Der Malvenmörder von Ruuchmoor - Nina Holldorf - E-Book
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Der Malvenmörder von Ruuchmoor E-Book

Nina Holldorf

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Beschreibung

Nach einem ereignisreichen Sommer scheint wieder Ruhe im Leben der Dorfbewohner und auf Gut Moorensee eingekehrt zu sein. Doch der vermeintliche Frieden bekommt einen Riss: Ein notorischer Frauenheld wird in seinem Halloween-Kostüm tot aufgefunden – ermordet! War es die Rache der betrogenen Ehefrau?

Frederike von Cranichs sechster Sinn ist geweckt – sehr zum Leidwesen ihrer Freundin Bärbel, Leiterin der Polizeistation im verschlafenen Ruuchmoor. Kurz darauf geschieht ein zweiter Mord. Frederikes Spürsinn ist nicht mehr zu bremsen, zumal der Mörder bei seinen Opfern eine rote Malve hinterlässt. Gemeinsam mit ihrer Hündin Lilly begibt sich Frederike auf gefährliche Pfade. Denn in unmittelbarer Nähe lauert der kaltblütige Killer – oder die Killerin …

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Über das Buch

Nach einem ereignisreichen Sommer scheint wieder Ruhe im Leben der Dorfbewohner und auf Gut Moorensee eingekehrt zu sein. Doch der vermeintliche Frieden bekommt einen Riss: Ein notorischer Frauenheld wird in seinem Halloween-Kostüm tot aufgefunden – ermordet! War es die Rache der betrogenen Ehefrau?

Frederike von Cranichs sechster Sinn ist geweckt – sehr zum Leidwesen ihrer Freundin Bärbel, Leiterin der Polizeistation im verschlafenen Ruuchmoor. Kurz darauf geschieht ein zweiter Mord. Frederikes Spürsinn ist nicht mehr zu bremsen, zumal der Mörder bei seinen Opfern eine rote Malve hinterlässt. Gemeinsam mit ihrer Hündin Lilly begibt sich Frederike auf gefährliche Pfade. Denn in unmittelbarer Nähe lauert der kaltblütige Killer – oder die Killerin …

Über Nina Holldorf

Nina Holldorf wuchs in Osterholz-Scharmbeck, in der norddeutschen Tiefebene nahe der Hamme und dem östlich angrenzenden Teufelsmoor und dem Künstlerdorf Worpswede auf. Nach ihrem Abitur absolvierte sie eine Theater- und Gesangsausbildung, der später ein Studium der Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Sprachheilpädagogik folgte. 1998 siedelte sie nach Kanada um und verbrachte sechzehn Jahre an der Westküste British Columbias, bevor sie 2014 ins nordöstliche Niedersachsen zurückkehrte – in ihre Heimat unweit des Teufelsmoors.

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Nina Holldorf

Der Malvenmörder von Ruuchmoor

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Epilog

Impressum

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Kapitel 1

Frederike schlüpfte aus ihren Reitstiefeln und nahm Lilly das Halsband ab. Schwanzwedelnd lief die Hündin voraus durch die Diele des Gutshauses und schob ihre Schnauze durch die angelehnte Küchentür.

»Na, da seid ihr ja gerade rechtzeitig zum Nachmittagstee zurück«, sagte Luise zu Frederike, die nach Lilly die Gutsküche betreten hatte. »Hattet ihr einen schönen Ausritt?« Die blonde Haushälterin und gute Seele von Gut Moorensee kraulte der Hündin ausgiebig die Brust, während Frederike Teetassen aus dem Küchenschrank holte und sich dann auf der Eckbank am Küchentisch niederließ.

»Ja, hatten wir.« Frederike lächelte. »Unglaublich, wie mild es noch ist für Ende Oktober.«

»Stimmt.« Luise nickte. »Sonst hab ich um diese Zeit immer schon den Kachelofen hier in der Küche an. So sparen wir wenigstens an Brennholz und Heizkosten, auch nicht schlecht.« Sie schenkte Frederike und sich selbst Tee ein und setzte sich zu ihr an den Tisch. Lilly hatte inzwischen ausgiebig aus ihrem Wassernapf geschlabbert und machte es sich wohlig grunzend zu Frederikes Füßen unter dem Küchentisch bequem.

»Ich habe heute noch gar keinen Blick in die Zeitung geworfen.« Frederike griff nach dem Ruuchbeeker Landboten, der Tageszeitung für den Landkreis Kloostermeed mit einer extra Beilage für Ruuchmoor. »Irgendwas Interessantes drin?« Frederike warf Luise einen Blick zu, während sie das Blatt auseinanderfaltete.

Die winkte ab. »Ach, der übliche Krams. Warum nicht wenigstens eine Seite nur mit guten Nachrichten drucken? Wie soll man sich denn seine gute Laune bewahren, wenn einem früh morgens schon die Hiobsbotschaften ins Haus flattern?«

»Schlechte Nachrichten verkaufen sich einfach besser als gute, ist sogar wissenschaftlich bewiesen.« Frederike hob kurz den Kopf. »Angeblich sind sie für den Leser aufregender und attraktiver.«

»In was für einer bekloppten Welt wir doch leben.« Luise schüttelte den Kopf. »Ach, da fällt mir ein: Piet Ohlsen hatte ja wegen dem milden Wetter die Saison für die Torfkahnfahrten verlängert. Zum Abschluss macht er jetzt noch ne ganz spezielle Sonderfahrt. Steht im Ruuchmoor-Teil. Er hat sogar Anzeigen in der Kreiszeitung drin.«

»Nee, echt?« Frederike griff nach der Ruuchmoor-Beilage und überflog die Seiten. »Eine Halloween-Mondscheinfahrt am 31. Oktober. Mit Kostümen, Gruselgeschichten auf den Kähnen und allem, was sonst noch dazugehört. Da hat er sich ja richtig was einfallen lassen.«

»Noch so n Schnickschnack, der aus den USA zu uns rübergeschwappt ist, wenn de mich fragst.« Schlürfend nahm Luise einen Schluck von dem heißen Tee.

»Na ja.« Amüsiert blickte Frederike die blonde Frau über den Zeitungsrand hinweg an. »Wenn man’s genau nimmt, sind die Iren dafür verantwortlich. Die Kelten haben nämlich schon in vorchristlicher Zeit am 31. Oktober Samhain gefeiert, so etwas wie ein Erntedankfest, bei dem zugleich auch die kalte Jahreszeit und das neue Kalenderjahr eingeläutet wurden.«

»Ach, was de nich sagst. Das hört sich doch vernünftig an.« Luise war überrascht.

»Während Samhain soll die Grenze zur Anderswelt, also zu den Seelen der Verstorbenen, besonders durchlässig sein, was angeblich ein Zusammentreffen der Lebenden und Toten ermöglicht. Erst als irische Einwanderer ihren Brauch im 19. Jahrhundert nach Amerika brachten, hat sich das Halloween-Fest, so wie wir es heute kennen, entwickelt«, erklärte Frederike.

»Sag ich doch – diese Amis können aber auch nichts ernst nehmen, müssen immer ne Show aus allem machen.« Luise nahm einen kräftigen Schluck Tee und setzte ihre Tasse nachdrücklich auf dem Küchentisch ab.

