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Das Werk "Der Mann von Marokko" ist ein 1928 veröffentlichter Kriminalroman von Edgar Wallace. Der Originaltitel lautet "The Man From Morocco". Richard Horatio Edgar Wallace (* 1. April 1875 in Greenwich, London; † 10. Februar 1932 in Hollywood, Kalifornien) war ein englischer Schriftsteller, Drehbuchautor, Regisseur, Journalist und Dramatiker. Wallace gehört zu den erfolgreichsten englischsprachigen Kriminalschriftstellern.
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Seitenzahl: 277
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James Lexington Morlake, der von seinen Zinsen lebte und viele Titel hatte, wenn er sie auch selten führte, saß in seinem Arbeitszimmer.
Er schloß eine Schublade des schönen Rokokoschreibtisches auf und schaute nachdenklich in das Fach, das mit Stahl ausgeschlagen und durch vier Schließbolzen gesichert war. Dann nahm er langsam ein viereckig zusammengefaltetes, schwarzes Seidentuch, eine automatische Pistole und eine Lederrolle heraus. Er öffnete den Verschluß des Necessaires und breitete es auf seinem Schreibtisch aus. Es war aus dauerhaftem, feinem Seehundsfell gearbeitet, und in den einzelnen Taschen steckten viele Instrumente, Feilen und Sperrhaken – alles äußerst klein und aus bestem Werkzeugstahl hergestellt.
Er prüfte die Diamantspitze eines Bohrers, der die Größe eines Zahnstochers hatte. Dann legte er das Werkzeug wieder zurück, rollte das Etui zusammen, lehnte sich in seinen Stuhl und betrachtete die Gegenstände, die vor ihm lagen.
Die Wohnung James Morlakes in der Bond Street war vielleicht die luxuriöseste dieser vornehmen Straße. Phantastische Ornamente und Arabesken schmückten die Decke des Arbeitszimmers. Die Wände bestanden aus poliertem Marmor, der Fußboden war aus Mosaik, das aber unter einem schweren, kostbaren Perserteppich nur teilweise zum Vorschein kam. Vier silberne, mit bunten Seidenstoffen abgedämpfte Hängelampen verbreiteten angenehmes Licht.
Mit Ausnahme des großen, prächtig verzierten Schreibtisches befanden sich nur noch wenige Möbel in dem Raum: ein niedriger Diwan unter einem Fenster, ein perlmutteingelegter Stuhl und ein Sessel.
Den Mann am Schreibtisch konnte man seinem Aussehen nach auf vierzig oder fünfzig Jahre schätzen: in Wirklichkeit zählte er aber erst sechsunddreißig. Aus seinem klugen Gesicht leuchteten lebhafte, kühne Augen, und ihr fröhlicher Ausdruck milderte in gewisser Weise die scharfen Konturen seiner Züge. Manchmal trübten allerdings auch Schwermut und Melancholie seinen Blick. James Morlake war eine einnehmende und vornehme Persönlichkeit. Er soll früher in New York gelebt haben, obwohl manche Leute dies bezweifelten. Jetzt wohnte er in der Bond Street in London und besaß den Landsitz Wold House in Sussex. Er trug Abendkleidung; sein Frack saß tadellos, und seine weiße Krawatte war vollendet gebunden.
Plötzlich schaute er vom Schreibtisch und den unheimlichen Dingen, die dort lagen, auf und schlug die Hände einmal zusammen. Durch einen seidenen Vorhang kam auf leisen Sohlen ein junger Mohr herein. Sein prachtvoll weißer Fellap und sein feuerroter Turban gaben ihm ein malerisches Aussehen und hoben sich wirkungsvoll von dem gedämpften Hintergrund ab.
»Mahmet, ich gehe heute abend aus – ich werde dir noch sagen, wann ich zurückkomme.« Morlake sprach maurisch. »Wenn ich durch Gottes Gnade wiederkehre, werde ich reichliche Arbeit für dich haben.«
Mahmet hob die Hand zum Gruß, trat behende vor und küßte die beiden Frackschöße seines Herrn, dann seinen Daumen, denn Morlake war in gewisser Beziehung eine heilige Persönlichkeit für ihn.
»Ich bin dein Diener, Effendi«, sagte er. »Willst du deinen Sekretär sprechen?«
Morlake nickte, und mit einem kurzen Salaam verschwand Mahmet. ›Sekretär‹ war eine euphemistische Bezeichnung für Binger, denn der Mohr wagte es nicht, einen weißen Mann einen Diener zu nennen.
Gleich darauf erschien Binger in der Tür. Er war ein stattlicher, etwas untersetzter Mann mit gesundem, rotem Gesicht und blondem Schnurrbart. Nachdem er einen Blick auf seinen Herrn und die Instrumente auf dem Tisch geworfen hatte, seufzte er.
»Wollen Sie wieder ausgehen?« fragte er traurig.
»Ja. Es ist möglich, daß ich einige Tage ausbleibe. Sie wissen ja, wo Sie mich finden können.«
»Ich hoffe, daß ich Sie nicht in einer Gefängniszelle wiederfinde, womit ich immer rechnen muß.«
James Morlake lachte leise vor sich hin.
