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Seitenzahl: 212
Europäische Bücher
Sechstes bis fünfzehntes Tausend
Max Rascher, Verlag, Zürich, 1918
Copyright 1918 by Max Rascher, Verlag, Zürich
Den kommenden Generationen
Geschrieben 1916 bis Frühling 1917
Ihr Otterngezüchte, wer hat denn euch gewiesen,
daß ihr dem künftigen Zorn entrinnen werdet?
Es ist schon die Axt an die Wurzel gelegt.
Darum, welcher Baum nicht gute Frucht bringt,
wird abgehauen und ins Feuer geworfen.
Ev. Matth. Kap. III
Robert war Servierkellner in einem deutschen Hotelrestaurant. Gewöhnlich. Blond. Und wenn er, in devoter Verbeugung erstarrt, vor dem Gaste stand und eine Bestellung entgegennahm, kroch der Gedanke durch sein Gehirn: jeder andere Beruf verträgt sich eher mit der Menschenwürde.
Auf ihn wirkte das hingeschobene Trinkgeld wie eine Ohrfeige, für die man sich bedanken mußte. Und wenn das Trinkgeld von einem Gaste kam, der ärmer als der Empfangende war, stieg aus Roberts verletzter Menschenwürde sichtbar die Verachtung empor, steigerte sich manchmal zu Rachsucht und Frechheit. Es kam vor, daß Robert solch einem Gaste das Trinkgeld zurückschob. Vornehmen Gästen Kredit zu gewähren, war ihm eine Erlösung.
Im Jahre 1894 bekam seine Frau den lange vergeblich erwarteten Sohn. Und Roberts Liebe stürzte sich auf dieses Kind. Das bekam alles: ein Kinderzimmer, sterilisierte Kindermilch, einen federnden Kinderwagen, einen weißlackierten Stall, Hampelmänner. Später Dampfmaschinchen, Eisenbahnen, Luftballons, Trommeln, Säbel, Schießgewehrchen, Bleisoldaten. Später ein Spazierstöckchen, einen Matrosenanzug mit einer Mütze, auf der stand „S. M. S. Hohenzollern“, einen rindsledernen Bücherranzen, eine Rechenmaschine mit roten und weißen Kugeln, einen polierten Griffelkasten.
Der Sohn bekam Geigenstunden, mußte Klavierspielen lernen. Und durfte das Gymnasium besuchen. Er sollte studieren. Nicht Kellner werden. Schon mit zehn Jahren besaß der Sohn ein Fahrrad. Und gehörte mit zwölf Jahren der patriotischen Jugendvereinigung an.
Roberts Leben erschöpfte sich im Dasein des Sohnes. Und der Satz: jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert, war ihm zur Weltanschauung geworden. Robert flog, die Bestellungen auszuführen, verbeugte sich, dankte fürs Trinkgeld, verbeugte sich, dankte, sparte, scharrte zusammen, rechnete, strebte, wurde Zimmerkellner, dann Oberkellner, wies heimlichen Liebespärchen stille Zimmer an für ein paar Stunden, drückte Augen zu, sank in einen Abgrund der Liebe für seinen Sohn, schickte ihn auf die Universität, bekam graue Haare, war selig im Dienen, selig in seinem Sohne, besaß hundert Photographien von ihm, hatte die Kinderkleidchen aufgehoben, das Spielzeug: die Säbelchen, die Gewehrchen, die Bleisoldaten. Das Mützchen, auf dem stand „S. M. S. Hohenzollern“.
Der Sohn war zwanzig Jahre alt. Er bekam die Einberufung an einem Dienstag, bekam ein halbes Jahr später das eiserne Kreuz.
Und im Sommer 1916 bekam Robert die Nachricht, daß sein Sohn gefallen war. Auf dem Felde der Ehre.
Eine Welt war erschlagen.