Grinsend legte Frederike die Zeitung beiseite und schaute aus dem Küchenfenster. »Nanu«, sagte sie verwundert, als sie einen BMW-SUV die Gutseinfahrt hinauffahren sah. »Was will denn Henrich Janssen hier?« Frederike erhob sich vom Tisch und verließ die Küche mit Lilly im Schlepptau, um dem Besucher entgegenzugehen.

»Hallo Herr Janssen«, begrüßte sie den pensionierten Dorfschulleiter, als dieser aus seinem Wagen stieg.

»Guten Tag, Frederike«, erwiderte Henrich Janssen. »Hallo Lilly.« Er kraulte die Hündin sanft am Kinn, als sie ihn freundlich begrüßte. Lilly hatte ihr ursprüngliches Misstrauen ihm gegenüber abgelegt, und Frederike fragte sich, ob der Hündin wohl bewusst war, dass der Tierarzt Jannes Baltig sie in Henrich Janssens SUV transportiert hatte, als sie angeschossen worden war.

»Sie hat sich wieder völlig erholt?« Fragend blickte Henrich Frederike an.

»Ja, das hat sie.« Frederike lächelte.

»Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich darüber bin.« Henrich Janssen holte tief Luft. »Hast du einen Moment Zeit für mich, Frederike?«

»Ja, natürlich, Herr Janssen.« Still forschte sie in dem Gesicht des attraktiven Endsiebzigers. Seine markanten Gesichtszüge waren schmal geworden, und die stahlblauen Augen unter den kräftigen Augenbrauen hatten noch nicht ihre eigenwillige Ausdruckskraft zurückerlangt. Die Blässe, die den sonst so sonnengebräunten Senioren noch vor wenigen Wochen gezeichnet hatte, verflüchtigte sich allmählich. Und doch schien es Frederike, als hätte sich ein Schatten über ihn gelegt. Erst zwei Monate war es her, dass er seine Frau Leni verloren hatte. Leni Janssen war auf der Flucht vor der Polizei von ihrem Pferd gestürzt und hatte sich das Genick gebrochen. Die Tatsache, dass sie zwei Menschen ermordet und versucht hatte, auch noch ihren gemeinsamen langjährigen Freund, den Gemeindepfarrer Ortwin Feddersen, aus dem Weg zu räumen, hatte Henrich Janssen ebenso hart wie unvermutet getroffen. Über fünfzig Jahre lang war er mit Leni zusammen gewesen. Frederike mochte sich nicht vorstellen, wie es in ihm aussah, und fragte sich nicht zum ersten Mal, ob er diesen Schicksalsschlag je überwinden würde. Ortwin Feddersen, der sich ganz offensichtlich ähnliche Sorgen machte, hatte seinen alten Freund erst einmal bei sich im Pfarrhaus aufgenommen, damit er nicht alleine war.

Henrich Janssen räusperte sich und riss Frederike aus ihren Gedanken. »Ich wollte dich fragen, ob du wohl Lenis Pferde bei dir aufnehmen würdest. Ich habe mich entschlossen, für eine Weile auf Reisen zu gehen. Ich kann Ortwin nicht ewig zur Last fallen, aber ich bin noch nicht so weit, allein in mein Haus zurückzukehren, ohne … nach all dem, was geschehen ist …« Seine Stimme brach.

»Natürlich nehme ich die Pferde auf, Herr Janssen.« Mitfühlend legte sie ihre Hand auf seinen Arm. Eine Geste, die sie früher ihm gegenüber nie für möglich gehalten hätte. Und noch erstaunlicher vielleicht war, dass er es auch geschehen ließ. »Sie können so lange auf Gut Moorensee bleiben, bis Sie wieder zurück sind. Obwohl ich glaube, dass es Onkel Ortwin nichts ausmacht, Sie bei sich im Pfarrhaus zu haben, im Gegenteil. Aber für eine Weile hier rauszukommen, könnte genau das Richtige sein, das wird Ihnen bestimmt guttun.«

Henrich Janssen atmete tief durch. »Ja, das denke ich auch. Ortwin … unterstützt mich in allem. Kaum zu glauben, dass aus dieser … Geschichte etwas Positives hervorgegangen ist. Nach all den Jahren haben Ortwin und ich unsere Freundschaft wieder erneuert und gefestigt. Ich wüsste nicht, was ich ohne ihn täte.« Sein Blick verlor sich für einen Moment.

»Ich bin mir sicher, dass unser Pfarrer genauso empfindet.«

Frederikes sanfte Stimme holte ihn wieder zurück in die Gegenwart.

»Ich fürchte, ich habe mich nicht ganz richtig ausgedrückt. Ich möchte dir die beiden Pferde schenken – sofern du sie annimmst, natürlich«, beeilte er sich zu sagen, als er Frederikes überraschten Gesichtsausdruck sah. »Wie du nur zu gut weißt, bin ich alles andere als ein Pferdemensch, und der Anblick der Tiere macht es mir nicht gerade leichter.« Er lächelte sie gequält an.

»Ich verstehe vollkommen, Herr Janssen. Ich bin nur völlig überwältigt. Sie könnten sicherlich einen guten Preis für die beiden erzielen und …«

»Ich will kein Geld.« Der ehemalige Schulleiter wehrte rasch ab. »Ich möchte, dass sie ein gutes Zuhause bekommen, und ich weiß, dass sie bei dir in den besten Händen wären, Frederike.«

»Ich …«

»Bitte, Frederike, überlege es dir.«

»Ich brauche nicht zu überlegen«, erwiderte Frederike. »Natürlich nehme ich die beiden.«

»Ich danke dir.« Herr Janssen nahm ihre Hand und drückte sie fest.

»Nichts zu danken.« Frederike lächelte. »Ich bin doch die Beschenkte. Ich könnte sie morgen Nachmittag abholen, passt das?«

»Ja, das passt wunderbar«, erwiderte er. »Jetzt muss ich mich auch leider schon wieder verabschieden. Ich habe Ortwin versprochen, mich um das Abendessen zu kümmern. Bis morgen dann, Frederike.«

»Bis morgen, Herr Janssen. Und liebe Grüße an Onkel Ortwin.«

Er nickte ihr zu und stieg wieder in seinen BMW.

Nachdenklich sah Frederike ihm hinterher, als er die Gutseinfahrt hinunterfuhr. Während ihres gesamten Gesprächs hatte der pensionierte Schulleiter keine einzige seiner üblichen lateinischen Plattitüden zum Besten gegeben.

Frederike wollte gerade das Licht in der Küche ausmachen und auf ihr Zimmer gehen, als ihr Blick auf den Ruuchbeeker Landboten fiel, der auf der Eckbank lag. Rasch suchte sie noch einmal den Artikel über die Halloween-Mondscheinfahrt heraus. Ihr alter Schwarm aus vergangenen Schulzeiten Piet Ohlsen hatte das Torfkahnfahrtengeschäft völlig umgekrempelt und einiges in Gang gebracht, seitdem er das Touristikunternehmen der Familie übernommen hatte. Ursprünglich nicht mehr als ein Liebhaberprojekt, lockten die Torfkahnfahrten inzwischen etliche Touristen an, selbst überregional. Die Idee mit der Halloween-Fahrt war richtig gut. Eine Gruselfahrt auf den Gewässern des Teufelsmoors. Frederike grinste. Das wäre doch was für Charlottes Feriengäste. Charlotte Hinrichs, Frederikes älteste Freundin, hatte dieses Jahr den Hof samt Laden und eigener Imkerei von ihren Großeltern übernommen und die alte Scheune zu zwei Ferienwohnungen umgebaut. Die ersten Gäste waren vor einer Woche eingetrudelt.

