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Frederike von Cranich übernimmt nach dem plötzlichen Tod ihres Onkels seinen Gutshof in Ruuchmoor, einem idyllischen Dorf im Teufelsmoor. Unterstützt von ihren Freundinnen Charlotte und Bärbel, der Haushälterin Luise und den liebenswerten – wenn auch zuweilen schrägen Ruuchmoorern - beginnt Frederike ihr neues Leben. Das beschauliche Landleben auf Gut Moorensee wird jäh gestört, als in der Nähe der Klosterruine Überreste eines menschlichen Skeletts entdeckt werden.
Die Ermittlungen der Polizei führen jedoch ins Leere. Kurz darauf wird der Nachfolger des Gemeindepfarrers Ortwin Feddersen tödlich von einem Pfeil getroffen und ganz Ruuchmoor steht unter Schock. Wieder steht die Polizei vor einem Rätsel: Es fehlen jegliche Spur zu Täter und Motiv. Entschlossen beginnt Frederike eigene Nachforschungen anzustellen. Dabei kommt die eigenwillige Gutsbesitzerin dem Mörder gefährlich nah …
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Seitenzahl: 287
Frederike von Cranich übernimmt nach dem plötzlichen Tod ihres Onkels seinen Gutshof in Ruuchmoor, einem idyllischen Dorf im Teufelsmoor. Unterstützt von ihren Freundinnen Charlotte und Bärbel, der Haushälterin Luise und den liebenswerten – wenn auch zuweilen schrägen Ruuchmoorern - beginnt Frederike ihr neues Leben. Das beschauliche Landleben auf Gut Moorensee wird jäh gestört, als in der Nähe der Klosterruine Überreste eines menschlichen Skeletts entdeckt werden.
Die Ermittlungen der Polizei führen jedoch ins Leere. Kurz darauf wird der Nachfolger des Gemeindepfarrers Ortwin Feddersen tödlich von einem Pfeil getroffen und ganz Ruuchmoor steht unter Schock. Wieder steht die Polizei vor einem Rätsel: Es fehlen jegliche Spur zu Täter und Motiv.
Kurz entschlossen beginnt Frederike eigene Nachforschungen anzustellen. Dabei kommt die eigenwillige Gutsbesitzerin dem Mörder gefährlich nah …
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Nina Holldorf
Der Tote von Ruuchmoor (Nur bei uns!)
Ein Teufelsmoor Krimi
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
Informationen zum Buch
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Widmung
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Impressum
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Für Gisela und Heidi, die immer für mich da sind
Ein drohendes Grollen fuhr wie ein Beben durch die schwere feuchtwarme Luft, und der aufkommende Wind ließ das Laubwerk der Bäume erzittern. Den Jackenkragen hochgeschlagen und die Mütze tief ins Gesicht gezogen, eilte eine vermummte Gestalt über den verlassenen Marktplatz und sah hinauf in den sich rasch verdunkelnden Himmel. Ein Blitz durchriss die dunkelblauen Wolkentürme, und die ersten Regentropfen fielen, als sie eine Tür öffnete und die Alte Moorkirche betrat. Keinen Moment zu früh, denn jetzt entlud sich das Gewitter, und der Regen peitschte auf das alte Gemäuer ein. Die Gestalt verharrte einen Moment und atmete tief durch, während sie den Blick durch die menschenleere Kirche gleiten ließ.
Der Regen würde auch die letzten Spuren beseitigen, dachte sie, während sie zum Beichtstuhl ging, die hölzerne, mit kunstvollem Schnitzwerk versehene Tür öffnete und hinter sich wieder schloss. Mit gesenktem Kopf kniete sie nieder und vermied dabei den Blick durch die vergitterte Öffnung der Trennwand.
»Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes«, sagte sie leise mit dunkler Stimme, während sie sich bekreuzigte.
»Gott, der unser Herz erleuchtet, schenke dir wahre Erkenntnis deiner Sünden und seiner Barmherzigkeit. Amen«, antwortete der Pfarrer. »Wann war deine letzte Beichte?«
»Ich … ich weiß nicht …«
»Wie kann ich dir helfen?«
»Niemand kann mir helfen«, stieß die Gestalt heiser hervor.
»Was führt dich dann zu mir?«, entgegnete der Pfarrer ruhig.
»Die schlimmste aller Sünden, Pater.«
»Und welche ist das, mein Sohn?«
»Ich habe getötet. Ich habe einen Menschen ermordet.«
Noch immer hielt die Gestalt den Kopf gesenkt, das Gesicht unter der Mütze verborgen.
»Bereust du deine Tat?«
»Ich … ja, natürlich bereue ich, was ich getan habe, wäre ich sonst hier?« Fast trotzig schlugen dem Priester die Worte entgegen.
»Lass mich dir helfen. Wie …«
»Ich sagte doch, niemand kann mir helfen.« Ein tiefer Seufzer. »Es war ein Fehler, hierherzukommen.«
Noch immer goss es in Strömen, als die Gestalt aus der Kirche stürmte und mit gesenktem Blick durch die menschenleeren Straßen lief.
Der Regen wird alle Spuren beseitigen. Der Regen wird alle Spuren beseitigen …
»Noch ’n Kaffee, Rike?«
»Ja, gerne.«
Luise schenkte Frederike und sich Kaffee nach. Sie saßen auf der Eckbank in der gemütlichen Wohnküche.
»Wo ist Hinnerk eigentlich? Hab ihn draußen gar nicht gesehen«, fragte Frederike.
