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Die Schule für Übernatürliche - Die Bestseller Serie rund um 3 magische Schwestern Jetzt endlich auf Deutsch! "Die Daizlei Academy ist eine Schule für Übernatürliche. Aber wir sind keine Übernatürliche. Wir sind so viel mehr." Die drei Schwestern Selena, Alexandra und Lily sind seit ihrer Kindheit auf der Flucht. Sie sind Übernatürliche, aber sie sind viel mächtiger, als sie es in ihrem Alter sein sollten. Besonders Selena verfügt über Fähigkeiten, die sollte irgendjemand von ihnen erfahren, dazu führen würden, dass die ganze magische Gemeinschaft sie verfolgen oder zu töten versuchen würde. Doch als ihre Tante die drei Mädchen findet und sie zwingt auf die Daizlei Academy - die Schule für Übernatürliche zu gehen, kann Selena nicht länger weglaufen. Plötzlich steckt sie auf einer Schule voller arroganter Teenager fest, und darf ihnen nicht zeigen, wie viel stärker, wie viel mächtiger sie ist. Denn Selena weiß: Wenn sie ihren Kräften auch nur einmal freien Lauf lässt, gibt es kein zurück mehr.
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Seitenzahl: 453
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DAIZLEI ACADEMY
BUCH 1
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Das Knirschen von Kies unterbrach unser Geschrei. Unsere Blicke trafen sich, als wir hörten, wie sich eine Autotür schloss, ein Geräusch, das viel zu leise für menschliche Ohren war. Ich wandte mich ab, um die Grimasse zu verbergen, zu der sich mein Gesicht verzog, als mein sich in den Vierzigern befindender, bibelteuer, vorübergehender Vormund durch die Vordertür trat wie ein Soldat im Krieg. Alexandra verstummte augenblicklich, als unsere Tante sie scharf anfunkelte. Carrie, eine kleine, pummelige Frau mit einer lächerlich bunten Garderobe, hatte ein ausgezeichnetes Gehör, sodass wir es nicht wagten, unser Gespräch fortzusetzen; obwohl sie zu diesem Zeitpunkt als unser „Elternteil“ fungierte, war sie auch zu hundert Prozent ein Mensch.
„Der Rektor hat gleich nach der Polizei angerufen, um mir mitzuteilen, dass du von der Schule verwiesen wurdest und dich dem Gelände nicht mehr als 300 Meter nähern darfst.“ Ihre dunklen Augen blitzten, als sie auf uns zuging.
„Ich hätte dort sowieso nichts Nützliches gelernt“, meinte Alexandra.
Carrie sah entsetzt aus, und ihre Stimme erhob sich in direktem Verhältnis zum Desinteresse in Alexandras Tonfall. „Du hast ein anderes Mädchen angegriffen und bist gerade von der Schule geflogen! Ist dir nicht klar, wie ernst die Sache ist? Das kann dir doch nicht egal sein!“ Doch. Ich bezweifelte, dass sie das im Geringsten interessierte.
„Es sind nur noch zwei Wochen …“, murmelte sie.
„Natürlich ist es meinem undankbaren Balg von Nichte egal … und ich dachte, ich würde etwas bewirken.“
Ich verschluckte mich fast an meinem unterdrückten Lachen.
Niemand bewirkte etwas bei Alexandra. Eine der Segnungen ein übernatürliches Wesen ohne Eltern zu sein, war, dass man seine eigenen Regeln aufstellen konnte, aber sie ging zu weit. Ich mochte ja vielleicht tief verwurzelte Vorurteile gegen Menschen und einen verdrehten Sinn für Recht und Unrecht haben, aber wenn es etwas gab, das ich in fast siebzehn Jahren gemeistert hatte, dann war es Selbstbeherrschung. Denk nach, bevor du handelst, bedenke die Konsequenzen, und verrate niemals, niemals unser Geheimnis.
Abgelenkt durch meinen stummen Redeschwall hatte ich Alexandras Antwort nicht gehört. Bevor ich reagieren konnte, schnellte die Hand meiner Tante wie eine Kobra vor und schlug ihr ins Gesicht. Die Zeit blieb stehen, als ich den Atem anhielt. Ich sah, wie der Funke in meiner Schwester Feuer fing. Sie drehte durch.
Ich stürzte nach vorn, um sie aufzuhalten, aber Carrie war zu nah und Alexandra zu schnell. Feuer brach aus ihrer Hand hervor, als sie das Shirt unserer Tante am Kragen packte und sie zu Boden warf. Carrie verlor das Bewusstsein. Alexandra blickte auf sie herab, und das Zögern war alles, was ich brauchte, um zwischen die beiden zu treten.
„Was zum Teufel denkst du dir dabei?“ Ich packte sie an den Schultern und stieß sie zurück. Je mehr Abstand zwischen ihnen war, desto besser.
„Geh mir aus dem Weg, Selena!“, knurrte Alexandra und versuchte, um mich herumzukommen. Ihr roter Haarschopf war mit Flammen bedeckt, sodass sie wie das leibhaftige Feuer aussah.
„Nicht, bis du dich wieder im Griff hast“, sagte ich und blieb in Position.
Sie stürzte sich auf mich, und ich fing ihre schwingende Faust ab. Ich verdrehte ihren Arm so stark, bis sie sich krümmte, trat hinter sie und drückte ihr auch den anderen Arm auf den Rücken. Innerhalb weniger Augenblicke hatte ich Alexandra auf dem Boden.
„Sie ist ein Mensch. Krieg es in deinen verdammten Schädel, dass du dich nicht so benehmen kannst, ganz egal was sie tut!“, schrie ich sie fast an. Ich musste mich davon abhalten, sie ein weiteres Mal zu Boden zu rammen; sie war trotz allem meine Schwester.
„Was bist du?“, zischte eine Stimme.
Mein Blick richtete sich auf Carrie, die mich mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Sie stand an der Eingangstür, die Arme schützend um sich geschlungen. Der Kragen ihres Shirts war verkohlt, und rote Brandwunden zogen sich fast einmal komplett um ihren Hals.
Großartig. Kollateralschaden.
Die Haustür öffnete sich langsam hinter Carrie und sie sprang erschrocken zurück.
Sonniges blondes Haar lugte durch den Spalt, bevor die Tür aufschwang. Meine Schwester Lily war zu Hause. Sie brauchte keine Zeit, um die Situation richtig einzuschätzen. Ihr Lächeln wurde zu einer Grimasse. Sie musterte Carries Gesichtsausdruck und wandte den Blick ab, sie hatte kein Interesse an den Ausreden, die Alexandra zweifellos vorbringen würde.
„Ich gehe packen“, sagte sie trocken.
Tick.
Tack. Tick.
Tack. Tick.
Tack.
Vor drei Stunden und zweiundfünfzig Minuten hatten sich die Flugzeugtüren geschlossen. Seitdem hatte ich achtundsiebzig Mal auf die Uhr geschaut. Noch eine halbe Stunde, und ich wurde immer nervöser.
Ich schlängelte mich zwischen meinen Schwestern hervor. Alexandra warf mir einen müden Blick zu, bevor sie Lilys schlafende Gestalt mit zusammengekniffenen Augen musterte. Es war erstaunlich, dass sie sich mit ihren sechzehn Jahren immer noch darüber stritten, wer den Fensterplatz bekam.
Ich strich Lily mit der Hand über die Stirn, um die Falten dort zu glätten, aber das besorgte Stirnrunzeln blieb, und sie murmelte im Schlaf. Ich brauchte sie nicht zu hören, um zu wissen, was sie träumte; es war seit fünf Jahren dasselbe. Ihr unruhiger Schlaf war nicht die einzige Folge des Todes unserer Eltern, aber die einzige, gegen die ich nichts unternehmen konnte. Die einzige, die sich meiner Kontrolle entzog. Ich runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf, als ich mich an Alexandra vorbei in den Gang zwängte.
Lauernde männliche Blicke folgten mir, als ich an ihnen vorbeiging. Ich hob mein Kinn und versuchte diese visuellen Pädophilen nicht zu beachten, während ich mich zum hinteren Teil des Flugzeugs bewegte.
Ich schlüpfte in die winzige Toilette. Das Neonlicht war schrecklich und der Spiegel mit Lippenstift verschmiert. Ich fuchtelte mit den Händen unter dem Wasserhahn herum, spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht und ließ es mir den Hals hinunterlaufen. Es half mir, den Kopf freizubekommen, aber meine Unruhe verschwand nicht.