Und Bärbel Witznisch, die dritte im Bund der besten Freundinnen, hatte Abschied von ihrer Karriere als Kriminalhauptkommissarin in Berlin genommen und war nach Ruuchmoor zurückgekehrt, um der Großstadtkriminalität zu entfliehen und die Leitung der kleinen Polizeistation zu übernehmen. Ersteres allerdings war ihr bisher nicht sonderlich geglückt, da sie im idyllischen Ruuchmoor sogleich mit zwei Morden und einem Mordanschlag konfrontiert worden war.

Lilly, die geduldig neben Frederike gesessen hatte, streckte sich und gähnte herzhaft. »Ja, meine Süße, ich weiß, Zeit fürs Bett.« Frederike legte die Zeitung wieder zusammen und warf beim Hinausgehen noch einen kurzen Blick auf den Wandkalender. Der 31. Oktober fiel dieses Jahr auf einen Samstag, und nicht nur das: Es würde einen Blue Moon, einen Blauen Mond geben, den zweiten Vollmond innerhalb eines Monats. Und das an Halloween, dachte Frederike, besser konnte es gar nicht sein.

Kapitel 2

Frederike stand mit Lilly an ihrer Seite am Weidegatter und beobachtete das friedliche Treiben der Pferde.

»Na, wie fügen sich die beiden Neulinge ein?«

»Jannes!« Überrascht drehte sie sich um. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht, als sie ihren alten Freund, den Tierarzt Jannes Baltig, erblickte. »Ich habe dich gar nicht kommen hören.«

»Kein Wunder«, lachte Jannes, während er Lilly ausgiebig begrüßte. »Du warst ja auch total in den Anblick dieser sechs Schönheiten hier vertieft.«

Neben Lise, Frederikes 11-jähriger Oldenburger Fuchsstute, dem rüstigen Senioren Wotan – dem Holsteiner Wallach von Frederikes verstorbenen Onkel Julius von Cranich – und den beiden Norikern Ole und Lasse, tummelten sich nun auch die Trakehner Fuchsstute Yona und der Wallach Finnigan, ein Irish Hunter, der verstorbenen Leni Janssen auf der Weide.

»Erstaunlich gut. Könnte ehrlich gesagt nicht besser sein«, antwortete Frederike. »Vielen Dank nochmal für deine Hilfe beim Transport, Jannes.«

»Nichts zu danken.« Der Tierarzt lächelte. »Ich bin froh, dass du mich gefragt hast.« Er ließ seinen Blick über die friedlich grasenden Pferde gleiten. Genau wie Frederike ritt er schon sein Leben lang.

»Du hast recht. Sie sehen aus, als wären sie immer schon hier zu Hause gewesen, und das nach nur zwei Tagen. Unglaublich.«

»Ist schon merkwürdig, wie sich manchmal die Dinge im Leben zutragen und sich selbst aus tragischen Geschehnissen noch etwas Positives entwickelt.« Ein vages Lächeln huschte über Frederikes Gesicht.

»Das ist wohl wahr«, stimmte Jannes nachdenklich zu. »Apropos positiv.« Er schmunzelte. »Wollen wir einen neuen Versuch wagen, unser ständig verschobenes Abendessen in Angriff zu nehmen?«

»Du meinst, wir schaffen es wirklich, einen Abend ohne Notfälle zu überstehen?« Frederike lachte. Mehrmals schon hatten die beiden versucht, das gemeinsame Abendessen, das damals der Jagd auf Leni Janssen zum Opfer gefallen war, nachzuholen. Bisher hatte jedoch immer wieder ein tierischer Notfall ihre Pläne durchkreuzt. Jannes Baltig, der in die Dorfpraxis von Tierarzt Mensen eingestiegen war und diese später ganz übernehmen sollte, sprang zurzeit freiwillig für alle Notdienste ein, um den älteren Mensen, der sich im nächsten Jahr zur Ruhe setzen wollte, zu entlasten.

»In der Tat.« Jannes grinste. »Wie wär’s diesen Samstag, hast du Zeit? Tierarzt Mensen übernimmt am Halloween-Wochenende für mich den Notdienst. Regelrecht bestanden hat er darauf.«

»Na, dann wollen wir mal hoffen, dass die Untoten nicht zu arg ihr Unwesen treiben und die Tiere verschrecken«, scherzte Frederike, »sonst findet der gute Mensen überhaupt keinen Schlaf. Ja, das sollte klappen.«

»Super! Um sieben? Ich hol dich ab«, entgegnete Jannes, als Frederike nickte.

»Solange uns nur keine mörderische Jagd dazwischenfunkt«, unkte sie.

Kapitel 3

»Na, Gott sei Dank, Piet Ohlsens Halloween-Mondscheinfahrt kommt wie gerufen«, seufzte Charlotte Hinrichs erleichtert. »Die Kinder von unseren Feriengästen quengeln schon seit Tagen, dass sie in Ruuchmoor verkleidet von Haus zu Haus ziehen wollen, um Süßes oder Saures zu rufen. Ich habe beide Familien für die Halloweenfahrt angemeldet, und die Eltern sind heilfroh, sich nur noch um die passenden Kostüme kümmern zu müssen.«

»Das glaub ich dir gern«, erwiderte Frederike. »Wie läuft’s denn mit deinen ersten Feriengästen?«

»Ach, ganz gut.« Charlotte nippte an ihrem Rotwein. »Glücklicherweise spielt das Wetter mit, so können sie viel draußen unternehmen.«

»Selbst das Pinkepang veranstaltet eine Halloween-Party dieses Jahr«, warf Bärbel Witznisch ein. Bi’n Pinkepang war die alteingesessene Dorfkneipe in Ruuchmoor. »Wollen wir da hin? Du bist deine Gäste für den Abend los, Charlotte, und ich habe endlich mal keinen Wochenenddienst.«

Die drei Freundinnen saßen wie so oft in der gemütlichen Küche auf Gut Moorensee bei einem oder auch mehreren Gläsern Wein zusammen.

»Ich kann leider nicht«, antwortete Frederike. »Ich habe eine Verabredung mit Jannes.«

»Oha, ich fasse es nicht«, frotzelte Charlotte. »Sollte es jetzt tatsächlich endlich zu dem berüchtigten Abendessen kommen?«

»Scheint so.« Frederike lächelte.

»Na gut.« Bärbel schenkte allen Rotwein nach. »Dann gehen halt wir beide, Charlotte.«

»Abgemacht.« Charlotte nickte.