Jetzt, nachdem sie gegessen hatte, fühlte sie sich ein wenig besser. Sie hatte nicht gedacht, dass sie überhaupt etwas hinunterbekommen würde; der Schock über den plötzlichen Tod ihres Onkels saß noch immer tief. Aber nach den ersten Bissen hatte sie gemerkt, wie gut ihr das Essen tat.
»Der is nach Kloostermeed gefahren, um Material für die Ausbesserungen am Hühnerstall und den Zaun zu besorgen«, antwortete Luise. »Er wollte eigentlich auf dich warten, aber dann meinte er, du würdest ihm die Hucke vollhauen, wenn den Hühnern das Dach auf die Köpfe fällt und sie sich womöglich auf Wanderschaft begeben.«
Frederike musste lächeln. »Ja, ich hab gesehen, dass er angefangen hat, Stall und Gehege auszubessern.«
Luise, seit Urzeiten die Haushälterin und gute Seele im Hause von Frederikes alleinstehendem Onkel Julius von Cranich, musterte Frederike einen Augenblick lang. Dann griff sie in ihre Schürzentasche und legte verstohlen einen versiegelten Umschlag auf den Tisch.
Stumm sah Frederike die kräftige blonde Frau an und griff dann zögernd nach dem Brief. Auf dem Umschlag stand in der großzügigen Handschrift ihres Onkels: Frederike von Cranich.
»Der Herr Julius hat mir den Brief schon vor etlichen Monaten zur Aufbewahrung gegeben«, erklärte Luise. »Kurz nachdem du nach Kanada rüber bist.«
Frederike nickte. Sie drehte den Brief um und musste unwillkürlich lächeln. Onkel Julius hatte das alte Familiensiegel benutzt, von dem Frederike als Kind so fasziniert gewesen war. Jeder Brief, den sie hier in Ruuchmoor auf Gut Moorensee, einem kleinen niedersächsischen Hof im Teufelsmoor, während der Schulferien geschrieben hatte, musste damit versiegelt werden. Sogar die Postkarten wurden mit den verschnörkelten Familieninitialen verziert.
Doch jetzt war Julius von Cranich nicht mehr da.
Unvermutet war ihr Onkel, der sein Leben lang vor Gesundheit gestrotzt und Ärzte wie auch Krankenhäuser immer gemieden hatte, im Alter von einundachtzig Jahren einem Herzinfarkt erlegen.
Frederike kniff die Augen zusammen, um die aufkommenden Tränen zurückzuhalten. Vorsichtig brach sie das Siegel und begann zu lesen.
Meine liebe Frederike,
wenn Du diese Zeilen liest, habe ich mich meiner sterblichen Hülle entledigt, und meine Seele hat sich auf Wanderschaft begeben – wer weiß, wo ich noch landen werde?
Als wir beide vor vielen Jahren bei Deinem ersten Besuch – Du musst damals ungefähr sechs Jahre alt gewesen sein – unseren alten Kater Felix begraben haben, hast Du mich gefragt, was denn mit uns passiert, wenn wir sterben. Du hast so bitterlich geweint, und ich erinnere mich noch genau, dass Du darauf bestanden hast, dem Felix ein Kissen mit ins Grab zu legen, damit er es auch schön bequem hat. Wenn ich mich recht entsinne, antwortete ich Dir, dass der Körper eines jeden von uns – egal, ob Mensch oder Tier – vergänglich sei, und wir alle uns früher oder später von dem Leben, das wir kennen, verabschieden müssten. Aber unsere Seele sei dann frei von all ihren körperlichen Beschränkungen und könne reisen, wohin sie auch mag. Das schien Dich etwas zu trösten in Deinem Schmerz.
Schon damals liefen Dir alle Tiere auf dem Hof hinterher – und nicht nur die. Du bist ein regelrechter Magnet für Tiere, Rike. Was für eine wunderbare Gabe!
Mit Deinem ersten Besuch damals hast Du mein Leben von Grund auf verändert. Jeglicher Groll, den ich gegen Alexander, Deinen Vater, hegte, schmolz wie Schnee in der Sonne. Wie konnte ich meinem Bruder böse sein, wenn er doch maßgeblich daran beteiligt war, Dich in mein Leben zu bringen? Viele Jahre sind seitdem vergangen. Unzählige gemeinsame Ausritte und Spaziergänge, Ruderfahrten auf dem Moorensee und Diskussionen über Gott und die Welt bis tief in die Nacht hinein. Nicht eine Sekunde möchte ich davon missen, auch nicht die, in denen wir uns hitzig auseinandersetzten.
Sei nicht traurig, Rike. Ich hatte ein gutes, ja ein schönes und erfülltes Leben. Ich habe genau das Leben geführt, das ich immer wollte, und Du, mein Kind, hast es umso reicher gemacht.
Nur eines möchte ich von Dir: Brich niemals dein Versprechen, das Du mir vor Deiner Abreise nach Kanada gegeben hast, nämlich Dein Leben genauso zu leben, wie Du es willst. Egal, wie oder mit wem – solange Du Dir selbst treu bleibst.
Ein Teil von mir wird immer bei Dir sein und Dir zur Seite stehen, bis wir uns dann irgendwann wieder begegnen – aber lass Dir damit bitte noch recht viel Zeit!
Dein Onkel Julius
PS: Fast hätte ich es vergessen: Gut Moorensee vermache ich natürlich Dir.
Blind vor Tränen starrte Frederike auf die soeben gelesenen Zeilen. Sie holte zitternd Luft. »Onkel Julius hat mir Gut Moorensee hinterlassen.«
»Natürlich hat er das, Kindchen.« Luise drückte Frederikes Hand. »Ich werde ihn auch schrecklich vermissen.«
Frederike nickte. Dann ließ sie ihren Tränen freien Lauf.
