Die Schule für Übernatürliche 3 - Kel Carpenter - E-Book

Die Schule für Übernatürliche 3 E-Book

Kel Carpenter

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Beschreibung

Die Schule für Übernatürliche - Dazlei Academy - Jahr 3 Mein zweites Jahr in Daizlei hat mich nicht umgebracht. Es hat mir etwas viel Schlimmeres angetan. Es hat sie umgebracht. Ich dachte, ich sei hart und unzerbrechlich. Anastasia dachte, sie könnte mich besitzen. Die Übernatürlichen dachten, sie könnten mich kontrollieren. Wir haben uns alle geirrt Jetzt... bin ich gebrochen, und ich werde meine Kräfte für das Einzige zu nutzen, das mir noch übrig bleibt. Rache.

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DIE SCHULE FÜR ÜBERNATÜRLICHE 3

DAIZLEI ACADEMY

BUCH 3

KEL CARPENTER

INHALT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

1

Die Tür zum Keller hing in einem seltsamen Winkel, und aus dem behelfsmäßigen Gefängnis, das ich geschaffen hatte, drang der Geruch von Schimmel. Unten, auf den Kellerstufen des Hauses meiner toten Eltern, saß Elizabeth, geknebelt und gefesselt. Ich lächelte grausam und stieg die Treppe hinunter, um sie zu begrüßen.

„Es ist drei Tage her, Mädchen. Du weißt, wie es läuft.“

Als ich mich ihr näherte, hielt ich meinen Tonfall leicht, als würden wir hier lediglich miteinander plaudern. Ihr dunkelbraunes Haar bedeckte ihr Gesicht und ihren Nacken und klebte mit Schichten von Schweiß und Schmutz an ihrer Haut. Die linke Gesichtshälfte war, seit ihrem ersten Fluchtversuch, als ich sie auf den Boden gedrückt hatte, grau und schwarz verschmiert. Seitdem hatte sie keinen weiteren Versuch unternommen, aber in den letzten drei Tagen hatte sie sich auch geprellte Rippen zugezogen, was wahrscheinlich ganz hilfreich war. Ihre schiefergrauen Augen starrten mich unter all dem Dreck an. Dieselben hasserfüllten Augen, die mich vor der Verbindung mit Violet über siebzehn Jahre lang im Spiegel angestarrt hatten. Ich riss das Klebeband von ihrem Mund, legte zwei Finger unter ihr Kinn und kippte es nach oben, um ihr Gesicht besser lesen zu können.

„Ich habe nichts für dich …“

Ich packte ihr Kinn fester. Ausreden. Ausreden.

„Ich habe keine Zeit für jemanden, der bloß eine Verschwendung von Sauerstoff ist. Du bist zu mir gekommen, meine liebe Cousine, nicht umgekehrt.“ Ich beugte mich vor, nah genug, um den beißenden Gestank des ungewaschenen Körpers, gemischt mit Angst zu riechen. „Wir werden heute abreisen, ob du mir nun einen Ort nennst oder nicht, aber deine Antwort entscheidet darüber, ob ich dich in diesem Keller verrotten lasse, wenn wir weg sind.“ Ich verzog meine Lippen zu einem wilden Grinsen und genoss den kleinen Schrei, der ihren Lippen entwich.

„Das würdest du nicht …“, flüsterte sie, während Angst und Wut in ihr um die Oberhand kämpften. Elizabeth war ein Feigling, und Wut war kein Gefühl, das bei Feiglingen siegte. Ihr Atem entwich ihr in einem kleinen Keuchen, während ich grinste.

„Es gibt nichts, was ich für meine Rache nicht tun würde, Cousine. Das ist der einzige Grund, warum du noch am Leben bist“, flüsterte ich ihr zu, mein kurz geschorenes Haar fiel nach vorn und bildete einen Vorhang um uns. Der Klang ihres schnellen Herzschlags erfüllte die Stille.

„Du weißt nicht einmal, ob dir die Hexe mit dem dritten Auge helfen kann“, sagte sie. Ihre Augen flehten wie die eines Bettlers an einer Ecke. Jemand anderes – jeder andere – hätte vielleicht schon nachgegeben und sie gehen lassen, aber nicht ich.

„Sie kann und sie wird. Du hältst uns hin.“ Ich wechselte meinen Griff um ihr Gesicht und packte ihren Kiefer, um ihn zu öffnen. Ihre Augen wurden groß. Ihr Herzschlag beschleunigte sich zu einem unruhigen Crescendo. „Du hast fünfzehn Sekunden, um mir neue Informationen zu geben, oder wir werden ein Spiel spielen“, raunte ich leise.

„Was für ein Sp-Spiel?“ Elizabeth zitterte, zuckte zurück und versuchte, sich loszureißen, aber sie war an einen Stuhl gefesselt und ich hielt sie fest. Sie tat gut daran, Angst zu haben. Schlimme Dinge passierten, wenn ich alle Regeln aufstellte.

„Ich fange jetzt an, die Luft aus deinen Lungen zu ziehen, und zwar so lange, bis nichts mehr zu ziehen da ist. Nach einer Minute wirst du dich schwindlig fühlen. Deine Kehle wird brennen. Nach zwei Minuten wird dein Körper ohnmächtig. Nach vier Minuten werden Hirnschäden auftreten, und dann wirst du sterben. Bist du bereit zu sterben, Elizabeth?“ Meine Worte waren von Bosheit durchzogen, aber ich hatte meinen Job zu gut gemacht. Elizabeth begann zu hyperventilieren.

„Bitte … Selena … tu … das … nicht …“, keuchte sie, während ihr Sauerstoffgehalt stetig anstieg und einen ungesunden Wert erreichte. Wenn sie so weitermachte, würde sie ohnmächtig werden, anstatt zu ersticken, wie ich es ihr prophezeit hatte.

„Nenn mir einen Ort, dann muss ich es nicht tun“, knurrte ich. Sie keuchte und schnaufte weiter, während sie versuchte zu sprechen. Die Worte kamen wirr und verstümmelt heraus, bis sie schließlich ganz aufhörte zu reden. Ihre Augen verdrehten sich, als sie das Bewusstsein verlor, ihr Körper war plötzlich schlaff und unbeweglich.

„Verdammt noch mal!“, fluchte ich und stieß mich von ihr ab. Ich kniff mir in den Nasenrücken und seufzte tief, während ich einen Moment lang auf und ab ging.

Die Tür über mir quietschte, als sie aufschwang. Johanna und Oliver warteten am oberen Ende der Treppe, ihre Gesichter waren neutral, aber ich konnte die sich verändernde Energie um mich herum spüren.

„Was ist passiert?“, erkundigte sich Johanna und blickte zu dem ohnmächtigen Mädchen auf dem Stuhl hinüber. Mein Haar streifte mein Kinn, als ich meinen Kopf zu ihnen drehte und meine Hände hinter dem Rücken verschränkte.

„Sie geriet in Panik“, sagte ich und schnalzte mit der Zunge.

Oliver erbleichte und kniff die Augen zusammen. „Hast du gedroht, sie zu töten?“ Der Biss in seiner Stimme war unüberhörbar.

„Was ich tue, geht dich nichts an.“ Ich starrte ihn unverwandt an. Er ballte die Fäuste und öffnete den Mund, um zu streiten. Ich schmunzelte und wartete auf seine Antwort, aber Johanna berührte ihn an der Schulter und flüsterte: „Ich werde mit ihr sprechen. Siehst du nach Scarlett?“

Scarlett war die Erbin des Hauses Graeme und möglicherweise die einzige verbliebene Graeme, da ihr Bruder Seb während des Angriffs auf die Daizlei Akademie verschwunden war. Er war entweder tot oder verwandelt. Ihre Eltern auch, wenn meine Vermutung über Anastasia richtig war, aber ich behielt diese Gedanken für mich. Scarlett war für meinen Geschmack zu emotional wegen des Verlusts ihres Zwillings. In dieser Hinsicht ging es ihr ähnlich wie Oliver, nur, dass er begann, meine Geduld zu strapazieren. Ich warf ihm einen kühlen Blick zu, als er sich umdrehte und davonstakste, um mich mit Johanna allein zu lassen.

„Du weißt schon, dass sie nicht lügt, nicht wahr?“, fragte sie. Dunkle Ringe säumten ihre rotgefärbten Augen. Von den neun Mitgliedern der Gruppe – heute waren es nur noch sechs – war sie diejenige, die am gefasstesten war. Nachts jedoch, wenn alle so taten, als ob sie schliefen, hörte ich sie, wie sie leise um die Freunde weinte, die sie verloren hatte. Die Leben, die sie nicht retten konnte. Es war auf eine Weise tragisch, die ich zwar verstand, aber nicht mehr fühlte, und wir waren so deutlich besser dran.

„Das tue ich.“

Sie starrte mich fragend an, ihre katzenartigen Augen musterten mich. „Warum dann weitermachen? Warum sie quälen?“, wollte Johanna wissen. Sie stieg die Treppe hinunter, während ich auf und ab ging und das bewusstlose Mädchen anstarrte, das mir Antworten geben sollte.