Meine langen schwarzen Haare fielen nach vorn ins Waschbecken und durchnässten mein Shirt, während ich unglücklich seufzte und mich auf den Toilettensitz setzte. Ich hatte seit drei Nächten nicht mehr geschlafen. Seit Carrie uns Flugtickets in die Hände gedrückt und uns aus ihrem Haus geworfen hatte. Seither war ich wach und dachte nach. Ich plante. Das war unsere letzte Chance – wenn es dieses Mal schiefging, würden wir im Pflegesystem landen. Ich würde das nicht zulassen. Ich konnte es nicht zulassen. Wenn das hier nicht klappte, würden wir irgendwo hingehen. San Francisco, Las Vegas, vielleicht New York … Ich war mir noch nicht sicher, aber irgendwohin würden wir gehen. Es wäre so viel einfacher, wenn Alexandra sich zusammenreißen würde.
Wir könnten hierbleiben, bis wir achtzehn sind, und dann aufs College gehen. Lily könnte erwachsen werden und einen netten, erbärmlichen Menschenjungen kennenlernen. Alexandra könnte Model werden oder etwas ähnlich Ausgefallenes, das ihr Aufmerksamkeit und Männer einbringen würde …
Aber was ist mit dir?
Der Gedanke meldete sich laut, wie eine läutende Glocke in der unheimlichen Stille. Was war mitmir? Meine Abwehr wurde von Woche zu Woche schwächer. Die Gefahr des Wahnsinns lauerte knapp außer Sichtweite, wie ein Schatten, immer da, aber nicht greifbar. Wartend. Ich bin nicht normal, aber ich bin auch nicht verrückt … noch nicht.
Ich wurde zunehmend unruhig, ungeduldig. Mein Geduldsfaden war kürzer geworden und wenn ich explodierte, dann mit einem ebenso großen Knall. Wenn ich dem Wahnsinn, der Dunkelheit meiner Krankheit nachgäbe … würde Selena nicht mehr existieren. Das Monster würde herrschen. Und wenn ich es erst einmal herausgelassen hatte, würde es kein Zurück mehr geben.
Wenn ich es herausließe, würden Menschen sterben. Menschen, die mir viel wichtiger waren als ich selbst. Ich musste mich zusammenreißen – für sie. Ich musste mich daran erinnern, was diese Welt ihnen als gerechte Strafe für meine Taten antun würde … Ich konnte das Monster niemals freilassen, außer es ginge vielleicht um die Rettung der Welt. Mein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, als ich meine schwarzen
Stiefel betrachtete. Die Schnürsenkel fielen auseinander, wie die Nähte meines Lebens, aber irgendwie hatten sie überlebt. Abgetragen und ausgelatscht.
Ich wippte ungeduldig mit den Füßen und schaute auf die Uhr. Noch fünfundzwanzig Minuten. Konnte die Zeit noch langsamer vergehen?
„Guten Abend, meine Damen und Herren, hier spricht Ihr Kapitän …“
Ich riss meinen Kopf ruckartig hoch. „Toll. Einfach verdammt toll …“, murmelte ich und hörte nicht einmal zu, was er zu sagen hatte.
Ich stolperte, als das Flugzeug seitwärts schwankte. Turbulenzen. Die Tür flog auf und der Rahmen klapperte, aber ich wusste nicht, ob das von mir oder von den Turbulenzen herrührte. Noch bevor ich es in den Gang geschafft hatte, stürzte sich ein schmieriger Mann mit schrecklichem Atem auf mich und drückte mich gegen die Wand. Ich machte mich flach wie ein Laken, um seiner Berührung zu entgehen.
Halt!
„Na, hallo, Schätzchen.“ Sein Blick wanderte zu meinem zerknautschten Shirt, das bei der Aufregung heruntergezogen worden war. Er roch nach Alkohol und abgestandenem Rauch. Meine Augen wurden glasig, als die gewalttätige Ruhe das Kommando übernahm.
„Lass mich verdammt noch mal los, wenn du die Hand behalten willst“, spuckte ich und stieß ihn von mir.
„Sei doch nicht so, Süße.“ Er machte den Fehler, nach mir zu greifen.
Noch bevor seine Hand meine Haut berührte, packte ich sie und wich mit einem Schritt zur Seite hinter ihn aus. Ich stieß meine Handfläche gegen seinen Ellbogen und brach den Knochen.
„Verdammt!“ Er schrie vor Schmerz, offensichtlich war er nicht darauf vorbereitet gewesen – oder nicht es gewohnt –, dass ihm ein knapp zweiundsechzig Kilo schweres Mädchen in den Hintern trat. Ich drehte ihm den Arm auf den Rücken und schleuderte ihn gegen die Wand.
Ich drehte mich um, bereit zu gehen, und stieß fast mit zwei blonden Flugbegleiterinnen zusammen, die mich voller Entsetzen anstarrten.
„Du behauptest also, dass dieser Mann versucht hat, sich an dir zu vergreifen?“
„Ja. Ich habe die letzten fünf Mal auch schon Ja gesagt. Meine Antwort wird sich nicht ändern, also ja, ja und hatte ich schon erwähnt: Ja“, schnauzte ich.
Der Polizist musterte mich. Er war ein älterer Mann, vielleicht vierzig. Er sah völlig normal aus und hatte ein ebenso vollkommen durchschnittliches Gesicht. Im Grunde genommen war dieser Mann nichts weiter als ein typischer Mensch. Was bedeutete, dass er nichts war.
„Wo sind deine Eltern? Im Bericht steht, dass du sechzehn bist.“ Ich kniff die Augen zusammen und öffnete meinen Mund … „Ich bin hier“, sagte eine Stimme hinter mir.
Ich brauchte mich nicht umzudrehen, um zu wissen, wer hinter mir stand. Ihre Absätze auf den Fliesen waren fast unhörbar, ihr Tonfall autoritär, und die leichte Hand auf meiner Schulter zu fest.
„Sind Sie sich der Anklagepunkte gegen Ihre Tochter bewusst, Mrs.
Foster?“, fragte er und unterbrach meinen Gedankengang.
Ich schaute finster drein. „Ich bin nicht ihre Tochter.“
„Mariana Stormer, und ich bin ihr Vormund. Ja, das weiß ich, und es ist auch schon alles geklärt. Sie können sie jetzt freilassen“, sagte sie viel zu süßlich. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr.
„Ich muss das mit meinem Vorgesetzten besprechen …“ Sein Handy schrillte los. Meine Tante drückte mir sanft die Schulter. „Ja … aber … okay … ja, Sir.“ Er blickte vom Telefon auf. Verblüfft.
Der Anflug eines Lächelns legte sich auf meine Lippen.
„Du bist frei“, sagte er beunruhigt. Er kam zu mir, um mir die Handschellen abzunehmen. „Die Anklage wegen Körperverletzung wird fallengelassen. Betrachte das als Warnung.“
Ich grinste in seine Richtung, als ich hinausging.
Er begegnete meinem Blick mit einer misstrauischen Miene, die sich veränderte, als ich näher kam. Unbehagen – als ob er die Gefahr, die ich darstellte, spüren konnte – und Verwirrung. Unterbewusst wusste er, dass ich anders war. Ich war nicht wie er. Ich war kein Mensch.
„Mrs. Stormer, würden Sie bitte die Entlassungspapiere unterschreiben?“ Er winkte vom Schreibtisch aus, aber sein Blick wich nicht für einen Augenblick von mir.
„Warte draußen. Wir unterhalten uns, wenn wir zu Hause sind“, sagte sie mit gedämpfter Stimme, die nur für meine Ohren bestimmt war.
Bevor ich ging, blickte ich ein letztes Mal zurück. Mariana war groß und arrogant, mit einer Schönheit, die sich sehr von der meiner Mutter unterschied – hart und kälter als die meisten, aber sie war trotzdem eine Schönheit.
Doch das war nicht das, was ich in ihr sah. Ich sah etwas anderes, etwas Dunkleres. Anstelle ihrer samtenen Stimme oder ihres sorgsam aufgesetzten Lächelns sah ich die Anspannung dahinter. Die Strenge in ihren Augen, die auf eine andere Frau hindeutete. War sie mehr als bloß ein Mensch?
Vielleicht.
Oder vielleicht war ich dem Wahnsinn näher, als mir selbst bewusst war.
