Der Mann, der nicht vergessen konnte - Trude Teige - E-Book
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Der Mann, der nicht vergessen konnte E-Book

Trude Teige

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Beschreibung

Ein tödliches Familiendrama auf Norwegisch.

Die Journalistin Kajsa möchte eigentlich etwas kürzertreten, doch auf einem stillgelegten Bauernhof bei Oslo wird ein Mann tot aufgefunden, der vor einigen Jahren ins Ausland ausgewandert war. Nun scheint er schwerkrank zurückgekehrt zu sein, um auf dem elterlichen Hof seinem Leben ein Ende zu setzen. In unmittelbarer Umgebung des Hofs finden sich jedoch rätselhafte Spuren – steckt hinter diesem Fall mehr, als es scheint? Kajsa beginnt zu recherchieren …

Beste Spannung von einer internationalen Bestsellerautorin.

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Seitenzahl: 323

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Über das Buch

Obwohl die Journalistin Kajsa Coren nur noch freiberuflich tätig ist, lässt ihr ein Fall keine Ruhe: In der Nähe ihres neuen Zuhauses nahe Oslo wird auf einem alten Bauernhof ein Mann tot aufgefunden. Schon seit einigen Jahren lebte der Sohn der früheren Hofbesitzer im Ausland, doch nun scheint er sich todkrank auf dem Hof das Leben genommen zu haben. Kajsas Neugier wird geweckt, als sich ihre eigene Arbeit an einer Dokumentation mit den polizeilichen Ermittlungen kreuzt, und dann werden unerklärliche Spuren in einer Scheune des Bauernhofes gefunden – das Blut einer zweiten Person, aber keine Leiche. Was ist auf dem Hof geschehen?

Über Trude Teige

Trude Teige, Jahrgang 1960, war Journalistin und gehört zu den erfolgreichsten Krimiautoren Norwegens. Im Aufbau Taschenbuch liegen ebenfalls ihre Kriminalromane „Das Mädchen, das schwieg“, „Die Frau, die verschwand“ und „Totensommer“ vor.  

Gabriele Haefs übersetzt aus dem Dänischen, Englischen, Niederländischen und Walisischen, u. a. Werke von Jostein Gaarder und Håkan Nesser. Sie lebt in Hamburg.

Andreas Brunstermann übersetzt Romane und Sachbücher aus dem Norwegischen und Englischen. Er lebt in Berlin.

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Trude Teige

Der Mann, der nicht vergessen konnte

Kriminalroman

Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs und Andreas Brunstermann

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Freitag, 13. April 2018

I

Kapitel 1 — Zwei Tage früher.

Kapitel 2 — Ein Tag zuvor.

Kapitel 3 — Freitag, 13. April

Kapitel 4

Kapitel 5 — Montag, 16. April

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8 — Dienstag, 17. April

Kapitel 9

II

Kapitel 10 — Mittwoch, 9. Mai

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14 — Donnerstag, 10. Mai

III

Kapitel 15 — Freitag, 11. Mai

Kapitel 16

Kapitel 17 — Samstag, 12. Mai

Kapitel 18 — Montag, 14. Mai

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24 — Dienstag, 15. Mai

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

IV

Kapitel 28 — Dienstag, 22. Mai

Kapitel 29 — Mittwoch, 23. Mai

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32 — Donnerstag, 24. Mai

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37 — Freitag, 25. Mai

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

V

Kapitel 42 — Samstag, 26. Mai

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45 — Montag, 28. Mai

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

VI

Kapitel 52 — Dienstag, 29. Mai

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63 — Mittwoch, 30. Mai

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

VII

Kapitel 72 — Donnerstag, 31. Mai

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76 — Dienstag, 5. Juni

Kapitel 77 — Mittwoch, 6. Juni

VIII

Kapitel 78 — Polizeipräsidium Oslo

Kapitel 79

Impressum

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Freitag, 13. April 2018

Ein kühler Wind strich durch die Luft, als der Mann nach dem Riegel an der niedrigen, schiefen Tür zum Erdkeller griff. Die Angeln kreischten, dann betrat er den Keller. Die Zeit hatte stillgestanden, das sah er im Licht der Taschenlampe. Die Bänke, der Tisch, alles war so wie in seiner Erinnerung: In einer Holzkiste lagen noch immer Brettspiele und Spielkarten sowie eine Schachtel Streichhölzer und einige Kerzen. Er zündete eine an, schaltete die Taschenlampe aus und wartete.

Nach zwei Minuten glaubte er, etwas zu hören. Er starrte zur Tür hinüber. War da jemand, raschelte es im Gestrüpp?

Ein Schatten tauchte auf, grüßte, als hätten sie einander erst am Vortag getroffen.

»Du bist gekommen.«

»Natürlich«, erhielt er zur Antwort.

»Bist du bereit?«

»Unbedingt.«

»Dann bin ich froh, ich brauche dich mehr, als du dir vorstellen kannst.«

»Wieso denn?«

»Ich bin krank.«

»Was fehlt dir?«

Der andere winkte ab. »Darüber können wir immer noch reden, jetzt sind andere Dinge wichtiger. Ich habe alles geplant, und die Vorrichtung ist bereits montiert.«

»Was für eine Vorrichtung?«

»Die wir brauchen werden, um sie festzuschnallen. Komm jetzt mit zur Scheune, dann zeige ich dir alles.«

I

1

Zwei Tage früher.

Mittwoch, 11. April 2018

Der frischgebackene Justiz-, Bereitschafts- und Einwanderungsminister sprang aus dem schwarzen Auto, sobald es vor dem Parlamentsgebäude hielt. Er hatte sein Amt vor etwas mehr als einem Monat angetreten, und ihm stand nun eine Fragestunde bevor. Die Rednertribüne des Parlaments war ihm vertraut, er war nicht nervös, sondern guter Stimmung. Er war seit acht Jahren und hundertachtundsiebzig Tagen Parlamentsabgeordneter gewesen, als er beim Staatsrat vom König die Ernennungsurkunde erhielt, und nun betrat er das Parlament als einer der dienstjüngsten Minister des Landes.