Frederike stieß das Flügelfenster auf und ließ die frische Morgenluft herein. Sie atmete tief durch. Die ersten Sonnenstrahlen brachen durch das Dickicht der Bäume im Gutsgarten und versprachen einen vollkommenen Maitag. Rasch schnappte sie sich ihre Lieblingsreithose aus dem Schrank und flocht ihre widerspenstigen roten Locken zu einem losen Zopf.
»Verdammt«, murmelte sie, als sie ihre Hose schloss. Anscheinend hatte ihr die Zeit in Kanada nicht nur eine willkommene Abwechslung beschert, sondern auch ein paar Pfunde extra. Fast ein Jahr war sie in British Columbia, an der Westküste Kanadas, gewesen. Sie hatte Freunde auf Salt Spring Island – eine der schönsten Inseln der Southern Gulf Islands – besucht, und dort ein kleines Cottage gemietet. Frederike hatte diese Zeit sehr genossen, und die räumliche Trennung hatte ihr gutgetan.
Entnervt blies sie die Wangen auf und atmete tief aus. Glücklicherweise verteilten die Extrapfunde sich gleichmäßig auf ihre mittelgroße Statur. Na ja, mit über vierzig ließ sich halt nicht mehr so ungestraft schlemmen wie mit fünfundzwanzig.
Über eine Woche war Frederike jetzt schon auf Gut Moorensee. Gemeinsam mit Luise hatte sie die Trauerfeier für ihren Onkel in der Dorfkirche überstanden. Julius von Cranich hatte sein ganzes Leben hier verbracht und war in der Gemeinde gleichermaßen beliebt und respektiert gewesen. Dementsprechend hatte Frederike den Freunden ihres Onkels und den Bewohnern von Ruuchmoor einen letzten Abschied nicht verwehren können, obgleich sie sich lieber vor der offiziellen Feier gedrückt hätte. Sie war restlos erleichtert, dass diese nun hinter ihr lag.
Ihr Blick fiel auf die alten Holzmöbel in ihrem großzügig angelegten Zimmer. Es war urgemütlich, und der originale stuckverzierte Kamin mit dem hohen Sims verstärkte die anheimelnde Atmosphäre noch.
Die meisten der elf Räume des T-förmig angelegten Gutshauses verfügten auch heute noch über einen Kamin oder Kachelofen. Julius von Cranich hatte im Laufe der Jahre ein Heizungssystem nachrüsten und das unter Denkmalschutz stehende Fachwerkhaus so gut wie möglich sanieren lassen. Der Charakter des um 1800 erbauten Anwesens war jedoch geblieben. Gut Moorensee gehörte zwar mit seinen vierhundert Quadratmetern Wohnfläche zu den kleineren Gutshäusern, jedoch hatte es immer mehr als genug Platz für die Familie von Cranich geboten.
Die Stufen der breit geschwungenen Holztreppe knarrten unter Frederikes Füßen, als sie ins Erdgeschoss hinablief.
»Moin, Rike.« Luises Blick ging zur Wanduhr, als Frederike die Küche betrat. »Schon so früh auf den Beinen? Is doch erst halb sieben.«
»Ich dachte, ich schnapp mir die Lise und mache einen Morgenausritt, bevor ich mich dem Ernst des Lebens stelle«, antwortete Frederike lächelnd.
»Gute Idee.« Luise nickte und riss das Küchenfenster auf. »Hinnerk! Hinnerk! Mensch, sitzt der mal wieder auf seinen Ohren.« Sie schüttelte den Kopf. »Hinnerk, nu mach schon und beweg deinen Hintern!«
»Jo, was gibt’s denn, Luise?« Hinnerk kam aus dem Hühnerstall getrottet.
»Mach mal die Lise fertig. Frederike will ausreiten.«
»Nee, Hinnerk, lass mal sein.« Frederike zwängte sich neben Luise ans Fenster. »Ich mach das schon. Du hast genug zu tun, und ich sattle Lise gerne selbst.«
»Ganz wie Se wünschen, Fräulein Frederike.« Hinnerk verschwand wieder im Hühnerstall.
»›Fräulein Frederike‹, wie kommt der denn auf so was?« Frederike schüttelte den Kopf, während sie sich an den Küchentisch setzte. »Hinnerk hat mich doch sonst immer geduzt. Woher kommt dieser plötzliche Sinneswandel?«
»Na ja« – Luise schenkte Frederike eine Tasse Tee ein –, »bisher warst du halt die Nichte vom Herrn Julius. Jetzt bist du die Besitzerin von Gut Moorensee und seine Chefin. Das is wohl jetzt erst richtig in seinen Schädel gesickert.«
»Oh je«, seufzte Frederike. »Na, das Fräulein werde ich ihm schon wieder austreiben.«
»Denn mal viel Glück damit.« Amüsiert sah Luise sie an. »Du kennst doch unsern Hinnerk. So ‹nen alten Dickschädel gibt‹s nich noch mal. Wenn der sich erst mal was in den Kopf gesetzt hat, flutscht das nich so leicht wieder raus.«
»Ich lass mir schon was einfallen.«
»Hier, koste mal.« Luise reichte Frederike ein Glas Honig. »Das is der neue Frühlingsblütenhonig von der Imkerei Hinrichs. Charlotte hat vor ein paar Monaten die Imkerei und den Hofladen von ihren Großeltern übernommen, wie du ja sicherlich weißt. Is kräftig dabei, das Sortiment aufzumischen und neue Rezepte zu entwickeln.«
Frederike tauchte den Teelöffel in den hellen, cremigen Honig und probierte.