»Hey, ihr könnt doch nicht ohne mich gehen!«, wandte Frederike entrüstet ein. »Ich werde Jannes absagen.«

»So weit kommt das noch!« Wie auf Kommando griffen Bärbel und Charlotte nach ihren Stuhlkissen und warfen sie Frederike an den Kopf.

»Und wenn ich dich festbinden muss, Rike, du gehst endlich auf dein Date mit Jannes, keine Ausflüchte mehr.« Charlotte warf Frederike einen wissenden Blick zu. Sie kannte die Freundin nur zu gut.

»Ich helfe dir dabei.« Bärbel griente breit.

»Wer will hier wen festbinden und warum?« Luise steckte den Kopf zur Küchentür herein.

»Bärbel und ich wollen nur sichergehen, dass Rikes Date mit Jannes diesmal wirklich stattfindet.« Charlotte grinste. »Deshalb unsere Drohung.«

»Oh, da bin ich dabei«, erklärte Luise.

»Na prima«, lachte Bärbel. »Die Hilfe unserer Oberhexe können wir immer gut gebrauchen.«

»Das könnte euch so passen!«, rief Frederike mit gespielter Entrüstung, während sie ein Weinglas für Luise aus dem Schrank holte. »Jetzt verschwören sich schon meine eigenen Moorhexen gegen mich.«

Julius von Cranich, Frederikes verstorbener Onkel, hatte das quirlige Dreiergespann in deren Kindheitstagen liebevoll Moorhexen getauft, da die Freundinnen es faustdick hinter den Ohren hatten. Sie konnten so ziemlich jeden um den Finger wickeln und mit ihrem unschuldigen Charme verzaubern. Und die drei wiederum hatten Luise zu ihrer Oberhexe ernannt, da ihnen die Wirtschafterin von Gut Moorensee so manches Mal aus der Patsche geholfen hatte, wenn das Trio mal wieder in die Bredouille geriet.

»Na klar.« Charlotte schenkte Luise, die sich zu ihnen an den Tisch gesetzt hatte, vom Rotwein ein. »Wenn es dabei um dein Glück geht, Rike, immer.«

»Mein Glück ist hier auf Moorensee mit euch und den Tieren«, erwiderte Frederike. »Mehr brauche ich nicht.«

»Und das ist auch gut so.« Bärbel nickte. »Versteh mich nicht falsch, Rike. Aber du magst doch Jannes. Euch verbindet eine ganze Menge, und ihr versteht euch gut.«

»Ja, stimmt schon.« Frederike griff nach ein paar Chips und Erdnüssen, die bei den gemeinsamen Rotweinabenden nicht fehlen durften. »Aber so soll es auch bleiben. Liebe macht doch immer alles kompliziert.«

»Ach, komm schon, Rike«, warf Charlotte ein. »Das muss ja nicht so sein. Und sollte es schieflaufen, hast du ja immer noch uns.« Sie grinste.

»Das will ich auch stark hoffen«, lachte Frederike. »Nee, im Ernst«, wehrte sie dann ab. »Ihr wisst doch, dass ich nicht auf der Suche nach einer Beziehung bin. Ist mir alles viel zu anstrengend im Moment.«

»Hey, wir wollen doch nur, dass du den Abend mit Jannes genießt und offen bist für das, was sonst noch so kommen mag.« Bärbel zwinkerte.

»Ach, soso, Frau Kommissarin.« Frederike zog die Augenbrauen hoch. »Und das aus deinem Munde.« Sie spielte damit auf die junge Polizeimeisterin Mareike Petersen an, die völlig in Bärbel, ihre Vorgesetzte, verschossen war. Die Kommissarin ihrerseits fühlte sich zu ihrer Mitarbeiterin ebenso hingezogen, wehrte sich jedoch mit Händen und Füßen gegen eine mögliche Romanze mit der Begründung des gemeinsamen Arbeitsplatzes und des Altersunterschieds.

»Das ist doch etwas ganz anderes«, protestierte Bärbel schwach.

»Ja klar«, spottete Frederike liebevoll.

»Ach, übrigens.« Charlotte wechselte abrupt das Thema. »Hat einer von euch schon den neuen Küster zu Gesicht bekommen?«

»Nee, noch nich.« Luise schüttelte den Kopf. »Nathanael Klemens, was für ein Name! Äußerst höflich und korrekt soll er wohl sein, hab ich gehört.«

»Oha, gleich zwei biblische Namen auf einmal. Was sich seine Eltern wohl dabei gedacht haben? Unser guter Pfarrer zumindest hält sich ganz bedeckt.« Frederike schmunzelte. »Onkel Ortwin weicht meinen Fragen nach seinem neuen Mitarbeiter nämlich immer ganz geschickt aus.«

»Wie dem auch sei, ich bin froh, dass unser Pfarrer jetzt Unterstützung hat.« Luise stieß mit den drei Freundinnen an.

Kapitel 4

»Ich fahr dann mal schnell runter ins Dorf.« Frederike schnappte sich die Einkaufsliste vom Küchentisch.

»Alles klar.« Luise, die sich eine kurze Pause bei einer Tasse Kaffee und Zeitung gönnte, schaute kurz auf. »O Rike, guck doch mal, ob du bei Jette noch ein Holzofenbrot bekommst. August backt doch zum Ende der Woche immer ein paar Brote in dem alten Ofen.«

»Mach ich.«

Jette und August Petersen, die Eltern der jungen Polizistin Mareike Petersen, betrieben den Tante-Emma-Laden in Ruuchmoor. Ihr Markenzeichen waren Brot und Kuchen aus eigener Herstellung und viel Frisches aus der Region. Seit dem Sommer gehörte auch Gut Moorensee zu Petersens Lieferanten.

Frederike holte ihr Fahrrad aus der Scheune, während Lilly schwanzwedelnd den Hühnern ihren morgendlichen Besuch abstattete. Sie pfiff nach der Hündin, und gemeinsam schlugen sie die Richtung zum Gutswäldchen ein, um die Abkürzung fern der Landstraße zum Dorf zu nehmen.

»Moin Boss.« Hinnerk Lüschen, Faktotum auf Gut Moorensee und fast ebenso lang auf dem Hof wie Luise, schloss das Tor zum Obst- und Gemüsegarten hinter sich.

»Moin Hinnerk«, begrüßte Frederike den Endvierziger.

»Die letzten beiden Beete sind jetzt auch fertig.« Der Landarbeiter kraulte Lilly ausgiebig am Kinn.

»O prima.« Frederike freute sich. »Dann kann ich ja den Spinat und den Feldsalat aussäen.«

»Hab auch das alte Gewächshaus auf Vordermann gebracht.« Hinnerk nahm seine Mütze ab und wuschelte sich durch die angegrauten kurzen blonden Haare.

»Hinnerk, du bist ein Schatz.« Frederike strahlte.

»Wir könnten den Mangold ins Gewächshaus verpflanzen«, schlug der Landarbeiter vor. Er war vor Freude rot angelaufen.

»Das ist eine Superidee, dann können wir ihn noch bis weit in den Winter ernten. Ich bespreche nachher mit Luise, was wir sonst noch im Gewächshaus anbauen sollten. Was täte ich bloß ohne euch beide?« Dankbar drückte Frederike Hinnerks raue Hand. War sie auch Besitzerin und Chefin von Gut Moorensee, so stellte sie sich auf eine Stufe mit Luise und Hinnerk und führte den Hof gemeinsam mit ihnen. Von Standesdünkel hielt sie rein gar nichts. Frederike wusste, dass sie sich auf die beiden bedenkenlos verlassen konnte.

