von dem, was er erlebt hatte, echt gewesen war, schien sein Körper anderer Meinung zu sein.

Er blickte sich um. Zuerst spürte Simon die Wärme. Er stand in einer gewaltigen, von Säulen getragenen Höhle, in deren Mitte gemütlich aussehende Dinosaurier an urzeitlichen Pflanzen und Bäumen knabberten. Durch einen Wald aus Pilzen, jeder so hoch wie ein Mensch, schlängelte sich eine Bahn in Form eines Tausendfüßlers. Dahinter sah er einen Spielplatz mit einem Streichelzoo, in dem ein Dutzend kleinerer Kinder Dinosaurierbabys mit riesigen Augen umringte. Es war ein unwirklicher Anblick und doch so realistisch, dass er Simon fast vergessen ließ, dass alles nur eine Simulation war. Er blickte hinauf zur Höhlendecke. Die Spitze einer Rakete ragte heraus, mindestens dreißig Meter über ihm, als hätte sie sich von der Oberfläche hindurch zum Mittelpunkt der Erde gebohrt. Den spektakulärsten Anblick aber bot die Wildwasserbahn. Ihre Strecke führte durch die ganze Höhle. Um einen Teil schlängelten sich die Fangarme eines riesigen Oktopus, der sich am höchsten Punkt der Wildwasserbahn festklammerte. Jedes Mal, wenn eine neue Reihe Wagons ihn erreichte, löste er seine Fangarme und die wie Boote geformten Gondeln fuhren unter ihnen hindurch. Obwohl noch nicht viele Tagesbesucher den Weg in die unterste Ebene gefunden hatten, waren alle Boote der Wildwasserbahn bereits besetzt. Simon hörte das Geschrei der Fahrgäste und wünschte sich, nicht hier zu sein.

»Kommen Sie«, sagte Hanna und schlug einen Weg rechts vorbei an dem Pilzwald ein. »Die meisten Besucher, die Sie hier sehen, sind Wochengäste. Richtig voll wird es erst, wenn die Tagesgäste auftauchen. Jeder will zuerst mit der Wildwasserbahn fahren.«

»Ich nicht«, rutschte es Simon heraus.

»Sie sind ja auch kein Gast.«

Auf einer Parkbank saß der glatzköpfige Ballonmann, der Simon schon auf dem Parkplatz aufgefallen war. Von seiner Minirock tragenden Frau und den beiden Kindern war nichts zu sehen. Der Ballonmann wischte sich mit einem Taschentuch über seine schweißnasse Stirn und erhob sich, als er Hanna in ihrem weißen Kittel bemerkte. »Entschuldigen Sie, Sie sehen aus, als ob Sie zum Park gehören. Ich kann meine Frau und ihre Kinder nicht wiederfinden.«

Hanna blieb stehen. »Überall im Park gibt es Notrufsäulen. Dort können Sie die Position Ihrer Familie erfahren.«

Der Mann sah sich suchend um.

»Dort hinten ist eine«, half ihm Hanna und deutete auf eine Säule neben einem Eisstand.

Der Mann bedankte sich, griff nach seinem Trolley und eilte davon, so schnell es seine Pfunde zuließen. An der Notrufsäule blieb er stehen. Einen Augenblick lang verschnaufte er. Dann drückte er den Knopf auf der Säule.

Simon hatte ihm nachgeschaut. Jetzt blickte er wieder Hanna an. »Sie kennen die Positionen aller Ihrer Besucher?«, fragte er.

Sie nickte. »Sonst würde die Illusion nicht funktionieren. Unser Computer berechnet abhängig vom Standort, der Blickrichtung, dem Lichteinfall und vielem mehr die entsprechenden Bilder und sendet sie an die Nanoroboter. Es ist sogar möglich, für jeden Besucher ein individuelles Szenario zu kreieren. Theoretisch brauchten wir nicht einmal die Fahrgeschäfte, um unseren Gästen das Erlebnis einer Achter- oder Wildwasserbahn zu verschaffen. Wir könnten ihnen suggerieren, dass sie gerade die Fahrt ihres Lebens genießen, ohne dass sie sich auch nur von der Stelle bewegen, doch das wäre für die übrigen Besucher ziemlich langweilig. Aber dieses System funktioniert nur dann, wenn wir die Position jedes einzelnen Menschen kennen.« Hanna sah Simons Blick und kam seinem Einwand zuvor. »Fangen Sie jetzt nicht wieder mit dem Datenschutz an!«

Hinter einem Toilettenhäuschen, das im Felsen versteckt lag, verließen sie den gekennzeichneten Weg. Über ihre Köpfe rauschte die Wildwasserbahn hinweg. Wasser spritzte auf sie herab. Hanna führte Simon unter der Bahn hindurch, vorbei an Stalaktiten bis ans Ende der Grotte. Vor der Felswand blieben sie stehen. »Wir sind da«, sagte sie.

Simon legte den Kopf schief und sah zu der senkrecht in die Höhe ragenden, schroffen Felswand hinauf.