~.~.~
Etwa zehn Sekunden lang war es still. Immerhin etwas. Das gab mir die Möglichkeit, mich in die undurchschaubare Person zu verwandeln, die ich eigentlich sein sollte. Die Maske, die ich nicht ablegen durfte. Zehn Sekunden, um eine Ausrede zu finden. Eine Lüge.
„Ehrlich, Selena. Du bist die von euch mit Selbstbeherrschung. Wenn du dich nicht zusammenreißen kannst, wie soll ich es dann von ihr erwarten?“ Meine Tante Mariana reckte ihr Kinn in Richtung des Rückspiegels, in dem sich meine schlecht gelaunte Schwester spiegelte. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass sie etwas wusste.
Etwas, das sie nicht wissen sollte. Etwas Gefährliches.
„Was?“ Mir drehte sich der Magen um.
Sie seufzte und schloss die Augen. „Ich wollte dich wirklich nicht damit überrumpeln. Ich habe ihnen gesagt, dass du es nicht gut aufnehmen würdest, aber ich habe nur begrenzt Zeit.“ Sie seufzte erneut.
Angst ergriff mich, unterstützt durch Adrenalin. Kampf oder Flucht.
Ich versteifte mich.
„Wovon redest du?“ Ich weiß nicht, welche von uns es war, aber irgendwie schaffte es eine von uns dreien, die Worte zu sagen, die wir so oft geprobt hatten. Diesmal waren sie nicht zur Vertuschung gedacht, sondern um Zeit zu gewinnen. Das Problem war, dass wir hier auf der Straße nach Nirgendwo vor allem eins hatten: Zeit.
„Ihr wisst, wovon ich spreche. Ihr wisst es alle, und je länger ihr so tut, als wüsstet ihr es nicht, desto schwerer wird es.“ Ihre Stimme war fest, stark, aber ihre Hände umklammerten das Lenkrad, und ihr Blick klebte auf der Straße, ohne zu blinzeln. Sie war nervös. Was bedeutete, dass sie nicht dumm war. Sich drei unbekannten Wesen allein in einem Auto zu nähern, war Selbstmord.
„Du bist eine von uns“, flüsterte ich.
„Ja.“
Ich hatte seit fünf Jahren keine andere Übernatürliche mehr gesehen. Sie hatten uns im Stich gelassen. Uns vergessen. Doch hier saß eine meiner engsten verbliebenen Verwandten und lüftete nicht nur ihr Geheimnis, sondern auch unseres. Was sollte ich denken? Fühlen?
„Aber der Rest deiner Familie ist menschlich.“
Es hatte keinen Sinn mehr, es zu leugnen. Sie wusste es. Ich war verwirrt. Die Emotionen tobten durch mein System, und Wut gewann die Oberhand.
„Ja.“
„Wie?“, fragte ich.
„Wir wurden adoptiert, deine Mutter und ich.“ Ich war sprachlos.
Vor fünf Jahren starben unsere Eltern. Fünf Jahre verbrachten wir in der menschlichen Welt. Fünf Jahre kämpften wir darum, unsere Identität zu verbergen. Fünf Jahre lang hatte sie damit gewartet, sich bei uns zu melden. In diesen Jahren hatten wir mit Menschen zusammengelebt, die nicht einmal im Entferntesten mit uns verwandt gewesen waren, und doch hatte Mariana weiterhin gewartet. Ich hatte immer angenommen, meine Mutter sei ein uneheliches Kind der Frau, die ich Großmutter genannt hatte, aber „adoptiert“ – das machte alles viel komplizierter.
Und warf die Frage auf: Warum? Warum hatte man uns das angetan? Warum hatte Mariana uns nicht zu sich geholt? Warum war es so gekommen?
Zu viele Fragen und nicht genug Antworten.
„Warum ziehen wir erst jetzt zu dir?“, meldete sich Alexandra von hinten zu Wort. Ihre Stimme war hart, wie meine eigene. Dies war keine innige Familienzusammenführung, sondern ein Verhör.
„Meine Töchter sind beide Übernatürliche. Ich musste sicher sein, dass ihr es auch seid, bevor ich das Sorgerecht für euch übernehmen konnte“, meinte Mariana herablassend.
„Die Zeichen waren da, seit das erste Haus abgebrannt ist.“ Alexandra rollte mit den Augen.
„Äußere Faktoren haben manchmal einen größeren Einfluss, als du denkst, Liebes.“ Sie zuckte mit den Schultern. Ich kaufte ihr die passive Nonchalance nicht ab, die sie rüberbringen wollte.
„Und was zum Teufel soll das bedeuten?“ Alexandra erhob unnachgiebig ihre Stimme.
„Es bedeutet, dass ich mich nicht vor einer Sechzehnjährigen rechtfertigen werde. Ich verstehe, dass du wütend bist, Alexandra, aber du musst mir im Moment vertrauen. Es gehen Dinge vor sich, von denen du nichts weißt; Dinge, die erfordern, dass du mir glaubst, dass ich nur dein Bestes im Sinn habe. Kannst du das?“
„Nenne mir einen Grund, warum ich das tun sollte.“
„Weil du im Moment nicht gerade viele Möglichkeiten hast. Ich bin die letzte Option vor dem Pflegesystem, und ich denke, das weißt du“, schnauzte sie.
Im Spiegel sah ich den Blick, den Alexandra ihr zuwarf. Ich musste das in den Griff bekommen.
„Das würdest du nicht wagen“, sagte sie.
Ein einziger Blick über meine Schulter vermittelte meiner Schwester die Botschaft.
Halt die Klappe, verdammt.
Mariana musste ihre Gründe haben. Sonst würde sie das ihrem eigenen Fleisch und Blut nicht antun. Sie würde nicht grundlos fünf Jahre warten.
Auch du hast Geheimnisse – schreckliche und zerstörerische, flüsterte eine andere Stimme gefährlich. Dinge, die sie dazu bringen würden, dieses Auto sofort zu wenden. Wer bist du, dir ein Urteil zu erlauben?
Ich starrte mürrisch aus dem Fenster. Der Schock ließ nach und wurde durch noch schwierigere Fragen ersetzt, die ich genauso wenig beantworten konnte. Wer war ich, mir ein Urteil zu erlauben? Mariana wusste nicht alles, so viel war klar. Sie hatte nur an der Oberfläche gekratzt. Was bedeutete das also für uns? Konnten wir ihr trauen? Vertraute ich ihr?
Kann ich das?
Sie sagte, sie habe nur unser Bestes im Sinn, aber das hatten die Leute selten. Sie gehörte zur Familie … aber nicht wirklich. In den letzten sechzehn Jahren war sie nicht ein einziges Mal für uns da gewesen. Was war also ihre Motivation? Warum wollte sie uns? Warum gerade jetzt? Vielleicht fühlte sie sich schuldig wegen dem, was unseren Eltern zugestoßen war. Wenn das der Fall wäre, hätte sie uns schon vor fünf Jahren zu sich geholt. Wie auch immer, sie war eine Übernatürliche, und das bedeutete etwas. Oder nicht?
So wie ich erzogen wurde, bedeutete es alles, eine Übernatürliche zu sein. Alles weniger, war überhaupt nichts. Menschen und Hunde, für meine Art waren sie alle gleich. Die Leute, die mir das beigebracht hatten, hätten sicher gewollt, dass wir mit ihr gehen. Oder etwa nicht?
Ich verdrängte die unsichere Stimme. Mein Entschluss stand fest, unabhängig davon, wohin uns dieser Weg führte – oder wie ich darüber dachte. Sie hätten das gewollt, und ich war es ihnen schuldig, es durchzuziehen.
Es blieb nur eine Frage offen.
„Was passiert jetzt?“
Ich spürte Alexandras ungläubiges Glotzen und Lilys verwirrten Blick. Sie verstanden meinen Gedankengang nicht – jedenfalls noch nicht. Alles, was sie sahen, war das, was direkt vor ihnen lag. Das war mein Job, mein Leben. Ich konnte sehen, was geschehen, und tun, was getan werden musste. Ich würde dafür sorgen, dass wir überlebten. Koste es, was es wolle.
„Meine liebe, liebe Nichte. Jetzt ist es Zeit, dass dein Leben wirklich beginnt“, sagte sie leise und richtete ihre Augen auf die Straße. In ihnen lag Traurigkeit hinter dem Grau, das dem meinen so ähnlich war.
Ich war mir nicht sicher, was sie meinte, aber ich hatte das Gefühl, dass wir es bald herausfinden würden.