»Jo.« Verlegen setzte Hinnerk seine Mütze wieder auf. »Dann will ich mal weiter zu den Hühnern.«

Frederike sah das Postauto die Gutseinfahrt hinaufkommen.

»Oh, die Post ist aber heute früh dran.«

»Die Post? Oh, gut.« Hinnerk machte auf dem Absatz kehrt und setzte zum Dauerlauf in Richtung Hof an.

»Erwartest wohl wieder deine spezielle Lieferung, was?« Frederike zwinkerte Hinnerk verschmitzt zu, als dieser sich kurz umdrehte.

»Jo, Boss.« Er grinste. »Gerade rechtzeitig zum Hällohwien. Dann kann ich schön schmökern, und die Untoten können mir den Buckel runterrutschen.«

Frederike musste lachen. Als Teenager war sie durch Zufall hinter Hinnerks Geheimnis – seine große Schwäche für Liebesromane à la Hedwig Courths-Mahler – gekommen und hatte ihm hoch und heilig versprechen müssen, es niemandem zu verraten, noch nicht einmal Luise.

*

Nachdem Frederike ihren ausgiebigen Schwatz mit Jette Petersen beendet hatte, radelte sie mit Lilly an ihrer Seite in Richtung Marktplatz. Der Duft des frischgebackenen Dinkelbrots stieg ihr vom Fahrradkorb entgegen. Sie hatte tatsächlich noch ein Holzofenbrot ergattert.

»Frederike, hallo!« Martha Putzow, Luises jüngere Schwester, die gerade aus dem Haus trat, winkte ihr zu.

Frederike machte einen kleinen Schlenker und fuhr zu ihr. »Hallo Martha.« Sie stieg vom Fahrrad, während Lilly die zierliche Frau freudig begrüßte. »Wie geht der Scheunenumbau voran?«

Martha war erst vor Kurzem nach einer erfolgreichen Karriere als Tänzerin und Choreographin wieder nach Ruuchmoor zurückgekehrt. Sie war in das Haus ihrer Eltern gezogen und ließ gerade die dazugehörige Scheune in ein Tanzstudio mit kleiner Bühne umbauen. Luises und Marthas Eltern waren ins betreute Wohnen umgezogen und hatten ihr Haus, das die Schwestern eines Tages erben würden, nur zu gerne ihrer jüngsten Tochter überlassen.

»Könnte gar nicht besser laufen.« Die quirlige Künstlerin strahlte. »Ich werde wohl im November das Tanzstudio eröffnen können. Mein Zumba-Kurs ist bereits voll, und für meine Kinderballettgruppe habe ich so viele Voranmeldungen allein aus Ruuchmoor und Barkenbeek, dass ich vielleicht zu Weihnachten schon eine kleine Aufführung veranstalten werde.«

»Martha, das ist ja fantastisch!«

Martha nickte erfreut und sah auf die Uhr. »Oh, ich muss los, Rike. Ich will noch einiges in Kloostermeed besorgen, und ins Rathaus muss ich auch.« Kloostermeed war die Kreisstadt des gleichnamigen Landkreises, zu dem auch Ruuchmoor und der nächstgrößere Ort Barkenbeek gehörten. »Richte bitte Luise aus, dass ich nachher noch auf Moorensee vorbeischaue.«

»Mach ich, bis später, Martha.« Herzlich erwiderte Frederike deren Umarmung, bevor sie am Marktplatz vorbei auf die Alte Moorkirche zusteuerte. Sie stellte ihr Fahrrad beim Pfarrhaus ab, um Pfarrer Feddersen einen Besuch abzustatten.

Gerade wollte sie an die Haustür klopfen, da sah sie Ortwin Feddersen gemeinsam mit einem Mann mittleren Alters aus der Kirche treten.

»Na, das trifft sich ja gut«, murmelte sie.

»Onkel Ortwin!« Sie winkte dem rundlichen Pfarrer fröhlich zu, während sie gemeinsam mit Lilly auf die beiden Männer zuschritt.

»Frederike!« Ein freudiges Lächeln glitt über Pastor Feddersens Gesicht. »Was für eine reizende Überraschung. Was führt dich zu mir? Hallo Lilly.« Die Hündin hatte sich gesetzt und hob ihre rechte Pfote dem Pfarrer entgegen, die dieser entzückt nahm und die Hündin sanft streichelte.

»Darf ich dir denn nicht einen spontanen Besuch abstatten?«, fragte Frederike lachend. Ortwin Feddersen war gemeinsam mit Frederikes verstorbenem Onkel Julius von Cranich aufgewachsen. Die beiden hatte eine lebenslange Freundschaft verbunden, und Frederike hatte den Pfarrer als Kind spontan als Onkel angesprochen. Ortwin Feddersen hatte Frederike damals sofort in sein Herz geschlossen und keinen Anlass darin gesehen, das Mädchen zu berichtigen.

»Natürlich darfst du das, mein Kind, natürlich.« Erfreut drückte er Frederikes Hand. »Oh, Frederike, ich möchte dir unseren neuen Küster vorstellen.« Ortwin Feddersen wandte sich dem Mann zu, der sich höflich abwartend im Hintergrund gehalten hatte. »Nathanael Klemens.«

»Frederike von Cranich.« Lächelnd ergriff sie die ausgestreckte Hand des Küsters. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Herr Klemens.«

»Die Besitzerin von Gut Moorensee, wenn ich nicht irre. Nennen Sie mich doch bitte Nathanael – die Freude ist ganz meinerseits.« Der Küster erwiderte das Lächeln.

»Gerne, wenn Sie mich Frederike nennen«, antwortete sie, überrascht vom festen Händedruck seiner eher feingliedrigen Hände. Sie schätzte Nathanael, der dezent in Dunkelgrau gekleidet war, auf ungefähr Ende vierzig.

»Aber natürlich, Frederike.« Er nickte lächelnd.

Frederike blickte in ein rundliches rotwangiges Gesicht mit blassblauen Augen und kurzen blonden Haaren, die an den Schläfen leicht ergraut waren. Seine kräftige Statur stand im Kontrast zu seinen schmalen Händen mit den langen Fingern. Trotz seiner Liebenswürdigkeit spürte Frederike eine gewisse Ernsthaftigkeit und Zurückhaltung, was sie aber nicht unsympathisch fand.

»Was für eine wundervolle Hündin«, sagte der Küster mit Blick auf Lilly.

»Ja, das ist sie.« Frederike lächelte.

»Das kann ich nur bezeugen.« Pastor Feddersen nickte.

Wie auf Kommando bellte Lilly und wedelte mit dem Schwanz, was alle zum Lachen brachte.

»Nathanael ist übrigens ein ausgezeichneter Orgelspieler.« Ortwin Feddersen brachte das Gespräch wieder auf seinen neuen Mitarbeiter zurück.

Ah ja, dachte Frederike bei sich, die feingliedrigen Hände.