»Das Schicksal hat Sie eigentlich nicht dazu bestimmt, der Diener eines Einbrechers zu werden.«
»Bitte sagen Sie das nicht – malen Sie den Teufel nicht an die Wand! Ich zittere jetzt schon vor Angst. Ich möchte keine Kritik an Ihnen üben, das habe ich noch nie getan. Wenn Sie kein Einbrecher gewesen wären, würde ich längst nicht mehr am Leben sein. Sie haben sich für mich in große Gefahr begeben, und ich werde Ihnen das nie vergessen!«
Das stimmte auch, denn eines Nachts war James Lexington Morlake in ein Warenhaus eingebrochen, in dem Binger eine Anstellung als Nachtwächter hatte. Morlake wollte durch das Warenhaus nur seinem Ziel, einer Bank, näher kommen. Auf dem Weg durch das Geschäftshaus hatte er Binger bewußtlos auf dem Boden gefunden. Der Mann war durch ein offenes Oberlicht gefallen und hatte sich schwer verletzt. Morlake verband ihn so gut wie möglich und brachte ihn in ein Hospital. Binger vermutete, daß ›der Schwarze‹, der Schrecken aller Bankdirektoren des Landes, sein Wohltäter war. Auf diese Weise waren die beiden zusammengekommen. Für James Morlake konnte keine große Gefahr daraus entstehen, denn er war ein Menschenkenner und wußte, daß Binger ihm treu ergeben war.
»Vielleicht werde ich in den nächsten Tagen ein ehrenwertes Mitglied der Gesellschaft, Binger«, sagte er lachend.
»Das hoffe ich inständigst. Ich bete jeden Tag darum«, sagte der Mann ernst. »Es ist kein schöner Beruf – Sie sind immer die ganzen Nächte fort – das schadet der Gesundheit! Und als alter Soldat kann ich Ihnen nur sagen, daß Ehrlichkeit die beste Politik ist.«
»Davon bin ich auch überzeugt. Aber nun hören Sie einmal zu. Mein Wagen soll an der Ecke der Albemarle Street auf mich warten, und zwar um zwei Uhr in der Nacht. Es regnet ein wenig, das Verdeck muß hochgeschlagen werden. Stecken Sie hinten eine Nummer von Oxford an, die Sussex-Nummer legen Sie unter den Sitz. Eine Thermosflasche mit Kaffee und ein paar Butterbrote – das ist alles.«
»Gut Glück!« sagte Binger mit schwacher Stimme.
»Ich wollte, Sie meinten das auch wirklich«, entgegnete James Morlake, als er sich erhob, den langen, schwarzen Mantel vom Diwan nahm und die Pistole und das Werkzeug in die Tasche steckte ...
Stephens, der Butler in Creith House, las in der Morgenzeitung, daß ›der Schwarze‹ wieder einen Einbruch verübt hatte. In raffinierter Weise war der Mann in die Burlington-Bank eingedrungen, hatte die Wachleute betäubt und die Alarmvorrichtungen unbrauchbar gemacht. Stephens war eine mitteilsame Natur und erzählte die Neuigkeit seinem Herrn, als er ihm den Morgenkaffee servierte. Hätte er dieselbe Geschichte dem Gast berichtet, der sich gerade im Haus aufhielt, so würde er eine größere Sensation hervorgerufen haben. Aber aus vielen Gründen konnte er Mr. Ralph Hamon nicht leiden. Bei seinen ersten Besuchen war dieser Herr dem Lord gegenüber sehr höflich gewesen, hatte sich in Gegenwart der jungen Lady bescheiden benommen und sich die größte Mühe gegeben, ihr zu gefallen. Aber mit der Zeit hatte sich das Verhalten des Finanzmannes gegenüber der Familie des Lords bedeutend geändert, und Stephens war aufgebracht und böse darüber.
Er stand am großen Fenster des getäfelten Bankettsaals und starrte über die breite grüne Rasenfläche zu dem Fluß hinüber, der im Norden die Grenze des Landsitzes bildete. Es war ein herrlicher Frühherbstmorgen, und die Bäume glänzten noch in grünem Laub. Nur hier und dort färbten sich schon einige Blätter gelb und rot. Besonders schön leuchteten die Baumgruppen auf No Man's Hill.
»Guten Morgen, Stephens!«
Der Butler drehte sich schuldbewußt um, als er die Stimme des Mannes hörte, an den er eben gedacht hatte.
Ralph Hamon war geräuschlos eingetreten. Er war von mittlerer Größe, hatte eine gedrungene Gestalt und neigte etwas zur Korpulenz. Stephens schätzte ihn auf fünfundvierzig. Hamons großes Gesicht war bleich und im allgemeinen ausdruckslos. Die hohe, kahle Stirn, die dunklen, tiefliegenden Augen und die harten Linien seines wenig schönen Mundes deuteten auf Klugheit und Geschicklichkeit. Die Kahlheit des Kopfes war noch deutlicher zu sehen, als er sich bückte, um eine Stecknadel vom Parkett aufzuheben.
»Das nennt man Glück«, sagte er und steckte sie unter die Klappe seines eleganten Anzugs. »Besser kann man den Tag gar nicht anfangen, als daß man etwas findet, was man gebrauchen kann.«
Stephens hatte auf der Zunge, daß die Stecknadel schon jemand gehörte, aber er beherrschte sich.
»Der Schwarze war wieder an der Arbeit«, erwiderte er nur.
Hamon runzelte die Stirn und nahm ihm hastig die Zeitung aus der Hand.
»Der Schwarze – wo denn?«
Während er den Artikel las, verdüsterten sich seine Züge noch mehr.
»Diesmal hat er die Burlington-Bank erwischt«, sagte er zu sich selbst. »Ich möchte nur wissen...?« Er warf Stephens einen Blick zu. »Sonderbar. Ist Lord Creith schon heruntergekommen?«
»Nein.«
»Und Lady Joan?«
»Die Lady ist vor einer Stunde ausgeritten.«
»Hm.«
Mr. Hamon sah mißmutig drein, als er die Zeitung weglegte. Gestern abend hatte er Joan Carston gebeten, mit ihm auszureiten, aber sie hatte sich damit entschuldigt, daß sich ihr Lieblingspferd verletzt habe. Stephens war kein Gedankenleser, aber er erinnerte sich plötzlich an gewisse Instruktionen.