Der Erschlagene las immer wieder: „Gefallen auf dem Felde der Ehre“. Den Zettel trug er bei sich in der Brieftasche, zwischen den Banknoten. Er las ihn, wenn ein Fremder kam und ein Zimmer verlangte, wenn er an der Billardecke stand und Bestellungen erwartete, wenn er, von der Glocke gerufen, durch den langen Gang lief, las ihn, bevor er das Zimmer betrat und nachdem er, die bezahlte Rechnung und das Trinkgeld in der Hand, das Zimmer wieder verlassen hatte. Er las ihn in der Küche, im Weinkeller, auf dem Klosett. „Gefallen auf dem Felde der Ehre“. Ehre. Das war ein Wort und bestand aus vier Buchstaben. Vier Buchstaben, die zusammen eine Lüge bildeten von solch höllischer Macht, daß ein ganzes Volk an diese vier Buchstaben angespannt und von sich selbst in ungeheuerlichstes Leid hineingezogen hatte werden können.
Das Feld der Ehre war nicht sichtbar, nicht vorstellbar, war Robert nicht begreifbar. Das war kein Feld, kein Acker, war keine Fläche, war nicht Nebel und nicht Luft. Es war das absolute Nichts. Und daran sollte er sich halten. Sein ganzes Leben lang. Hinter ihm lag nichts und vor ihm lag nichts. Robert stand in der Mitte auf dem Nichts.
Seine Hände servierten, quittierten, empfingen Trinkgelder. Wofür? Es gab keine Banknoten mehr. Und sein Sparkassenbuch war für ihn das Feld der Ehre. Und das Feld der Ehre war nicht begreifbar.
Robert gab die besten Zimmer auf Wunsch um die Hälfte des festgesetzten Preises ab, gab noch einen Salon dazu, ein Badezimmer. Wurde zum Servierkellner degradiert. Gab im Restaurant ohne Widerstreben die teueren Speisen und Weine billiger ab, wenn den Gästen die Rechnung zu hoch erschien. Wurde daraufhin nur noch zur Mithilfe herangezogen, wenn im großen Hotelsaal ein Fest, eine Versammlung war.
Gab es etwas Gleichgültigeres, als aus der Lebensstellung verdrängt worden zu sein? Das alles war nur das Feld der Ehre. War ein absolutes Nichts.
Oft fand er sich in seines Sohnes Zimmer, wohin er während des Krieges die Photographien, Kinderkleidchen, Säbelchen, Trommelchen, Gewehrchen, Bleisoldaten zusammengetragen hatte, und empfand nichts beim Betrachten dieser vergilbten und verkratzten Überbleibsel, ging, automatisch wie er eingetreten war, wieder hinaus.
Dieser Zustand, in dem Robert sich nur noch wie eine Maschine bewegte, dauerte wochenlang, bis eines Tages der Mensch in ihm die Kraft fand, sich dem Schmerze zu stellen. Seiner Hand entfiel die Photographie des Söhnchens — in Infanterieuniform, mit präsentiertem Gewehrchen —, und Robert sauste, von einem Dampfhammerschlag getroffen, hinunter in den Abgrund, das Herz bloßgelegt dem Schmerze und der Liebe. Robert schrie. Nur einmal. Und ganz kurz.
Von etwas Unnennbarem berührt, wich er der Erlösung, die im Schmerze liegt, aus.
Und als seine Frau ihn trösten wollte mit den Worten, die sie von dem unter dem gleichen Leide stehenden Kolonialwarenhändler, Bäcker, von der Nachbarin übernommen hatte: jetzt müsse man sich halt damit abfinden, schrak sie zurück vor Roberts gefährlich blickenden Augen und schwieg fernerhin.
Auch Robert schwieg, tat die Arbeit, die man ihm zuwies. Und da man ihn, der wiederholt Gäste fortlaufen ließ, ohne daß sie bezahlt hatten, nur noch als Wasserträger im Hotelcafé verwenden wollte, erklärte er sich auch hierzu bereit.
Robert wußte, daß etwas geschehen werde. Deshalb ertrug er weiter diese gefährliche Ruhe. Denn wie konnte es möglich sein, daß nichts geschah durch ihn, der nichts mehr verlieren konnte, da er alles schon verloren hatte? Der von einer dünnen Kellnerhaut überzogen war, unter welcher der Mensch schrie, entsetzlich lautlos der Schmerz, die Liebe schrieen? Durch den geringsten Anlaß konnte die Haut zerspringen. Dann stieg der Schrei.