„Sie braucht Motivation, um sich mehr anzustrengen“, antwortete ich. „Ich gebe ihr diese Motivation.“

Johanna seufzte und schüttelte den Kopf, wobei sie die Lippen schürzte. Das ältere Mädchen mochte meine Methoden nicht, aber ihre hatten nichts gebracht.

„Sie zu foltern, wird sie nicht motivieren …“

„Dein Freund, der gestorben ist, der, dessen Mord man dir angehängt hat – gibt es irgendetwas, dass du nicht tun würdest, um ihn zu rächen?“, fragte ich und blieb abrupt stehen, um sie anzusehen.

Schweigen.

Johanna bewegte sich unbehaglich auf der Treppe, aber sie leugnete es nicht. Und ich wusste, dass sie es nicht tun würde. Man wurde nicht Eigentum des Rates und überlebte das, ohne ein gewisses Maß an Groll und Bitterkeit. Johanna gelang es ihre Gefühle gut zu verstecken, das musste ich ihr lassen, aber niemand war so gut.

Ich schloss den Raum zwischen uns und blickte in ihre unnatürlich goldenen Augen. Sie erinnerten mich zu sehr an jemand anderen, als dass ich sie mochte. Sie stand auf der Treppe über mir, aber wir waren fast Auge in Auge, als ich sagte: „Meine Schwester bedeutete mir alles, und ich werde sie alle für das, was sie ihr angetan haben, ins Grab bringen. Du kannst mir entweder helfen oder aus dem Weg gehen, aber steh nicht da und erzähl mir irgendeinen moralischen Schwachsinn, wenn du dasselbe tun würdest.“

Asche und Splitt bedeckten ihren Haaransatz dort, wo ein Waschlappen nichts mehr ausrichten konnte. Sie trug die Kleidung meiner toten Mutter, die noch immer schwach nach Flieder und Zimt roch. Die Andeutung einer Tätowierung von Schuppen begann an ihrer Hand und reichte bis zu ihrem Hals, direkt unter ihrem Ohr. Die Informationen, die ich von Violet erhalten hatte, verrieten mir, dass sie keiner Spezies angehörte, der ich bisher begegnet war. Ihre Art war viel älter als meine, aber die Übernatürlichen hatten sie fast ausgerottet.

Nach dem, was sie ihr angetan hatten, würde sie auf jeden Fall gegen sie vorgehen. Ich setzte darauf, denn sie und ich, wir waren gar nicht so verschieden. Johanna war wie ich ein Unikat, und sie hatte deswegen gelitten.

Es war an der Zeit, dass sie diesen Makel ablegte und aufhörte, so zu tun, als sei sie besser als das hier.

Johanna schüttelte langsam den Kopf und blies einen kühlen Atemzug aus. Der Staub schwebte einen Moment lang zwischen uns, bevor sie sagte: „Ich werde dir helfen, Selena, aber ich möchte nicht, dass du dich auf dem Weg selbst verlierst.“

Dafür war es zu spät.

„Das habe ich bereits“, erwiderte ich, ohne jegliche Emotion in der Stimme.

„Nein, hast du nicht.“ Sie lächelte nicht, und sie sah mich nicht wie ein bemitleidenswertes Tier an, das sie nicht retten konnte, aber der Blick, den sie mir zuwarf, war dennoch resigniert. „Aber das wirst du, wenn du diesen Weg weitergehst.“

Hinter mir veränderte sich Elizabeths Atmung, und ich vermutete, dass meine kleine Gefangene aufwachte. Wenn sie diesen kleinen Trick mit dem Hyperventilieren noch einmal versuchte, würde ich wirklich anfangen, ihr die Luft zu nehmen, und wenn sie dann in Ohnmacht fiel, würde sie nicht wieder aufwachen.

Johannas Augen blickten starr auf das Mädchen hinter mir, das sich mit ihrem Schicksal abfand. Das Wegwerfhandy in ihrer Jeanstasche begann zu leuchten und gab einen einfachen Klingelton von sich. Es klingelte nur einmal, bevor Johanna es aufklappte.

„Jo“, sagte sie zur Begrüßung.

„Ich bin’s. Ich glaube, wir haben etwas gefunden …“

„Einen Moment“, bat sie und hielt ihre Hand über den Lautsprecher. Sie blickte zwischen mir und Elizabeth hin und her und schien abzuwägen, ob es sich lohnen würde, mehr zu diesem Thema zu sagen. „Das ist mein Kontakt. Ich muss da rangehen, aber ich komme wieder, um … zu sehen, wie es läuft.“

Ich nickte einmal und drehte ihr den Rücken zu, als sie den Raum verließ. Elizabeth zitterte bereits, als ich die Arme verschränkte, vielsagend die Augenbrauen hochzog und den Kopf zur Seite neigte, während ich grinste. Ihre Lippen wurden weiß, als sie sie zusammenkniff, ihre Augen weiteten sich.

Dies war eine andere Reaktion als bei den anderen Malen, an denen sie aufgewacht war. In den letzten drei Tagen war dies das vierte Mal, dass dies geschah, und das erste Mal, dass sie nicht aufwachte und um ihr Leben bettelte. Etwas hatte sich verändert.

„Sie ist zu dir gekommen“, kombinierte ich und verschränkte die Hände hinter dem Rücken, damit sie nicht sehen konnte, wie ich an dem grauen Häkelpulli, den ich trug, herumspielte. Es war der meiner Mutter. Dieselbe Mutter, die zu ihr gekommen war, mit ihr gesprochen hatte und die ich nie wieder sehen würde. Ich unterbrach diesen Gedankengang. Fast so, als hätte ich es vergessen. Als wüsste ich nicht mehr, wie man etwas empfand, und deshalb fühlte ich einfach gar nichts.

„Ich weiß nicht … ich bin mir nicht sicher … ich glaube, es …“

„Spuck es aus. Hast du einen Ort gefunden oder nicht?“, verlangte ich zu erfahren, als sie energisch mit dem Kopf nickte. Ich bedeutete ihr mit meiner Hand fortzufahren.

„Geh nach Sin City. Die Hexe wird dich finden“, murmelte sie mit gebrochener Stimme. Ich beobachtete sie genau, um Lügen zu erkennen, aber alles, was ich sah, war Erleichterung. Ein Tropfen des ihre Stirn bedeckenden Schweißes rollte ihr die Nase herunter, während sie an die Decke lächelte, als ob sie wirklich glaubte, dass das alles war.

„Sin City?“, hakte ich nach. Sie nickte und schluckte schwer, bevor sie hustete. Nachdem sie drei Tage lang hier unten war, muss der Staub ihr zugesetzt haben. Das war gut. Je schwächer sie war, desto nachgiebiger würde sie sein.

Die Tür zum oberen Stockwerk schwang auf. Johanna stand allein im Türrahmen, ihr Gesicht grimmig.

„Was ist passiert?“, erkundigte ich mich. Ihre Augen musterten Elizabeth mit einem flüchtigen Blick, bevor sie antwortete.

„Mein Kontaktmann hat ein sicheres Haus für uns gefunden“, verkündete sie.

„Warum siehst du dann so aus, als wäre noch jemand gestorben?“, fragte ich.

„Weil es nicht leicht sein wird, dorthin zu gelangen“, antwortete sie. Ich hatte so ein Gefühl, dassich genau wusste, was sie sagen würde. Was sie mir bestätigen würde.

„Wo ist es?“, fragte ich, und die Vorfreude stieg in meinem Blut, als mich mein angeborener Sinn des Wissens überkam.

„Las Vegas. Das ist eine elfstündige Fahrt. Wir brechen in zehn Minuten auf“, sagte sie. Mein Gesicht verzog sich zu einem grimmigen Grinsen.

Sin City.

Ich glaubte nicht an das Schicksal, denn das würde den Alten zu viel Ehre einbringen. Ich hatte mein eigenes Schicksal gemacht.

„Wir sind in fünf Minuten fertig“, versicherte ich ihr. Hinter mir protestierte Elizabeth.

Ich zog ein Ka-Bar aus der Scheide, die an meinem Gürtel unter dem langen Pullover hing. Elizabeth wurde blass, als ich auf sie zuging, die Klinge schimmerte im schwachen Licht.

„Nein!“, schrie sie, als ich die Seile durchtrennte, mit denen sie an den Stuhl gefesselt war. Ich verdrehte die Augen und steckte das Messer zurück in seine Scheide.

„Sei nicht so dramatisch“, rief ich und deutete auf die Tür, von der aus Johanna den Austausch beobachtete. Ihre Lippen waren zu einem kleinen Lächeln verzogen.

„Aber … aber … du sagtest, du würdest mich gehen lassen, wenn ich herausfinde, wo die Hexe ist!“, stammelte Elizabeth. Ich packte sie im Nacken und begann, sie vorwärts und die Treppe hinauf zu schieben.