»Mhm, nicht schlecht.« Sie rührte den restlichen Honig in ihren Tee. »Ungewöhnlich herber Nachgeschmack. Gefällt mir. Ich werde gleich mal einen kleinen Abstecher zu Charlotte machen; sie wollte gestern Abend aus der Fränkischen Schweiz zurückkommen.«
Charlotte Hinrichs, ein Jahr jünger als Frederike, war ihre beste und älteste Freundin. Sie war nach dem frühen Tod ihrer Eltern bei den Großeltern in Ruuchmoor aufgewachsen, und die beiden Freundinnen hatten alle Ferien, die Frederike bei ihrem Onkel auf Gut Moorensee verbracht hatte, genutzt, um Ruuchmoor und seine Umgebung unsicher zu machen.
Frederike leerte ihre Teetasse und stand auf. »Ich bin in spätestens zwei Stunden zurück.«
»Aber du hast ja gar nichts gegessen, Rike.«
»Hab noch keinen Hunger, Luise. Ich esse später, wenn ich zurückkomme.«
Frederike ging hinaus auf die Diele und schlüpfte in ihre Reitstiefel. Sie verließ das Haus durch den Haupteingang und trat auf den Hof. Die frühe Morgensonne warf einen warmen Schimmer auf das rotbraune Klinker-Fachwerk des Reetdachhauses mit seinen Gaubenfenstern im oberen Geschoss, und die mächtigen Fliederbüsche links vom Gebäude öffneten ihre ersten Blüten. Gut Moorensees weitläufiges Grundstück lag etwas erhöht und war von alten Buchen und Eichen umschlossen, was dem Anwesen eine ganz besondere Idylle verlieh. Frederikes Blick fiel auf die von Kastanienbäumen umsäumte Gutsauffahrt, die in einen halbrunden Vorhof mündete, von dem rechts Scheune und Stallungen abgingen. Links wand sich ein geschwungener Pfad am Haus vorbei in den üppigen Bauerngarten mit dem alten, aber intakten Pavillon. Von dort aus führte ein kleiner berankter Laubengang direkt zur zweiflügeligen Tür des Wohnzimmers. Die Gutsküche im gegenüberliegenden Flügel des Hauses besaß einen Zugang zum Obst- und Gemüsegarten.
Während Frederike am Hühnerstall mit dem großen Freigehege vorbeischritt, winkte sie Hinnerk Lüschen zu, der mit den letzten Reparaturarbeiten am Zaun beschäftigt war. Der gutmütige Landarbeiter war schon als Siebzehnjähriger auf den Hof von Julius von Cranich gekommen und verrichtete nach wie vor alle möglichen Arbeiten, die auf dem Besitz anfielen. Wie auch Luise war Hinnerk der Arbeit und dem Leben auf dem Hof in all den Jahren treu geblieben. Gut Moorensee ohne die beiden war für Frederike einfach unvorstellbar.
Nachdem sie Putzbox, Zaumzeug und Sattel aus der Sattelkammer geholt hatte, schlenderte Frederike an dem weitläufigen Obst- und Gemüsegarten vorbei, der nun in Luises und ihr Ressort fiel, und beschleunigte dann ihre Schritte, um zur Pferdeweide zu kommen. Die letzte Woche war recht hektisch gewesen, so dass sie keine Zeit gefunden hatte, sich ausgiebig mit Lise zu beschäftigen, geschweige denn mit ihr auszureiten.
Die elfjährige Oldenburger Fuchsstute, ein Geschenk ihres Onkels zu ihrem fünfunddreißigsten Geburtstag, hörte auf zu grasen und hob ihren Kopf. Sie löste sich aus der Gruppe der anderen Pferde und trabte auf Frederike zu, die durch das Weidengatter getreten war. Lises sanftes Wiehern ging in ein Blubbern und Brummeln über, während sie den Hals streckte und ihre Nase in die Höhe hob, um sich von Frederike kraulen zu lassen. Die Augen halb geschlossen und die Oberlippe vorgestülpt, stieß sie ein wohliges Schnauben aus. Frederike lachte leise und schmiegte ihre Wange an den Kopf der Stute. Sanft blies Lise ihr ins Ohr.
»Na komm, dann wollen wir mal.«
Nachdem Frederike die Fuchsstute geputzt und gesattelt hatte, führte sie Lise von der Weide, saß auf und ritt über den Hinterhof an der Scheune vorbei. Ein kleiner Wiesenpfad führte in eine Waldschneise, und Reiterin und Pferd fielen in einen leichten Trab. Frederike passierte den versteckten Seitenweg, der zum abseits gelegenen Moorensee führte. Kurz darauf öffnete sich die Schneise in einen breiten, sandigen Feldweg. Keine Menschenseele weit und breit, nur vereinzeltes Vogelgezwitscher und links und rechts der leuchtende Raps, der in voller Blüte stand. Für einen Moment verlor Frederike sich in dem Anblick der strahlend gelben Wogen. Sie sog den intensiven Rapsgeruch in sich auf. Die Natur schien so unberührt und harmonisch, und ein tiefes Glücksgefühl stieg in ihr auf. In diesem Augenblick gab es keinen Ort, an dem sie lieber hätte sein mögen.
Frederike beugte sich vor und schmiegte sich an den Hals der Stute. »Du hast ja keine Ahnung, wie sehr ich dich vermisst habe«, wisperte sie und schloss für einen Moment die Augen, bevor sie sich wieder aufrichtete. Sie verlagerte ihr Gewicht, gab mit den Zügeln ein wenig nach und galoppierte an.