Die Kindergewehrchen und Säbelchen hatte er, sich aus den Augen, hinüber ins Hotel getragen und hinter das Klavier gesteckt. Denn wenn er dieses Spielzeug nur anblickte, brannte ihn die Schuld. Aber wenn er einen mit dem Kriegsorden verzierten Leutnant bediente, zitterten seine Hände nicht.
Und als eines Tages ein patriotischer Jugendverein — halbwüchsige Jungen unter Gewehr — die Straße herauf und am Hotel vorbei das Lied trug: „Kann dir die Hand nicht geben, dieweil ich eben lad’ . . .“, fraß sich das Schuldbewußtsein glühend in Robert hinein. Denn auch er hatte seinen Sohn solche Lieder gelehrt und lehren lassen und voll Vaterstolz ihm zugehört.
In wilder Spannung stand er unterm Hotelportal und fühlte, daß sein Sprung auf die vorbeimarschierenden, schlecht beratenen Jünglinge ein Sprung in die Luft sein würde. Denn hinter den Jünglingen und hinter dem Kampfliede stand etwas, das nicht zu greifen war: ein unsichtbarer, unkörperlicher Gegner. Gott hielt ihn zurück von dem Sprunge. Gott hob ihn auf für die Minute, da der Feind greifbar werden würde, fühlte Robert.
Und eines Tages hatte er den Feind, der im Menschen selbst und nicht außer ihm ist, so scharf erkannt, daß seine Augen die eines schuldbewußten Mörders wurden. Da geschah es, daß Tränen wilden Zornes ihm hinter die Augen traten, wenn er ein Mädchen sah, das ihren Bräutigam, eine Frau, die ihren Mann, ein Elternpaar, das seinen Sohn verloren hatte und doch lächeln und wie immer das Glas Bier bestellen konnte.
Einer Mutter, der ihre Stütze fürs Alter, ihre Hoffnung, der Zentralpunkt all ihrer Liebe — ihr einziger Sohn zerstampft worden war auf dem Felde der Ehre und die zu Robert sagte, ‚jetzt muß man sich halt damit abfinden‘, griff er wild an den Hals.
Gott strich über des Kellners Hände und legte dessen plötzlich von Liebe durchbebten Finger der Mutter sanft auf die Schulter. Denn nicht die Frau war schuld, nicht sie war der Feind und nicht ihre Worte, sondern das, was hinter den Worten stand. Und das war etwas, das nicht da war. Es war das Nichtvorhandensein der Liebe.
Das mörderische Schuldbewußtsein brannte die kleine Vaterliebe weg, so daß das Urgefühl der großen Liebe aufstehen konnte in ihm.
In tiefster Demut, in deren Mittelpunkt die unversiegbare Kraft der Liebe stand, verrichtete er die Arbeit des Pikkolos, trug den Gästen Wasser zu, spülte Gläser aus, ging, als die Glocke ihn rief, in den großen Hotelsaal.
Schlosser, Maurer, Schreiner, Spengler, Tapezierer, Glaser — zerarbeitete Männer, die haarigen, abschreckend häßlichen Tieren mit Menschenaugen glichen — füllten den großen Hotelsaal: die Bauarbeitervereinigung hielt ihre Jahresversammlung ab.
Robert brachte dem Redner, der auf dem Podium stand, eine Flasche voll Wasser und hörte, ans Klavier gelehnt, hinter dem die Säbelchen und Schießgewehrchen steckten, dem Redner zu.