»Lady Joan dachte eigentlich nicht, daß es möglich sei, aber ihr Pferd hatte sich heute morgen wieder soweit erholt.«
»Hm«, wiederholte Mr. Hamon. »Sie erzählte mir, daß sie jemandem eines der kleinen Häuser als Wohnung angewiesen habe – vielmehr ich hörte nur, wie sie es Lord Creith gegenüber erwähnte. Können Sie mir sagen, um wen es sich handelt?«
»Ich weiß leider nichts Genaues. Soviel ich gehört habe, ist es eine Dame mit ihrer Tochter... Lady Joan hat sie in London kennengelernt und ihr das kleine Haus als Erholungsaufenthalt überlassen.«
Mr. Hamon lächelte spöttisch.
»Sie betätigt sich wohl als Menschenfreundin?«
Langsam ging er durch die Halle ins Freie. Von Lady Joan war nichts zu sehen, und er vermutete ganz richtig, daß Stephens entweder Unkenntnis vorschützen oder ihm die Unwahrheit sagen würde, wenn er sich nach ihrem Weg erkundigte.
Er konnte die junge Dame nicht entdecken, so scharf er auch Ausschau hielt, aber sie sah ihn sehr genau von No Man's Hill aus. Sie ritt im Herrensattel auf einem alten Fuchs und schaute nachdenklich zu dem großen, etwas verfallenen Herrenhaus hinüber. Ihr Gesicht war sorgenvoll, und es lag wie ein Schleier über ihren grauen Augen. Ihre schlanke, vornehme Gestalt wirkte fast knabenhaft. Sie beobachtete den dicken Mann, der jetzt wieder zum Haus zurückging, und als er verschwunden war, lächelte sie.
»Vorwärts, Toby!« Sie schlug mit den Zügeln auf den Hals des Pferdes und war in wenigen Augenblicken auf der Höhe des Hügels angelangt. Dort stieg sie ab, ließ das Tier grasen und ging zur höchsten Spitze hinauf. Mechanisch sah sie nach ihrer Armbanduhr – es war genau acht. Ihre Blicke verfolgten den breiten Weg, der unten am Hügel vorbeiführte.
Sie hätte nicht nach der Uhr zu sehen brauchen, denn der Mann, nach dem sie ausschaute, ritt Tag für Tag, Monat für Monat zur selben Zeit aus dem Gebüsch heraus. Er war groß und schlank, lenkte sein Pferd mühelos und rauchte wie immer eine Pfeife. Sie nahm den Feldstecher aus dem Lederetui und stellte ihn ein. Ihre Neugierde war wirklich unentschuldbar, und sie gestand sich diesen Fehler auch ohne Zögern ein. Er war es: Sie sah die stattliche, sehnige Gestalt mit dem schönen Gesicht und den leicht ergrauten Haaren an den Schläfen. In der einen Hand trug er eine dünne, schmiegsame Reitgerte, mit der er die Mähne seines Pferdes zerstreut streichelte.
›Joan Carston, du bist geradezu schamlos!‹ sagte sie zu sich selbst. ›Bedeutet dir denn dieser Mensch etwas? – Nein! Aber umgibst du ihn nicht mit dem goldenen Schimmer der Romantik? – Ja! Treiben dich nicht reine Neugierde und der Hang zu geheimnisvollen Abenteuern jeden Morgen hierher, um diesen harmlosen Gentleman zu beobachten? – Ja! Und schämst du dich nicht deshalb? – Nein!‹
Der Mann, der nichts von Joans Selbstgespräch ahnte, ritt weiter und befand sich nun auf gleicher Höhe mit ihr. Er schaute weder nach rechts noch nach links, bis er außer Sicht kam.
Mr. James Lexington Morlake war für die Bevölkerung der Umgebung eine rätselhafte, interessante Persönlichkeit. Man wußte nichts Genaues über ihn, nur war er offensichtlich sehr reich. Freunde besaß er bestimmt nicht, und alle Einladungen, die ihn in nähere Berührung mit seinen Nachbarn gebracht hätten, lehnte er strikt ab. Er machte und empfing keine Besuche. Man zog Erkundigungen über ihn ein und erfuhr schließlich durch die Dienstboten, daß er ein ganz merkwürdiges und unregelmäßiges Leben führe. Sein Aufenthalt in Wold House oder in London war stets unbestimmt. Selbst seinen Angestellten teilte er nicht mit, welche Absichten er für den nächsten Tag, geschweige denn für die nächste Woche hatte.
Joan Carston bestieg wieder ihr Pferd und ritt den Hügelpfad hinunter, den James Morlake eben eingeschlagen hatte. Als sie an die Weggabelung kam, schaute sie noch gerade zur rechten Zeit nach links, um seinen großen schwarzen Filzhut hinter der Senkung des Geländes, das zum Fluß hinabführte, verschwinden zu sehen.
»Ich bin eine wenig anständige junge Dame«, sagte sie in die zurückgelegten Ohren ihres Pferdes. »Ich besitze keine Zurückhaltung und habe nicht den geringsten Stolz, Toby, und ich würde zwei Pfund Sterling dafür geben – das ist meine ganze Barschaft–, um einmal mit ihm persönlich zu sprechen. Und dann wäre ich natürlich enttäuscht.«
In kurzem Galopp legte sie den Rest des Weges zurück und bog durch das verfallene Tor ein. Wo die Hauptstraße den Park ihres Vaters berührte, stand ein einfaches Fachwerkhaus, und dorthin ritt sie. Eine Frau winkte ihr aus dem Garten zu, als sie vorbeikam. Sie war etwas über vierzig Jahre alt, sah aber noch sehr gut aus.