»Wir werden also zukünftig musikalische Unterstützung bei unseren gottesdienstlichen Gesängen haben«, erklärte Onkel Ortwin sichtlich erfreut. »Wenn du doch nur die Chorleitung übernehmen würdest, Frederike.« Spitzbübisch zwinkerte er ihr zu. Er spielte mal wieder auf ihre frühere Tätigkeit als Musiklehrerin an.

»Ach, Onkel Ortwin«, lachte Frederike, »du weißt doch, die sakrale Musik ist nicht so meine Welt, und die eifrigste Kirchengängerin bin ich auch nicht.«

»Das weiß ich in der Tat nur zu gut.« Ortwin Feddersen stimmte in ihr Lachen ein. »Aber dein Herz und deine Seele sitzen am rechten Fleck, und das ist wertvoller als jeder Kirchgang.« Liebevoll tätschelte er ihr die Schulter.

»Nähme ich die Flügel des Morgenrots«, zitierte Nathanael andächtig, »ließe ich mich nieder am Ende des Meeres, auch dort würde deine Hand mich leiten und deine Rechte mich ergreifen. Psalm 139, 9–10.« Der Küster nickte ernsthaft.

Verblüfft starrte Frederike ihn an.

»Tja, Nathanael kennt die Bibel besser als ich.« Ortwin Feddersen schmunzelte.

»Das wage ich zu bezweifeln, Pater«, widersprach Nathanael aufrichtig.

»Wie dem auch sei, ich denke, wir haben alles so weit besprochen für den kommenden Gottesdienst, nicht wahr?«

»Aber natürlich.« Nathanael nickte. »Dürfte ich später wiederkommen und die Kirchenorgel nutzen, um die Lieder für den Gottesdienst vorzubereiten?«

»Aber selbstverständlich«, erwiderte Ortwin liebenswürdig. »Den Schlüssel zur Kirche haben Sie ja.«

»Vielen Dank, Pater. Auf Wiedersehen, Frederike.« Der Küster nickte ihr lächelnd zu. »Bis zum nächsten Mal.«

»Auf Wiedersehen, Nathanael.«

Er ging auf einen kleinen Fiat zu, der in der Nähe des Pfarrhauses geparkt war. Frederike fiel auf, dass er leicht humpelte und das rechte Bein ein wenig nachzog.

»Verkehrsunfall in seiner Jugend.« Onkel Ortwin war Frederikes Blick gefolgt. »Es gab dann wohl Komplikationen bei der Behandlung und bei der Heilung. Hat Nathanael mir selbst erzählt.« Er lächelte, als er Frederikes fragenden Blick auffing.

Der Küster fuhr langsam an ihnen vorbei und winkte ihnen noch einmal zu. Pfarrer Feddersen und Frederike winkten zurück, während sie auf das alte Pfarrhaus zu gingen.

»Wie läuft es denn so mit deinem neuen Mitarbeiter?«, erkundigte sich Frederike. »Du bist meinen Fragen bisher immer ganz geschickt ausgewichen, Onkel Ortwin. Er scheint doch sehr nett zu sein.«

»Doch, doch, das ist er wirklich. Ich gewöhne mich halt nur langsam daran, Hilfe anzunehmen und einige Aufgaben abzugeben«, seufzte der Pfarrer. »Aber ich muss gestehen, es ist ganz angenehm, ihm einige der organisatorischen und hausmeisterlichen Tätigkeiten überlassen zu können. Und dass er ein so guter Organist ist, kommt als großes Plus hinzu.« Er strahlte mit dem goldenen Kreuz, das er über seinem schwarzen Collarhemd trug, um die Wette.

»Und bibelfest ist er auch«, ergänzte Frederike.

»Ja, das ist er in der Tat«, gluckste der Pfarrer vergnügt.

»Wo wohnt Nathanael Klemens denn eigentlich?« Frederike war neugierig.

»Im Moment hat er noch ein Zimmer in Barkenbeek. Aber unser Bürgermeister lässt doch tatsächlich das alte Küsterhaus hinter der Kirche herrichten. In ein paar Tagen wird Nathanael wohl dort einziehen können.«

»Oha, dass Fiete das durchsetzen konnte, wie auch die Stelle für einen Küster. Die Gemeinde muss ein äußerst schlechtes Gewissen haben, dass du um deine Pensionierung gebracht worden bist.« Ruuchmoors Gemeinde hatte Nathanael Klemens ausdrücklich zur Unterstützung für den 81-jährigen Ortwin Feddersen eingestellt. Der Pfarrer war um seinen schon lange anstehenden Ruhestand gebracht worden, als sein Nachfolger Elias Bentrup ermordet worden war, bevor er seinen Dienst überhaupt antreten konnte. Bentrup war der einzige infrage kommende Nachfolger für Ruuchmoors langjährigen Pfarrer gewesen, und so war auf Drängen von Fiete Janssen kurzentschlossen die Stelle eines Küsters geschaffen worden, um Ortwin Feddersen zu entlasten. Viel Hoffnung hatte der Bürgermeister nicht gehabt, denn mehr als eine Teilzeitstelle gab der Etat der kleinen Gemeinde nicht her. Umso erleichterter war Fiete gewesen, als sich Nathanael Klemens auf die Stelle des Kirchendieners bewarb.

»Na ja, die Gemeinde ist wohl kaum daran schuld, was dem armen Elias Bentrup widerfahren ist«, wandte Onkel Ortwin ein.

»Das wohl nicht, aber sie sind nicht in der Lage, einen geeigneten Nachfolger für dich zu finden und lassen dich in deinem Alter noch schuften.«

»Ihr macht euch zu viele Sorgen um mich, mein Kind. Du weißt doch, Unkraut vergeht nicht.« Verschmitzt zwinkerte er ihr zu. »Und einen besonderen Schutzengel hab ich auch«, fügte er mit einem Blick gen Himmel hinzu.

»Den hast du tatsächlich.« Frederike musste an den Anschlag auf Ortwin denken, der jedoch den gewaltsamen Sturz die steile Kellertreppe hinunter ohne bleibende Schäden überlebt hatte, und das in seinem Alter.

»Wie geht es eigentlich Henrich Janssen?« Abrupt wechselte sie das Thema.

»Oh, der ist auf dem Weg in die französischen Pyrenäen, genauer gesagt zum mittelalterlichen Örtchen Saint-Jean-Pied-de-Port und dem Camino Francés.« Ortwin ließ sich die französischen Namen förmlich auf der Zunge zergehen. Er hatte schon immer ein Faible für die romanischen Sprachen gehabt.

»Camino Francés? Der Jakobsweg?«, fragte Frederike verblüfft.

»Genau der.« Ortwin nickte.

»Will er denn die ganzen achthundert Kilometer wandern?« Frederike war beeindruckt.

»Das hat er sich zumindest vorgenommen.« Der Pfarrer lächelte leise. »Ich hoffe wirklich, dass Henrich auf seiner Pilgerreise genau das findet, wonach er sucht und was er braucht.« Stolz und Zuneigung schwangen in seiner Stimme mit. »So, meine liebe Frederike.« Der Pfarrer drückte herzlich ihre Hände. »Jetzt muss ich mich auf die Suche nach meiner nächsten Sonntagspredigt machen. Die bereite ich nämlich immer noch selbst vor.«

»Das wird dir auch niemand nehmen, Onkel Ortwin.« Impulsiv umarmte Frederike den rundlichen Pfarrer.