~.~.~
Danach sagte ich nichts mehr, und meine Tante drängte mich auch nicht. Sie schien zu wissen, dass meine Kooperationsbereitschaft – und damit auch die meiner Schwestern – begrenzt war und sich dem Ende zuneigte. Ich verstand ihre missliche Lage, aber ich wusste auch um das
Risiko, das ich einging – ich begab mich auf unbekanntes Terrain und hatte kaum Informationen. Uns beiden fehlte es an Optionen.
Alexandra warf mir vom Rücksitz aus böse Blicke zu. Ich wusste nicht, was ich ihr sagen sollte; ich wusste genauso wenig wie sie. Mariana hatte sich absichtlich vage ausgedrückt, und wir alle hatten mehr Fragen als Antworten. Ich war nicht in der Position, unsere Tante herauszufordern, und sie war es ebenso wenig. Ihre Dreistigkeit verblüffte mich wie immer. Warum konnte sie es nicht verstehen?
„Es ist wunderschön“, flüsterte Lily.
Das Herrenhaus, das drohend vor uns aufragte, war verwittert, scheinbar verlassen und unheimlich, obwohl der Sonnenuntergang es in ein sanftes Licht tauchte. Früher war es vielleicht einmal schön gewesen. Jetzt … nicht mehr so sehr. Ich warf einen Blick auf Mariana. Wie konnte jemand mit ihrem polierten Aussehen und ihrem sterilen Auto hier wohnen? Die Auffahrt war neu, stilvoll und attraktiv, aber so unauffällig, dass sie den meisten nicht auffiel, wenn sie das Haus betrachteten. Vielleicht war das alles nur Fassade.
„Wir sind spät dran. Lasst eure Sachen hier. Fiona wird sie während des Abendessens holen“, sagte sie.
Ich folgte ihr, als wir uns dem Haus näherten.
Efeu schlängelte sich zwischen den Stufen und den Weg hindurch. Er kletterte an den Steinen hoch und griff auf das Dach über. Das Einzige, was er unversehrt ließ, waren die dunklen Mahagonitüren. Verschnörkelte Schnitzereien zogen sich von einer Tür zur nächsten – schön, trotz der altersbedingten Abplatzungen und Kerben. Messinggriffe glänzten wie Gold und vervollständigten das altehrwürdige Haus, das – in seinen besten Tagen – Gatsby hätte gehört haben können.
Das Bild war einseitig. Als Mariana die Tür öffnete, wich das alte Holz den Marmorböden und dem modernen Design. Alles war strahlend weiß – Böden, Wände, Sofas – abgesehen von einem blutroten Teppich. Eine Treppe ohne Geländer schlängelte sich durch den Raum, begann zu meiner Linken und endete zu meiner Rechten. Ein kurzer Flur führte in die Küche, in der Edelstahl die Hängelampen und modernen Geräte dominierte. Schwarze Schränke mit Glasscheiben präsentierten gusseiserne Töpfe und Pfannen, während auf einer großen Kücheninsel ein Buffet stand, das eine ganze Armee hätte satt machen können. Das Auffälligste von allem war die Rückseite des Hauses, die komplett aus Glas bestand. Ich stieß einen leisen Pfiff aus. Wir waren Carries schäbige, nicht zusammenpassende Möbel und Plastikteller gewohnt, keine goldenen Löffel und Lamborghinis.
„Hier rein, meine Lieben.“
Ich folgte ihr durch die Tür zu meiner Linken. Meine Füße kamen sofort zum Stillstand. Blutrote Wände und archaische Kronleuchter zogen mich in die Vergangenheit, zurück zu einer Erinnerung, als ich an einem Tisch saß, der diesem sehr ähnlich war. Blut. Ich konnte mich an das Blut erinnern. Ich sah es überall, auch wenn es nicht real war. Das kränkliche Omen drohte mich zu ertränken, ich stolperte vorwärts und griff nach dem einzigen festen Gegenstand in meiner Reichweite – dem Tisch. Panik kämpfte darum, die Oberhand zu gewinnen. Ich wusste, dass sie da war, aber die Erinnerung war weit weg. Als würde man durch Dunst blicken und nichts finden.
Jemand griff nach mir, und mein Körper reagierte instinktiv. Ich schlug den übergriffigen Arm weg und machte mich bereit, um den Angreifer von mir zu schleudern. Ich schlang meine Hand um ihre Kehle und wollte ihren Kopf gegen die Wand rammen. Kurz vor dem Aufprall erkannte ich meinen Fehler und stutzte. Lily. Meine Angreiferin war Lily. Ich riss meine Hand weg und trat einen Schritt zurück, um Abstand zwischen uns zu bringen.
„Es tut mir leid“, murmelte ich und sah weg.
Alle Augen richteten sich auf mich.
„Verdammt noch mal, Selena. Ernsthaft?“, meinte Alexandra.
Ich schaute ihr in die Augen und funkelte sie an. Nach allem, was in der letzten Woche passiert war, war ihre Einstellung das Letzte, womit ich mich beschäftigen wollte.
„Es ist okay. Mir geht es gut“, würgte Lily.
War ich wirklich so aufgewühlt, dass ich den Unterschied zwischen meiner Schwester und meinen Dämonen nicht mehr erkennen konnte? Der unwillkommene Gedanke schlich sich in meinen Kopf, während ich meine Augen abwandte.
Sie weiß, dass sie mich nicht anfassen darf.
Besonders während eines Anfalls. Ich wurde dann instabil.
„Das sind ja tolle Reflexe“, sagte eine Blondine mit grauen Augen.
„Ja“, antwortete ich und wandte mich ihr zu.
Sie sah Lily zum Verwechseln ähnlich, mit langem, gewelltem blondem Haar und blasser Haut – wenn auch nicht ganz so blass wie meine. Aus der Ferne hätte man sie leicht verwechseln können, aber diese Augen … sie fesselten meinen Blick. Sie waren den meinen so ähnlich, kalt und unbarmherzig.
Was mich verblüffte, war, dass sie nicht die Einzige war, die sie hatte, nur die Einzige, die mich an mich selbst denken ließ. Die von Mariana waren ähnlich, aber wenn ich sie ansah, sah ich eine gebrochene Frau. Alle sagten, sie sei nach Moms Tod ein wenig abgerutscht, aber vielleicht steckte mehr dahinter. Und dann war da noch die Sache mit der brünetten Hot Topic-Anhängerin, die am anderen Ende des Tisches saß. Sie war hübsch, aber nicht besonders auffällig. Ihr Gesicht war ebenso leicht zu vergessen wie ihr gelangweilter Gesichtsausdruck, während sie mit über die Stuhllehne drapierten Beinen dasaß. Sie hatte zwar meine Augen, aber es waren auch ihre ganz eigenen. Sie enthielten keine Bosheit, Grausamkeit oder Gelassenheit. Im Gegenteil, sie war ein offenes Buch. Sie verbarg ihre Gefühle nicht. Es war so seltsam, sie anzuschauen und eine völlig fremde Person zu sehen, die ohne einen Hauch von Unbehagen zurückstarrte. Wie konnte sie mit drei unbekannten übernatürlichen Wesen an einem Tisch sitzen, und scheinbar total unbeeindruckt bleiben?
Es herrschte bereits seit mehreren Augenblicken eine angespannte Stille, und mein berechnender Blick machte es nur noch schlimmer. „Entschuldigung. Es war ein sehr langer Tag, wenn man die Umstände bedenkt. Ich glaube, ich sollte mich jetzt hinlegen.“
„Natürlich. Geh die Treppe hinauf in den dritten Stock. Ich werde Fiona bitten, dir deine Sachen zu bringen …“ Mariana brach ab und schaute auf die Tasche, die über meiner Schulter hing.
„Danke, aber nein danke“, sagte ich und verließ den Raum, ohne meine Schwestern eines Blickes zu würdigen. Sie würden eine halbe Stunde lang ohne mich auskommen müssen.
Ich nahm immer zwei Stufen auf einmal und ging dann durch die zusammenpassenden Doppeltüren. Auf der anderen Seite kam ich zu einer Wendeltreppe. Ich wollte so viel Abstand wie möglich zwischen mich und die anderen im Erdgeschoss bringen und stieg hinauf.
Ich hatte im dritten Stockwerk unheimlichere Farben erwartet, aber das war eigentlich egal. Wir waren so oft umgezogen, dass ich mir selten die Mühe gemacht hatte, ein Schlafzimmer zu streichen. Ein helles, sonniges Gelb hatte ich nicht erwartet. Die helle Eigelbfarbe war kein schöner Anblick.