»Guten Morgen, Lady Joan! Ich bin gestern abend hier angekommen, und Sie haben alles so schön für mich vorbereitet. Es war sehr liebenswürdig von Ihnen, daß Sie sich meinetwegen so viel Mühe gegeben haben.«
»Ach, das macht nichts.« Joan war schnell abgestiegen. »Wie geht es denn Ihrem Patienten, Mrs. Cornford?«
Die Frau lächelte.
»Ich weiß es nicht. Er kommt erst heute abend an. Hoffentlich haben Sie nichts dagegen, daß sich noch jemand bei mir aufhält?«
»Ach nein. Wollen Sie eigentlich nicht für immer hier wohnen? Mein Vater würde Ihnen gern die Erlaubnis dazu geben. Wer ist denn der Herr?«
»Ein junger Mann, für den ich mich interessiere. Ich muß Ihnen aber sagen, daß er leider ein periodischer Trinker ist. Ich habe versucht, ihn zu heilen, und ich hoffe sogar, daß er keine Rückfälle mehr bekommen wird. Er stammt aus einer vornehmen Familie. Es ist wirklich tragisch, daß so viele junge, blühende Menschen durch Trunk zugrunde gehen. Ich arbeite bei der Trinkerhilfe, wenn ich Zeit habe, und ich erlebe dabei viel Trauriges.«
»Darf ich einen Augenblick eintreten?« fragte Joan. »Eigentlich erwartet man mich in Creith – wenigstens unser Besuch erwartet mich. Mein Vater denkt wohl weniger daran. Er hofft nur immer, daß ein Wunder passiert und ihm eine Million in den Schoß fällt, ohne daß er sich anstrengen muß. Und denken Sie, dieses Wunder hat sich nun tatsächlich zum Teil erfüllt!«
Mrs. Cornford blickte erstaunt auf.
»Wir sind nicht reich«, fuhr Joan fort. »Wir gehören zum verarmten Landadel. Der Herrensitz, die Güter und unser Londoner Stadthaus sind – oder waren wenigstens bis zur vorigen Woche – mit Hypotheken überlastet. Wir sind die ärmste Familie in der Gegend.«
Mrs. Cornford war über Joans offenes Bekenntnis verwundert.
»Das tut mir leid«, sagte sie. »Es muß schrecklich für Sie sein.«
»Ach, ich mache mir nicht viel daraus. Hier sind alle Leute arm, mit Ausnahme dieses geheimnisvollen Mr. Morlake, den man allgemein für einen Millionär hält. Aber er steht wahrscheinlich nur deshalb in dem Ruf, weil er nicht mit anderen Leuten über seine Schulden und Hypotheken spricht.«
Mrs. Cornford schwieg und sah nur traurig auf das schöne Gesicht Joans. Sie kannte sie nun seit einem Jahr; eine Zeitungsannonce, in der sie um Näharbeit bat, hatte Joan in die kleine, enge Vorstadtwohnung geführt, wo sich die Frau mit ihrem Töchterchen durch ihre geschickte und flinke Arbeit ernährte.
»Die Armen haben es nicht leicht«, meinte sie nach einer Pause.
Joan schaute auf.
»Sie sind früher auch bemittelt gewesen. Ich wußte es. An einem der nächsten Tage müssen Sie mir einmal Ihre Geschichte erzählen – aber nein, ich will Sie damit nicht quälen. Kennen Sie eigentlich Mr. Morlake?«
Mrs. Cornford lächelte.
»Er scheint hier in der Gegend eine Art Sehenswürdigkeit zu sein. Ich würde ja kaum etwas von ihm wissen, aber die Phantasie der Leute hier beschäftigt sich sehr mit ihm. Das Mädchen aus dem Dorf, das Sie freundlicherweise geschickt haben, um das Häuschen in Ordnung zu halten, hat mir schon viel von ihm erzählt. Ist er ein Freund von Ihnen?«
»Er ist mit niemandem befreundet. Im Gegenteil, er ist so ablehnend und abweisend, daß er reich sein muß. Ich dachte früher einmal daran, daß er mein Freund sein könnte.« Bei diesen Worten seufzte sie.
»Ich weiß nicht, ob Sie im Ernst sprechen und ob Sie wirklich so traurig sind«, erwiderte Mrs. Cornford lächelnd.
Joans Züge wurden undurchsichtig.
»Sie glauben wohl nicht, daß auch ich eine traurige Geschichte haben könnte? Ich bin schon recht alt – beinahe dreiundzwanzig.«
»Sie sehen aber viel jünger aus!«
»Vielleicht habe auch ich ein schreckliches Geheimnis.«
»Das kann ich doch kaum annehmen.«
Joan seufzte wieder.
»Ich werde jetzt zu meinen Sorgen und Lasten zurückkehren.« Mit diesen Worten verabschiedete sie sich.
Die ›Sorgen und Lasten‹ spazierten zu der Zeit gerade die lange Allee von Walnußbäumen entlang.
»Ich freue mich sehr, daß Sie zurückgekommen sind«, sagte Hamon mit schlecht angebrachter Heiterkeit, als sie ihn überholte. »Ich habe mich sehr nach Ihnen gesehnt!«
Ferdinand Carston, der neunte Earl von Creith, war eine schlanke, sympathische Erscheinung, aber ein etwas eigensinniger und querköpfiger Mann. Während seines ganzen Lebens hatte er versucht, Unannehmlichkeiten möglichst aus dem Weg zu gehen, und dadurch hatte er manchen Verlust erlitten. Er liebte es nicht, von seinen Rechtsanwälten, seinen Inspektoren und seinen Pächtern gestört zu werden, und man durfte ihn nicht mit Agenten behelligen. So kam es, daß er seine Leute kaum kannte und die wenigsten von ihnen sich die Mühe machten, ihm genaue Abrechnungen zu schicken. Von Zeit zu Zeit faßte er den guten Vorsatz, sich aus seinen Schulden herauszuarbeiten, und ließ sich auf Spekulationen ein. Da er sich aber weder um Geschäftsberichte kümmerte, noch sich nach der Güte der Geschäfte erkundigte, geriet er in immer größere Schwierigkeiten.