»Dein Wort in Gottes Ohr, mein Kind.«

»Wie wär’s mal wieder mit einer Kutschfahrt?« Frederike schwang sich auf ihr Rad. »Wir sollten das milde Wetter noch ausnutzen.«

»Ach, das wäre schön! Aber nur, wenn es deine Zeit erlaubt.«

»Für dich habe ich immer Zeit. Ich ruf dich an.«

»Wunderbar.« Der Pfarrer strahlte, und Frederike winkte ihm zum Abschied zu, während sie sich mit Lilly auf den Weg machte.

Kapitel 5

»Hast du noch Lust auf einen kleinen Abstecher ins Pinkepang, Rike?« Jannes und Frederike traten nach einem vorzüglichen Abendessen aus dem italienischen Restaurant in Barkenbeek. Der kleine Familienbetrieb servierte nur originales italienisches Essen und war als eines der besten Restaurants in der Region bekannt.

»Ins Pinkepang zur Halloween-Party? Wir sind doch gar nicht passend angezogen«, wandte Frederike ein.

»Och, ich denke, die Untoten dort werden sich bestimmt über ein paar gewöhnliche Sterbliche als Opfer freuen.« Jannes grinste.

»Wenn du meinst«, lachte Frederike. »Warum nicht?«

Zehn Minuten später betraten sie das überfüllte Pinkepang und bahnten sich einen Weg durch diverse Vampire, Zombies, Geister und Hexen zur Theke. Jannes bestellte ein Bier vom Fass für Frederike, während er selbst beim alkoholfreien Bier blieb, da er noch fahren musste. Frederike ließ ihren Blick durch die dekorierte Kneipe gleiten. Spinnen und Fledermäuse verfingen sich in Spinnweben, die von der Decke hingen, leuchtende Kürbisse zierten die Tische, und präparierte Grabsteine rundeten den Gruseleffekt ab. Sogar der Glöckner von Notre-Dame war zur Party gekommen: An einem der hinteren Grabsteine stand reglos eine bucklige Gestalt in abgerissener brauner Tunika. Die Kapuze halb über das groteske einäugige Gesicht gezogen, machte die Attrappe einen täuschend echten Eindruck, dachte Frederike. Doch als die Figur sich dann plötzlich zu den Klängen der Musik bewegte, musste sie grinsen: Quasimodo war echt!

Während »Bat Out Of Hell« aus den Lautsprechern dröhnte, entdeckte Frederike Charlotte und Bärbel auf der Tanzfläche. Beide machten ihrem Namen als Moorhexen alle Ehre: Charlotte als Gothic-Zauberin in Schwarz und Olivgrün mit Spitzhut, und Bärbel als Steampunk-Hexe in Schwarz und Weinrot, ebenfalls mit Hut. Die Kommissarin tanzte ausgelassen mit einer Zombie-Piratin, die sich bei näherer Betrachtung als Mareike Petersen entpuppte. Die junge Polizeimeisterin wirkte in ihrem grau-schwarzen Kostüm mit der Säbelattrappe an der Hüfte sehr verführerisch, und Frederike fragte sich, wie lange das Katz-und-Maus-Spiel zwischen den beiden wohl noch gutgehen würde. Charlotte hatte inzwischen Frederike und Jannes entdeckt, winkte ihnen zu und zwängte sich durch die tanzenden Monster zur Theke herüber, während die Musik zum »Time Warp« aus der Rocky Horror Picture Show wechselte.

»Hey, ihr zwei.« Charlotte begrüßte die beiden gut gelaunt. »Ihr stecht ja völlig aus der untoten Menge heraus.«

»Kann man wohl sagen.« Frederike grinste. »Ich erwarte jeden Moment, einen Vampir an meinem Hals hängen zu haben.«

»Hätte ich das gewusst, wäre ich gleich als Vampir zum Essen erschienen«, witzelte Jannes, worauf Frederike ihn lachend in die Seite knuffte.

»Mensch, hab ich einen Durst!« Bärbel war zu ihnen an die Theke getreten, nahm Frederike das Bierglas aus der Hand und trank es in langen Zügen halb leer.

»Bedien dich ruhig.« Amüsiert nahm Frederike das Glas wieder entgegen.

»Tu ich doch.« Bärbel griente.

»Wo hast du denn Mareike gelassen?« Charlotte schaute sich suchend um.

»Die ist gerade nach Hause, sie hat morgen Dienst.«

»Du lässt sie um diese Zeit allein nach Hause gehen?« Charlotte starrte die Freundin entgeistert an. »Ja, ich weiß, wir sind in Ruuchmoor und sie ist Polizistin und kann sich vermutlich verteidigen, aber wer weiß, was für betrunkene Idioten gerade heute Nacht unterwegs sind.«

»Ich … äh …«, stammelte Bärbel verlegen.

»Du meine Güte, Bärbel!« Charlotte stöhnte entnervt auf. »Mareike nach Hause zu begleiten heißt doch nicht, dass du eine Beziehung mit ihr anfängst.«

»Wo sie recht hat, hat sie recht, Frau Kommissarin«, stimmte Frederike ihr mit einem Seitenblick auf Jannes zu.

»Ich geh ja schon«, murmelte Bärbel betreten, holte ihre Jacke und eilte hinaus.

»Ich halt mich da raus.« Jannes hob abwehrend die Hände.

»Wenn du schlau bist.« Frederike grinste und bestellte noch ein Bier, da Bärbel ihres fast ausgetrunken hatte. Sie blickte zur Seite und sah, wie neben Jannes ein Mönch eine verführerische Vampirin aufs Heftigste küsste. »O weia«, entfuhr es ihr.

»Was denn?«, fragte Charlotte.

Frederike wies mit dem Kopf auf den Mönch. »Jochen Krüger mal wieder auf Abwegen.«

Jannes war ihrem Blick gefolgt, rückte etwas von dem knutschenden Paar ab und runzelte die Stirn. Es war dorfbekannt, dass Jochen Krüger seine Frau Erika, die die St. Hildegard Apotheke in Ruuchmoor betrieb, fortwährend betrog. Als Versicherungsagent war er viel im Außendienst unterwegs und ließ keine Gelegenheit ungenutzt, seine Frau zu hintergehen.

»Normalerweise hat er seine Affären wenigstens außerhalb von Ruuchmoor. Muss wohl eine Touristin sein. Ich glaube kaum, dass hier noch jemand auf ihn reinfallen würde.« Charlotte schüttelte den Kopf.

»Entweder meint er, keiner würde ihn in der Mönchskutte erkennen, oder ihm ist nun auch das letzte Fünkchen Anstand in die Hose gerutscht.« Frederike wandte sich angewidert ab.

»Ich tippe auf Letzteres«, meinte Jannes trocken, während Jochen Krüger seine Hand ins Dekolleté der Vampirin gleiten ließ.

Plötzlich drängte sich ein Skelett an den drei Freunden vorbei, baute sich vor dem Mönch auf und schüttete ihm einen gefüllten Bierkrug ins Gesicht.