Ich warf meine Tasche auf das Bett, während ich auf und ab ging. Ich bekam Kopfschmerzen – die hatte ich den Ereignissen des Tages zu verdanken. Ich war am Flughafen fast verhaftet worden. Meine entfernte Verwandtschaft von Übernatürlichen war aus dem Nichts aufgetaucht. Und jetzt meine Episode im Esszimmer. Was zum Teufel war mit mir los? Ich griff in meiner Seitentasche nach dem Tylenol und schluckte vier Pillen.
Macht das dann zwölf heute? Sechzehn?
Ich wusste es nicht einmal mehr. Auf jeden Fall arbeitete mein Stoffwechsel so schnell, dass ich sie wahrscheinlich in einer Stunde verbrannt hätte.
Die Dunkelheit kroch auf mich zu. Ich wollte meinen Kopf so fest gegen die Wand schlagen, dass ich ihn nicht mehr spürte. Ich konnte nichts mehr fühlen. Aber ich hatte Verpflichtungen. Dinge, die wichtiger waren, als meinen verdammten Verstand zu verlieren. Wir lebten in einem Haus mit drei unbekannten Übernatürlichen. Ganz zu schweigen von dem dringenderen Problem, meine Fähigkeit zu verbergen. Ich war jetzt inaktiv, aber meine Dämonen ließen sich nicht so leicht unterdrücken. Ich würde eine Tarnung brauchen, und ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie ich eine finden sollte.
Ich hörte Stimmen, die von unten kamen. Selbst mit meinem Gehör waren sie nur ein leises Flüstern. Die Alarmglocken schrillten bereits, als ich mich der Wendeltreppe in der Mitte unseres Zimmers näherte.
„Sie verbergen etwas“, flüsterte Alexandra.
Ist das Abendessen schon vorbei?
Mariana musste sich kurz gefasst haben.
„Denkst du, ich weiß das nicht?“, flüsterte Lily zurück.
Ich hörte ihre leisen, dumpfen Schritte, als sie die Treppe hinaufstiegen. Alexandra war viel verstohlener. Es half, dass sie nicht wie ein Höhlenmensch lief.
Ich machte mir nicht die Mühe, mich zu bewegen, als sie die letzte Kurve nahmen und in Sichtweite kamen. Alexandras Gesichtsausdruck wurde augenblicklich feindselig.
„Was glaubst du, wer du bist?“, flüsterte sie.
Wenigstens hatte sie den Anstand, leise zu sein. Ich legte einen Finger auf die Lippen und warf einen demonstrativen Blick zum Bad. Sie verstand den Wink und ging mit mir, während Lily uns hinterherkam.
Das Badezimmer war riesig, mit weißen Fliesen und Porzellanoberflächen, die dem Raum einen ausgesprochen femininen Charakter verliehen. Ich drehte das Wasser an der Badewanne auf, sodass es unsere Stimmen übertönte, als ich mich zu meiner Schwester umdrehte.
„Ich weiß nicht, wie du auf die Idee kommst, dass ich hier der Feind bin, aber ich habe es satt, dass du alles, was ich tue, infrage stellst. Natürlich habe ich meine Gründe, und ich habe mich dir gegenüber mehr als hundertmal bewährt.“ Ich war eiskalt, und meine Stimme spiegelte die Distanz wider, die ich zwischen mich und jegliche Art von Gefühl gebracht hatte.
„Selena, es war ein langer Tag …“, murmelte Lily. Sie saß auf dem Waschtisch, ließ die Beine baumeln und beobachtete den Streit. Normalerweise war es andersherum, und ich musste den Schiedsrichter spielen.
„Weißt du, was ich langsam satthabe? Du, die du dich als mein Elternteil aufspielst. Sie mögen tot sein, aber niemand hat dich zur Königin ernannt! Warum darfst du alle Entscheidungen treffen?“ Alexandra erhob ihre Stimme immer weiter, bis sie schrie. Wo es mir an Emotionen fehlte, bestand sie aus nichts anderem. Der innerste Kern meiner Schwester bestand aus purem Feuer.
„Deshalb. Du bist zu unreif. Hast du jemals innegehalten und nachgedacht, als du dich heute so aufgeführt hast? Unabhängig davon, warum Mariana uns hierher gebracht hat, ist dies unsere letzte Station vor dem
Pflegesystem. Wie stehen die Chancen, dass jemand Drillinge mit einer Vorgeschichte wie der unseren aufnimmt? Hm? Schlägereien. Drogen. Drei Fälle von Brandstiftung. Wer zum Teufel wäre dumm genug, uns bei sich wohnen zu lassen?“
Oh, dieses Mal war ich ihretwegen wirklich angepisst. Ich würde ihr eine Abreibung verpassen, gegen die meine üblichen Zurechtweisungen blass aussehen würden. Daran würde sie sich noch in einem Jahr erinnern und länger.
„Sag mir bitte – denn ich brenne darauf, es zu erfahren –, warum du dich Mariana gegenüber wie ein anspruchsvolles kleines Miststück verhältst, das genau weiß, welche Macht es besitzt? Sie ist eine Übernatürliche, Alexandra! Ist es dir nie in den Sinn gekommen, dass es vielleicht einen legitimen Grund gibt, warum wir letztlich hier gelandet sind? Ich glaube nicht, dass sie rein zufällig unsere letzte Station ist.“ Ich hielt inne und holte zittrig Luft. Ich griff nach der Leine und zwang das Monster, bei Fuß zu gehen. „Hast du ernsthaft geglaubt, ich hätte nicht darüber nachgedacht, warum? Dass ich nicht erkannt habe, wie klischeehaft diese Situation ist – eine magische gute Fee taucht nach fünf Jahren auf, um Drillinge vor dem Pflegesystem zu retten?“ Der Sarkasmus rollte in Wellen von mir ab. Die Leine, an der ich mein Monster hielt, fühlte sich zu straff an. Die Krankheit. Meine Krankheit. Der Wahnsinn. Sie konnten es nicht wissen. Sie durften nicht herausfinden, wie sehr ich um die Kontrolle kämpfen musste.
„Selena …“, sagte Lily sanft. Es war eine unausgesprochene Warnung, auf mich aufzupassen. Ich war heute schon einmal am Rande des Wahnsinns gewesen, ein zweites Mal wäre leichtsinnig.
Ich trat einen Schritt zurück, um einen halben Meter Abstand zwischen meiner hitzköpfigen Schwester und mir zu schaffen. Ich atmete tief durch und ging um sie herum, um meine Selbstbeherrschung wiederzuerlangen. Ich hielt inne, die Türklinke umklammernd. „Ich bin deine Schwester, und es tut mir leid, dass du das Gefühl hast, dies sei eine Diktatur. Ich habe in den letzten fünf Jahren alles in meiner Macht Stehende getan, um es wieder gut zu machen. Ich kann nicht ändern, wer oder was ich bin, Alexandra. Ich habe immer nur dein Bestes gewollt, und die Tatsache, dass du das immer noch infrage stellst … Das macht mich stinkwütend. Ich habe mir nicht ausgesucht, die Starke zu sein. Ich wurde so geboren. Ich werde dir ein Versprechen geben, Schwester. Wenn du noch einmal so einen Mist abziehst, werde ich dich daran erinnern, warum das hier keine Demokratie ist.“
Obwohl das Wasser lief, bestand kein Zweifel daran, dass sie mich hören konnte. Ihr ganzer Körper wurde still; sie wusste, wovon ich sprach. Während ihre und meine Erinnerungen an diese Nacht wieder aufflammten, ging ich hinaus und ließ sie selbst entscheiden, ob sie meiner Drohung Glauben schenkte oder ob sie es darauf ankommen lassen würde.
Obwohl Marianas Haus meilenweit von der Zivilisation entfernt war, war es schwer, mit fünf anderen Übernatürlichen unter einem Dach, einen Moment für sich zu finden. Das war es auch, was uns drei auf die verlassene Straße getrieben hatte – die Möglichkeit, offen zu reden. Ich hatte Alexandras Meinung in der letzten Woche nicht wirklich vermisst, aber ich nahm an, dass ich nicht drum herum kam, wenn wir entscheiden wollten, was zu tun war. Bei all meinen großen Plänen hatte ich nie an ein Internat gedacht … bis meine Tante verkündete, dass sie uns zusammen mit ihren Gören dorthin verfrachten wollte.