Und plötzlich tauchte ein sehr liebenswürdiger Finanzmann unter seinen Bekannten auf, der es unternahm, all seine unangenehmen Verbindlichkeiten zu regeln, die Klagen der Banken zu beschwichtigen und vor allem die aufdringlichen privaten Geldgeber zu beruhigen. Lord Creith war sehr dankbar dafür, verkaufte ihm die Anwartschaft auf die Güter der Creith und war nun mit einem Male nicht nur all seine Schulden los, sondern verfügte sogar noch über flüssige Mittel.
Er saß in seiner Bibliothek und las mit größtem Interesse in einem Auktionskatalog, als plötzlich sein Gast eintrat.
»Hallo, Hamon!« sagte er, ohne sehr erfreut zu sein. »Haben Sie schon gefrühstückt?«
»Joan war nicht hier.«
»Hat sie außerhalb gefrühstückt?« Lord Creith sah ihn über seine Brille hinweg an.
Hamon nahm sich einen Stuhl.
»Haben Sie schon jemals daran gedacht, was geschehen wird, wenn Sie sterben?« fragte er ohne weitere Einleitung.
»Nein – bestimmt nicht! Ich bin immer regelmäßig zur Kirche gegangen, obgleich die Abgaben und die Kirchensteuer ganz niederträchtige Belästigungen sind – und ich hoffe, daß mir die Himmelstür nicht verschlossen bleibt –«
»Ach, davon rede ich nicht. Ich meine, was nach Ihrem Tod aus der Familie Creith werden soll?«
»Den Titel erbt Joan – nach unseren Familiengesetzen kann auch die Frau erben«, erklärte der Lord unwillig. »Aber warum quälen Sie mich denn mit solchen Einzelheiten, mein Lieber? Wenn Joan die Güter und das Herrenhaus behalten will, müßte sie Ihre Frau werden. Ich hätte nichts dagegen. Wir haben schon früher ganz merkwürdige Kerle in unserer Familie gehabt, und ich glaube, das wird auch so bleiben. Meine Urgroßmutter hatte sogar ein hölzernes Bein.«
Mr. Ralph Hamon überhörte die Beleidigung, die in diesen Worten lag.
»Wenn Joan nicht selbst die Absicht hat, mich zu heiraten, dann könnten Sie doch Ihren großen Einfluß auf sie geltend machen.«
Lord Creith nahm umständlich seine Brille ab.
»Sie meinen, ich hätte einen großen Einfluß auf meine Tochter? Da irren Sie sich aber gewaltig. Sie nimmt nicht den leisesten Rat von mir an. Ich muß zwar zugeben, daß ich ein schlechter Ratgeber bin. Sie soll nur ruhig tun, was sie mag. Ihre verewigte Mutter war genau wie sie. Aber machen Sie mir doch nicht mit all diesen Dingen den Kopf heiß!«
»Nehmen wir einmal an, Joan lehnt meinen Antrag glatt ab«, erwiderte Hamon hartnäckig.
Lord Creith lächelte selbstbewußt und zufrieden.
»Ja, mein lieber Junge, dann sind Sie am Ende mit Ihrer Weisheit!«
»Sie müssen eben Ihren Einfluß geltend machen!« wiederholte Hamon verbissen. »Sprechen Sie doch mit ihr!«
Der Lord war wenig erfreut über diese Bitte.
»Also gut, ich werde mit ihr sprechen!« rief er erregt. »Übrigens vergaß ich, Ihnen zu sagen, daß Sie das Gut, das Sie haben wollten, nicht bekommen können. Ich habe bei Durchsicht der Papiere gefunden, daß es der Midland-Bank verpfändet war und daß sich diese schon vor einem Monat daraus bezahlt gemacht hat. Sie hat das Gut an diesen merkwürdigen Morlake verkauft. Was er damit anfangen will, weiß ich allerdings nicht. Er ist bereits Besitzer von Wold House –«
»Morlake! Das ist doch nicht etwa – James Lexington Morlake? Lebt er hier in der Nähe? Ist das der Amerikaner, von dem Sie mir neulich erzählten ...?«
Hamon sprach schnell und etwas zusammenhanglos. Die vielen Fragen waren Lord Greith zuwider, und er schloß müde die Augen.
»Ich weiß nicht, wer er ist ... ich habe nur seinen Namen erwähnt. Was haben Sie denn?«
»Nichts«, entgegnete Hamon barsch. »Denken Sie bitte daran, mit Joan zu sprechen.« Damit verließ er die Bibliothek.
Joan war in ihrem Zimmer, als das Mädchen sie rief. Sie erschien gleich darauf bei ihrem Vater, der schon wieder in seinen Auktionskatalog vertieft war.
»Ach, Joan, ich möchte dich wegen einer Sache sprechen – ja, ich besinne mich jetzt. Sei doch zu Hamon so nett wie nur irgend möglich, Liebling!«
»Hat er sich über mich beklagt?«
»Großer Gott, nein! Er hat nur wieder von seiner Absicht gesprochen, dich zu heiraten. Ich weiß ja nicht, wie du darüber denkst.«
»Soll ich es dir sagen?«
Lord Creith schüttelte energisch den Kopf.