Pferd und Reiterin waren ein eingespieltes Team, und Frederike spürte den freudigen Drang der Stute. Sie ließ die Zügel lang und trieb Lise an. Die Stute schien nur darauf gewartet zu haben. Im Jagdgalopp flogen sie über den sandigen Boden.
Als sich der Feldweg verengte, drosselte Frederike das Tempo wieder und wandte sich an der nächsten Gabelung nach links. Kurze Zeit später tauchte die Ruuchmoorer Landstraße vor ihnen auf. Im Schritt schlug Frederike mit Lise die Richtung zum Dorf ein. Die Straße war in der Regel nur wenig befahren, und auch an diesem Morgen schlummerte die Baumallee friedlich im Licht der Morgensonne. Rechts tauchte ein kleines Straßenschild auf: Im Eichengrund.
Plötzlich kam ein alter dunkler Jeep aus dem Wiesenpfad herausgeschossen und schnitt Reiterin und Pferd den Weg ab. Lise scheute aufgebracht zur Seite.
»Ho, Lise, ho.« Frederike musste all ihr Können aufbieten, um die Stute zu beruhigen und im Sattel zu bleiben.
»Verdammter Idiot«, fluchte sie hinter dem Jeep her, der jetzt die Landstraße in Richtung Kloostermeed hinunterraste. Nur mühsam widerstand sie dem aberwitzigen Impuls, dem Fahrer hinterher zu preschen, um ihn zur Rede zu stellen.
»Schon gut, meine Süße, schon gut«, beschwichtigte Frederike die Fuchsstute, die immer noch aufgebracht schnaubte. Erst als sie sich wieder beruhigt hatte, setzten sie ihren Weg fort. Gemächlich trotteten sie den Wiesenweg entlang an ein paar vereinzelten Gehöften vorbei, bis auf der linken Seite ein etwas verwittertes Schild auftauchte: Imkerei & Hofladen Hinrichs – alles Gute aus der Natur.
Frederike trieb Lise zu einem leichten Trab an, und sie ritten auf den Hof. Eine schlanke blonde Frau in Frederikes Alter legte die rechte Hand über die Augen, um sie vor der Sonne abzuschirmen, und ließ dann überrascht den Eimer in ihrer Linken fallen.
Frederike glitt aus dem Sattel, während die Frau auf sie zu stürmte.
»Rike, Mensch, was freu ich mich, dich zu sehen!« Charlotte Hinrichs umarmte ihre alte Freundin. Lachend erwiderte Frederike die Umarmung.
»Und dich natürlich auch, Lise.« Sanft streichelte Charlotte die Stute am Hals.
»Rike, es tut mir so leid wegen Julius – er wird uns allen so schrecklich fehlen. Wie schade, dass ich bei der Trauerfeier nicht dabei sein konnte, aber ich bin erst letzte Nacht zurückgekommen. Ich war in der Fränkischen Schweiz bei Tante Guste, wie ich dir ja geschrieben hatte.«
»Wie geht’s ihr denn?«, fragte Frederike rasch, um nicht über ihren Onkel sprechen zu müssen. Tante Guste war die jüngere Schwester von Charlottes Großmutter.
Charlotte kannte ihre Freundin gut genug, um auf ihren Themawechsel einzugehen. »Ach, ehrlich gesagt … Ich weiß einfach nicht, was ich mit ihr machen soll. Sie fühlt sich schrecklich einsam seit dem Tod ihres Mannes und kann sich zu nichts aufraffen. Aber zu uns ziehen will sie auch nicht.«
»Ist das Kriegsbeil zwischen deiner Großmutter und deiner Tante denn immer noch nicht begraben?«
»Ach, die reden doch schon seit Jahren nicht mehr richtig miteinander. Das ist auch der Grund, warum Tante Guste sich weigert, hierherzuziehen«, seufzte Charlotte entnervt. »Genug Platz hätten wir schließlich.«
»Worum ging es noch mal bei dem Streit?«
Frederike kraulte Lise zwischen den Ohren und schmunzelte, als die Stute ihren Kopf senkte, damit Frederike besser an sie herankam.
»Ich glaube, das wissen die beiden selbst nicht mehr so genau«, sagte Charlotte und lachte. »Das liegt schon Ewigkeiten zurück. Aber beide sind solche Dickköpfe, und keine will nachgeben. Dabei denke ich, dass sie eigentlich nichts lieber täten, als sich endlich zu versöhnen. Aber auch das geben sie natürlich nicht zu.« Sie schüttelte den Kopf und wechselte nun ihrerseits das Thema. »Hab ich dir eigentlich schon erzählt, dass ich die große Scheune zu einem Gästehaus umbauen will?«
»Im Ernst? Ihr wollt tatsächlich die Touristenbranche unsicher machen?«, witzelte Frederike.
»Na ja …« Charlotte wischte sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht. »Ein zusätzliches Nebeneinkommen wäre schon nicht schlecht. Ich muss schließlich so einiges in Haus und Hof investieren.«
»Ja, das hattest du mir geschrieben. Du hast ja jetzt Hof und Imkerei ganz übernommen. Wie läuft’s denn?«, wollte Frederike wissen.
»Ach, prima. Du weißt ja, meine Großeltern und ich ergänzen uns gut, bis auf die eine oder andere Kabbelei«, antwortete Charlotte und lächelte. »Sie helfen immer noch mit, wo sie nur können.«
Frederike schaute auf ihre Armbanduhr. »Ach du Schreck, ich muss los. Ich hab einen Termin mit Paul Lazek. Es gibt noch einiges wegen Gut Moorensee zu besprechen.«
»Alles klar, Rike.« Charlotte nickte. »Wann hast du denn mal Zeit, dass wir uns so richtig bei einer Flasche Wein ausquatschen können? Du musst unbedingt von Kanada erzählen und« – Charlotte hielt inne und beäugte ihre Freundin kritisch – »warum du ganz offensichtlich ein paar Kilos zugelegt hast, meine Liebe.«
»Ich und zugelegt?« Fredrike grinste. »Wahrscheinlich komme ich besonders früh in die Wechseljahre«, witzelte sie, und ihre grünen Augen funkelten spitzbübisch.