Weil seine Vorgängerin seiner Meinung nach zu wenig Feingefühl und Verständnis für Rhetorik an den Tag gelegt hatte, hatte die Ministerpräsidentin im Kabinett Veränderungen vornehmen müssen. Eine hatte darin bestanden, die Rechtsliberalen zum Verzicht auf das Justizministerium zu zwingen. Die Ministerpräsidentin wollte mehr Kontrolle, vor allem über den Bereich der Einwanderung, und deshalb sollte dieser spezielle Posten an jemanden aus ihrer eigenen Partei gehen, dem sie Vertrauen entgegenbrachte. Das Wichtigste war nun, das Verhältnis zwischen Regierung und Opposition zu reparieren, nach den Vorwürfen, die die ehemalige Justizministerin dem politischen Gegner gemacht hatte, wie, dass der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei die Rechte von Terroristen höher bewerte als die nationale Sicherheit. Sie hatte sogar behauptet, der Vorsitzende der Sozialdemokraten wolle die Meinungsfreiheit knebeln, während sie sich als tapfere Barrikadenkämpferin für grundlegende demokratische Werte darstellte. Und dann hatte sie eine Aussage folgen lassen, die sie auf ein höheres Niveau heben sollte als andere Politikerinnen und Politiker: »Ich werde niemals eine Politikerin wie alle anderen sein. Ich werde ich selbst sein.« Roar Brekk war es unbegreiflich, dass eine, die ganz oben angekommen war, sich so unklug verhielt und nicht begreifen konnte, dass eben die Tatsache, dass sie sie selbst war, ihr größtes Problem darstellte. Politik war Zusammenarbeit und kein Egotrip.

Jemand musste die Aufräumarbeiten übernehmen, das politische Gleichgewicht wiederherstellen – und diese Aufgabe war ihm übertragen worden.

Die Ministerpräsidentin hatte ihn bereits 2013 in die Regierung holen wollen. Und obwohl er einen Ministerposten angestrebt hatte, hatte er dankend abgelehnt und war stattdessen zum Fraktionsvorsitzenden seiner Partei aufgerückt. Das war eine wichtige Position, und dabei wurde nicht so gründlich untersucht, ob etwas an seiner Lebensführung ihn für dieses Amt ungeeignet machen könnte.

Aber diesmal hatte er sich überreden lassen, hatte angefangen, sich zu freuen und zu entspannen, hatte gespürt, dass er diesmal die richtige Entscheidung getroffen hatte. Bis am Vortag die Mitteilung auf seinem Mobiltelefon eingelaufen war. Er hatte als Minister ein neues, vom Sicherheitsdienst überprüftes Gerät erhalten, aber die Mitteilung war auf seinem privaten Handy eingetickert und kam von einer ausländischen Nummer. Als er sich bei der Auslandsauskunft erkundigt hatte, hatte er erfahren, dass die Nummer einem Mann in Australien gehörte. Er kannte niemanden in Australien, der Name sagte ihm nichts.

Die Rache ist des Gerechten. Ich kenne dein altes, düsteres Geheimnis. Gruß, der Rächer.

Er versuchte die Unruhe zu verdrängen, zog den Schlipsknoten gerade und konzentrierte sich darauf, was er auf der Rednertribüne des Parlaments sagen wollte. Die Presseloge würde voll besetzt sein, denn das hier wäre sein erster Auftritt als Minister.

Roar Brekk schloss einen Knopf an seinem dunkelblauen Sakko und grüßte die Wächter, als er die Sicherheitsschleuse passierte, dann ging er weiter durch den engen Gang mit der Kuppeldecke, bog nach rechts ab und machte sich an die fünfundvierzig Treppenstufen hoch zur Wandelhalle. Er zählte im Gehen die Stufen, das war eine seiner Macken, so, wie er auch Fenster an Hausfassaden zählte.

Brekk war sich darüber im Klaren, dass bei Ministerwechseln mehr oder weniger kluge Köpfe in allen politischen Redaktionen versuchten, den neuen Ministern Dreck am Stecken nachzuweisen. Als seine eigene Ernennung bekannt gegeben worden war, hatten die Chefredakteure die Redaktionssitzungen garantiert mit den Worten eröffnet: »Gebt mir irgendeinen Dreck im Leben von Roar Brekk!«

Sie würden aber keinen finden. Er hatte alles getan, um sich abzusichern.

Diese verdammte Mitteilung. Stammte die von ihr? War sie nach Australien gegangen? Aber telefonische Bedrohungen, nein, dazu war sie nicht fähig, das glaubte er nicht.

Die Rache ist des Gerechten. War das nicht aus der Bibel? Bei diesem Gedanken krampfte sich sein Magen zusammen. Als er den Fuß auf die letzte Stufe setzte, fiel sein Blick auf eine NRK-Journalistin, die sich aus einem der roten Ledersessel am Rand der Wandelhalle erhob und ihm zuwinkte. Er tat so, als habe er sie nicht gesehen, strich sich seine blonden Haare aus der Stirn – die waren zu lang geworden, er würde sie sich bald schneiden lassen müssen  – und lief mit raschen Schritten durch den langen Korridor, vorbei am Büro der Parlamentsdirektorin, bog nach links ab, steigerte sein Tempo im zur Akersgate gelegenen Gang und rettete sich dann in den Ministersaal, wohin ihm die Presse nicht folgen durfte. Er hatte diese Leute noch nie leiden können. Sie waren Hyänen.

Auf dem langen, ovalen Besprechungstisch standen Getränke; er goss sich ein Glas Mineralwasser ein und leerte es in einem Zug, während er am Fenster stand und hinausschaute.