Der erklärte, daß Unterstützungsgelder an arbeitslose und kranke Mitglieder dieses Jahr nicht ausbezahlt werden könnten. Denn es seien so gut wie keine Beiträge eingelaufen. Zudem habe man den Mitgliedern, die im Felde standen — und die gingen allen andern vor — fortlaufend Unterstützungsgelder geschickt. „Die Reserven sind aufgebraucht. Die Kasse ist leer.“ Es frage sich nun, ob die Mitglieder, die noch gesund seien und Verdienst hätten, über ihren Beitrag hinaus zusammensteuern wollten für die kranken und arbeitslosen Mitglieder. Wenn nicht, dann bleibe nur noch übrig, die seit fünfzig Jahren bestehende Bauarbeitervereinigung samt der Krankenunterstützungskasse aufzulösen. „Sozusagen den Konkurs anzumelden.“
Siebenhundert Augenpaare von siebenhundert dumpf schweigenden Menschen blickten ratlos auf den Redner. Die Frauen, deren Küchentöpfe leer waren, und die Frauen, deren Männer im Felde standen oder schon gefallen waren, hatten rotgefleckte Wangen bekommen. Die Eisenplatte, die seit zwei Jahren über ganz Europa lag, lag sichtbar auch über diesen siebenhundert in Leid und Not verkrampften Lasttieren.
Ein kleiner Junge hatte das Kinderschießgewehr hinterm Klavier, das auf dem Podium stand, hervorgezogen und zielte, den Schaft an der grauen Backe, hinunter auf die siebenhundert reglosen Männer und Frauen. Alle blickten auf das Loch des Rohrlaufes aus Weißblech.
Und draußen standen, den Gewehrschaft an der Backe, in Schuld und Sünde Millionen Menschen gegenüber Millionen Menschen, die in Schuld und Sünde standen.
Da tat Robert den Sprung. Es war ein ganz langsamer Sprung. Er ging traumwandlerisch sicher auf den Jungen zu, nahm ihm das Spielzeug von der Backe weg und trat vor, bis an den Rand des Podiums.
Und während der Redner Wasser trank und seine Abrechnungslisten zurechtlegte, sagte Robert:
„Das hier ist ein Schießgewehr. Das habe ich . . . ich selbst habe das meinem Jungen gekauft. Damit hat er gespielt. Damit hat er sich unmerklich die Liebe aus seinem Herzen hinausgespielt. Damit hat er schießen gelernt. Ich habe ihn das Schießen, habe ihn das Morden gelehrt. Mein Sohn ist gefallen. Er ist tot. Ich bin sein Mörder . . . Vaterstolz, Ruhmsucht, Gedankenlosigkeit und Gewohnheit haben mich zum Mörder werden lassen. Und doch habe ich nur getan, was auch ihr getan habt. Auch von euch hat mancher seinen Sohn . . . verloren.“
Robert hieb das Gewehrchen gegen die Knie und legte die zwei Stücke ruhig zu seinen Füßen nieder. „Das hätte ich vor fünfzehn Jahren tun müssen . . . Habt ihr es getan? . . . Also seid auch ihr Mörder.
Unsere Männer und unsere Söhne erschießen Männer und Söhne. Und jene Männer und Söhne erschießen unsere Männer und Söhne. Und jeder Daheimgebliebene hofft: mein Mann, mein Sohn kommt zurück; mögen die anderen fallen und sterben.
Solches kann nur ein Wahnsinniger wünschen . . . Ich frage euch: ist der kein Mörder, der ein unschuldiges Kind so erzieht, daß es erst zum Mörder werden muß, bevor es selbst ermordet wird? Wird der so erzogene Unschuldige, wenn er einen gleichfalls schlechtberatenen Unschuldigen erschießt, nicht zum Mörder? Es gibt heute in Europa keinen Menschen mehr, der nicht ein Mörder wäre! . . . Wir sind verblendet und Mörder, weil wir den Gegner außer uns suchen und zu finden glaubten. Nicht der Engländer, Franzose, Russe und für diese nicht der Deutsche, sondern in uns selbst ist der Feind. Und wir sehen deshalb in anderen Menschen den Feind, weil der tatsächliche Feind in uns etwas ist, das nicht da ist. Das Nichtvorhandensein der Liebe ist der Feind und die Ursache aller Kriege. Ganz Europa weint, weil ganz Europa nicht mehr lieben kann. Ganz Europa ist wahnsinnig, weil es nicht lieben kann.