»Wechseljahre, soso«, spottete Charlotte. »Wohl eher zu viel Chips und Rotwein, hm?«
»Füge dem noch mittelmäßiges kanadisches Brot und Käse hinzu, und die Rechnung geht auf«, ergänzte Frederike lachend. »Wie gut du mich doch kennst. Ach, was habe ich dich und deine unverblümte Ehrlichkeit vermisst.«
»Na klar, wozu sind beste Freundinnen denn da?«, feixte Charlotte.
»Nie wurden weisere Worte gesprochen.« Frederike lachte. »Wie wär’s mit Donnerstagabend? Da sollte ich den Kopf wieder einigermaßen frei haben.«
»Passt prima. Ich sag auch Bärbel Bescheid, dann können wir drei endlich wieder so richtig zusammenglucken«, erklärte Charlotte.
»Bärbel ist hier?«
»Ja, sie feiert gerade ein paar Überstunden ab.«
»Mensch, klasse!« Frederike strahlte.
Bärbel Witznisch war die Dritte im Bund der alten Freundinnen. Sie war wie Charlotte in Ruuchmoor aufgewachsen, hatte jedoch eine Laufbahn bei der Polizei eingeschlagen und war vor zwanzig Jahren nach Berlin gezogen.
»Um acht bei mir?« Frederike schwang sich in den Sattel.
»Okay. Bärbel und ich bringen den Wein. Ach, Rike, was bin ich froh, dass du wieder hier bist!« Charlotte lächelte.
»Ich auch, Charlotte, ich auch.« Frederike drückte rasch die Hand ihrer Freundin und erwiderte das Lächeln. Dann schnalzte sie mit der Zunge und machte sich mit Lise auf den Heimweg.
»Gut Moorensee ist schuldenfrei.« Paul Lazek schaute Frederike über seine Brillengläser hinweg an. »Und bis auf die zehn Hektar Land, die noch dazugehören, hat Julius die gesamten Ländereien schon vor Jahren verkauft.«
»Ich weiß.« Frederike nickte.
Sie saßen im Büro des Notars und alten Freundes ihres Onkels. Paul, ein paar Jahre jünger als Julius von Cranich, hatte sich bereits vor einiger Zeit zur Ruhe gesetzt. Nur für eine Handvoll enger Freunde übte er noch gelegentlich seinen Beruf aus.
»Dein Onkel hat den Erlös vom Verkauf der Ländereien angelegt und in den vergangenen Jahren weitgehend unangetastet gelassen.« Paul Lazek fuhr sich durch die dichten weißen Haare und verstummte. Gedankenverloren nahm er die Brille ab und rieb sich die Nase, die ein bisschen kurz wirkte in seinem länglichen schmalen Gesicht. Er schloss für einen Moment die Augen, dann räusperte er sich.
»Alles in allem befindet sich das Gut in einem passablen Zustand. Dein Onkel hat dir genügend finanzielle Mittel hinterlassen, um Luises und Hinnerks Gehälter für mindestens ein Jahr zu bestreiten. Und auch für den Unterhalt des Gutes und für dich sollte noch für eine Weile genügend abfallen. Aber dann könnten die Reserven knapp werden.« Paul sah sie nachdenklich an. Er wusste, dass Gut Moorensee ihr viel bedeutete. »Willst du in deinen alten Beruf zurückgehen, Frederike?«
»Was, als Lehrerin?«
Paul nickte.
»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ursprünglich hatte ich tatsächlich darüber nachgedacht, aber alles ist noch so frisch. Onkel Julius, das Gut …« Frederike stockte. »Ich stehe immer noch etwas unter Schock und fühle mich ein wenig überwältigt von …« Ihre Stimme brach. Als sie sich wieder ein wenig gefasst hatte, fuhr sie fort: »Ich muss über all das noch mal gründlich nachdenken. Vielleicht könnte ich das Haus meiner Eltern weitervermieten, oder sogar verkaufen …« Nachdenklich runzelte sie die Stirn. Ihre Eltern, die nach einem schweren Autounfall nicht mehr selbst für sich hatten sorgen können, waren vor einem Jahr kurz nacheinander gestorben und hatten ihrer Tochter das kleine Einfamilienhaus in Hamburg hinterlassen. Frederike hatte die beiden bis zuletzt gepflegt und sich dann eine Auszeit in Kanada genommen, um Abstand zu gewinnen und zur Ruhe zu kommen. Mit den Mieteinnahmen des Elternhauses hatte sie sich gerade so über Wasser halten können.
»Ich könnte dir beim Verkauf des Hauses behilflich sein, wenn du möchtest«, bot Paul Lazek an.
»Das wäre tatsächlich eine große Hilfe für mich«, sagte Frederike erleichtert. »Ich habe überhaupt keine Ahnung von diesen Dingen.«
»Ich weiß.« Paul schmunzelte.
Ihre Blicke trafen sich. Frederike wusste, dass der Tod ihres Onkels auch dessen Freund tief getroffen und ein großes Loch in seinem Leben hinterlassen hatte. Im stillen Einvernehmen lächelten sie einander an.