»Hey, verdammt, was soll das?« Jochen Krüger fuhr herum und erkannte Thomas Hansen, den Bruder seiner Frau.

»Ich wusste ja schon immer, dass du ein Dreckskerl bist«, zischte Thomas. »Aber, dass du es jetzt auch noch hier direkt in Ruuchmoor vor aller Augen treibst und deine Frau betrügst!«

»Tja, was soll ich sagen?« Jochen grinste, während er nach einer Serviette auf der Theke griff und sich ungerührt das nasse Gesicht abwischte. »Die Frauen sind halt scharf auf mich.«

»Du bist verheiratet?« Die Vampirin starrte ihn an und versetzte ihm dann eine schallende Ohrfeige, bevor sie ihre Sachen schnappte und hinausstürmte.

»He Süße, der Abend hat doch gerade erst angefangen!«, rief Jochen ihr hinterher.

»Warum Erika dich nicht endlich rausschmeißt, werde ich nie begreifen«, schleuderte Thomas Hansen seinem Schwager entgegen.

»Ach, solange ich es ihr immer noch ab und zu gut besorge, hält sie schön still.« Jochen grinste hämisch unter dem Gelächter seiner Kumpel.

»Sie sitzt zuhause und heult sich die Augen aus, du Arschloch!«, brüllte Thomas, während er die Fäuste ballte. Er war kurz davor, zu explodieren.

»Ach, lass mal gut sein, Schwägerchen.« Jochen griente breit. »Ich bringe ihr nachher ein Paket Tempos mit.«

»Ich bring dich um, du Mistkerl!« Thomas’ Rechte schnellte nach vorne und versetzte Jochen solch einen wuchtigen Kinnhaken, dass dieser halb auf der Theke landete. Wutentbrannt holte Jochen, der eindeutig schon etliche Biere getankt hatte, zum Gegenschlag aus, verfehlte Thomas jedoch um Haaresbreite, weil der sich rechtzeitig duckte und den nächsten Schlag in Jochens Gesicht landete.

»Wusst ich’s doch, dass das anonyme Geschmiere von dir ist.« Wild aufheulend traf Jochen, der um einiges kräftiger war als der schmale Thomas, seinen Schwager mitten auf die Nase. Frederike zuckte zusammen, als sie das Knirschen hörte.

Thomas Hansen, der rückwärts getaumelt war, wurde von Jannes aufgefangen und festgehalten.

»Was für ein anonymes Geschmiere?«, brüllte Thomas unter Schmerzen.

Inzwischen hatte Kalle Schmidt, der Wirt des Pinkepang, sich Jochen Krüger geschnappt.

»Dein anonymer Brief, du Arschloch!« Jochen schlug wild um sich, doch Kalle, der einen Kopf größer war und zwanzig Kilo mehr auf die Waage brachte, hielt ihn eisern fest und bugsierte ihn Richtung Tür.

»Was faselst du da für einen Scheiß?« Thomas versuchte vergeblich, sich von Jannes loszureißen. »Ich bring dich um, Jochen!«, brüllte er seinem Schwager hinterher, während ihm das Blut aus der Nase lief. »Ich bring dich um!«

»Hey, Kalle, was soll das?« Jochen starrte den Wirt aus blutunterlaufenen Augen an. »Thomas hat doch mit der Scheiße angefangen, nicht ich.«

»Ich kann nun mal Typen, die ihre Frauen mies behandeln, auf den Tod nicht ausstehen. Du hast von jetzt ab Hausverbot!« Kalle stieß Jochen hinaus auf die Straße, zog die Tür zu und ignorierte das zustimmende Gejohle und den Beifall seiner Gäste. Er gab seinem DJ ein Zeichen, die Musik wieder aufzudrehen, und begab sich zu Thomas, der inzwischen von Jannes etwas beruhigt worden war.

»Zeig mal her, Thommy.« Mit kundigen Fingern betastete der ehemalige Amateurboxer Thomas‹ blutige Nase. Der zuckte zusammen und hielt die Luft an. Seine Augen tränten vor Schmerzen.

»Ich denke, da hast du nochmal Glück gehabt. Scheint nicht gebrochen zu sein. Schaffst du’s allein nach Hause?«

»Klar«, murmelte Thomas. »Ist ja nicht weit.« Er raffte sich auf, holte seine Sachen und ging zur Tür.

»Dem hast du’s aber gezeigt, Thommy!«, riefen ihm ein paar der Gäste hinterher. »Hätt ich dir gar nicht zugetraut!«

Thomas Hansen schüttelte nur den Kopf, hob kurz die Hand und verließ das Pinkepang.

»Der kleinen Vampirin hätt ich gerne noch was ganz anderes gezeigt.« Uwe Schütte, Jochen Krügers bester Freund, kippte einen Schnaps hinunter und grinste schmierig.

»Du kannst gleich deinem Kumpel hinterher, Freundchen!« Kalle, der inzwischen wieder hinter der Theke stand, hatte Uwes anzügliche Bemerkung gehört. Oskar Braun, ebenfalls ein enger Freund Jochens, stieß Uwe warnend in die Seite.

»Mensch, Kalle, nun hab dich doch nicht so«, maulte Uwe und zog belämmert den Kopf ein.

»Dann spar dir deine sexistischen Sprüche, Uwe.«

»Schon gut, schon gut«, murmelte der.

Entnervt schüttelte Kalle den Kopf und wandte sich wieder dem Bierzapfhahn zu.

»Puh.« Jannes atmete tief durch. »Manchmal schäme ich mich echt für meine Geschlechtsgenossen.«

»Glücklicherweise gibt es ja auch Exemplare wie dich und Kalle.« Frederike lächelte ihn an.

Sichtlich erfreut erwiderte Jannes Frederikes Lächeln.

»Ja, aber suchen muss frau euch schon wie Stecknadeln im Heuhaufen«, witzelte Charlotte und stieß mit Frederike an. Sie ließ den Blick durchs Pinkepang gleiten. Die Tanzfläche war wieder voll, und die bunte Monsterschar grölte zu »Highway to Hell«. Der Zwischenfall schien schon wieder vergessen.

»Na, was hab ich versäumt?« Bärbel war zurück und bestellte sich ein Bier.

»Och, nichts weiter.« Frederike nahm genüsslich einen Schluck. Ihre grünen Augen blitzten schelmisch. »Nur eine Schlägerei und ein paar Morddrohungen.«

Kapitel 6

Am Montagmorgen belieferte Frederike Petersens wie gewöhnlich mit frischen Eiern und saisonalem Obst und Gemüse, bevor sie weiter zur Apotheke am Ruuchmoorer Marktplatz ging.

Sie drückte die Messingklinke der schweren Eichentür – die getreue Nachbildung einer historischen Vorlage im Jugendstil – hinunter und betrat die St. Hildegard Apotheke.

»… dass du dir immer noch solche Sorgen um den Dreckskerl machst, Erika, und ihn nicht endlich einfach rausschmeißt.« Verständnislos schüttelte Thomas Hansen den Kopf.

»Moin Erika, moin Thomas. Wie geht’s deiner Nase?«, fragte Frederike.