Hanna deutete auf einen Vorsprung in etwa zehn Metern Höhe. »Von dort oben ist er abgestürzt.«

»Oder gesprungen«, sagte Simon. Er sah sich um. Es gab keinerlei Vorsprünge, an denen man den Felsen hinaufklettern konnte, geschweige denn einen Pfad, der zum Vorsprung führte. »Wie ist er dort raufgekommen?«

»Durch die Tür«, antwortete sie zu seiner Verblüffung.

Als Simon mit der Hand über das Gestein fuhr, spürte er nur den schroffen Untergrund. Wenn es eine Tür gab, war sie gut versteckt.

»Sie werden sie nicht finden«, sagte Hanna. Aus der Tasche ihres Kittels zog sie ein zweites Armband, wie das, das Simon schon zuvor an ihr aufgefallen war. »Ohne einen DeAktor kommen Sie dort nicht hinein.« Sie griff nach seiner Hand und zog sie zu sich herüber. Das Armband schloss sich automatisch um sein Handgelenk, als sie es ihm anlegte. Auf dem Display erschien die Meldung ›Connected‹. Sie tippte auf einen der Buttons.

Die Umgebung veränderte sich. Die Felsen verschwanden. Nun bedeckte eine Schicht aus modelliertem grauem Fiberglas die Wände. Die Decke schien etliche Meter in die Tiefe gerutscht zu sein und bestand aus einer glatten, einfarbigen Fläche, an der in regelmäßigen Abständen Lichtleisten hingen. Den Wald aus prähistorischen Pflanzen im Zentrum der Grotte gab es nicht mehr. Stattdessen stand an seiner Stelle eine primitive Kunststoffkopie. Das Hotel existierte noch immer, doch jetzt ragte es aus einer künstlich geformten Fiberglas-Felswand hervor, die keine Ähnlichkeit mehr mit dem Gestein der Grotte hatte. In der Mitte des Erlebnisbades, das nun längst nicht mehr so blau wie zuvor schimmerte, schoss eine Wassersäule aus Düsen knapp unterhalb der Wasseroberfläche in die Höhe. Die Kinder am Ufer jubelten. Simon hätte es nicht gewundert, wenn in diesem Moment ein niedlicher Dinosaurier mit riesigen Knopfaugen aufgetaucht wäre. Auch die Wildwasserbahn sah jetzt anders aus. Zwar bot sie noch immer einen spektakulären Anblick, aber der Streckenverlauf war geschrumpft und den Oktopus gab es nicht mehr. Die Tiere des Streichelzoos hatten sich auch verändert. Anstatt Dinosauriern liefen die Kinder nun Lämmern und Ziegen hinterher.

»Ihre Nanoroboter befinden sich jetzt im Standby-Modus. Nun sehen Sie den Park ohne die gerenderten Elemente.«

Simon schaute wieder auf die Wand vor sich. Jetzt entdeckte er dort eine Tür.

»Wieso konnte ich sie nicht fühlen, als ich mit der Hand darübergestrichen habe?«

»Weil die Nanoroboter auch Ihren Tastsinn und Ihre Muskeln beeinflussen. Das Zusammenspiel aller Sinne ist es, das die Technik unseres Parks erst möglich macht. Wenn Ihre Augen keinen Durchgang sehen, Ihre Hände keinen fühlen und Ihre Muskeln verhindern, dass Sie den Arm weiter ausstrecken können, ist Ihr Verstand sich sicher, dass es keine Öffnung gibt.« Sie gab Simon mit einer Geste zu verstehen, dass er vorgehen sollte. Er öffnete die Tür und trat ein. Für die Menschen im Park musste es so aussehen, als verschwände er im Inneren des Felsens.

Vor ihm lag ein Wartungsraum. Eine Metalltreppe mit einem Geländer auf beiden Seiten führte steil in die Höhe. An einer Wand dahinter entdeckte er einen Tisch mit einem ausgeschalteten Computer, daneben mehrere mit Werkzeugen und Ersatzteilen gefüllte Regale und zwei deckenhohe graue Schränke. Davor standen vier Stühle um einen Tisch mit einem vor Kippen überquellenden Aschenbecher, einer angebrochenen Mineralwasserflasche und einer leeren Packung einer osteuropäischen Zigarettensorte.

»Das ist einer der Arbeitsräume des Wartungspersonals«, erklärte Hanna, während sie und Simon die Stufen der Treppe hinaufstiegen.