Oder ist es nicht Wahnsinn, wenn ihr euch freut über die Notiz: zweitausend französische Leichen lagen vor unserer Linie? Ist die Einwohnerschaft von Paris nicht wahnsinnig, wenn sie sich freut über die Notiz: zweitausend deutsche Leichen lagen vor unserer Linie?
Wir schreien vor Schmerz oder die Augen bleiben trocken vor Schmerz, wenn unser Sohn fällt. Solange wir nicht ebenso vor Schmerz schreien, wenn ein Franzose fällt, lieben wir nicht. Solange wir nicht fühlen: ein Mensch, der uns nichts getan hat, fiel und starb, so lange sind wir Wahnsinnige. Denn dieser Mensch, der fiel und starb, hatte eine Mutter, einen Vater, eine Frau, die vor Schmerz schreien. War ein Mensch. Wollte so gerne leben. Und mußte sterben. Wofür? Warum? Er mußte sterben, weil er nicht liebte. Und wir, seine Mörder, ließen ihn sterben, weil wir nicht lieben.“
Robert machte während des Sprechens ganz kleine Bewegungen mit der Hand, daß die weiße Serviette baumelte. Es war so schwer, auch den anderen mitzuteilen, was man selbst fühlte und erkannt hatte. Und dabei war das Ganze doch so einfach, so selbstverständlich. Aber die Menschen hatten sich von der Selbstverständlichkeit weggestellt. Sie hatten die Liebe einfach vergessen, wie man seinen Schirm stehen läßt.
„Man braucht ja nur zu lieben, dann fällt kein Schuß mehr. Dann ist der Friede da. Kinder sind wir dann auf unserer Erde . . . Der ganze Erdteil weint. Daran merkt man doch, daß der Erdteil fähig ist zur Liebe. Ganz hoffnungslos wäre erst dann alles, wenn Europa lachen würde, weil ganz Europa blutet. Aber es gibt kein Haus in Europa, in dem nicht die Tränen fließen. Das ist die Liebe, die aus den Menschenaugen heraus weint, weil sie vertrieben worden ist aus den Herzen der Menschen.
Was tut ihr, wenn jetzt im Augenblick ein euch fremder Mensch in den Saal hereintritt und einem von euch, den er nie gesehen hat, das Bajonett in den Leib stößt? Ihr würdet den Wahnsinnigen nicht begreifen. Genau dasselbe tun eure Männer und Söhne; auch sie stoßen Männern und Söhnen, die sie nie gesehen haben, das Bajonett in den Leib, daß der Durchstoßene aufschreit, sich krümmt und fällt. Was hat er eurem Sohne getan? Und was hat euer Sohn dem getan, der ihm das Bajonett in den Leib stieß? . . . Habt ihr euch schon einmal vorgestellt, auf welche Weise euer junger Sohn, der so gerne, ach so gerne noch hätte leben mögen, sterben mußte? . . . Mädchen, vergegenwärtige dir den letzten Blick deines Bräutigams, der verwundet, dürstend sechs Stunden lang in der Sommerhitze im Stacheldraht hing. Stelle dir seinen letzten, furchtbar langen Blick vor.
Frau“, sagte Robert zu einer Erbleichenden, leise, daß es alle Siebenhundert hörten, „was hat dein Mann, den du liebtest, der dir Brot und Kinder gab, dem getan, der ihm das Bajonett in den Leib stieß?“
Die Frau wimmerte, ihr Kopf sank dem neben ihr Sitzenden auf die Schulter.