»Nein. Es sind sicher Auseinandersetzungen damit verbunden, die mich doch nur langweilen. Du bist ja von der Lage verständigt und weißt, daß ich ihm alles verkauft habe ... den Herrensitz, die Güter, auch unser Stadthaus in London. Wenn du ihn nicht nimmst, bekommst du nur das bißchen Geld, das ich dir hinterlassen kann, wenn ich einmal – sterbe. Verzeih mir, wenn ich so offen bin. Du magst ihn natürlich nicht? – Das dachte ich mir schon«, erklärte er mit Genugtuung. »Sag mal, kennst du eigentlich diesen Morlake?«
Wenn er sie angesehen hätte, wäre er über ihr plötzliches Erröten erstaunt gewesen. Aber er schaute auf seinen Katalog.
»Wie meinst du das, Vater?«
»Ich erwähnte seinen Namen Hamon gegenüber – ich habe noch niemals einen Menschen so verwirrt gesehen wie ihn. Wer ist denn eigentlich dieser Morlake?«
»Ein Mann«, erwiderte Joan kurz.
»Wie interessant!«
Lord Creith blätterte in seinem Heft weiter.
James Morlake saß im Schatten einer großen Buche. Eine Zeitung lag auf seinen Knien, aber er las nicht. Seine Augen schweiften über die weite Fläche des Stroms. Plötzlich hörte er ein Geräusch, wandte sich um und sah einen Mann auf der Straße, der ihn von dort aus beobachtete.
Er schaute nur kurz hin und betrachtete dann wieder den Fluß.
Hamon kam langsam auf ihn zu.
»Es ist lange her, seit ich Sie das letztemal gesehen habe«, begann er. »Ich wußte nicht, daß Sie hier in der Nähe wohnen.«
Jim Morlake sah ihn an und gähnte.
»Ich hätte Ihnen eine Karte schicken sollen«, erwiderte er gelangweilt. »Wenn ich geahnt hätte, daß Sie heute morgen kommen würden, hätte ich sogar die Dorfmusik bestellt und ein paar Fahnen herausgehängt.«
Hamon nahm sich einen Stuhl und setzte sich zu ihm.
»Ich möchte Ihnen dieses Haus abkaufen, Morlake –«
»Mr. Morlake«, verbesserte Jim. »Wir wollen doch immer daran denken, daß wir Gentlemen sind.«
»Ich will Ihnen also dieses Haus abkaufen, und Sie können abreisen. All Ihre bösen Anschläge gegen mich und Ihr böses Gerede will ich Ihnen vergeben ... Sie wissen, was ich meine – aber innerhalb einer Woche müssen Sie das Land verlassen.«
Morlake lachte leise vor sich hin, und Hamon, der ihn noch nie hatte lachen sehen, war über diese Veränderung seiner sonst so verschlossenen Züge erstaunt.
»Sie scheinen eben erst vom Himmel gefallen zu sein oder sonst irgendwie nach langjähriger Abwesenheit auf die Erde zurückgekommen, da Sie sich plötzlich derartig um mein Leben und Wohlergehen kümmern. Übrigens werden Sie wirklich zu korpulent, und die dicken Säcke unter den Augen machen Sie auch nicht hübscher! Sie müßten einmal zum Arzt gehen!«
Hamon neigte sich vor.
»Wenn ich nun Ihren Nachbarn erzählen würde, wer Sie sind?« fragte er langsam. »Oder wenn ich zur Polizei ginge und dort mitteilte, daß Mr. Morlake – ein übler amerikanischer Verbrecher ist?«
»So übel ist er gar nicht«, meinte Morlake und schaute Hamon vergnügt an.
»In der letzten Zeit ist wieder eine ganze Reihe von Einbrüchen verübt worden, und zwar von einem Verbrecher, den man den Schwarzen nennt – haben Sie schon mal von dem gehört?«
Morlake lächelte.
»Ich lese niemals Zeitungen. Sie bringen so viel, was für einen Landedelmann uninteressant ist.«
»Für einen Landedelmann!«
Jetzt mußte Mr. Hamon lachen. Er zog seine Brieftasche heraus und entnahm ihr ein dickes Paket Banknoten.
»Hier ist Ihr Reisegeld«, sagte er, als Morlake die Scheine nahm. »Für Ihren Herrensitz und das Gut werde ich Ihnen morgen noch ein Angebot machen. Ihr Preis –«
»Ist hunderttausend Pfund. Ich würde diese schäbige Summe, die Sie mir da geben, als Anzahlung nehmen, wenn nicht die Nummer jedes einzelnen Scheins von Ihnen notiert wäre und irgendein Detektiv nicht schon darauf wartete, mich zu verhaften, wenn ich das Zeug einsteckte. Der Preis, für den ich verkaufe, ist hunderttausend Pfund, Hamon. Zahlen Sie ihn, wie ich ihn bezahlt haben will, und ich werde Sie in Ruhe lassen! Diese hunderttausend Pfund bezahlen Sie für einen Monat Ruhe!«
Er schleuderte die Banknoten ins Gras.
»Einen Monat – was meinen Sie denn mit einem Monat?«
»Damit meine ich die Zeit, die in diesem Lande zwischen der Verurteilung und der Hinrichtung eines Mannes vergehen muß!«
Ralph Hamon sprang auf. Sein Gesicht zuckte, und er biß sich auf die Lippen, um seine Erregung zu meistern.
»Sie verfluchter Hund! Ich soll gehenkt werden? Das will ich Ihnen aber heimzahlen! Ich weiß genug von Ihnen!«
Morlake machte eine abwehrende Bewegung.