Ich wusste nicht, was mich mehr beunruhigte: dass sie fünf Jahre gewartet hatte, um uns aus der menschlichen Welt zu holen, oder der Gedanke an dieses Internat – die ‚Daizlei Academy für die Wunderkinder von Morgen – Heimat der Begabten‘. ‚Begabt‘. So nannte man uns heutzutage. Ich hatte gelacht, als ich das das erste Mal hörte. Meine Tante hatte es vermieden, ins Detail zu gehen, aber wir wussten alle, was sie meinte. Wir würden auf eine Schule für Übernatürliche gehen. Der Gedanke hätte mich begeistern müssen. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als mit der Menschheit abzuschließen, den Parasiten unseres Planeten. Aber selbst jetzt, am Ende der Woche, war es das Warum, das mich noch immer beschäftigte. Warum fünf Jahre warten? Warum ausgerechnet jetzt?
Ich hatte mich lange vor dem Tod meiner Eltern manifestiert. Verdammt, sogar Alexandra hatte das. Es musste einen Grund geben. Etwas, das ich übersah. Meine Eltern wussten, wo wir im Falle ihres Todes landen würden. Sie wussten, dass wir instabil waren. Alle übernatürlichen Kinder waren das, bis zu einem gewissen Grad. Körperlich und geistig nicht darauf vorbereitet, unentdeckt in der Menschenwelt zu leben. Wir drei zusammen? Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Sie mussten die Konsequenzen gekannt haben. Wir hätten fraglos zuerst zu Mariana kommen müssen. Warum war das nicht geschehen? Es sei denn … sie hatten es nicht gewollt. Warum sollten sie dagegen gewesen sein?
Ich seufzte.
„Was?“, fragte Lily.
„Das ist alles so verwirrend“, sagte ich ruhiger, als ich mich fühlte.
„Wem sagst du das…“, murmelte Alexandra.
„Es könnte schlimmer sein“, meinte Lily.
Normalerweise stimmte ich ihr zu, aber dieses Mal nicht. „Nicht wirklich“, sagte ich leise.
„Oh, fang du nicht auch noch an. Ich weiß, dass es verwirrend ist, aber wir schaffen das schon. Das tun wir immer“, fuhr sie fort, und ihre Sturheit machte sich bemerkbar. Lily war die Sonne, die sich nicht verfinstern ließ, und sei es nur durch ihre schiere Willenskraft. Ihre Stimme war zu hoch, und sie verriet, dass sie nicht annähernd so optimistisch war, wie sie vorgab.
„Wie? Lily, ich kann mein Temperament nicht zügeln. Es ist mir egal, was diese Bitch sagt, wir wissen alle, was passiert, wenn ich ausraste“, warf Alexandra ein.
„Ernsthaft? Schon wieder diese Ausrede? Werd erwachsen“, entgegnete Lily.
Ihr Ton war so kalt, dass sie gleichzeitig tot und lebendig klang. Alexandras Eskapaden hatten sie viel gekostet, und es schien, als sei sie es leid, das weiter hinzunehmen. Sie war bereit, für etwas zu kämpfen. Wenn dieses Etwas nur nicht ein Internat wäre, das mir die Haare zu Berge stehen ließ.
„Erwachsen werden? Wirklich? Das musst du gerade sagen. Du weinst dich immer noch jede Nacht in den Schlaf. Lass dir ein paar Eier wachsen, Lily. Vielleicht solltest du ab und zu mal von deinen Büchern aufsehen, dann würdest du erkennen, dass die Welt nicht nur aus Regenbögen und Schmetterlingen besteht“, spottete sie.
„Regenbögen und Schmetterlinge? Bist du wirklich so ignorant, oder liegt das an deiner Arroganz? Ich nehme drei verschiedene Medikamente, damit ich nicht in eine schwere Depression abrutsche. Jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, sehe ich Särge und Klippen, und du willst mich verurteilen?“ Die Farbe wich aus Lilys Gesicht, als sie mit den Zähnen knirschte.
„Stopp“, sagte ich und trat zwischen sie. „Das ist lächerlich. Wollt ihr wirklich hier sitzen und darüber streiten, wessen Angewohnheiten schlimmer sind? Wir haben größere Probleme als das.“ Ich starrte sie an.
„Du hast recht. Es sind nicht ihre Probleme. Sie selbst ist das Problem.“ Alexandra blickte sie finster an.
„Ich? Du bist der Grund, warum wir überhaupt hier sind!“, rief Lily und hob wütend die Hände.
„Und du verteidigst jedes Wort, das diese verlogene Schlampe sagt!“
„Ich verteidige sie nicht, du Idiotin. Ich … Ich stimme ihr zu.“ Lily sah nach unten und starrte auf ihre Hände.
Alexandra starrte sie mit offenem Mund an. „Wirklich? Du glaubst diesen ganzen Schei–“
„Nein. Ich weiß, dass sie uns nicht alles erzählt, und ich weiß, dass ihr beide eure kleinen Verschwörungstheorien habt, aber … aber ich glaube, sie hat recht.“ Sie sah mir flehend in die Augen. „Wir werden nicht zusammen in einem Zimmer wohnen, und wir werden wahrscheinlich nicht genau denselben Stundenplan haben, aber ich glaube, es ist das Beste für uns. Ehrlich gesagt, brauche ich etwas Abstand von euch. Von all dem hier.“ Sie wedelte mit den Händen in der Luft herum. „Und du musst deine Einstellung in den Griff bekommen. Ich weiß, dass du nicht alles ignorieren kannst, aber du regst dich ständig über irgendetwas auf. Ich weiß nicht, wie Selena das macht.“ Ich rollte mit den Augen. Selbstbeherrschung.
„Wie selbstgerecht von dir“, sagte Alexandra.
„Selbstgerecht? Weißt du überhaupt, was das bedeutet?“, entgegnet Lily.
„Wahrscheinlich nicht“, kommentiere ich trocken.
Lily kicherte.
„Fang gar nicht erst an“, schoss Alexandra mir entgegen.
Ich hob herausfordernd meine Augenbraue.
„Oder was? Flippst du aus und verbrennst sie bei lebendigem Leib?“ Lily deutete auf mich und lachte kalt auf. „Hast du jemals daran gedacht, dass sie alles für uns aufgegeben hat? Jedes Mal, wenn du einen Fehler machst, bringt sie ihn wieder in Ordnung. Jedes Mal, wenn ich schreiend aufwache, ist sie da. Jedes Mal. Ich weiß, dass du Vorbehalte dagegen hast, an die Daizlei zu gehen, aber wenn nicht für dich, dann tu es für sie.“
Ich hob meine Hand, um sie zu stoppen. „Das sind schöne Worte, aber mir geht es gut, danke. Und ich denke, du hast deine Argumente zur Genüge vorgetragen.“ Mein Ton war kurz angebunden. Ich ließ keinen Raum für Diskussionen, und doch fuhr sie fort.
„Siehst du? Du weißt nicht einmal, wie man mit normalen menschlichen Interaktionen umgeht. Wenn jemand etwas sagt, was du nicht hören willst, beendest du das Gespräch …“ Lily stockte leicht in ihrer Tirade, die der Wahrheit viel zu nahe kam.
„Erstens: Wir sind keine Menschen. Zweitens: Seit wann bist du Psychologin? Ich denke, wir sind hier fertig“, sagte ich.
Lily schnaubte und wandte sich hilfesuchend an Alexandra.
„Sie hat Recht“, murmelte Alexandra leise vor sich hin.
Ich machte auf dem Absatz kehrt, denn ich hatte genug von diesem Schwachsinn.
„Und wieder haust du ab!“, rief Lily.
„Was willst du von mir hören?“, schnauzte ich. „Ich bin nicht so, weil ich mich um euch beide kümmere. Ich bin so, weil ich so bin, wie ich bin. Die Kontrolle zu behalten war noch nie so wichtig wie heute.“ Ich deutete auf Alexandra.
„Ein typisches Beispiel.“ Lily nickte und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Hey …“
„Wenn du dorthin gehen willst, ist das großartig. Ich freue mich für dich. Ich will es aber nicht. Ich habe schon genug Mist am Hals, also verzeih mir, wenn ich deine Begeisterung nicht teile. Wir gehen, weil wir es müssen. Wir haben im Moment keine andere Möglichkeit.“ Meine Brust begann sich zusammenzuziehen, meine Frustration gewann die Oberhand über mich. Ich atmete tief ein und schloss die Augen, spürte die Erde unter meinen Füßen und den Wind in meinem Haar. Erst als ich mich beruhigt hatte, öffnete ich die Augen und drehte mich zu Lily um.