„Ich sagte, du würdest aus dem Keller herauskommen. Ich habe nie gesagt, was danach passieren würde“, antwortete ich.

Elizabeth versuchte, sich zu winden, als sie stöhnte: „Du kannst mich nicht …“

„Gefangen halten?“, beendete ich ihren Satz und verpasste ihr einen Schlag auf den Hinterkopf. Sie wurde ohnmächtig und fiel schlaff zu Boden. „Doch, das kann ich“, sagte ich und warf mir das größere, dünnere Mädchen über die Schulter. Wir würden nach Vegas fahren, ob es ihr gefiel oder nicht, denn ich musste die Hexe finden und einen Rat töten.

2

„Ich habe Hunger“, beschwerte sich Elizabeth, als wir vom Highway abfuhren. Aaron bog an der Ecke rechts ab und hielt an einer heruntergekommenen Tankstelle ohne Namen. Wir waren seit acht Stunden im Auto unterwegs, und die gesamten acht Stunden waren sie alle wunderbar still gewesen. Bis jetzt.

„Habe ich dir nicht gesagt, du sollst nur sprechen, wenn du gefragt wirst?“, schnauzte ich, als Aaron zum Stehen kam und aus dem Auto ausstieg.

„Ach, komm schon, Selena …“

„Warum redest du noch?“

„Aber …“

„Klappe.“

„Aber …“

Ich drehte mich so schnell in meinem Sitz herum, dass ich dachte, sie würde ein Schleudertrauma bekommen, so wie ihre Augen zwischen mir und den Mädchen auf beiden Seiten von ihr hin und her flogen. Mit Alexandra zu ihrer Linken und Blair zu ihrer Rechten saß sie in der Falle und konnte nicht entkommen und niemand konnte sie retten.

„Müssen wir noch ein Spiel spielen?“, fragte ich und zog eine Augenbraue hoch. Ihr Gesicht wurde im selben Moment weiß, als ihr Magen ein lautes Knurren von sich gab. Sie schluckte schwer und presste die Lippen aufeinander, sagte aber nichts mehr. Ich drehte mich um und setzte mich wieder in meinen Sitz, als Aaron aus der Tankstelle kam und anfing zu tanken.

„Ist das der falsche Zeitpunkt, um zu erwähnen, dass ich auch hungrig bin?“, fragte Alexandra.

Ich stöhnte und lehnte mich in meinem Sitz zurück. Eine Essenspause stand nicht auf meiner To-do-Liste. Nicht, wenn wir im Freien unterwegs waren und uns nicht die Mühe gemacht hatten, die Autos zu entsorgen, mit denen wir aus der Daizlei Academy geflohen waren. Es war eine dumme Idee, aber Johanna bestand darauf, dass es sicherer war, sie zu behalten und so schnell wie möglich zum Treffpunkt zu kommen, als sie stehen zu lassen und neue zu stehlen. Ich hoffte, sie hatte recht.

„Blair?“, fragte ich, wobei ein Hauch von Verärgerung in meiner Stimme mitschwang.

„Ich könnte etwas zu Essen vertragen.“

Die Tür auf der Fahrerseite öffnete sich und Aaron kletterte zurück ins Auto. „Ich nehme an, wir holen uns etwas zu essen“, bemerkte er. Das war nicht wirklich eine Frage, also antwortete ich nicht, als er zu dem McDonald's auf der anderen Straßenseite fuhr. Der Parkplatz war bis auf zwei Autos leer, als wir durch den Drive-Through fuhren. Aaron bestellte sechs Gerichte, ohne zu fragen, was jemand wollte, und hielt am Fenster an.

„Das macht fünfunddreißig Dollar und vierundsechzig Cent“, sagte ein Mädchen mit leuchtend rosa Haaren.

Aaron reichte ihr einen Fünfziger und zwinkerte ihr zu. „Behalt den Rest.“

„Danke …“, sie brach ab.

„Aaron“, erwiderte er. Die Zuckerwatte wurde rot wie eine Jungfrau, die auf eine Anspielung hereinfiel. Auf dem Rücksitz meinte Alexandra: „Können wir unser Essen bekommen?“

Sie blickte an Aaron vorbei und sah mir in die Augen. Ihr kokettes Lächeln erlahmte, und ohne ein Wort wandte sie sich vom Fenster ab und brachte unser Essen. Aaron bedankte sich bei ihr, und diesmal nickte sie nur knapp, als wir uns vom Fenster entfernten.

Ich sagte nichts, als ein in gelbes Papier eingewickelter Hamburger auf meinem Schoß erschien, eine Aufmerksamkeit des Fahrers. Widerwillig wickelte ich ihn aus und aß mit langsamen, bedächtigen Bissen, während ich über ihre seltsame Reaktion nachdachte. Sie schien mir ein wenig übertrieben, auch wenn sie dachte, ich sei Aarons Freundin.

„Kam euch ihre Reaktion seltsam vor?“, fragte ich und schluckte einen Bissen des fettigen Fast Foods hinunter.

„Seltsam?“, echote Aaron.

Ich schüttelte den Kopf. Vergiss es.

Wir fuhren zurück auf den Highway und Richtung Süden, und innerhalb weniger Minuten herrschte Stille.

Ich schaute zur Sonne, die über den Bergen im Westen unterging, und dachte an meine Schwester. Die, die gestorben war. Die ich getötet hatte. Ich konnte es jetzt zugeben, wo Violet hier war. Ich konnte zugeben, dass ich bei meinem Versuch, sie zu retten, ihr Leben beendet hatte.

Aber war sie tot geblieben?

Das war etwas, das ich nicht wusste.

„Solange du das nicht tust, spielt es keine Rolle“, flüsterte Violet.

Ich fuhr mir mit der Hand durch mein blutverschmiertes Haar und strich es mir aus dem Gesicht. Nach beinahe sechsundneunzig Stunden ohne Dusche konnte ich die Schlacht von Daizlei fast vergessen. Der Schweiß, das Blut und der Dreck klebten an mir wie eine zweite Haut, aber mein geschorenes Haar konnte ich nicht vergessen. Meine Schwester war niemand, den ich vergessen konnte.

Nutze es. Mach es dir zu eigen. Lass dich davon anspornen, jede Handlung gegen dich zehnfach zu erwidern.

Ich wandte mich von der Ampel ab und blickte in den Rückspiegel. Auf Elizabeth, die mich zur Hexe führen würde. Auf Blair, die mir bis zum Ende folgen würde. Auf Alexandra, die, sobald sie ihr Potenzial erkannte, die Welt in ihrem Zorn verbrennen würde. Ich entschied mich, in die Zukunft zu blicken, und sie war erfüllt von dem Wunsch nach Rache.

„Wie lange noch?“, fragte ich, und mein Unbehagen kribbelte wie eine Messerspur auf meiner Haut.

„Es sollte nicht mehr allzu lange dauern. Der Treffpunkt ist gleich auf der anderen Seite der Grenze“, antwortete Aaron.

Das war alles, was wir erfuhren, da Johanna nicht gerade mitteilsam bezüglich der Identität ihres Kontaktmannes war, oder wie genau er plante, uns unbemerkt nach Vegas zu bringen, und ich war mir verdammt sicher, dass ein Spaziergang nicht infrage kommen würde. Das Willkommensschild für Nevada tauchte in der Ferne auf und leuchtete wie ein Leuchtfeuer, als es die Scheinwerfer reflektierte.

Irgendetwas war nicht in Ordnung. Etwas war falsch.

Ich wollte schon den Mund aufmachen, als das Telefon klingelte. Aaron zog das Wegwerfhandy aus seiner Tasche und klappte es auf.

„Fahrt an der nächsten Ausfahrt ab“, sagte eine tiefe Stimme, die mich zu sehr an jemanden erinnerte, den ich einmal kannte. Kaum waren die Worte aus Alecs Mund gekommen, war die Leitung tot, und Aaron wendete scharf auf dem Highway. Wir überquerten drei Fahrspuren in einer Sekunde und nahmen die Ausfahrt noch im Schwung.

„Er sagte, wir sollen abfahren, nicht uns umbringen! Weißt du denn nicht, wie man fährt?“, rief Elizabeth. Sie stieß in einen Schrei aus, als er das Auto weiter beschleunigte und eine Kurve kam.

„Was zum …“

Im Seitenspiegel war ein Auto zu sehen, das zunehmend den Abstand zu uns und der Kurve verringerte. Mein Herz begann zu pochen, als auf der anderen Seite ein zweites Fahrzeug auftauchte. Sie versuchten, uns einzukesseln. Wir würden es nicht schaffen.

„Gib Gas und nimm erst den Fuß runter, wenn ich es sage“, befahl ich und packte den Türgriff. Aaron stellte mich nicht infrage. Sein Fuß trat das Gaspedal durch und der Motor drehte auf. Wir schossen vorwärts und kamen kaum an den Autos vorbei. Ich packte das Lenkrad und schrie: „Jetzt!“

Er reagierte sofort, als ich das Lenkrad nach unten riss und das Auto in der Kurve ins Schleudern brachte. Ich ließ das Lenkrad los und riss meine Tür auf.