Zunächst hatte er Jura studiert und einige Jahre als Anwalt gearbeitet, ehe er in die Politik gegangen war. Er war zur Politik geboren, hatte alles, was dazugehörte, und Small Talk lag ihm ebenso wie politische Verhandlungen und Debatten. Dennoch hatte er 2013 das Angebot eines Ministerpostens ausgeschlagen – er hatte das Risiko nicht eingehen wollen.

Diesmal hatte die Ministerpräsidentin kein Nein akzeptiert. »Die meisten träumen von einem Anruf von mir. Gibt es etwas, das du mir nicht erzählt hast, von dem du fürchtest, dass es gegen dich verwendet werden könnte?«, hatte sie gefragt.

Er hatte gelacht. Nein, das nun wirklich nicht.

Danach hatte er mit seinem ehemaligen Kollegen und guten Freund Frank Johansen gesprochen. Er hatte die Lage geschildert und um Rat gebeten. Aussage gegen Aussage, keinerlei Beweise, hatte Frank gesagt. Das Problem war jedoch, dass jetzt, nach dieser vermaledeiten MeToo-Kampagne, alle den Frauen glaubten. Männer, die Beschuldigungen ausgesetzt wurden, konnten sich kaum verteidigen. In dem Augenblick, in dem die Presse davon erfuhr, war man erledigt, auch wenn man nichts verbrochen, sondern sich nur saublöd aufgeführt hatte. Es gebe zwei Alternativen, hatte Frank gemeint: keinen Posten annehmen, der dich ins Rampenlicht rückt und damit zur Zielscheibe macht, oder das Problem entfernen. Die Wahrheit ist käuflich, hatte er hinzugefügt.

Ihm hatten beide Alternativen missfallen. Es ging ihm wider die Natur, sich von solchen ehrkränkenden Anklagen freizukaufen. Sie hatte mitgemacht, hatte es gern ein bisschen grob gehabt. Was hätte er tun sollen?

Nachdem er sich die Sache überlegt hatte, war er zu dem Schluss gekommen, dass ihm die erste Alternative am meisten missfiel. Diesmal wollte er den Posten, und er war absolut nicht der Erste, den Frank von alten – und neuen – Anklagen befreit hatte.

Nein, die Mitteilung stammte garantiert nicht von ihr. Sie wusste sehr gut, dass er erbarmungslos vorgehen würde, wenn sie ihm nun den Dolch in den Rücken stieße.

Er beugte sich vor und musterte einen Mann vom Sicherheitsdienst, der vor dem Eingang auf der Straße stand und eine Zigarette rauchte. Der MeToo-Skandal war vielen voll ins Gesicht geknallt und hatte schwerwiegende Konsequenzen nach sich gezogen. Die politischen Parteien hatten Untersuchungen und Ermittlungen eingeleitet, hatten die bestraft, die zu weit gegangen waren. Das alles war maßlos übertrieben gewesen, so sah er das. Was hatte sich der stellvertretende Vorsitzende der Sozialdemokraten denn überhaupt zuschulden kommen lassen? Er war viele Jahre Single gewesen, wie Brekk selbst, hatte Ausschau gehalten, war vielleicht ein bisschen zudringlich geworden, aber wem war das nicht passiert? Jetzt hatte die Partei ihm alle Ehre und Macht genommen. Und die Parteiführung hatte den Frauen geglaubt, noch ehe der Mann sich dazu hatte äußern können. Was war denn mit seiner Rechtssicherheit?

Bei den Rechtsliberalen hatten sie die Warnzeichen völlig unterschätzt. Tatsache war seiner Meinung nach, dass die Enthüllungen hier von viel schwerer wiegender Art waren. Einer ihrer Abgeordneten hatte einer Vierzehnjährigen einen Dreier vorgeschlagen und pornografisches Material verbreitet. Es war seltsam, wie wenig Aufmerksamkeit das erregt hatte im Vergleich zu der Behauptung, der ranghohe Sozialdemokrat habe auf einer Reise nach Indien einer Frau die Zunge in den Hals gesteckt.

Die vielen Schlagzeilen hatten ihn jeden Morgen mit rasendem Puls aufwachen lassen. Genau wie dann, wenn das Display seines Telefons die Nummer des Generalsekretärs seiner Partei zeigte. Alle Welt konnte doch schließlich Behauptungen aufstellen, die enorme Folgen haben würden, egal, ob sie nun der Wahrheit entsprachen oder nicht. In seinem Kopf erschienen Journalisten als Aktivisten und nicht als objektive Vermittler von auf Tatsachen beruhender Information.

Machtkampf, dachte er. Ging es hier darum? Fing der Kampf um die Übernahme des Parteivorsitzes bereits jetzt an? Bei diesem Gedanken beruhigte er sich. Doch, das konnte eine plausible Erklärung für die Nachricht sein. Und davor hatte er keine Angst. Leere Drohungen, mehr war das nicht.

Niemand soll mir in die Quere kommen, verdammt.

Er stellte das Glas weg und verließ gerade den Ministersaal, als er hörte, dass zum Beginn der Fragestunde geläutet wurde. Verdammte SMS. Er rieb sich eilig die Schläfe, verspürte einen stechenden Schmerz, wusste jedoch nicht, ob es sich um einsetzende Kopfschmerzen handelte oder ob daran der Gedanke schuld war, den er nicht denken wollte und der sich trotzdem in sein Bewusstsein stahl. Ich kenne dein altes, düsteres Geheimnis.

Alt.

Das machte ihm zu schaffen.

Wie alt?

Und wer zum Teufel war der Rächer?

2

Ein Tag zuvor.

Donnerstag, 12. April

Er lud sich den schweren Rucksack auf und stieg langsam den Weg hoch, blieb stehen und schaute sich um, ehe er auf den schmalen Kiesweg zum Hof abbog. Die Bäume am Wegesrand standen dicht an dicht, aber durch die winterkahlen Äste und den Wildwuchs konnte er Wohnhaus und Scheune erahnen. Es war zwar schon April, aber noch immer waren die Felder fast überall vom Schnee bedeckt. Am Wegesrand hatten sich einige Leberblümchen aus der gefrorenen Erde freigekämpft und leuchteten zwischen schmutzigem Schnee und winterblassem Gras.