»Lass mich wissen, wie du dich entscheidest und weiter vorgehen möchtest, Frederike.«
»Das mach ich, Paul.« Sie nickte. »So schnell wie möglich.«
Frederike öffnete ihr Zimmerfenster, und die laue Abendluft schlug ihr entgegen. Sie atmete tief durch. Pfarrer Feddersen hatte eben angerufen, um die letzten Details der Urnenbeisetzung ihres Onkels zu besprechen. Die Beisetzung sollte auf Julius von Cranichs Wunsch hin im kleinsten Kreis stattfinden. Nur Frederike, Luise Putzow, Hinnerk Lüschen und Paul Lazek würden an der Bestattung auf dem privaten Familienfriedhof von Gut Moorensee teilnehmen. Ortwin Feddersen würde die Abschiedszeremonie leiten, weniger jedoch in seiner Funktion als Ruuchmoors Gemeindepfarrer, sondern vielmehr als langjähriger Freund des Verstorbenen.
Sie seufzte. Der Verlust ihres Onkel und die Anspannung der letzten Tage erschwerten es ihr, ihre Gedanken und Gefühle zu ordnen.
Es klopfte an die Zimmertür.
»Ja?« Frederike drehte sich um. »Komm ruhig rein, Luise.«
Die Haushälterin schob ihren Kopf ins Zimmer. »Ich dachte, du könntest noch einen kleinen Gute-Nacht-Trunk vertragen.« Sie trat ein und stellte ein Tablett mit Weinglas und Karaffe auf den Tisch.
Frederike lachte. »Du konntest schon immer meine Gedanken lesen.« Ihre grünen Augen blitzten.
»Dein Lieblingsroter.« Luise grinste verschmitzt.
»Vielen Dank!« Spontan umarmte Frederike die blonde Frau, die sie um einen halben Kopf überragte. »Mensch, was bin ich froh, dass ich dich hab!«
»Was de nich sagst, Kindchen, daran werd ich dich bei Gelegenheit erinnern.« Luise zwinkerte ihr zu. »Schlaf schön.«
»Du auch.«
Luise lächelte ihr noch einmal zu und schloss die Tür hinter sich. Sie bewohnte ein geräumiges Zimmer mit eigenem Bad im anderen Flügel des Hauses.
Frederike schenkte sich ein Glas Wein ein und trat zurück ans Fenster. Nachdenklich schaute sie hinaus in den Garten. In der hereinbrechenden Nacht konnte sie gerade noch den alten Pavillon inmitten der Pfingstrosen und Lupinen ausfindig machen. Der Flieder im Gutsgarten verströmte einen Hauch von Zimt und Zitrone und mischte sich mit dem süßlichen Duft der Maiglöckchen und dem erdigen Aroma frisch gejäteter Blumenbeete. Der Wonnemonat Mai hielt, was er versprach, zumindest wettermäßig.
Frederike schloss für einen Moment die Augen. Gut Moorensee. Wie viele glückliche Sommer sie hier verbracht hatte. Die Gutsanlage war schon immer im Besitz der Familie von Cranich gewesen. Alexander von Cranich – Frederikes Vater und der jüngere Bruder ihres Onkels – hatte allerdings keinerlei Interesse am Landleben verspürt und dem Hof und seiner Familie schon früh nach einer letzten Auseinandersetzung den Rücken gekehrt.
Stirnrunzelnd drehte Frederike das Glas in ihrer Hand. Wie unterschiedlich die beiden Brüder doch gewesen waren. Im Gegensatz zu Alexander war Julius von Cranich sein Leben lang tief mit der Natur und dem Land, das er besaß, verbunden gewesen. Erst nach vielen Jahren der Entfremdung hatten sich die beiden Brüder schließlich wieder vorsichtig einander angenähert. Danach war Frederike, die damals noch klein gewesen war, regelmäßig mit ihren Eltern nach Ruuchmoor gekommen, um Julius von Cranich zu besuchen. Mit zwölf reiste sie dann auch allein ins Teufelsmoor und verbrachte bald jeden Sommer und möglichst auch die anderen Schulferien bei ihrem Onkel auf Gut Moorensee. Auch während ihres Studiums war sie, wann immer es ging, ebenfalls auf dem Gut anzutreffen gewesen und hatte auf dem Hof ausgeholfen. Sie hatte sich einfach rettungslos in dieses Fleckchen Erde verliebt, und mit der Zeit entwickelte sich eine tiefe Verbundenheit zwischen Julius von Cranich und seiner Nichte.
Langsam öffnete Frederike die Augen. Die Anwesenheit ihres Onkels auf Gut Moorensee war noch allgegenwärtig. Sie empfand dies als sehr tröstend, und es schien das Gefühl des schmerzhaften Verlusts etwas zu mildern. Ein neues Gefühl breitete sich in ihr aus und drang tief in sie ein. Die Anspannung fiel von Frederike ab, und sie begriff mit ihrem ganzen Sein, dass nun wahrhaftig all dies ihr gehörte: Gut Moorensee mit Haus, Land und Tieren. All die Schönheit dieses Fleckchens Erde – aber auch die Verantwortung für den Besitz und die Menschen, die für ihn sorgten. Menschen, deren Leben eng mit dem Gut verwoben waren und die ihr viel bedeuteten.
Frederike atmete tief durch und straffte die Schultern. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen: Ihr Leben, ihre Welt waren hier auf Gut Moorensee. Dies war ihr Zuhause, und so war es schon immer gewesen, seit sie das Gut im Alter von sechs Jahren zum ersten Mal betreten hatte.