Die Motorhaube des ersten Wagens war keine drei Meter von mir entfernt, und der Fahrer hatte eine Pistole direkt auf meine Brust gerichtet.

„Jetzt“, drängte Violet.

Ich sprang von meinem Sitz und landete vor unseren Verfolgern.

Das letzte, was ich sah, war das Rot seiner Augen, bevor das Auto mich rammte.

Und dann spaltete es sich in zwei Hälften.

Das Feuer entzündete sich, als die beiden Fahrzeughälften außer Kontrolle gerieten und wild umher schleuderten. Die eine Hälfte driftete in das Empfangsgebäude eines Rastplatzes, die andere prallte in das verbliebene Auto und ließ beide Fahrer in Flammen aufgehen.

Ich verschränkte die Arme und starrte ins Feuer. Der Geruch von verbrannten Reifen und brennendem Fleisch ließ mich eine Grimasse schneiden, aber ich wandte mich nicht ab.

Ich griff gedanklich durch die Flammen und zerrte beide Vampire auf mich zu. Schwarzes Blut überzog den Boden, zwei getrennte Spuren führten zu den schrecklichen Kreaturen zu meinen Füßen. Der auf der rechten Seite hatte die Frechheit zu grinsen, obwohl sein halbes Gesicht weggeschmolzen war.

Der Vampir auf der Linken wandte den Blick ab, und zitterte sichtlich. Warum sollte er mich jagen, wenn er den Tod fürchtete? Er musste doch wissen, was ich denen antat, die mir in die Quere kamen. Ich erinnerte mich daran, was Vonlowsky uns über die Erschaffenen gelehrt hatte. Wie sie gezwungen wurden, die Befehle ihres Schöpfers auszuführen.

„Wer hat euch geschickt?“ Ich formulierte es wie eine Frage, aber ich fragte nicht. Ich verlangte Antworten.

Derjenige, dem ein Teil seines Gesichts fehlte, begann zu gackern. Schwarzes Blut spritzte von seinen Lippen, überzog seine Zähne und bespritzte meine Stiefel. Ich hob eine Augenbraue und forderte ihn auf, zu sprechen und mir einen Grund zu geben, ihn zu töten.

„Selena …“, meldete sich Blair hinter mir. Ich brauchte nicht hinzusehen, um zu wissen, dass die anderen sich erholt und beschlossen hatten, sich dem Spaß anzuschließen.

„Wer hat euch geschickt?“, stellte ich die Frage erneut. Ich würde mich nicht noch einmal wiederholen.

„Denkst du, du kannst …“

Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden, bevor ich nach vorn griff und eine Handvoll seiner Haare packte. Mit der anderen Hand umschloss ich seine halb verheilte Schulter, riss ihm den Kopf ab und warf ihn in das lodernde Inferno, aus dem ich sie geholt hatte.

Der enthauptete Körper fiel zu Boden und blutete aus, während ich mich zu seinem Partner umdrehte. Ich ging in die Hocke, bis wir auf Augenhöhe waren. Seine niedergeschlagenen Augen trafen auf meine, und ich lächelte aufmunternd. Ich brauchte nichts zu sagen. Meine Tat reichte aus, um ihn zum Reden zu bringen.

„Unser Meister hat uns geschickt“, sagte er und schluckte schwer. Der Schweiß auf seinem Gesicht glitzerte im Sonnenlicht und er zuckte unter meinem Blick zusammen.

„Wer ist euer Meister?“, fuhr ich mit sanfter Stimme fort.

„Victor …“, sagte der Vampir. Sein Mund öffnete und schloss sich zweimal.

„Welcher Victor?“ Die Stimme kam von hinter mir. Ich blickte über meine Schulter zu Johanna. Sie war trotz des Wetters in lange schwarze Ärmel und Hosen gekleidet. Ihre Lippen waren geschürzt, und ihr langes dunkles Haar wehte im Wind.

„Der dunkle Prinz.“ Seine Antwort ließ einen Funken des Erkennens in ihren Augen aufleuchten, bevor sie eine Grimasse zog.

Das war gut. Sie wusste von ihm. Das würde die Sache so viel einfacher machen.

„Warum schickt der Hohe Rat seine Erschaffenen zu uns?“, fragte sie. Ich erstarrte. Der Hohe Rat? Das konnte nichts Gutes bedeuten.

„Um ein Treffen mit Selena Foster zu arrangieren“, flüsterte er. Seine Augen huschten in alle Richtungen und machten mich misstrauisch. Schatten tanzten in meinen Augenwinkeln. Sie flüsterten mir zu, dass ich ihn töten sollte. Ihn bezahlen lassen sollte.

„Du hast versucht, mich zu töten“, sagte ich schlicht und einfach.

Er schluckte erneut und blickte zu Boden, bevor er antwortete: „Unser Meister hat uns gesagt, dass du dich wehren und notfalls Gewalt anwenden würdest, aber dass er dir nichts Böses will.“

„Was will der Hohe Rat von mir?“, fragte ich und knirschte mit den Zähnen.

„Mein Meister hat mir seine Wünsche nicht mitgeteilt. Meine Anweisungen lauteten, diese Nachricht zu überbringen und seiner Möchtegern-Königin nichts zu verraten“, flüsterte der Vampir.

Seine Möchtegern-Königin? Tja, wer mochte das wohl sein. Das erklärte, warum Anastasia so viel Kontrolle über die Vampire hatte. Doch eine Frage blieb: Warum wollte er nicht, dass sie es wusste? Hatte der Vampir diesen Ausrutscher beabsichtigt, oder hatte er mir, falls es reiner Zufall war, ein weiteres Puzzleteil geliefert? So dumm konnte er doch nicht sein.

„Dein Meister hat dich geschickt, um mich zu holen, und du sagst, er will mir nichts Böses?“

Der Vampir nickte. Seine Haut war größtenteils verheilt, aber immer noch von seinem eigenen Blut bedeckt. Sein Gesicht wäre wunderschön, wenn nicht die roten Augen gewesen wären. Zu schade für ihn, dass es mehr als ein hübsches Gesicht brauchte, damit ich Lügen verzieh. Ich war zwar keine Wahrsagerin, aber die Hubschrauber in der Ferne waren wahrscheinlich kein Zufall. Wir hatten nicht mehr als fünf Minuten Zeit, wenn mein Instinkt richtig war.

„Das glaube ich dir nicht“, knurrte ich und stieß meine Hand in seine Brust.

Sein Blut stank nach Falschheit, und dieses Gefühl verstärkte sich, als ich sein kaltes Herz mit einer Hand packte. Der Vampir keuchte, seine Augen waren vor Schreck geweitet.

„Sie kommen, Selena“, rief Aaron. Ich musste das beenden.

Mach keine Gefangenen. Lass keine Boten zurück.

„Ich weiß“, erwiderte ich und beugte mich vor. Meine Lippen waren nur einen Hauch von dem Erschaffenen entfernt, als ich flüsterte: „Du hältst mich hin. Ich erkenne einen Lügner, wenn ich einen sehe.“

Vampire waren die Abkömmlinge von Dämonen und meiner Art. Erschaffen oder geboren, sie starben auf die gleiche Weise.

Verbrennen. Enthaupten. Ich entschied mich dafür, ihm das Herz herauszureißen und es neben ihm auf dem Boden liegen zu lassen. Das wäre die einzige Botschaft, die ich an den Hohen Rat und seine Königin senden würde.

Ich bin am Leben. Ich kämpfe, und eines Tages … werde ich dich holen kommen.

Mit diesen Worten drehte ich mich um und ging weg, meine Hand war noch immer schwarz von seinem Blut und tropfte vom Handgelenk abwärts. Mein Team stand in einem lockeren Halbkreis und sah mir zu, mit ausdruckslosem Blick. Traurig. Die Hubschrauber in der Ferne waren nur noch wenige Minuten entfernt, und die Sirenen näherten sich unaufhaltsam.

„Wo ist dein Kontakt?“, fragte ich Johanna. Sie stand königlich da, trotz unseres drohenden Untergangs, sollten Anastasias Lakaien uns erwischen.

„Er kommt“, antwortete sie und begegnete meinem Blick mit einem gleichmütigen Gesichtsausdruck.

„Was meinst du mit ‚er kommt‘?“

„Verdammt noch mal, Selena. Ich sagte, er ist verdammt noch mal auf …“

Die Luft vor mir flirrte. Goldpartikel, die wie Glitter aussahen, verschoben sich und nahmen die Form eines Menschen an. Eines Mannes. Innerhalb von Sekunden erschienen die Umrisse eines Gesichts, dann die Augen. Die Kleidung nahm Gestalt an. Ein Haarschopf erschien.

Die Luft stand still, als eine goldene Statue vor mir auftauchte. Dann blinzelte sie und das Gold verblasste. Zum Vorschein kam ein junger Mann mit dunkelblondem Haar und honigfarbenen Augen. Ein Halbblut.