Früher einmal war die Scheune rot angestrichen gewesen, jetzt war sie vor Verwitterung braun geworden. Vor dem Scheunenaufgang, wo der Weg abflachte und eine Biegung machte, blieb er stehen und betrachtete das Haus. Auch hier hatte die Zeit ihr Werk getan: Hinter einem zerbrochenen Fenster im ersten Stock hing ein zerfetzter Vorhang wie ein dünner, farbloser Lappen, und vom Balkon war fast nichts mehr vorhanden. Das Haus hatte ein Schrägdach. Die Haustür vorn in der Mitte war mit Brettern zugenagelt, aber die Platte, die das Wohnzimmerfenster verdeckt hatte, war heruntergefallen, und eine Fensterscheibe war zerbrochen. Er ging weiter bis zur Küchentür, die sich zu den weiten Feldern hinter dem Haus öffnete. Sein Puls beschleunigte sich, als er die beiden Treppenstufen hochstieg und die Platte vor dem Türfenster packte. Würde er das Haus betreten können? Doch, die Platte war leicht zu entfernen. Er hob einen Stein auf und schlug das Fenster ein, tastete dahinter mit der Hand umher, drehte das Schnappschloss, zog die Tür zu sich hin, blieb dann aber stehen. Ein harscher Geruch schlug ihm entgegen, der Gestank von altem Staub, Schimmel, Katzenpisse und unbewohntem Haus. Er presste sich die Hand auf Mund und Nase, plötzlich war ihm schlecht und er fror, er blieb einen Moment stehen, dann befestigte er die Spanplatte wieder vor dem Fenster, holte tief Luft und trat über die Schwelle.

Fromme Menschen gingen zur Beichte, ließen sich die Letzte Ölung erteilen, baten, wenn ihr letztes Stündlein näher rückte, um Vergebung für alles Dumme, was sie getan oder unterlassen hatten. Er hatte keine solche religiösen Bedürfnisse. Aber in ihm war etwas herangewachsen, das Ähnlichkeit damit hatte; ein zur Besessenheit werdender Drang, sich zu rächen. Hinter ihm lag eine lange Reise, und diese Reise würde bald zu Ende sein. In all diesen Jahren hatte er nicht ein einziges Mal gedacht, dass sein Leben hier enden würde, ausgerechnet hier. Aber die Zeit heilte keine Wunden. Keine einzige. Er hatte alles versucht, um sich mit der Vergangenheit auszusöhnen: Leugnen, Verdrängen, Lügen und Flucht.

Das Einzige, was noch ausstand, war Vergeltung.

Alle Zimmer waren eiskalt. Er drückte auf den Lichtschalter im Gang, doch nichts passierte. Er blieb in der Türöffnung stehen und schaute sich im Licht des nicht bedeckten eingeschlagenen Fensters um. An den Wänden befand sich eine Tapete in einem undefinierbaren Beigeton. An einer Wand hingen Familienbilder, ein gestickter Glockenstrang aus Stramin, zwei Gemälde über einem grauen Sofa mit kleinen Lampen auf jeder Seite. Davor stand ein großes Buffet mit Bleiglas in den Türen, daneben ein kleiner Tisch zwischen zwei dunkelroten Sesseln. Im Fach unter der Tischplatte lagen zwei alte Zeitungen. Er warf einen Blick darauf, sie stammten aus dem Jahr 2000. Vor einem Ofen stand ein Korb voller Holzscheite, als sei alles dafür vorbereitet, dass jemand hereinkam, um sich aufzuwärmen.

In der Küche lagen überall Gegenstände herum: Zeitungen, Papier, Küchengeräte, Kochtöpfe, Teller, Gläser und ein Stapel alter, ungeöffneter Konservendosen. An einigen Stellen lagen kleine Haufen aus Mäusekot. Für einen Moment musterte er eine Reitpeitsche, die neben der Küchentür an der Wand hing. Dann nahm er sie herunter, wog sie in der Hand, ehe er sie zurückhängte und anfing, seinen Rucksack auszupacken; einen Primuskocher, den er auf den Küchentisch stellte, einige Konservendosen, einen Kanister mit Mineralwasser. Er zündete den Gaskocher an, nahm einen Topf aus dem Schrank und füllte ihn mit Wasser. Während er darauf wartete, dass das Wasser kochte, fischte er eine Packung französischer Zigaretten aus seiner Jackentasche. Der kräftige Geruch füllte den Raum. Als das Wasser zu kochen begann, goss er es in eine Wärmflasche, rollte auf dem Sofa im Wohnzimmer einen Schlafsack aus und schob die Wärmflasche hin. Dann ging er zurück in die Küche und nahm eine Packung Haarfärbemittel aus dem Rucksack, las die Gebrauchsanweisung sorgfältig, mischte den Inhalt, verteilte ihn gleichmäßig in seinen Haaren, rauchte noch eine Zigarette, während er wartete. Als das Mittel lange genug eingezogen war, spülte er es mit Wasser aus dem Kanister aus seinem Schopf. Er schaute in den Spiegel, der über dem Spülbecken hing. Seine hellen Haare waren verschwunden, hatten eine dunkelblonde Färbung angenommen.

Er war müde nach der langen Reise, der Reise dieses Tages, der Reise jedes Tages. Sein ganzes Leben war von Rastlosigkeit geprägt gewesen. Jetzt verspürte er eine Ruhe, sie war langsam in ihm aufgestiegen, zusammen mit diesem Bedürfnis, die Rechnung zu begleichen.