„Die Menschen sind wahnsinnig, wirklich und wahrhaftig wahnsinnig, weil sie die Liebe vergessen haben. Und weil sie die Liebe vergessen haben, glauben sie, es müsse alles so sein, wie es ist . . . Unser Volk, wie wir es sehen, besteht nur noch aus Krüppeln und elend aussehenden Kindern, Frauen und Greisen. Wenn man jetzt noch die Arme und Beine, die losgetrennten Körperteile, die Millionen zerrissener Leichen, unter denen auch eure Söhne und Männer sind, von den Schlachtfeldern holen und auf eure Straßen werfen würde, euch vor die Augen, würdet ihr auch dann noch sagen: man muß sich halt damit abfinden? Oder würdet ihr endlich bereit sein zum Lieben, was auch dabei herauskomme? Würdet ihr dann endlich sagen: ich will nicht leben, wenn ich nicht lieben darf? Würdet ihr einsehen, daß diejenigen, die euch das Lieben verbieten, Feinde sind? Feinde des Menschen! Volksfeinde! Seht ihr nicht die Berge zerrissener Menschenleiber? Sie liegen vor euren Augen, liegen auf euren Straßen, daß kein Wagen mehr fahren kann und ihr keinen Schritt mehr machen könnt. Eure Söhne! Eure Söhne! Eure Männer! Väter! Blutig! Zerrissen! Unkenntlich!“
Ein Schrei stieg aus der Saalmitte empor. Hinten, beim Saaleingang, erklang ein tierisches Stöhnen. Einem alten Manne fiel die Stirn in die Hand. Ein Mädchen verließ die Stuhlreihen; sie hatte große Augen bekommen und stürzte in die Kniee.
„Wir dürfen uns nicht länger belügen und sagen: nur der Zar, der Kaiser, der Engländer ist schuld.“ Robert legte langsam die Hand mit der Serviette an die Brust: „Ich bin schuld. Und du bist schuld. Und du und du . . . Denn auch wir hatten, ebenso wie der Zar, der Engländer, der Kaiser, der Millionär und der Milliardär, die Liebe vergessen. Nehmt die Schuld auf euch, damit ihr der Liebe wieder teilhaftig werden könnt. Denn nur wer hier sich schuldig fühlt, kann entsündigt werden und wieder lieben.
Und jetzt wisset: die Liebe trägt in sich ein hartes Gebot. Die Liebe sagt: wer nicht liebt, ist schuldig und böse und soll weichen, damit der Liebe auf Erden keine Schranken mehr gesetzt werden können. Wir wollen fallen und sterben dafür, daß der Liebe die Regierung Europas übergeben werde.“
Die Menschengesichter unten im Saale waren aufgelöst.
Weitersprechend stieg Robert vom Podium herunter. Alle waren aufgestanden, drängten ihm nach.
„Das Gebot der Liebe ist: wer sich nicht schuldig fühlt, die Schuld nicht auf sich nimmt, liebt nicht, ist unser Feind und muß weichen. Das ist Gesetz. Neues Gesetz! Ihr, die ihr nichts mehr verlieren könnt, da ihr alles schon verloren habt . . .“
Roberts Worte gingen unter in den hundertstimmig wiederholten Worten: „Alles verloren! Wir haben nichts mehr zu verlieren! Wir, die wir nichts mehr zu verlieren haben . . . Nichts! Nichts!“
Die Nachricht hatte sich schon verbreitet, als sie durch die Straßen zogen. Voran der Kellner, ohne Hut, im schmierigen Smoking, die Serviette in der Hand. „Die wollen Frieden machen. Die wollen Frieden machen.“
Verkäuferinnen — verwaiste Bräute — verließen den Ladentisch und schlossen sich an. Zwei Schaufensterreiniger, alte Männer, ließen die Leiter stehen und schlossen sich an. Der Wagenführer der Elektrischen hörte das Wort „Friede“, erstarrte und sprang vom Wagen herunter, schloß sich an. Die Fahrgäste schlossen sich an. In wenigen Minuten hatte sich die Menge verdreifacht. Und verzehnfachte sich, als Robert, auf dem Platze angelangt, auf der Brunnenschale stand und sprach. Sein Mund zeichnete den letzten Satz in weithin sichtbaren Buchstaben an den Himmel: „Es ist schon die Axt an die Wurzel gelegt. Darum, welcher Baum nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen.“
Eine junge Frau stand da und tat nichts als lächeln und „Friede“ sagen. Reisende, die vom Bahnhof kamen, vergaßen alles und schlossen sich an, als die Menge weiterzog. Flammend. Schnell. Entzündet vom Glauben. Eine Schar Urlauber, feldmarschmäßig ausgerüstet, das Gewehr quer über dem Rücken und das Grauen des Schlachtfeldes in den Augen, schloß sich an. Alte Mütterchen kamen kaum mit. Kinder bekamen schmale Gesichter vor Staunen und ahnten das Große. Ein alter Polizeiwachtmeister mit grauem Spitzbart, das Trauerband am rechten Arme, bekam fanatische Augen und schloß sich an. Menschen, die dem Zuge entgegenkamen, machten kehrt, vom Feuer ergriffen. Radfahrer sausten durch die Straßen. „Die wollen Frieden machen!“ Die Wirtshäuser entleerten sich. Werkstätten, Baustellen entleerten sich. Transmissionen standen still. Eine Abteilung Soldaten unter Gewehr wurde mitgerissen. Gesänge der Liebe ertönten im Marschtempo. Kranke stiegen aus den Betten, schleppten sich ans Fenster. Kilometerlange Linien von Frauen, schräg bewegt, trieben aufeinander zu, stießen zum Zuge.