Johanna meldete sich, um etwas zu sagen, aber der Junge schien nicht zuzuhören. Er hatte seine Augen auf mich gerichtet.

„Eh, was ist das?“, sagte er und deutete auf mich wie auf ein geschmackloses Möbelstück. „Ich habe dir ausdrücklich gesagt, dass wir sie nicht aufnehmen können. Der Alpha kann nicht …“

„Cade?“, fragte Aaron. Der Goldjunge drehte sich um, sein Ärger war vorübergehend vergessen, als ein Lächeln seine Züge erhellte.

„Ash?“, fragte Cade ungläubig. Er trat vor und klopfte ihm auf die Schulter.

Ash?

„Ich heiße jetzt Aaron“, antwortete er. Seine dunklen Augen blickten mich an, als ob er uns beiden antworten würde.

„Natürlich“, murmelte Cade. „Es tut mir so leid wegen …“

„Cade!“, schrie Amber und duckte sich um Johanna herum, um dem Neuankömmling gegenüberzustehen.

Der Goldjunge wich von Aaron zurück, sein Kopf wandte sich um und suchte nach dem Ursprung des Schreis. Die beiden sahen sich in die Augen und er flüsterte ihren Namen.

Dieses eine Wort hatte es in sich, zumindest schien es so, denn sie stürzte sich blitzschnell auf ihn und sprang buchstäblich auf ihn drauf. Ich wandte meinen Blick von der Intimität des Augenblicks ab, nur um zu sehen, wie Aaron mich mit einem Grinsen im Gesicht anstarrte.

Ich winkte mit meiner blutigen Hand ab.

„Charmant“, formte er lautlos mit dem Mund. Ich schnaubte und drehte mich wieder zu dem sich umarmenden Paar um. Neben mir klopfte Blair mit der Spitze ihres weißen Stiefels. Wir hatten wahrscheinlich nicht mehr als sechzig Sekunden Zeit. Das war ein bisschen knapp, selbst für meine Verhältnisse.

Amber sprang herunter, ein Lächeln erhellte ihr Gesicht. Sie schmiegte sich an seine Seite, als er sich wieder an Johanna wandte. „Sorry. Zurück zu dem, was ich gesagt habe. Ich kann den Rest von euch mitnehmen, aber nicht sie. Befehl des Alphas.“

Johanna blinzelte nicht einmal, als sie sagte: „Das wird ein Problem werden.“

Cade hob fragend eine Augenbraue. Die Luft um uns herum bewegte sich, als das Surren der Rotoren immer näher kam. Dreißig Sekunden. Dreißig Sekunden, und wir stritten uns deswegen?

Wer waren diese Leute überhaupt? Dieser Cade würde mir eine Menge Fragen beantworten, wenn ich mir den Weg hier raus erkämpfen und sie im Anschluss daran jagen müsste.

Die Hälfte der Gruppe erstarrte, als wir auf eine Antwort warteten. Da ich nicht wusste, warum ich überhaupt ausgeschlossen worden war, wusste ich nicht, was ich sagen sollte.

„Sie ist meine Signasti“, verkündete Aaron von der anderen Seite des Kreises.

Cade versteifte sich. „Na dann. Das ändert die Dinge.“

Niemand sagte ein Wort, als sich die Bäume in hundert Metern Entfernung in einer Brise bewegten, die nicht vom Hubschrauber kam. Wir hatten keine Zeit mehr, aber Cade war nicht beunruhigt. Er klatschte in die Hände und rieb sie aneinander, während er auf den Fußballen auf und ab wippte. Goldstaub wirbelte in der Luft auf, als er meinte: „Also gut, Leute, hört zu. Wir müssen in einem Stripclub aufschlagen.“

3

Die Auflösung des eigenen Körpers in Goldstaub war nicht so unangenehm, wie es klang.

Von dem Moment an, als sich meine Haut gelb färbte und auseinanderbrach, bis zu dem Moment, als ich unter den Stroboskoplichtern eines Stripclubs wieder zusammengesetzt wurde, spürte ich nichts.

Der Club war leer.

Die Lichter. Die Mädchen. Die Bar. Es war alles da, nur keine Gäste.

„Zieht es euch rein, Leute“, rief Cade auf der anderen Seite des Raumes. Ich stieß mich von der Bar ab und schüttelte die restlichen goldenen Flecken von meiner Haut. Die spärlich bekleidete Kellnerin, die an mir vorbeiging, beachtete mich nicht, während sie ihren BH zurechtrückte. Ich schlängelte mich zwischen den Tischen und Stühlen hindurch, bis in den hinteren Teil des Raums, wo sich die Gruppe um eine Reihe von Sofas versammelt hatte.

„Ist es das? Der Unterschlupf?“, fragte ich ein wenig ungläubig. Wie könnte ein Stripclub in Las Vegas als unauffällig gelten? Ich war mir ziemlich sicher, dass er das nicht war.

„Ja und nein“, antwortete Cade. „Wir sind im Unterschlupf, aber du wirst ihn nicht betreten können, bis wir uns geeinigt haben.“ Er zeigte mit dem Finger auf mich, als wäre ich ein unartiges Kind. „Du warst nicht eingeplant, als Tam zustimmte, euch alle aufzunehmen. Darüber werde ich mit ihm sprechen müssen.“ Er brach ab, als Amber sich aus seiner Umarmung löste und sich zwischen uns stellte.

„Sie bleibt bei uns, Cade“, verkündete der goldäugige Hitzkopf. Sie blickte zu mir zurück, mit einer kleinen Portion Respekt und einer gesunden Portion Vorwurf in ihrem Blick. „Du bist Aarons Signasti, und das bedeutet, dass du unter dem Schutz der Gestaltwandler stehst, ob es einem Alpha gefällt oder nicht.“

Alpha? Sie hatten immer wieder mit diesem Begriff um sich geworfen, aber immer noch nicht erklärt, wie er mit irgendetwas hier in Verbindung stand. Und was hatte Aaron damit zu tun? Ich gab keinen Kommentar ab, als sie sich wieder Cade zuwandte, aber ich fragte mich …

Cade nickte. „Ich kenne die Gesetze so gut wie jeder andere, Amber. Ich widerspreche dir nicht, aber bis ich mit Tam gesprochen habe, kann sie den Unterschlupf nicht verlassen und damit riskieren, dass man sie erkennt.“

Seine Augen bohrten sich in meine, auf der Suche nach der Wahrheit, als er fragte: „Ist das in Ordnung für dich?“

Ich brauchte fünf Sekunden, um zu antworten und ihn einzuschätzen, bevor ich einmal nickte. Ich wusste, dass er mich nicht daran hindern konnte, zu gehen, wenn ich es wirklich wollte. Nichts konnte das. Aber etwas sagte mir, dass ihn das nur noch misstrauischer machen würde, also antwortete ich wortlos.

Wenn er dachte, ich würde lügen, zeigte er es nicht. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er wieder das Wort ergriff: „Also gut. Ich bringe euch alle nach oben. Folgt mir.“ Er drehte sich um und ging auf den Aufzug hinter ihm zu. Es gab keinen Knopf an der Wand, um ihn zu rufen, doch die Türen öffneten sich, kurz bevor er hineinlief.

„Da passen wir doch nie alle rein“, meinte ich skeptisch und verschränkte die Arme vor der Brust. Die anderen drehten sich um und warfen mir neugierige Blicke zu.

„Wird schon passen“, entgegnete Cade, als Blair und Alexandra eintraten. Einer nach dem anderen folgten die anderen, bis nur noch ich übrig war. Irgendwie war mit vierzehn Leuten genauso viel Platz wie mit vier. Wie war das überhaupt möglich?

Magie. Der Gedanke kam mir schnell und plötzlich. Hier war Magie im Spiel, und zwar nicht die Art, die ich gut kannte.

„Du warst noch nie auf einem Schwarzmarkt, oder?“, fragte Aaron. Amüsement erhellte seine Züge, als ich eintrat.

„Nein“, erwiderte ich barsch und stand mit dem Rücken zur Wand. Die Türen schlossen sich hinter mir, und die Enge in meiner Brust verstärkte sich noch mehr. Ich hasste enge Räume, in denen ich nirgendwo hinkonnte, und die Tatsache, dass ich mich in einer Art magischem Aufzug befand, trug nicht dazu bei, mich zu beruhigen. Drinnen gab es keine Knöpfe oder irgendeinen Hinweis darauf, wohin wir fuhren. Niemand sonst schien das seltsam zu finden, also behielt ich meine Gedanken für mich.

Es dauerte nicht lange, bis es im Aufzug klingelte und die Türen aufgingen.

Weiß.