Überall auf der Welt gab es Menschen, die gern zurückschlagen wollten, mit so viel Schmerz zurückzahlen, wie ihnen selbst zugefügt worden war. Das Leben war wie eine altmodische Waage: In beiden Schalen musste gleich viel liegen, um das Gleichgewicht zu halten. Seine Waage hing schief, aber er würde dafür sorgen, dass die Balance hergestellt würde.

Ehe er dieses Jammertal verließ, würde die Vergeltung den Druck wegnehmen, der so viele Jahre lang auf seiner Brust gelastet hatte.

Gibt es irgendwo jemanden, der an mich denkt? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wenn jemand ihm zu nahegekommen war, war er weitergezogen. Niemals hatte er erzählt, wohin er ging oder weshalb. Nur selten war es vorgekommen, dass er sich nach Normalität gesehnt hatte, einem etablierten Leben, nach Sesshaftigkeit, Frau, Kindern, Schwiegereltern, guten Freunden, einer dauerhaften Arbeit …

Jetzt war es jedenfalls zu spät, um etwas an seinem Leben zu ändern.

Er wusste, wer schuld daran war, dass alles so anders geworden war, als er es sich erträumt hatte. Und jetzt würden sie büßen müssen.

Er packte eine Packung Tabletten aus und schluckte zwei mit einem Schluck Wasser hinunter. Ohne Jacke oder Mütze abzulegen, kroch er in den Schlafsack, schob sich die Wärmflasche zwischen die Beine. An der Wand gegenüber hingen ein Familienbild und zwei Porträts, Konfirmationsbilder von einem Jungen und einem Mädchen. Alle Fotos waren verschossen, sie hatten jetzt einen grünlichen Stich. Der Junge sah schelmisch aus. Das Mädchen war hübsch, hatte eine Pagenfrisur, war blond mit hellen Augen. Ihr Gesicht war ernst, sie schaute schräg nach oben, ins Licht, das sie von der Seite her traf.

Nach zwei Stunden stand er auf. Er folgte einem Weg durch die Felder, am Waldrand entlang, vorbei an einer Gärtnerei, bis zu den Häusern auf der anderen Seite, wo er auf die Straße zum Ortskern abbog. In einem Sportgeschäft kaufte er einen Fahrradhelm, und im Baumarkt fand er eine fünf Millimeter dicke Allzweckleine aus achtsträhnigem Polyester sowie vier rostfreie Vertäuungsringe, einen Hammer und einige lange, kräftige Nägel, eine Rolle schwarzer Plastiksäcke und Klebeband. In der Bibliothek im Erdgeschoss des Kulturhauses setzte er sich weiter hinten im Raum an einen Computer. Es war kaum jemand hier, nur einige halbwüchsige Jungen saßen auf einem Sofa und redeten leise miteinander. Er ließ sich von der Frau am Informationsschalter ein Blatt Papier geben und saß lange davor, machte Notizen, dachte gründlich nach, ehe er etwas aufschrieb. Danach suchte er sich im Netz Artikel heraus, sah sich die Bilder gründlich an. Viele Jahre lang hatte er das Leben der anderen verfolgt, egal, wo in der Welt er sich aufgehalten hatte. Er beugte sich vor und studierte ein Bild des neuen Justizministers, am Tag seiner Amtseinführung mit breitem Lächeln.

Das Grinsen werde ich dir austreiben, dachte er. Du wirst der Erste sein. Und der Letzte.

Nachdem er ins Haus zurückgekehrt war, bedeckte er das zerbrochene Wohnzimmerfenster mit einem Plastiksack. Dann kochte er wieder Wasser, füllte die Wärmflasche ein weiteres Mal und legte sich in den Schlafsack.

Das Einschlafen fiel ihm schwer, die Schmerzen quälten ihn, die Pillen wirkten jeden Tag weniger. Aus der Dunkelheit traten Gesichter und Geräusche hervor. Jemand schrie im ersten Stock, und aus der Küche waren Peitschenhiebe zu hören. Eine Frau setzte sich in einen der roten Sessel, er sah sie ganz deutlich, sie weinte. Ein Mann kam herein und ging im Raum hin und her, fluchte, gestikulierte, redete laut. Ein kleiner Junge lief zu der Frau, setzte sich auf ihren Schoß, schmiegte sich an sie, und sie streichelte seine Haare.

Er füllte eine Spritze mit Flüssigkeit aus einer kleinen Ampulle und injizierte sie in eine Ader in seinem Arm. Bald kam sein Atem zur Ruhe, und langsam wurde alles ausgewischt, was gewesen war.

Er erwachte gegen zwei Uhr nachts. Eine Weile blieb er auf dem Rücken liegen und schaute hinaus in die Dunkelheit, dann fasste er einen Entschluss, nahm Taschenlampe und Einkaufstüte, ging mit entschiedenen Schritten über den Hofplatz zur Scheune und öffnete die Tür. Die Zeit war knapp, und er hatte viel zu erledigen. Viele Jahre voller Einsamkeit hatten ihn abgehärtet. Hierherzukommen war sein letztes Ziel im Leben. Erst würde er sich rächen, dann könnte der Tod kommen, wie eine endgültige Befreiung.

Er setzte den Fahrradhelm auf, legte sich hin, schob ihn ein bisschen weiter zurück, damit seine Stirn nicht bedeckt wäre. Doch, es würde funktionieren, dachte er und erhob sich, drückte den Helm auf den Boden und schlug die Nägel hindurch. Der Helm stand hochkantig da wie ein halbes Osterei. Dann zog er zwei der kleinen Eisenringe mit den Schrauben hervor, hielt einen in jeder Hand, während er sich hinlegte, bugsierte den Kopf in den Helm, streckte die Arme seitwärts und ließ die Ringe los. Er setzte sich auf und spreizte die Beine, seine Füße waren etwa einen Meter voneinander entfernt, und legte einen Ring neben jeden Knöchel. Als die Ringe am Holzboden festgeschraubt waren, holte er das Seil, schnitt vier passende Stücke ab und band sie an die Ringe. Am Ende legte er sich in Sternformation hin, mit dem Kopf im Helm befestigte er den Riemen unter dem Kinn, um sich vorzustellen, wie es wäre, hier angeschnallt zu sein. Plötzlich schien der Boden zu vibrieren, als ob jemand vorübertrampelte. Er versuchte sich aufzurichten, hatte vergessen, dass er im Helm steckte, blieb am Riemen hängen, fummelte an der Schnalle unter seinem Kinn herum, konnte sich endlich losmachen, presste sich die Hand auf die Brust, rang um Atem, während er sich aus der Scheune schleppte.