„Ich habe keine andere Wahl. Ich wäre dir also dankbar, wenn du dich zurückhalten würdest.“ Es lag eine Warnung in meinem Tonfall. Ein Schweigen, das von Gefahr sprach. Das war nicht die Art von Kontrollverlust, die jemanden umbringen würde, aber sie wühlte etwas in mir auf.
Kontrolle und Macht sind zwei sehr unterschiedliche Dinge, die auf einem schmalen Grat tanzen. So ähnlich wie Liebe und Hass. Das eine ist ohne das andere nutzlos; beides oder nichts davon, kann zur Selbstzerstörung führen. Der Schlüssel ist das Gleichgewicht. Ich hatte über ein Jahrzehnt damit verbracht, die Waage zu perfektionieren. Doch als ich dort stand, spürte ich, wie sie kippte. Ganz leicht, ganz, ganz leicht, aber eindeutig, und ich wusste in meinem Herzen, dass es kein Zurück mehr geben würde. Es war nur noch eine Frage der Zeit.
„Wenn etwas vorfällt, wirst du uns dann wieder umziehen?“, fragte Lily plötzlich.
Ich bewegte meine Finger und dachte über meine Antwort nach.
Würde ich das tun? Wenn ich die Kontrolle verlieren würde, hätten wir keine andere Wahl, aber selbst die Aussicht, dem Internat zu entkommen würde nicht ausreichen, um mich von der Klippe zu werfen.
Leben oder Tod. Nichts weniger würde es aus mir herauslocken. Nichts. „Ich weiß es nicht“, antwortete ich und drehte mich zu den beiden um.
„Kannst du das noch einmal machen?“, fuhr sie fort.
Ich runzelte ein wenig die Stirn und schaute an ihr vorbei auf den Horizont. „Ich weiß es nicht“, sagte ich.
Sie nickte zweimal.
„Ich denke, wenn es wirklich darauf ankäme, oder wenn ihr es wirklich wolltet … könnte ich“, murmelte ich leise und wandte mich wieder dem Haus zu. Ich war müde, und dieses Gespräch führte zu nichts.
„Dir ist schon klar, dass du uns vielleicht nicht noch einmal umziehen musst. Ich könnte die Schule abfackeln, bevor es so weit kommt“, meinte Alexandra, und meine Lippen verzogen sich zu einem halben Lächeln. Wenn wir etwas gemeinsam hatten, dann war es unser verdrehter Sinn für Humor.
„Jap. Darauf verlasse ich mich.“
„Ich vertraue darauf, dass ihr alles besprochen habt.“ Das war keine Frage.
Ich setzte mich gegenüber meiner Tante in ihrem mittelalterlichen Esszimmer. Meine Schwestern nahmen ebenfalls ihre Plätze ein, und Alexandra beäugte unsere Cousinen misstrauisch. Die roten Wände und der grässliche Kronleuchter schufen die Voraussetzungen für ein sehr unangenehmes Gespräch. Im Stillen hoffte ich, dass ich mich irrte. Ich hatte diese Woche schon zu viel durchgemacht. Ich glaubte nicht, dass ich noch mehr Überraschungen verkraften konnte.
„Wir haben uns geeinigt“, antwortete Lily steif.
„Ich glaube, der richtige Begriff dafür ist Patt“, sagte ich.
Lily warf mir einen Blick zu, bevor sie in ihre Lasagne stach.
Ich seufzte. Ich wusste, wie sehr sie es sich wünschte, dorthin zu gehen, die menschliche Welt zu verlassen. Das hatte sie immer getan. Aber zu welchem Preis? Ich konnte ihr nicht verübeln, dass sie Freunde wollte, aber genauso wenig konnte sie mir wegen meiner Vorbehalte böse sein.
„Patt?“ Marianas Stimme schlängelte sich um das Wort wie eine Schlange. „Ich muss sagen, ich bin ein wenig neugierig. Darf ich fragen, worüber ihr euch uneinig seid?“ Ihre eindringlichen, vertrauten grauen Augen wichen nicht von meinem Gesicht.
Ich versteifte mich fast unmerklich, als mir ein Schauer über den Rücken lief. „Deine Schule.“
Leichte Überraschung und sofortiges Interesse tanzten in ihren Augen. Ich schob die Lasagne hin und her, plötzlich hatte ich keinen Hunger mehr. „Hmmm. Was ist damit?“
„Es geht ihr um den Sicherheitsaspekt“, warf Lily ein.
„Nun, ich kann dir versichern, dass ihr dort vollkommen sicher sein werdet. Ich verstehe dein Zögern, aber der Campus befindet sich an einem sehr sicheren und abgelegenen Ort.“
Das hatte sie missverstanden. Natürlich würden sich die meisten Übernatürlichen mit Angriffen von außen befassen, nicht von innen. Ich hätte das Gleiche denken sollen, aber … das Bedürfnis, meine Geheimnisse zu schützen, überlagerte mein Misstrauen gegenüber der menschlichen Spezies.
„Und was ist mit Bedrohungen von innen?“, fragte ich zaghaft. Ich wollte nichts verraten, aber ich musste es wissen.
„Was genau willst du wissen?“ Sie legte ihren Kopf schief und musterte mich.
„Sind die Schüler voreinander sicher?“, sagte ich und beugte mich vor, um ihren Blick zu erwidern.
Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. „Natürlich. Die Schüler werden jederzeit streng überwacht. Vor allem, wenn sie ihre Fähigkeiten einsetzen.“ Sie lachte, und meine Cousine Blair schloss sich ihr an.
„Mit welcher Art von Fähigkeiten haben wir es hier zu tun?“, fuhr ich fort und ignorierte Alexandras Schnauben, zwei Plätze von mir entfernt.
„Das ist eine komplizierte Frage, meine Liebe. Du könntest genauso gut fragen, wie viele Arten von Blumen es da draußen gibt. Jede Fähigkeit ist anders. Sie können körperlich oder geistig sein. Schwach oder stark. Es hängt alles von der Person ab. Daizlei hat über dreitausend Schüler … also ist deine Vermutung so gut wie meine.“ Sie lächelte, doch ich fühlte mich plötzlich sehr, sehr krank. Dreitausend übernatürliche Wesen …
Ich konnte kaum mit den fünf Personen am Tisch umgehen. Dreitausend war unvorstellbar. Es wäre für mich physisch unmöglich, mich vor so vielen Menschen zu schützen. Ich würde schon bei dem Versuch verrückt werden.
„Das ist übrigens ein sehr guter Punkt. Was sind eure Fähigkeiten? Ich sollte es dem Schulleiter vor eurer Ankunft mitteilen“, fuhr sie fort, ohne meinen stillen Zusammenbruch zu bemerken.
Mein Herz setzte einen Schlag aus. Ich hatte immer noch keine Ausrede gefunden – jedenfalls keine glaubhafte.
„Ich kann Menschen heilen“, meldete sich Lily neben mir zu Wort.
„Wirklich? Das ist eine sehr einzigartige Gabe. Kannst du dich auch selbst heilen?“ Sie sah fasziniert aus.
„Nein.“ Sie schüttelte sanft den Kopf. Ihr weiches blondes Haar wogte hin und her, leicht wie eine Feder.
„Schade …“, murmelte sie.
Lily runzelte überrascht die Stirn über ihre Missbilligung, sagte aber nichts.
„Und du?“ Sie wandte sich an Alexandra.
Ein böses Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als sie etwas tat, was ich hätte erwarten sollen. Sie öffnete ihre nach oben gerichtete Handfläche und ließ eine kleine Flamme über ihre Haut tanzen. Sicher. Eingeschlossen. Bis sie sie an die Lippen hob, als würde sie ihr einen Kuss zuwerfen. Die Flamme schlug einen Bogen über die bereits brennenden Kerzen und ließ sie zu Stümpfen schmelzen, die über das ganze Essen spritzten.
Mariana sprang zurück, als ein Teil des weißen Tischtuches Feuer fing.
„Alexandra!“, mahnten Lily und ich unisono.
Sie kicherte wie eine Vierjährige, die mit der Hand in der Keksdose erwischt wurde.
Ich betrachtete das sich ausbreitende Feuer mit finsterem Blick.
„Blair“, befahl Mariana.