Ein Zwanzigjähriger — Fanatismus und Geist auf der Stirn — sprang aus einer menschengefüllten Seitengasse heraus, auf den Kellner zu, küßte ihn. Und sein heißer Blick öffnete die Herzen.
Die ganze Stadt war aufgestanden und schrie ein Wort. Friede! Das so gesprochene Wort wurde zu vieltausendstimmigem, gewaltigem Gesange. Alle Kirchenglocken läuteten.
Ihr Mann war Versicherungsagent gewesen, war gefallen, gestorben. Kopfschuß.
„Die Kugel hätte ihn auch in die Brust treffen können, ins Herz, in die Lunge. Die Kugel hätte ebensogut . . . den Magen meines Mannes zerfetzen oder die Wirbelsäule zersplittern können. Der eine stirbt so, der andere so. Das ist ganz gleich. Tot ist tot . . . Oder ein Bajonettstich in seinen Unterleib, daß mein Mann seine Gedärme, die er nie gesehen hatte, noch ein paar Minuten lang hätte betrachten können.“
Unwillkürlich legte die Frau schützend die Hand auf ihren hohen Unterleib: das Kind des toten Vaters bewegte sich.
„Versicherungsagent . . . Er hätte ebensogut irgend ein Handwerker, Kaufmann, Arbeiter, Beamter, Gelehrter sein können, ganz gleich was, die Kugel hätte ihn doch getroffen . . . Sauste auf meinen Mann zu und machte keinen Bogen um ihn herum, machte natürlich keinen Bogen um den armen Versicherungsagenten herum. Die Kugel wählt ja nicht aus. Trifft jeden . . . Ich, eine Versicherungsagentenwitwe, könnte ebensogut eine Beamten- oder Arbeiterwitwe sein. Zwischen mir und allen anderen gibts keinen Unterschied. Ich bin eine Kriegswitwe. Wie alle. Eine Kriegswitwe . . . Und wenn meinen Mann eine Granate so zerfetzt und in die Luft gesprengt hätte, daß nicht ein Teilchen seines Körpers mehr zu finden gewesen wäre? Ganz gleichgiltig! Tot ist tot . . . Mein Schicksal ist das Schicksal von Millionen Frauen. Einen Unterschied gibts gar nicht zwischen mir und allen anderen Frauen . . ., zwischen mir und der Nachbarin, die an der Ecke wohnt und seit drei Wochen auch keinen Mann mehr hat, zwischen mir und den . . . Ja wieviel Frauen sinds denn? Zwei Millionen vielleicht, die in ihrem Zimmer sitzen und, wie ich, an ihren toten Mann denken? Zum Fenster hinaussehen und an ihren toten Mann denken, Staub wischen, Kinder warten, Strümpfe stricken, kochen, auf die Arbeit gehen und an ihren toten Mann denken, an ihren toten Mann denken, toten Mann denken. Sich abends ins Bett legen und an ihren toten Mann denken. Zwei Millionen vielleicht? Zwischen all denen und mir gibt es keinen Unterschied. Unsere Männer sind tot . . . Der Nachbarin ihr Mann ist in einem Lazarett gestorben. Meiner durch Kopfschuß. War sofort tot. Ganz gleichgiltig . . . Kopfschuß! In die Stirn? Vielleicht bei der Nasenwurzel hinein? Oder durchs Auge hinein? Durch sein Auge? Ja aber, was geschah mit seinem Auge? Mit seinem lieben Auge. Mit dem Auge meines lieben