Ruhelos ging er zwischen Küche und Wohnzimmer hin und her, fühlte sich eingesperrt, hatte das Gefühl zu ersticken, die Bilder in seinem Kopf waren scheußlicher geworden, die Peitsche knallte lauter. Mit zitternden Händen füllte er eine neue Spritze. Als sich die Ruhe über ihn senkte, schrieb er eine weitere SMS. Er betrachtete sie einige Sekunden lang, dann legte er das Telefon auf den Tisch, er wollte die Nachricht erst am Morgen abschicken.

Ihm war schlecht und er fühlte sich benommen, als er sich in seinem Schlafsack zusammenkrümmte.

Heute Abend gehe ich in den Erdkeller, dachte er. Alles ist bereit.

3

Freitag, 13. April

Der Nachrichtenredakteur Svein Hauge schaute von seinem Rechner auf und sah durch das Fenster neben seiner Tür hinaus auf die Bürolandschaft. Sein Blick glitt über die Kollegen an ihren Schreibtischen und blieb bei Linda Stene haften. Sie hatte oft gefehlt. Krankgeschrieben, hatte es geheißen. Meistens ließ er die Jalousien geschlossen, nun aber hatte er sie geöffnet, um Linda durch die Zwischenräume heimlich betrachten zu können.

Sein Blick wanderte immer wieder zu ihr hinüber, während er versuchte, sich auf die E‑Mail zu konzentrieren, die er gerade schrieb. Es gefiel ihm, auf ein bisschen Widerstand zu stoßen, das erregte ihn, so war das schon immer gewesen. Die Jagd wurde interessanter. Sie trainierte sicher jeden Tag. Ein bisschen zu kleine Brüste für seinen Geschmack, aber sie passten zu der schmalen Taille und den schlanken, sehnigen Oberarmen. Blonde, weiche Locken, fast keine Schminke, dieses natürliche Auftreten ließ sie jünger wirken als ihre siebenundzwanzig Jahre. Sie war nicht nur genau sein Typ, sondern hatte auch einen beeindruckenden Lebenslauf. Ihre Ausbildung in der Medienbranche hatte sie aus New York, wo sie einige Jahre mit ihrer Familie gelebt hatte, und danach hatte sie sich bei CBS hochgearbeitet, war sogar ein Jahr als Rechercheurin für Sixty Minutes tätig gewesen.

Er war wütend auf sie gewesen, als sie hinter seinem Rücken dafür gesorgt hatte, dass der beste Kommentator des Senders, Ronald Kulø, wegen sexueller Belästigung gefeuert wurde. Der geschäftsführende Direktor hatte ihm eine Rüge erteilt, weil er sich angesichts ihrer Klagen nicht korrekt verhalten hatte, und ihn gebeten, mit ihr zu reden, ihr jegliche Stellung anzubieten, die sie sich wünschte, als Trostpflaster. Es passte ihm nicht, aber ihm war nichts anderes übrig geblieben, er hatte den reuigen Sünder gespielt, hatte um Verzeihung gebeten – für den Sender, nicht für sich selbst. Während dieses Gesprächs hatte es sich herausgestellt, dass sie gern für die Auslandsnachrichten arbeiten wollte. Das war an sich keine dumme Idee, hatte er gedacht, als sich die ganze Aufregung gelegt hatte. Eine junge, schöne und tüchtige Frau wäre ein strategisch guter Handgriff als Zuschauermagnet, aber auch, um den Kollegen einen Tritt in den Hintern zu versetzen. Die Auslandsberichterstattung war längst nicht so gut, wie er sich das wünschte. Sie verloren allzu oft im Wettbewerb mit dem NRK und TV2.

Für einen kurzen Augenblick schaute sie auf und erwiderte seinen Blick, offen, mit einem kleinen Lächeln. Flirtete sie etwa mit ihm? Er erwiderte das Lächeln rasch, tat so, als sei er in Gedanken verloren, mit Schreiben beschäftigt, er kniff die Arschbacken zusammen, spreizte die Oberschenkel und rutschte auf dem Stuhl nach vorn. Ich werde sie zu einem Star machen, dachte er. Nicht, weil er ein schlechtes Gewissen wegen seines Verhaltens ihr gegenüber hatte, sondern weil sie perfekt in das Profil passte, das er sich wünschte: schöne, junge, gut angezogene, sympathische und tüchtige Frauen. Solche, bei denen die Männer vor den Bildschirmen feuchte Träume hatten. Bald würde er mit ihr über ihre künftigen Möglichkeiten beim Sender sprechen, vielleicht bei einem Essen?

Er bückte sich und schaltete die Festplatte unter dem Tisch ein, ehe er in die Küchenecke ging und sich am Automaten einen Kaffee holte. Auf dem Rückweg ertönte das SMS-Signal seines Telefons. Die Nachricht kam von keiner Nummer, die er gespeichert hatte, sondern von einer langen, ausländischen. Er stellte die Tasse auf seinen Schreibtisch und öffnete die Mitteilung.

Niemals vergessen, niemals vergeben. Die Rache ist des Gerechten. Gruß, der Rächer.

4

Nachdem sie sich im Erdkeller getroffen hatten, gingen sie zur Scheune. Für einen Moment hatte er seine Zweifel, ob der andere mit hineinkommen würde, denn der blieb vor der Tür stehen, und sein Gesicht zeigte einen Ausdruck, der auf wachsende Übelkeit hinwies. »Das geht vorüber«, sagte er und legte dem anderen die Hand auf die Schulter. Dann führte er vor, was er vorbereitet hatte, und schilderte seine Pläne mit leiser, ruhiger Stimme.