»Versuchen Sie nicht, mir einen Schrecken einzujagen. Seien Sie vernünftig. Sagen Sie mir alles, was Sie inzwischen erlebt haben. Wie ich höre, haben Sie eine halbe Million bei den Varoni-Diamanten verdient, und sogar auf ehrliche Weise – das ist das Merkwürdigste an der ganzen Sache. Wenn Sie doch nur auf den Erfolg gewartet hätten, Hamon! Dann brauchten Sie jetzt nicht um Ihr Leben zu zittern. Wissen Sie eigentlich, wie die Eingeborenen Affen fangen? Sie stecken eine Pflaume oder eine Dattel in eine enghalsige Kürbisflasche, der Affe greift hinein, packt die Dattel, aber er kann die Hand durch den engen Hals nicht mehr herausziehen. Die Dattel will er nicht loslassen, er ist aber auch nicht stark genug, die Flasche zu zertrümmern, und so wird er gefangen. Sie sind auch so ein Affenmann!«
Hamon hatte seine Wut unterdrückt, aber er sah noch unheimlich bleich aus.
»Ich verstehe Sie nicht. Sie sind einer von diesen ganz Oberschlauen, die sich gern reden hören. Ich habe Sie gewarnt. Vielleicht sind Sie die Kürbisflasche, die zerschmettert wird!«
»Das mag sein. Aber wenn ich in die Binsen gehe, so geschieht es wenigstens für eine gute Sache. Inzwischen werde ich in Wold House wohnen und mich daran freuen, daß sich alle Leute hier über meine geheimnisvolle Erscheinung den Kopf zerbrechen.«
»Das Geheimnis werde ich bald aufklären«, rief Hamon.
Am Rand des Wegs blieb er noch einmal stehen und drehte sich um. »Ich lasse Ihnen sieben Tage Zeit, von hier zu verschwinden!«
»Schließen Sie das Tor, wenn Sie hinausgehen«, erwiderte James Morlake.
Hamon stieg in seinen Wagen und fuhr verärgert die Hauptstraße entlang, bis er wieder zu dem holperigen Weg kam, der die Grenze der Creithschen Besitzung bildete. Dann wurde er etwas ruhiger. Das war jetzt sein Eigentum, er war Herr dieser Äcker und der kleinen, traulichen Farmhäuser, die sich zwischen den Hügeln in die Täler einschmiegten. Aber er wollte auch das schlanke, schöne Mädchen besitzen.
Er fühlte das unbändige Verlangen, Joan zu zähmen, zu erniedrigen und für ihre Anmaßung zu bestrafen. Das wäre etwas, das ihn mehr befriedigen würde als alles andere ...
Das Auto war schon auf die Nebenstraße abgebogen, als sein Blick auf ein kleines Haus fiel, das sich hinter einem Holzzaun erhob. Er hielt an, weil er sich erinnerte, daß hier seit gestern eine Freundin Joans wohnte.
Ralph Hamon war ein Mann, der alle Vorteile wahrnahm. Eine Freundin Joans konnte ja auch seine Freundin werden. Vielleicht konnte er mit Hilfe dieser Frau Joans Antipathie überwinden.
Er stieg aus und ging auf die Hauptstraße zurück, bis er zur Gartentür kam. Dann trat er ein und sah sich nach rechts und links um, aber die Bewohnerin war nicht im Garten. Schließlich klopfte er an die Haustür. Als ihm Mrs. Cornford öffnete, schaute er sie mit starren Augen an, als ob sie eine Erscheinung aus einer anderen Welt wäre.
Dann versuchte er zu sprechen, aber nur ein unverständliches Stöhnen kam über seine Lippen. Plötzlich drehte er sich um und eilte wie gehetzt den Pfad zurück. Schwere Schweißtropfen standen auf seiner Stirn, und er biß sich vor Furcht auf die Lippen. Elsa Cornford kannte einen Teil jenes Geheimnisses, das der Besitzer von Wold House bisher nicht herausgebracht hatte.
»Hat es nicht eben gedonnert?« fragte Lord Creith. Er hob die Hand zum Mund, um ein Gähnen zu verbergen.
Auch Joan fühlte sich gelangweilt. Das Essen nahm kein Ende.
»Es klang fast so«, erwiderte Hamon und fuhr aus seinen unangenehmen Gedanken auf.
»Im Oktober sind Gewitter sehr selten«, meinte der Lord. »Ich kann mich daran erinnern, als ich noch ein Junge war ...«
Er machte einen schwachen Versuch, die andern durch eine Geschichte zu unterhalten, die jedoch niemand fesselte. Er schien es auch zu fühlen und brach bald ab. Aber dann brachte er das Gespräch plötzlich auf ein Thema, das seine beiden Tischgenossen in hohem Maße interessierte.
»Ich habe Stephens nach diesem Morlake gefragt. Ein merkwürdiger Mensch. Niemand weiß auch nur das Geringste über ihn. Vor drei Jahren kam er von irgendwoher, kaufte Wold House und ließ sich hier als Gutsbesitzer nieder. Er beteiligt sich an keiner Jagd, keinem Ball, lehnt alle Einladungen ab, die ihm geschickt werden, und hat offenbar weder Bekannte noch Freunde. Ein ganz eigentümlicher Kerl!«
»Das kann ich nur bestätigen!«
Mr. Hamon lachte laut, und Joan sah ihn erstaunt an.
»Kennen Sie ihn denn?«
»Ziemlich genau – er ist ein amerikanischer Verbrecher!«
Joan versuchte vergeblich, ihre Erregung zu verbergen. Aber anscheinend übersah Hamon das Wohlwollen und die Sympathie, die der Besitzer von Wold House hier genoß. Er freute sich über das Aufsehen, das seine Worte hervorriefen.
»Ja, er ist ein Verbrecher, einer der größten Geldschrankknacker und Erpresser! Wie er in Wirklichkeit heißt, weiß ich nicht.«
»Aber dann ist die Polizei doch sicher über ihn informiert«, meinte Lord Creith verwundert.
»Das mag sein, aber ein Mann wie Morlake, der so viel Geld hat, braucht die Polizei nicht zu fürchten.«
Joan hatte bis jetzt sprachlos zugehört.