»Mit denen möchte ich auch noch sprechen.«

»Das geht frühestens morgen. Ein großer Teil des Personals und der Sicherheitskräfte hat heute frei. Schon vergessen? Wir haben Pfingsten.«

»Morgen reicht.«

Was von unten wie ein Vorsprung ausgesehen hatte, entpuppte sich jetzt als eine drei Meter durchmessende Plattform, auf der halbhohe Schaltschränke mit einem halben Dutzend Antennen standen. Hanna blieb auf der obersten Stufe der Treppe stehen und wies auf eine Stelle vor sich. »Von dort ist Robert abgestürzt.«

Simon ging bis an den Rand der Plattform und schaute in die Tiefe. Knapp zehn Meter unter sich sah er den Steinboden. Eine Stelle hatte sich leicht dunkel verfärbt. Im Polizeibericht, den sein ehemaliger Partner ihm besorgt hatte, stand als Todesursache »Unfall«. Simon kannte den Kollegen, der ihn verfasst hatte. Sein Name war Bernhard Strack. Als Simon seinen Polizeidienst quittierte, hatte Strack gerade seine Prüfung zum Polizeimeister abgelegt. Obwohl kaum jemand damit gerechnet hatte, dass er sie schaffen würde, hatte er anscheinend doch die richtigen Stellen angekreuzt und bestanden, andernfalls hätte man ihn nicht mit der Untersuchung dieses Falls betraut. Doch trotz seiner bestandenen Prüfung war das ein Fehler gewesen. Strack konnte man bedenkenlos als Verkehrspolizisten einsetzen, aber nicht, wenn es darum ging, die richtigen Rückschlüsse aus Indizien zu ziehen. Offensichtlich hatte er bemerkt, dass es kein Geländer gab, und war zu dem Schluss gekommen, dass Robert Neuhaus abgestürzt sein musste. Simon wusste, dass Strack nicht gerade für seine überschäumende Fantasie bekannt war, doch auch ihm hätten die Ungereimtheiten auffallen müssen. Was hatte der Tote hier gesucht und wie war er überhaupt hierhergekommen? Also doch Selbstmord? Sicher nicht, wer sich umbringen wollte, betrieb nicht so einen Aufwand. Es reichte, wenn er sich die Pulsadern aufschnitt, sich vom nächstbesten Dach stürzte oder in einer Parkbucht seinem im Boden versinkenden Auto hinterhersprang. Dazu musste man nicht auf diese Plattform klettern. Also waren Unfall und Selbstmord gleichermaßen unwahrscheinlich. Es gab noch eine dritte Möglichkeit, doch die gefiel Simon gar nicht.

Nach ein paar Augenblicken kehrte er zu Hanna zurück. Er sah, dass ihr Blick immer wieder ausbrach und zu der Stelle hinüberhuschte, an der Neuhaus in die Tiefe gestürzt war. »Gibt es im Park Kameras?«, fragte er.

»Jede Menge, aber nicht hier oben oder in den anderen Bereichen, in denen Mitarbeiter zu tun haben. Das lässt die Gewerkschaft nicht zu.«

Simon strich sich nachdenklich über sein Gesicht. »Haben Sie eine Idee, was Robert Neuhaus hier oben gesucht haben könnte?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Hat in letzter Zeit sonst jemand hier oben gearbeitet?«

Wieder ein Kopfschütteln.

Simon ging an ihr vorbei und stieg die Stufen hinunter.

Hanna sah ihm hinterher. »Roberts Aufgabenbereich war das Parkdeck. Dort hat er sich um den technischen Ablauf der Anlage gekümmert. Warum er hier war, weiß ich nicht.«

»Es gibt doch sicher Arbeitsanweisungen oder eine Liste der Aufgaben, um die er sich am Tag seines Todes hatte kümmern müssen. Können Sie mir die besorgen?«

»Ich schicke sie an Ihr Empathiephone.«

Simon blieb am Fuß der Treppe stehen und hob den Arm mit dem DeAktor. »Hatte Neuhaus auch so ein Anti-Nanoroboter-Armband?«

»Warum sollte er? Auf dem Parkdeck gibt es keine Nanoroboter.«

»Wenn er keinen DeAktor besaß, wie ist er dann aufs Dach gekommen? Er konnte die Tür doch gar nicht erkennen.«

Ungebetene Gäste und die Schwierigkeit, eine Frau ins Bett zu bekommen

Etwa zur gleichen Zeit, als Simon den Park betrat, fuhr ein silberfarbener Mercedes-E-Transporter mit blauen Streifen und dem Werbeaufdruck eines Malerfachbetriebs aus Berlin-Niederschönhausen in eine der Parkbuchten. Der Fahrer, ein unauffälliger Mann in einem schwarzen Overall und mit einer tief ins Gesicht gezogenen Schirmmütze, stieg aus. Ohne der Kuppel einen Blick zuzuwerfen, ging er zur Sensorsäule hinüber und hielt seine Eintrittskarte davor. Noch bevor der Transporter sich senkte, tauchte der Mann im Strom der Besucher unter. Doch im Gegensatz zu ihnen wollte er nicht zur Kuppel. Er hatte ein anderes Ziel.

Der Transporter fuhr hinab auf das Parkdeck, wo eine Hydraulik ihn über ein Hebe- und Schienensystem zu seiner endgültigen Parkposition beförderte. Im Inneren des Fahrzeugs saßen sieben Personen in Tierkostümen und warteten darauf, dass der Transporter zum Stehen kam. Keiner sagte etwas, aber das war auch nicht nötig. Sie hatten ihren Plan in den letzten Wochen so oft durchgespielt, dass jedes weitere Wort überflüssig war.