Danach saßen sie eine Weile in der Scheune und redeten. Er habe zuerst auch nicht hineingehen wollen, erzählte er. Aber es sei nicht zu vermeiden gewesen, der erste Teil der Rache müsse innerhalb derselben vier Wände durchgeführt werden, in dem gleichen Geruch von Dreck, Benzin und altem Holz.

»Aber ich glaube …« Er legte eine Pause ein, schaute sich um, »das Seltsame ist, dass es mir gutgetan hat. Eine Art kognitiver Therapie, man sucht das auf, wovor man sich am meisten fürchtet.«

»Wo warst du überhaupt?«

»Mal hier, mal da. Ich bin gereist, habe nach einem besseren Leben gesucht. Ich hatte gehofft, ich könnte alles vergessen und anderswo ganz neu anfangen.«

»Das hast du nicht geschafft?«

»Nein. Es ist nicht möglich, zu vergessen. Oder zu vergeben.«

Der Regen trommelte auf das Dach. Zwischen ihnen wurde es still, während sie im Durchzug von den Spalten in der morschen Scheunenwand saßen, aber es war eine gute Stille.

»Wir sollten am Montag anfangen«, sagte er und rang wie so oft keuchend um Atem. »Das schaffe ich sicher noch.«

»Was soll das denn heißen, du ›schaffst‹ das noch? Wir werden deinen Plan ausführen, dann gehen wir ins Lancelot und saufen uns die Hucke voll. Wir werden … Bist du eigentlich in Behandlung?«, unterbrach der andere sich selbst. »Du musst doch zum Arzt, wenn du krank bist.«

Er antwortete mit einer vagen Handbewegung, dann zog er eine kleine Dose aus der Tasche, nahm eine Pille, schluckte mühsam. »Ich wollte dich um etwas bitten.«

»Was denn?«

»Hör mir zu«, sagte er ein wenig ungeduldig und massierte sich den einen Arm. »Das ist wichtig für mich: Alles hier soll unverändert bleiben.«

»Warum das denn?«

»Ich werde hier auf dem Hof sterben. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Und mein Tod soll ein Mysterium sein.«

»Aber …«

»Du darfst niemandem verraten, dass ich hier liege«, unterbrach er den anderen. »Oder zugeben, dass du weißt, wer ich bin, wenn sie mich finden.«

»Aber, danach, was passiert dann? Ich verstehe das nicht.«

»Ich werde im Haus sterben und hier bleiben, bis jemand mich entdeckt.«

»Das kann lange dauern.«

»Ja, das kann es«, stellte er trocken fest. »Aber früher oder später … Na ja, mein Tod soll eins von mehreren Mysterien sein.«

»Mehreren?«

»Ja. Wenn ich gefunden worden bin, wird irgendwer das hier finden.« Er wies auf die Vorrichtung auf dem Boden. »Das ist Mysterium Nummer zwei: Was ist hier passiert?« Er brachte ein schwaches, röchelndes Lachen hervor, wurde aber rasch wieder ernst.

»Und dann ist es wichtig, dass das hier mit mir in Verbindung gebracht wird. Denn ich werde tot sein, ich kann nicht bestraft werden. Das ist das Einzige, was gut ist am Sterben.« Er lachte wieder, diesmal kurz und schroff. »Aber du sollst leben, dir soll nichts passieren, du sollst weitermachen. Deshalb musst du dich am Montag im Hintergrund halten und das hier anziehen«, er reichte ihm eine Sturmhaube und ein Paar dünne Handschuhe, ehe er ein Blatt Papier aus der Tasche zog. »Hier steht, wie du weiter vorgehen sollst, wenn ich … nicht mehr mitmachen kann.« Seine Stimme gewann eine bisher unbekannte Stärke, und er fügte hinzu: »Auge um Auge, Zahn um Zahn. Alles muss gerächt werden. Versprichst du mir das?«

»Ich verspreche es.«

5

Montag, 16. April

Justizminister Roar Brekk hielt sich strikt an die Geschwindigkeitsbegrenzung, als er auf der E 18 von Oslo aus nach Westen fuhr. Es war ein anstrengender und ermüdender Tag gewesen, er war von einer Besprechung zur anderen gejagt, wie bei einem Hürdenlauf. Was für ein Chaos diese verdammte Polizeireform doch geworden war! Die Opposition war auf dem Kriegspfad, die Gewerkschaft unzufrieden, und der Polizeichef gab vor, alles sei in bester Ordnung. Das Einzige, was noch fehlte, wäre eine Geschwindigkeitskontrolle. Vielleicht würden sie ihn einfach durchwinken, wenn sie sahen, wer im Auto saß? Als Justizminister verfügte er zwar nicht über Immunität, aber es wäre doch möglich, dass die Polizei bei gewissen Personen Ausnahmen machte? Normalerweise hätte eine solche Überlegung – die ein Beweis dafür war, wie weit er es im Leben gebracht hatte – ihm ein zufriedenes Lächeln entlockt. Roar Brekk fiel es leicht, unbesorgt zu wirken – das machte einen Teil seines Charmes aus, darüber war er sich im Klaren. Nun aber war seine Miene ernst, die wütende Falte zog sich wie eine tiefe Schlucht von der Nasenwurzel bis zum Haaransatz. Ab und zu presste er die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen.

Meistens saß er auf der Rückbank seines Dienstwagens und nutzte die Zeit zum Arbeiten: um Unterlagen zu lesen oder mit Mitarbeitern zu sprechen. Wenn es sich machen ließ, fuhr er allerdings auch gerne selbst, denn er konnte dabei gut nachdenken, und in der Garage des Ministeriums hatte er seinen eigenen Wagen stehen. An diesem Tag jedoch fuhr er nicht aus Lust, sondern er musste unbedingt seinen eigenen Wagen benutzen. Zum Glück hatte er nicht den ganzen Tag Leibwächter bei sich, sondern konnte sich mit einigen kleinen Einschränkungen frei bewegen.