Meine Cousine stand auf und hob ihre Hand, so wie Alexandra es getan hatte, als sie das Feuer befahl. Sie war jedoch keine Feuermacherin, sie war Eis. Ihre Finger färbten sich unwirklich blau, während gefrorene Flocken von ihrer Hand wehten und sich auf dem Feuer niederließen, bis es erlosch.
Blair warf meiner hitzköpfigen Schwester einen eisigen Blick zu, die ziemlich sauer darüber war, dass ihr jemand die Show gestohlen hatte. „Du bist arrogant und töricht. Nur weil du Macht hast, solltest du sie nicht wie einen Taschenspielertrick missbrauchen. Vielleicht wird die Daizlei dir guttun. Du brauchst die Schule offensichtlich mehr als wir dich.“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum. Ich hörte ihr nach, bis sie den zweiten Stock erreicht hatte und sich Stille über den Tisch legte.
Ein scharfes Klatschen drang an meine Ohren, als die Brünette aufstand und langsam applaudierte. „Nun, das war das interessanteste Familienessen, das wir je hatten. Ich werde mich jetzt auf den Weg machen, aber wir sollten das irgendwann wiederholen. Danke für die Unterhaltung, Cousine.“ Elizabeth deutete eine Verbeugung an. Das war auf eine gewisse Art komisch, und in ihren Augen tanzte Belustigung.
„Und Mutter, ich habe dir schon vor drei Jahren gesagt, du sollst diesen hässlichen Kronleuchter loswerden. Du kannst dir selbst die Schuld daran geben. Ich tue es jedenfalls.“ Sie lächelte sarkastisch, als sie zum Kronleuchter hinaufblickte und den Kopf schüttelte. Ihr freches Grinsen war bewundernswert, und ich schätzte den lockeren Ton in ihrer Stimme, der einen warmen Kontrast zu den eisigen Blicken und schneidenden Stimmen bildete. Als sie mit einer Arroganz aus dem Speisesaal stolzierte, die meiner eigenen so ähnlich war, konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen.
„Nun, ich werde jetzt gehen. Es wird Zeit, dass ich ins Bett komme.“ Ich stand auf und machte mich auf den Weg nach draußen.
„Nicht so schnell“, sagte Mariana barsch und machte Anstalten, die Tür zu blockieren.
Ich hob eine Augenbraue, blieb aber, wo ich war. Alexandra stand auf, um mir zu folgen, und Lily seufzte. „Ja?“
„Ich weiß nicht, für wen du dich hältst, aber du wirst mein Haus nicht auf den Kopf stellen. Du hältst dich vielleicht für etwas Besonderes, und das bist du vielleicht auch, aber in drei Tagen wirst du ein böses Erwachen erleben.“ Sie sah von Alexandra zu mir, und ich rollte mit den Augen. „Du magst zwar wissen, wie du deine verbesserten Sinne einsetzen kannst, aber ich bezweifle, dass du überhaupt eine Stufe drei bist. Ich schlage vor, du legst diese Einstellung ab, bevor du an die Daizlei gehst.“ Sie sah mich an, als wäre ich Dreck an ihrer Schuhsohle. Das hätte mich wütend gemacht, wenn sie nicht gerade meine Retterin in der Not geworden wäre.
Ohne es zu merken, hatte sie mir das perfekte Alibi geliefert, um zu verbergen, was ich war. Verbesserte Sinne. Stärke. Schnelligkeit. Reflexe. Dank meiner echten Fähigkeit waren meine Sinne weitaus stärker als die der meisten Übernatürlichen, aber das wusste sie nicht. Wir könnten das wirklich schaffen.
Ich könnte das schaffen.
Wenn ich nicht vorher verrückt werden würde.
Sonnenaufgang. Ich liebte es, ihn zu betrachten. Als ich ein Kind war, nahm mich mein Vater jeden Morgen mit aufs Dach, um ihn zu sehen – wir waren immer Frühaufsteher – und selbst fünf Jahre nach seinem Tod habe ich den Sonnenaufgang nie verpasst und dabei immer an ihn gedacht. An die Zeit, die wir zusammen verbrachten, und an die Gespräche, die wir führten. Ich dachte an das Boxen, das Leben, mein Versprechen …
Aber nicht heute.
Nicht jetzt.
Ich hatte zu viel um die Ohren. Zu viel hing davon ab, dass ich es nicht vermasselte. Wie sollte ich mit einer Schule voller übernatürlicher Wesen fertig werden? Ich konnte vielleicht so tun, als hätte ich verbesserte Sinne, aber ich konnte die Lage, in die Mariana mich gebracht hatte, nicht ignorieren. Was sie verlangte, könnte mich und meine Schwestern vernichten. Es könnte ihnen die Chance auf ein besseres Leben verbauen. Der letzte Wunsch meiner Eltern würde nicht in Erfüllung gehen.
Normal? Ich versuchte mich an dem Wort. Nein, wir würden niemals normal sein. Ich konnte auf Glück hoffen – zumindest für sie. Würden sie dort glücklich sein? Lily wollte es so sehr, dass sie es schmecken konnte, aber Alexandra wusste nicht, was sie wollte. Wer konnte schon sagen, ob sie es nicht hassen würden?
Heftiges Klopfen ans Fenster holte mich in die Realität zurück. Alexandras roter Schopf lugte hervor, bevor sie mit der Anmut eines Giraffenbabys neben mir auf das Dach kletterte.
„Woran denkst du?“, fragte sie, nachdem sie einige Minuten dort gesessen hatte.
„Wenn wir hierbleiben, haben wir keine Wahl. Wir werden uns in eine unbekannte Situation begeben, deren Ausgang ich nicht kontrollieren kann.“ Das war der Teil, der mir Angst machte.
„Ich weiß. Ich weiß, dass es das ist, was dich beunruhigt. Das ist der
Grund, warum du beim Abendessen erstarrt bist und drei Stunden lang duschst … Ich weiß. Du musst loslassen.“ Sie klang so weise für jemanden, der vor nicht einmal zwölf Stunden den Esszimmertisch in Brand gesetzt hatte.
„Ich kann nicht“, flüsterte ich.
„Es wird dich zerstören, wenn du es nicht tust“, sagte sie leise und nahm meine Hand.
„Alexandra, ich weiß nicht, wie. Kontrolle ist alles. Sie ist alles, was ich kenne. Wenn ich loslasse … Ich weiß nicht, was dann passiert“, antwortete ich und verschluckte mich an meinen eigenen Worten.
„So ist das Leben. Es gibt keine Garantien, schon vergessen? Das hast du mir beigebracht“, meinte sie mit einem traurigen Lächeln.
Ich antwortete nicht. Stattdessen saßen wir schweigend da, bis die Sonne fast am Horizont verschwunden war.
„Du weißt, wenn wir das durchziehen, gibt es kein Zurück mehr. Ob es uns gefällt oder nicht, wenn wir dort ankommen, sitzen wir fest. Wenn wir aus irgendeinem Grund gehen, gibt es keine weiteren Verwandten mehr. Dann sind wir auf uns allein gestellt, für immer.“ Ich konnte nur hoffen, dass der Weg, den wir einschlugen, uns in eine gemeinsame Zukunft führte, sei es allein oder unter dreitausend. Die Chancen standen nie zu unseren Gunsten.
„Welche Wahl haben wir denn? Es wird so oder so auf diese Art enden, also warum es nicht versuchen?“, sagte sie schließlich, und das wars. Sie hatte sich entschieden. Schweigen breitete sich zwischen uns aus, und meine Optionen waren nicht gut.
„Willst du gehen?“, fragte ich leise. Es klang eher wie eine Feststellung.
„Ja.“
Es gefiel mir nicht. Wir waren praktisch schon unterwegs, aber als ich sie jetzt hörte, war ich mir sicherer denn je, dass wir an der Schwelle zu etwas standen. Es war beängstigend, aufregend, vorahnungsvoll und rücksichtslos. Ich wusste nicht, ob ich dieses Etwas wollte, aber ob ich es wollte oder nicht, ich hatte eine Pflicht zu erfüllen.
Furcht. Sie ist eine Kriegstaktik und ein Gefühl, mit dem ich sehr vertraut war. Ich hatte sie jahrelang benutzt, um das Chaos zu beseitigen, das meine Schwestern hinterlassen hatten, aber was tat man, wenn andere aufhörten, einen zu fürchten?
Je mehr Zeit verging, desto mehr Verwirrung machte sich breit. Lily gewann an Rückgrat, als wir älter wurden. Alexandra wurde kantiger. Und ich?