Mannes . . . Ist ja ganz gleichgiltig; es ist ganz gleichgiltig, ob das Auge, die Brust, die Lunge, das Gehirn, der Unterleib zerfetzt wird. Tot ist tot . . . Millionen Kriegswitwen sitzen wie ich da und stellen sich vor, wie der Mann eigentlich gestorben sein mag. Es ist aber ganz gleich, wie er den Tod fand. Fand? Sucht man denn den Tod? . . . Und ob er jetzt Schlosser oder Student, Fabrikarbeiter oder Bauer, Gelehrter oder Beamter gewesen wäre, ganz gleich. Das ist ganz gleich . . . Es geht Millionen Frauen so wie mir. Gott sei Dank.“
‚Wieso denn Gott sei Dank?‘
Sie stand schwerfällig auf; die Hand blieb auf die Tischkante gestützt. „Das lindert.“ ‚. . . Was lindert?‘ „. . . Doch, das lindert. Es ist doch ein Unterschied, daß es nicht mir allein, sondern Millionen Frauen so geht. Ein bedeutender Unterschied. Der Unterschied ist sehr groß. Und es lindert. Ich würde es einfach nicht ertragen, wenn es mir allein so ginge. Sich das nur vorzustellen! Könnte ich es denn ertragen? Ich ganz allein! Das wäre unmöglich . . . Es geht Millionen Frauen so wie mir.“
Schon eine Weile hatte sie gedankenversunken in den Spiegel gesehen; jetzt erst bemerkte sie die Miene befriedigter Rachgier in ihrem Gesicht. Und sah ganz plötzlich Millionen Frauengesichter, schmerzbehangen.
„Das läßt einen das Unglück leichter ertragen, ertragen . . . Es geht eben allen so wie mir. Wir müssens ertragen, wir Frauen.“
„Und wenn du einen Menschen leiden siehst, so verdopple sich dein eigener Schmerz“, heißts, glaube ich, in der Bibel. Ganz im Gegenteil. Das lindert. Entweder lügt die Bibel oder wir Kriegswitwen lügen. Alles ist auch nicht wahr, was in der Bibel steht. Wir Kriegswitwen lügen nicht. Wer behauptet, daß wir Kriegswitwen lügen! Wir haben unsere Männer dem Vaterlande geopfert. Auf dem Altare des Vaterlandes geopfert. „Al . . . tar des Vater . . . landes“, schmeckte sie mit der Zunge, sah fernhin, versuchte, sich den Altar des Vaterlandes vorzustellen. Das gelang ihr nicht.
Immer wieder sah sie den Altar, vor dem sie als Mädchen das erste Abendmahl genommen hatte, sah Kerzen und das Christusbild. „Aber Altar des Vaterlandes? Gibts denn das überhaupt?“
Da machte ihr Wesen einen blitzschnellen Sprung zurück zu dem Glauben: „Ich habe meinen Mann auf dem Altare des Vaterlandes geopfert . . ., wie alle andern Kriegswitwen auch.“
„Der Altar steht allerdings nicht in einer Kirche, sondern ist ein mit Elektrizität geladener Stacheldrahtzaun, in dem dein Mann hängen geblieben ist“, versuchte der Schmerz zu flüstern, „also müßte man eigentlich sagen: geopfert im Stacheldrahte des Vaterlandes.“
Es gelang ihr, den noch ganz undurchlittenen Schmerz um den toten Mann wegzuhalten mit den Worten: „Er starb den Heldentod fürs Vaterland.“
Stolz glitt mit diesem Worte in ihr armes Herz hinein.