Als die Ausfahrt nach Asker angekündigt wurde, verließ er die Autobahn, brachte mehrere Verteilerkreise hinter sich, fuhr vorbei am Rathaus von Asker, über einen weiteren Kreisverkehr, vorbei am Kulturhaus, und bog dann auf die Straße nach Sem ab. Er zögerte unterwegs kein einziges Mal. Im Semsvei passierte er die Reihenhaussiedlung, wo er aufgewachsen war, dann bog er auf eine schmalere Straße ab und kam vorbei an einigen Einfamilienhäusern und einer Gärtnerei. Am Ende der Straße hielt er an, schaltete den Motor aus, blieb sitzen und trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad, während er immer wieder auf die Uhr schaute. Er war nur zwei, drei Minuten zu früh, aber als der vereinbarte Zeitpunkt um zehn Minuten überschritten war, ohne dass etwas passiert war, löste sich der Druck hinter seiner Stirn. Vielleicht war es nur ein Scherz? Doch warum ausgerechnet dieser Treffpunkt?

Er hatte sich genau überlegt, wie er sich verhalten wollte, als eine weitere Mitteilung von dieser ausländischen Nummer gekommen war. Das Normale wäre gewesen, den Sicherheitsdienst zu alarmieren, aber dieses Risiko konnte er nicht eingehen. Entscheidend war die Drohung, dass Informationen über ihn online gestellt werden würden, wenn er sich nicht einfände. Hier musste Ordnung geschaffen werden. Altes Geheimnis?

Er schlug mit der Hand auf das Lenkrad. »Scheiße!«

Im selben Moment wurde die Tür auf der Beifahrerseite geöffnet. Er schaute den Mann an, der einstieg. »Wer sind Sie?«, fragte er.

Der Mann sah ihn nicht an, er starrte nur vor sich durch die Windschutzscheibe.

»Was wollen Sie von mir?« Er konnte das Gesicht nicht deutlich sehen, eine Mütze war unter einer Kapuze tief in die Stirn gezogen. Es war ein dünner Mann mit einer spitzen Nase. »Ich weiß es zu schätzen, dass du gekommen bist«, sagte er. Seine Stimme war heiser. »Sei still!«, sagte er, als Brekk weitere Fragen stellen wollte. »Du brauchst dich nicht aufzuregen. Jetzt machen wir einen kleinen Spaziergang.«

»Warum zum Teufel sollte ich mitkommen?«

»Ich glaube, dir bleibt nichts anderes übrig.«

Es war irritierend – und verwirrend –, dass der Mann so ruhig war. Als ob er die Oberhand hätte. »Worum geht es hier? Ich habe keine Zeit für …«

»Du begreifst das schon noch«, unterbrach ihn der Fremde, weiterhin mit ruhiger Stimme.

»Nein, ich begreife kein …«

»O doch, das tust du bestimmt.« Zum ersten Mal wandte sich der Mann ihm zu.

Brekk zuckte zusammen. Der Blick des Mannes war ganz anders als die schwache Stimme, seine Augen glühten vor Hass. Brekk wandte sich erschrocken ab.

»Du erkennst mich also nicht?«, fragte der Mann.

»Nein«, sagte Brekk.

Der Mann zeigte durch die Windschutzscheibe. »Was glaubst du wohl, warum wir hier sind? Da, wo du aufgewachsen bist?«

»Geht es Ihnen um Geld?«

»Nein. Wir werden Ordnung schaffen. Du musst hören, was ich zu sagen habe. Für mich ist es wichtig, dass du mir zuhörst.«

»Mehr wollen Sie nicht? Und warum sollte ich Interesse daran haben, mit einem Fremden zu reden?«

»Einem Fremden? Aber vielleicht ist es kein Wunder, dass du das glaubst. Die Jahre sind vergangen, und ich habe mich mehr verändert als du.«

»Wer sind Sie?«

Der Mann gab keine Antwort. »Komm«, sagte er stattdessen und öffnete die Tür. Draußen blieb er stehen und sah Brekk an.

»Nein«, sagte er. »Wir können im Auto reden.«

»Komm«, wiederholte der Mann.

Der Mann sah schwach aus. Brekk selbst war hervorragend in Form, durchtrainiert, fuhr mehrmals pro Woche mit dem Rad. Die Gedanken, die Erwägungen jagten ihm durch den Kopf. Wer ist dieser Mann? Was weiß er?

»Was willst du, womit drohst du mir?«, fragte er mit harter Stimme und rührte sich nicht.

Der Mann gab noch immer keine Antwort. Er hob die Hand, gab ein Zeichen, und in der nächsten Sekunde wurde die Tür auf Brekks Seite geöffnet, jemand packte ihn, zerrte ihn aus dem Auto, schleuderte ihn zu Boden. Alles passierte so schnell, er wurde nach unten gedrückt, spürte, wie sich Knie in seinen Rücken pressten und seine Arme nach hinten und nach oben gebogen wurden. Er sah für einen Moment eine Sturmhaube, sein Puls hämmerte gegen sein Trommelfell.

»Kommst du jetzt?«, fragte der Mann, der im Auto gesessen hatte, noch immer ruhig.

Brekk keuchte so heftig, dass er keine Antwort herausbrachte. Und ebenso schnell und brutal, wie er aus dem Auto gerissen worden war, wurde er jetzt auf die Beine gezerrt. Der Mensch hinter ihm versetzte ihm einen so heftigen Stoß in den Rücken, dass er vornüberkippte. Dann wurde er hochgehievt und spürte, wie ihm heißes Blut in den Mund lief. Und nun setzte er sich in Bewegung.

6