Sie nahm einen tiefen Schluck von ihrem Rotwein und wandte sich vom Fenster ab. Ihr Blick fiel auf das Bett, und sie musste lächeln, als sie Janosch, Onkel Julius’ Lieblingskater, dort eingekuschelt auf ihrer Bettdecke liegen sah. Jetzt öffnete er träge seine grünen Augen und schien zu ihr hinüberzublinzeln. Er gähnte herzhaft, streckte sich und miaute dezent, aber vorwurfsvoll.
»Ja, ich komm gleich ins Bett, Janosch.« Frederike lachte leise.
Beim Klang ihrer Stimme begann der Tigerkater zu schnurren und rollte sich beruhigt wieder ein.
Frederike leerte ihr Glas. Gleich morgen früh würde sie Paul Lazek anrufen und ihn bitten, ihr beim Verkauf ihres Elternhauses behilflich zu sein.
»Und du bleibst jetzt wirklich und wahrhaftig hier, Rike, und gehst nicht zurück nach Hamburg?« Charlotte schaute die Freundin fragend an.
»Yes, Ma’am!« Bekräftigend hob Frederike ihr Weinglas und nahm einen Schluck. »Wirklich und wahrhaftig.«
Charlotte, Bärbel und sie saßen in der Gutsküche und waren inzwischen bei der zweiten Flasche Wein angelangt. Die erste war recht schnell geleert worden, während Frederike den beiden Freundinnen von ihrer Zeit in Kanada berichtet hatte.
»Mensch, darauf müssen wir unbedingt anstoßen.« Charlotte strahlte und hob ebenfalls ihr Glas.
»Hey, wartet!«, rief Bärbel. »Ich hab auch Neuigkeiten für euch.« Ihre blauen Augen leuchteten, als Frederike und Charlotte sie erwartungsvoll ansahen.
»Nicht sagen – ich weiß!« Frederike hob die Hand und stellte ihr Weinglas ab. »Du hast endlich die Frau fürs Leben gefunden.«
Charlotte grölte, während Bärbel nach dem Stuhlkissen griff und es lachend nach Frederike warf.
»Nee, viel besser.« Bärbel grinste.
»Besser?«, flachste Frederike. »Was könnte besser sein als du und deine Herzallerliebste im trauten Heim allein …«
»Ich komme zurück nach Ruuchmoor«, unterbrach Bärbel ihr Geplänkel.
»Nee, echt?« Charlotte starrte sie ungläubig an.
»Ja.« Bärbel nickte.
»Mensch, klasse!«, jubelte Frederike. »Aber, Moment mal – was wird denn dann aus deiner Karriere als Kriminalhauptkommissarin Witznisch in Berlin?«
»Die wird sich dann wohl als Polizeihauptkommissarin Witznisch in Ruuchmoor zufriedengeben müssen«, lachte Bärbel. »Nee, ganz ehrlich, ich habe die Großstadt einfach satt. Zwanzig Jahre sind mehr als genug, und die letzten Jahre bei der Mordkommission waren … mehr als stressig.« Bärbel fuhr sich durch die kurz geschnittenen dunklen Haare. »Außerdem bin ich es leid, ständig meine Blutphobie verstecken zu müssen.«
Frederike stützte ihr Kinn auf die Hand und betrachtete die Freundin nachdenklich. Bärbels sonst so jugendliches herzförmiges Gesicht mit den ausdrucksvollen blauen Augen wirkte abgespannt. Ein Jahr älter als Frederike selbst, war Bärbel die Einzige von den drei Freundinnen, die beruflich Karriere gemacht hatte. Dass ausgerechnet sie als Kriminalbeamtin kein Blut sehen konnte, schien geradezu absurd. Ihre Phobie hatte sich paradoxerweise allerdings erst während ihrer Arbeit als Kommissarin entwickelt.
»Warte mal«, warf Charlotte ein, während sie sich eine Handvoll Erdnüsse schnappte. »Sag bloß, du übernimmst die Stelle vom alten Klosterhuber – der geht doch jetzt in Pension.«
Otto Klosterhuber war der Leiter der winzigen Polizeistation in Ruuchmoor. Äußerst rüstig für seine siebzig Jahre, hatte er sich schweren Herzens dazu entschlossen, nun doch in den Ruhestand zu treten.
»Ja.« Bärbel grinste. »Vor euch sitzt die neue Staatsgewalt von Ruuchmoor.«
»Nicht zu fassen!«, rief Frederike und lachte.
»Mensch, ich glaub’s ja nicht!«, freute sich auch Charlotte. »Wir drei endlich wieder zusammen.«
»Also, Mädels, da muss eine Flasche Schampus her, Rotwein genügt da nicht.« Frederike war schon aufgesprungen, da klopfte es an der Küchentür, und Luise steckte ihren Kopf herein.
»Hab ich da was von Champagner gehört?« Die Wirtschafterin grinste. »Wie gut, dass ich vorsichtshalber zwei Flaschen kalt gestellt habe.«
»Luise, du bist einfach unersetzlich!« Lachend zog Frederike sie in die Küche. »Stell dir vor« – sie schnappte sich die Champagnerflasche aus dem Kühlschrank und stieß die Tür mit dem Fuß zu –, »Bärbel zieht zurück nach Ruuchmoor. Sie übernimmt den Posten vom alten Klosterhuber.«
»Was du nich sagst.« Luise strahlte Bärbel an, während sie die Gläser aus dem Schrank holte. »Wird aber auch Zeit, dass du endlich wieder nach Hause kommst, Mädchen.«
»Weißt du, was das bedeutet, Luise?«, fragte Charlotte. Ihre braunen Augen blitzten übermütig.
»Na klar weiß ich das. Die drei Moorhexen werden wieder die Gegend unsicher machen, so wie früher.«
Die Freundinnen grölten, während Frederike den Korken knallen ließ und die Gläser füllte.