Alles war verblüffend weiß, von den Alabaster-Sofas bis zu den elfenbeinfarbenen Beistelltischen. Die Wände waren nur eine Nuance weicher, eher creme- als knochenfarben. Kissen schmückten jeden Sitz, rund und plüschig, und schimmerten mit einem Opalglanz, den ich noch nie bei einem Stoff gesehen hatte. Der Geodentisch, der in der Mitte stand, war der einzige farbige Gegenstand in diesem Raum, soweit ich das beurteilen konnte. Die Außenseite passte mit ihrem pastelligen Weiß zu dem monochromen Schema, aber die Innenseite enthielt leuchtend blaue Kristalle.

„Schön hast du’s hier“, murmelte ich und fuhr mit meiner sauberen Hand über die Rückenlehne der Couch. Das Material war weicher, als ich erwartet hatte.

„Gehört dir, solange du hier bist“, meinte Cade.

„Warum habe ich den Eindruck, dass diese Aussage mit einem Vorbehalt versehen ist?“, hakte ich nach. Cade schenkte mir ein schiefes Grinsen, das dem von Lucas so ähnlich war, dass ich zurückwich.

„Deine Signasti ist schlau, Aaron. Und bissig. Gefällt mir“, bemerkte Cade. Ich zwang mich zu einem zuckersüßen Lächeln, und das Grinsen verschwand aus seinem Gesicht. „Ich muss mich mit Tam treffen, bevor der Club öffnet. Ihr könntet alle etwas Bleiche vertragen. Macht euch sauber und schlaft ein wenig. Ich bin morgen früh wieder da.“ Er drehte sich um, um Amber einen Abschiedskuss zu geben, und ich schlenderte den Gang nach links hinunter.

An der ersten Tür hing ein Schild mit der Aufschrift: Scarlett und Liam. Auf der anderen Seite des Flurs sah ich ein weiteres. Auf diesem stand: Alexandra, Amber und Tori. Das war seltsam … Ich ging weiter den Flur entlang bis zu den letzten beiden Türen. Noch mehr Namen, und keiner von ihnen war meiner.

„Warum stehen an allen Türen Namen?“, fragte ich, als ich um die Ecke kam. Cade löste sich von Amber und antwortete mir: „Ich vergaß zu erwähnen: Der Unterschlupf wurde mit Magie gebaut. Es hat sozusagen einen eigenen Willen entwickelt. In euren Zimmern solltet ihr Kleidung und alles, was ihr sonst noch braucht, finden. Und ein Ratschlag: Schlaft in den Zimmern, die er euch gibt. Denen, die sich dagegen wehren, sind schon merkwürdige Dinge passiert. Wenn ihr wisst, was ich meine.“ Er wackelte mit den Augenbrauen, als er das sagte, und ich war versucht, ihm gegen den Solarplexus zu schlagen.

„Nein, ich weiß nicht, was du meinst“, murmelte ich leise vor mich hin. Alle blieben stehen, als ich in den Gang direkt gegenüber dem Aufzug einbog. Dort gab es eine einzige Tür mit meinem Namen darauf. Und dem von jemand anderem. Ich spürte die Augen, die mich beobachteten, als ich auf das schwarz-weiße Schild starrte, das an der Tür hing.

Aaron und Selena.

Ich drehte mich um und Aarons schwarze Augen suchten mich, als er sich von der anderen Seite des Raumes näherte. Die anderen fingen endlich an, sich zu zerstreuen, und ich konnte hören, wie sich Blair und Alec auf dem anderen Flur stritten, aber ich konnte nicht wegsehen. Wie erstarrt blieb ich stehen, ohne mich zu bewegen, um das Schild zu verdecken, als er vor mich trat. Seine Augen huschten hinter mich und ein langsames Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.

„Sieht aus, als würden wir zusammen schlafen“, sagte ich.

Der Geruch von Rauch und Feuer wehte über mich hinweg und durchbrach den gefrorenen See, den ich zwischen ihm und mir errichtet hatte. Etwas wie Wärme regte sich in meiner Brust und ließ meinen Atem sich verlangsamen. Wärme war das Letzte, was ich wollte – und brauchte. Ich war dazu bestimmt, Eis zu sein. Kalt zu sein. Um nichts zu fühlen außer Wut.

Und doch ließ mich seine Anwesenheit etwas fühlen.

Ließ mich etwas fühlen wollen.

„Warum machst du die Tür nicht auf?“, flüsterte er und seine Lippen streiften die Vertiefung meines Ohrs. Ich kniff die Augen zusammen und griff hinter mir nach dem kalten Griff der Schlafzimmertür. Drinnen waren die Marmorböden schwarz und mit goldenen Adern durchzogen. Vor mir stand ein Himmelbett aus Ebenholz, an dessen Fuß sich ein knisternder Kamin befand. Ich betrachtete die dunklen Gemächer mit finsterem Blick. Sie waren schön und viel zu sinnlich für meinen Geschmack.

Ich näherte mich der langen Kommode und begann, die Schubladen zu öffnen. Aus einer nahm ich ein Shirt, aus einer anderen eine Hose und aus der letzten sogar Unterwäsche. Ich dachte nicht an die Kleidung oder daran, wem sie gehörte, als ich die Schubladen zuschlug. Ich wollte nicht nachdenken. Ich wollte nicht analysieren.

Aber ich war auch nicht mehr dieselbe Selena, die gestorben war. Ich war nicht mehr das Mädchen, das sich einfach in seine eigenen Gedanken flüchten konnte. Noch hatte ich die emotionale Fähigkeit, mehr zu fühlen als eisige Wut und Blutgier. Und doch … die Glut war da. Sie brannte noch. Sie wartete immer noch. Ich hatte es nur bis jetzt nicht bemerkt. Bis ich Aaron zu nahe an mich heranließ.

Ich dachte, niemand könnte mich verletzen, niemand könnte mich berühren, aber ich hatte mich verrechnet, denn er konnte etwas tun, was ich nicht vorausgesehen hatte. Er konnte mich fühlen lassen.

Ein Husten hinter mir ließ meinen Kopf hochschnellen. „Brauchst du etwas?“ Ich spannte mich an, als er näher kam, bereit, einen Schutzschild zwischen uns zu errichten, bevor er irgendetwas versuchte.

„Du hast dich verändert“, bemerkte er. Ich lachte ätzend und erhob mich langsam auf die Beine. Das konnte man so sagen.

„Wie kommst du darauf?“, erwiderte ich und verschränkte die Arme vor der Brust, mein Gesicht war eine Maske der Apathie. Aaron starrte mich an, seine Augen brannten wie die Flammen der Hölle. Dunkel und teuflisch.

„Du hast dein anderes Ich reingelassen.“ Er sagte es, als hätte ich ihn verraten. Als hätte ich ihn verletzt. Ich zuckte emotionslos mit den Schultern und leugnete es nicht. Wenn er wüsste, dass ich nicht allein in meinem hübschen kleinen Kopf war, würde er vielleicht begreifen, dass wir nichts waren. Ich hatte keinen Platz für ihn, für keinen von ihnen, außer für mein Bedürfnis nach Rache.

„Ich habe getan, was ich tun musste“, antwortete ich mit monotoner Stimme. Ich klang wie der Tod, aber er wich nicht zurück. Seine Augen bohrten sich in meine, als er sich behauptete.

„Nein, du hast getan, was einfach war. Ich war dabei, Selena. Zur Hölle“ – er breitete seine Arme weit aus, um sich Luft zu machen – „ich habe gesehen, was passiert ist. Ich habe gesehen, wie du zusammengebrochen bist, und ich habe dich da rausgetragen. Erzähl mir nicht, du hättest getan, was du tun musstest. Die einzige Person, die du belügst, bist du selbst.“ Er machte einen Schritt nach vorn und ließ seine Arme sinken. „Du willst wütend sein? Okay, sei wütend. Du willst sie für das, was sie getan hat, jagen? Wir werden sie jagen. Aber hör …“ Seine Stimme brach und schickte einen weiteren Speer direkt in meinen gefrorenen See. Ich wich einen Schritt zurück, bis ich an der Kommode lehnte. „Tu das nicht. Sei nicht dieses … gefühllose Ding. Denn du fühlst noch. Ich kann es sehen, wenn du mich ansiehst. Du bist immer noch da drinnen, aber du entscheidest dich, die falschen Dinge zu fühlen und das wird dich letztendlich zerstören.“

Er machte einen weiteren Schritt auf mich zu und griff nach mir. Seine Finger stoppten, bevor sie mein Gesicht berühren konnten, und stießen auf die unsichtbare Barriere, die ich zwischen uns errichtet hatte.

„Meine Emotionen waren es, die mich schwach gemacht haben. Sie waren es, die meine Schwester getötet haben. Ich werde nie wieder schwach sein“, verkündete ich. Seine Finger fielen an seine Seite und schlossen sich zu einer Faust.