»Woher wollen Sie denn das alles wissen?« fragte sie, als sie ihre Stimme wieder beherrschte.
Hamon zuckte die Schultern.
»Vor einigen Jahren bin ich einmal mit ihm aneinandergeraten. Er dachte, er habe etwas entdeckt, was ihm eine gewisse Macht über mich gebe, und versuchte, mich zu erpressen. Er entkam nur mit genauer Not. Das nächstemal wird es ihm nicht glücken! Und das nächstemal –« er öffnete und schloß die Hand, als ob er jemand erwürgen wollte »– wird recht bald kommen! Ich habe ihn in meiner Gewalt.«
Joan haßte Ralph Hamon in diesem Augenblick über alle Maßen, obwohl er sie eigentlich nicht beleidigt hatte.
»Ich sagte schon, daß ich nicht weiß, wie er in Wirklichkeit heißt. Die Polizei beobachtet ihn seit Jahren, aber sie hat noch nie genügend Material gegen ihn sammeln können, um ihn vor Gericht zu bringen.«
»Ich habe aber noch nie etwas davon erfahren«, unterbrach ihn Lord Creith, »und ich bin doch hier der Ortsvorstand. Die hiesige Polizei hat nichts gegen ihn, im Gegenteil, man spricht ganz gut von Mr. Morlake.«
»Als ich eben die Polizei erwähnte, meinte ich damit Scotland Yard in London, und die Leute dort reden natürlich nicht darüber.«
»Ich kann das alles nicht glauben!« Joans lange unterdrückte Entrüstung kam zum Durchbruch. »Wahrscheinlich haben Sie irgendwelche Schauergeschichten gehört, die Ihre Phantasie jetzt verwirren!«
Hamon lächelte.
»Ich gebe zu, daß es recht unglaubhaft klingt, aber es ist die volle Wahrheit. Ich habe Morlake erst heute morgen gesprochen. Er war auf das unangenehmste überrascht, als er mich sah, das kann ich Ihnen sagen. Am meisten schien er sich darüber zu ärgern, daß ich ihn wiedererkannte. Er bat mich auch händeringend, es niemand zu erzählen –«
»Das ist nicht wahr! Unter keinen Umständen kann das stimmen!« erklärte Joan zornig. »Mr. Morlake ist der letzte, der einen anderen um etwas bitten würde. Ich glaube auch nicht, daß er ein Dieb ist.«
»Ist er denn Ihr Freund?«
»Ich bin ihm noch nie begegnet.«
Ein verlegenes Schweigen trat ein, aber Ralph Hamon hatte ein dickes Fell. Obwohl sie ihm auf den Kopf zusagte, daß er log, fühlte er sich nicht im mindesten verletzt.
Als sich Lord Creith in sein Zimmer zurückgezogen hatte, ging Joan hinaus, um die aufflammenden Blitze am südlichen Himmel zu beobachten. Sie wollte allein sein, doch Hamon folgte ihr.
»Es sieht so aus, als ob wir eine stürmische Nacht bekämen«, meinte er, um eine Unterhaltung zu beginnen.
Sie gab ihm recht und wollte wieder ins Haus zurückkehren, aber er hielt sie an.
»Wo haben Sie denn die Bekanntschaft der Dame gemacht, die dort drüben wohnt?«
»Sprechen Sie etwa von Mrs. Cornford? Ist sie vielleicht auch eine Verbrecherin?« fragte sie scharf.
Er lächelte nachsichtig über die sarkastische Bemerkung.
»Das nicht gerade. Ich interessiere mich nur für sie. Es kommt mir vor, als hätte ich sie schon vor Jahren einmal gesehen. Ich vermute, daß sie mich noch kennt. Hat sie Ihnen etwas davon gesagt?«
»Sie hat Ihren Namen niemals erwähnt – wahrscheinlich, weil ich mit ihr nicht über Sie gesprochen habe«, antwortete Joan etwas erstaunt.
»Ich glaube mich daran zu erinnern, daß sie nicht ganz richtig im Kopf war – sie war ein Jahr in einer Irrenanstalt.«
Joan lachte laut auf.
»Ausgezeichnet! Wer von meinen Freunden nicht gerade ein Verbrecher ist, wird von Ihnen für wahnsinnig erklärt!«
»Ich wußte nicht, daß er Ihr Freund ist«, sagte er schnell und trat an sie heran.
»Mr. Morlake ist unser Nachbar, und Nachbarn sind nach alter Sitte unsere Freunde. Wir gehen jetzt aber besser hinein.«
»Einen Augenblick noch.«
Er nahm ihren Arm, und sie machte sich durch eine leichte Bewegung wieder frei: »Was wollen Sie mir denn noch sagen?«
»Hat Ihr Vater über meinen Antrag mit Ihnen gesprochen?«
»Ja, es war die Rede davon«, erwiderte sie gleichgültig. »Ich erklärte ihm, daß ich nicht den Wunsch habe, Sie zu heiraten, obwohl ich gut verstünde, welches Kompliment Sie mir mit Ihrem Antrag machten.«
Hamon räusperte sich. »Erwähnte er auch die Tatsache, daß in Wirklichkeit ich der Eigentümer der Creithschen Güter bin?«
»Auch das hat er mir gesagt.«
»Ich nehme an, daß Ihnen das Stammhaus der Creith doch ein wenig am Herzen liegt? Ihre Vorfahren haben es seit Hunderten von Jahren besessen!«
»Sicher, es ist mir sehr teuer«, entgegnete sie steif. »Aber es ist mir doch nicht so kostbar, daß ich das Glück meines Lebens opfern würde, um den Titel einer Herrin von Creith zu behalten. Es gibt noch viel schlimmere Dinge, als heimatlos zu sein, Mr. Hamon.«.