„Deine Emotionen geben dir Halt. Ohne sie gerätst du außer Kontrolle, bis die Stimmen dich verschlingen“, flüsterte er. „Deine Wut hat dich im Griff, Selena, und du siehst es nicht einmal.“

Die Sekunden verstrichen, während wir uns gegenseitig anstarrten, und nach fast einer Minute sagte ich schließlich: „Ich muss duschen.“

Ich redete mir ein, dass es kein Eingeständnis einer Niederlage war, als ich meine Sachen zusammensuchte und wegging. Ich tat so, als wäre ich die Klügere, weil ich das Zimmer verließ und ihm die Tür vor der Nase zuschlug. Ich belog mich selbst, als ich behauptete, er sei im Unrecht. Das war er nicht. Mein Schmerz. Meine Wut. Meine Verletzungen. Ich hatte diese Dinge genommen und mein Verlangen nach Rache damit befeuert.

Ich schob meine Gedanken beiseite und starrte auf die venezianische Badewanne. Es gab keine Dusche, und ich wollte nicht baden, aber ich konnte auch nicht einfach gehen. Aaron würde wissen, dass etwas im Busch war, und diese Genugtuung wollte ich ihm nicht geben. Als ich mir den obsidianfarbenen Waschtisch ansah, erschien eine Tasse vor mir.

„Du willst mich wohl veräppeln“, murmelte ich. Ich vergewisserte mich, dass der Abfluss nicht verstopft war, drehte das kalte Wasser voll auf und setzte mich in die Wanne. In der nächsten halben Stunde wusch ich mich mit einer Tasse. In meinem Hinterkopf sagte Violet nichts, während ich mir das Blut aus den Haaren wusch und das Schwarz unter meinen Nägeln wegschrubbte. Der Schmutz, der Staub und die Blutspuren dieses Kampfes waren endlich verschwunden, aber die Dunkelheit in meinem Herzen – meiner Seele – würde mich nie verlassen. Aaron mochte recht haben, dass meine Wut mich verzehren würde, aber wenn ich unterging, nahm ich die Welt mit mir. Und das war etwas, womit ich leben konnte.

4

Kalte Fesseln rieben an meinen Handgelenken. Ich hustete, meine Kehle war trocken und brannte. Die Luft war abgestanden und von einer beunruhigenden Kälte, die mich frösteln ließ.

Wo war ich?

Ich zog mich zurück und versuchte, aufzustehen, aber ein plötzliches Hämmern in meinem Kopf ließ mich aufschreien. Meine Knie schlugen mit einem Knacken auf dem Boden auf und die Kettenglieder klirrten aneinander. Ich beugte mich vor, bereit, mich zu übergeben, aber es kam nichts. Der Hustenanfall dauerte noch einige Augenblicke an, bevor das Knirschen rostiger Scharniere mich dazu zwang, es herunterzuschlucken.

Jemand öffnete die Tür zu meiner Zelle. Warum ich in einer Zelle war, verstand ich immer noch nicht. Was hatte ich getan?

Ich konnte mich scheinbar nicht erinnern.

Feuer erleuchtete das Gesicht eines Mannes, der auf mich zuging. Ich zog mich an die Wand zurück, wollte nicht, dass er mich berührte. Ich wollte nicht, dass er mich verbrannte. Aber ich konnte nichts tun, als er mein Kinn packte und mich zwang, ihn anzusehen.

„Du wirst doch nicht mit mir kämpfen, oder?“

Dies war keine Frage. Es war eine Forderung. Eine Erwartung. Die Temperatur im Raum sank noch weiter, bis sie fast … arktisch war. Ich schluckte schwer und schüttelte den Kopf, nur ein winziges bisschen. Er strahlte ein Lächeln, das ausschließlich aus Zähnen bestand.

„Sehr gut. Es wäre nicht sehr klug von dir, es zu versuchen.“ Ein leises Wimmern entwich mir, als er mein verfilztes Haar streichelte. Ich roch wie eine Kloake. Die Luft war durchdrungen von dem Gestank meiner Angst. Aber das schreckte ihn nicht ab.

„Du bist hübscher, als ich erwartet habe.“

Ich zuckte bei seinen Worten zusammen. Sie waren nicht freundlich gemeint.

Seine Hände berührten die Fesseln und sie fielen ab, sodass ich mit dem Rücken in die Ecke einer schmutzigen Zelle gedrängt wurde und nur der Mann und seine Taschenlampe zwischen mir und der Tür standen. Der Gedanke, wegzulaufen, kam mir in den Sinn, aber nur für einen Moment. Das wäre dumm und würde ihn wahrscheinlich verärgern. Es wäre besser, wenn ich mit ihm ging und meine Zeit abwartete.

Sie würden kommen. Das taten sie immer.

Der Mann wich zurück und streckte eine Hand aus. Zögernd legte ich meine schmutzigen Finger in seine und zitterte, als sich seine Hand um die meine schloss. Er zog mich auf die Beine, und das Hämmern in meinem Kopf wurde innerhalb von Sekunden unerträglich. Ich stützte mich mit der freien Hand an der Wand ab und versuchte, mich gegen das überwältigende Schwindelgefühl und den Drang, mich zu übergeben, zu stemmen.

„Du bist hungrig“, bemerkte er und zog mich zu sich heran. Ich war hilflos, unfähig, ihn aufzuhalten, als sich seine Arme um meinen Rücken schlangen und er mich unter meinen Kniekehlen hochhob. „Du hast Glück, dass dein Meister dich trainieren will.“

Meister? Ich hatte keinen Meister.

Was war geschehen? Wie war ich hier gelandet?

Das Letzte, woran ich mich erinnerte, war, dass ich im Wald saß. Wir sollten an diesem Tag abreisen. Ich sollte warten, aber da war jemand in den Bäumen. Ich drehte mich um und …

Die Schreie und das Stöhnen der anderen ließen mich innerlich zusammenzucken, aber ich sagte nichts. Seine Schritte waren unglaublich leise, als er mich von einem dunklen Gang zum nächsten trug. Wir bogen oft genug ab, dass ich die Orientierung verlor, aber das könnte daran liegen, dass er mich verwirren wollte. Immerhin war ich gefesselt gewesen. Ich wusste nicht, was für Leute jemanden ohne böse Absicht in Fesseln legen würden. Trotzdem blieb ich still.

Sie würden mich holen kommen. Das taten sie immer.

Ich wiederholte es dreimal, bevor er zum Stillstand kam. Er legte mich sanft auf das Bett, sanfter als ich es bei dem Typ Mann, für den ich ihn hielt, erwartet hätte. Eine Tür schlug zu und Panik erfüllte meine Brust, als ich mich umsah.

„Das ist dein Schlafzimmer. Du wirst hierbleiben, bis du gut genug ausgebildet bist, um zu tun, was man dir sagt. Das wird aber kein Problem sein, nicht wahr, hübsche Erschaffene?“

Hübsche … Erschaffene? Nein, das konnte unmöglich stimmen. Ich schüttelte den Kopf, als sich die Dunkelheit in mir ausbreitete. Etwas Dickes und Hässliches schnürte mir die Kehle zu und ließ mich ersticken. Ich blickte zu dem Mann mit den dunklen Silberaugen auf. Nein … ich konnte keine Erschaffene sein. Das war nicht möglich. Ich konnte nicht …

„Es wird deinem Meister gefallen, dass du fügsam bist. So viel nachgiebiger, als er es erwartet hat.“ Seine Augen wurden glasig, als jemand durch die Tür hinter ihm eintrat. Ich schob mich an die Seite des Bettes und spähte um ihn herum.

Es war… ein Mädchen.

„Ahh, dein Abendessen ist da. Ausgezeichnet.“

Nein, nein, nein, nein …

Ich würgte, aber das brachte ihn nur zum Lachen. Das Mädchen kam näher, aber ich hielt eine Hand hoch, damit sie wegblieb. Ich wollte sie nicht in meiner Nähe haben. Ich wollte nicht riskieren, dass er recht haben könnte.

„Du wirst dich nicht dagegen wehren können, so sehr du dich auch bemühst. Es ist das Beste, sich einfach zu entspannen.“ Ich konnte nicht sagen, ob er seine Worte beruhigend gemeint hatte. Sie waren sanft, verführerisch und ließen meine Haut prickeln. Er gab ihr ein Zeichen, vorzutreten, und ich versuchte, zurückzuzucken. Kalte Hände schlossen sich um meine Handgelenke und zwangen mich, auf dem Bett kniend zu verharren, während das Mädchen näher kam.

Ihre braunen Augen waren sanftmütig. Sie schlug sie nieder, während sie sich näherte. Als das Mädchen nur noch einen Meter entfernt war, blieb sie stehen und ließ ihr langes braunes Haar über eine Schulter fallen, sodass ihr schlanker, pulsierender Hals zum Vorschein kam.

Sie war blass, so blass. Ein Teil von mir fragte sich, ob sie jemals von hier weggegangen war. Wo auch immer hier war. Aber je länger sie dort stand und mit ihrem süßen Duft in meinen Raum eindrang, desto mehr veränderte sich etwas in mir. Etwas in mir erwachte.

Ich blinzelte einmal und meine Hände waren nicht mehr gefesselt. Sie zogen die blasse Kehle näher und näher. Ich fuhr mit der Nase über ihre Ader, streichelte ihre Haut. Das Pulsieren in ihren Adern ließ mich völlig erstarren. Ich hatte noch nie etwas so Fesselndes gehört und konnte meinen Blick nicht abwenden. Noch nie hatte ich etwas so sehr gewollt, dass ich mich nicht beherrschen konnte. Mich nicht zurückhalten konnte.

Ich küsste sanft ihren Hals und versenkte dann meine Zähne in ihr.

5

Ich wachte schweißgebadet auf und jemand lag auf mir. Ohne nachzudenken, schlug ich zu und stieß mich vom Bett ab, während ich die Person mit meinen Gedanken quer durch den Raum schleuderte. Ein Zittern erschütterte mich, und Schatten glitten über mein Blickfeld. Die flüsternden Stimmen riefen bereits nach Blut.

Ich sprang auf und war bereit zuzuschlagen, als das Licht anging.

„Was ist hier los?“

Ich erkannte das Mädchen vor mir. Ich hatte sie schon tausendmal gesehen, und doch konnte ich das Gesicht, das ich kannte, nicht mit einem Wesen in Verbindung bringen, das mir etwas bedeutete. Ich konnte keine Verbindung herstellen, außer dem Pochen in meinen Adern, das mich die Fäuste ballen ließ.

„Verschwinde, Amber“, befahl die Person, die ich durch den Raum geschleudert hatte. Ich warf ihm einen kalten Blick zu, neigte den Kopf zur Seite und musterte meine Beute.

„Ich lasse dich nicht mit ihr allein hier drin, wenn sie so ist“, schnauzte die Person in der Tür. Ich kniff die Augen zusammen und bereitete mich darauf vor, mich in geduckter Kampfhaltung zu verteidigen. Ihre Angst sang durch die Luft und versprach den flüsternden Stimmen leichte Beute. Diese Person hatte Angst.

„Selena. Ich möchte, dass du sofort zurückkommst“, flüsterte die andere. Derjenige mit den schwarz-gelben Augen. Er versuchte, mich abzulenken. Schritte auf dem Flur ließen mich zischend aufhorchen. Meine Finger krümmten sich zu Klauen, als die Flüsterstimmen in mir widerhallten. Töte sie. Vernichte sie.

„Geh, Amber. Ich kann mit ihr umgehen“, sagte das Männchen.

„Ich werde dich nicht verlassen …“

„Warum sind ihre Augen schwarz?“, fragte die rothaarige Dämonin in der Tür. Hinter ihr stellten sich die anderen auf. Sie machten sich zum Kampf bereit.

„Selena“, sagte das Männchen wieder. Die Glut in mir flackerte auf und suchte nach etwas, das sich entzünden konnte. Etwas, um die Kluft zu überbrücken.

Um die sorgfältig konstruierte Leere des Nichts zu durchqueren, die ich mir selbst geschaffen hatte.

„Selena“, wiederholte er. Der Raum stand still, als die Wesen in mir um die Vorherrschaft kämpften. Ich war das Ungeheuer. Die Killerin. Die flüsternden Stimmen sprachen von Zerstörung, und ich gab sie ihnen.

Ich war die Beschützerin. Die Kämpferin. Das Mädchen, das zu viel fühlte, aber niemand konnte es sehen. Ich musste dagegen ankämpfen. Es gab einen Grund, warum ich die Flüsterstimmen bekämpfen musste. Ich musste die Wut unterdrücken. Ich musste das Monster in den Käfig sperren.

„Er ruft sie zurück“, flüsterte jemand.

Ich verlor meine Konzentration.

Die Phantomhände stürzten sich auf das Mädchen, während sich gleichzeitig ein Schild bewegte, um sie aufzuhalten. Meine Kraft prallte auf eine unsichtbare Energie und ich knurrte. Das Monster in mir stürzte sich auf die Oberfläche und wirbelnde Energie zerschmetterte den Schild wie Glas.

„Sie sollte das nicht tun können“, sagte ein blondhaariger Dämon.

„Sie ist eine Materiemanipulatorin unter Stress. Das ist der Bindungswahnsinn“, meinte das Männchen. Ich konnte spüren, wie er sich näher heranschlich. Etwas Warmes streifte meinen Geist und ließ mich erstarren. „Das ist richtig. Ich bin genau hier. Ich bin genau …“

Ich stürzte mich auf ihn.

„Nein!“, schrie jemand. Schwarze Flammen stiegen um mich herum auf und schlossen mich ein. Auf der anderen Seite starrten mich rein goldene Augen an, und ich griff nach ihnen, aber ich konnte die Flammen nicht durchbrechen. Sie leckten an meiner Haut und versengten meine Kleidung. Feuer konnte mich nicht verletzen, aber dieses hielt mich gefangen. Es sperrte mich ein.

Ich wandte mich an den rothaarigen Dämon, der die Flammen kontrollierte. Ihre Augen waren schwarz und sie starrte mich an. „Ich will Selena zurück. Sofort“, forderte sie. Irgendetwas an ihr beruhigte die Wut in mir und brachte das Flüstern zum Schweigen. So plötzlich, wie mein Monster die Kontrolle übernommen hatte, wich es auch wieder zurück.

Erst da wurde mir klar, dass ich mich geirrt hatte. Die Dämonin – wie mein anderes Ich sie nannte – war Alexandra. Ich fiel auf die Knie, rollte mich zusammen und versuchte erfolglos zu verarbeiten, was gerade passiert war.

Die schwarzen Flammen lösten sich auf, als Alexandra auf mich zukam. Ihre Augen wurden wieder braun, als sie sich hinhockte. Ich sagte nichts, als sie ihre Arme um mich schlang und mich an sich zog. Ich konnte mich nicht dazu durchringen, sie zu umarmen. Über ihre Schulter beobachtete mich Amber misstrauisch. Sie war diejenige, die ich zuerst ins Visier genommen hatte. Diejenige, die Aaron nicht mit mir hatte allein lassen wollen, und wenn ich mir anschaute, was passiert war, konnte ich es ihr nicht verdenken.

Ich dachte, der Zusammenschluss mit Violet hätte mich gerettet. Ich dachte, ich hätte meine Wut unter Kontrolle, aber ein einziger Albtraum löste alle Ketten in mir und ich wurde wild. Unfähig zu denken oder zu verarbeiten, wen ich da sah. Sie waren alle eine Bedrohung, und ich konnte nicht darüber hinwegsehen.

Blair trat vor, ihren Mund zu einem grimmigen Ausdruck verzogen. Sie seufzte tief und warf mir einen Blick zu, als wüsste sie nicht, was sie mit mir anfangen sollte, als sie sagte: „Wir müssen uns unterhalten.“

„Das ist eine Untertreibung“, murmelte Johanna.

6

Um drei Uhr morgens versammelten wir uns im Wohnzimmer. Die Atmosphäre war schwer, voller Spannung und unausgesprochener Worte. Das schwarze Baumwollhemd, das ich trug, war von den Flammen bis zum Ellbogen versengt worden. Schwarze Flammen. Flammen, die mich gefangen nehmen konnten. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Ich wusste im Moment nicht, was ich über viele Dinge denken sollte.

„Wusstest du, dass du zum Teil Dämonin bist?“, ergriff Johanna das Wort und kam direkt zur Sache. Mein Blick wanderte zu ihr. Sie saß mit einem angezogenen Bein, den Arm auf das Knie gestützt, da.

„Ich bin nicht teilweise Dämonin.“ Noch während ich das sagte, suchten meine Augen Alexandra. Ihre Augen waren schwarz geworden, genau wie die eines Dämons.

Ich könnte alles leugnen. Ich könnte sie nach Strich und Faden anlügen. Alle von ihnen.

Aber ich hatte es mit meinen eigenen Augen gesehen.

Konnte ich mich wirklich selbst belügen?

„Oh, das bist du. Da bin ich mir ganz sicher. Ihr beide seid es.“ Ihr Blick hüpfte zwischen mir und meiner rothaarigen Schwester hin und her. Meine Lippen pressten sich zusammen.

„Wie ist das überhaupt möglich? Du hast doch selbst gesagt, dass alle Halbblüter goldene Augen haben“, erwiderte ich. Ich wollte bei dieser Anschuldigung knurren, was mir verriet, dass meine Gefühle nicht fest in mir eingeschlossen waren.

„Ja, denn die einzigen Kinder, die Dämonen haben, sind andere Dämonen oder Vampire. Sie widersetzen sich der natürlichen Ordnung, Selena. Ich dachte nicht, dass ich das extra erklären muss.“ Johannas Stimme war hart und unnachgiebig. Ich glaube nicht, dass sie aggressiv sein wollte, aber ihr ruppiger Tonfall ging mir auf die Nerven.

„Woher willst du dann wissen, dass wir zum Teil Dämonen sind? Du hast keine Beweise.“ Ich verschränkte meine Arme vor der Brust und sah zwischen ihr und Alexandra hin und her.