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Welche Charaktereigenschaften schlummern in der menschlichen Natur, in jedem von uns? Literarische Geschichten über die Kraft des Zusammenhalts Wie sieht eine Kirche für die Ewigkeit aus? Weithin leuchtend aus weißem Marmor, sagen die Maurer. Filigran verziert mit Schnitzereien, sagen die Zimmerleute. Inmitten des Streits der Zünfte hofft der Pfarrer darauf, dass seine Kirche rechtzeitig zu Weihnachten fertig wird. Ob die Messe in diesem Jahr erneut in der Scheune stattfinden muss? Mehr als zwanzig Kurzgeschichten erzählen von den zwei Seiten des menschlichen Ichs. Sie zeigen den Menschen als ein Wesen, das sich alle Mühe macht, beides zu sein: zugleich sein eigener Untergang und sein größtes Versprechen. Ein Blick in die Abgründe und Lichtblicke des Daseins, mal parabelartig, mal tierisch und unterhaltsam.
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Seitenzahl: 162
Vorwort
Der faule Kern
Bienenschwarm
Nachbars Garten
Der Leuchtturm
Der sture Baum
Der kurzsichtige Kapitän
Streit der Zünfte
Berge und Schluchten
Der selbstgerechte Zweifler
Sandburgen
Der Spekulant
Das diamantene Gleichnis
Der schiefe Ton
Der verstädterte Blick
Scheinperfekt
Die selbstlose Tat
Das idyllische Tal
Des Händlers Fluch
Der Wert des zweiten Blicks
Die Wolken
Wald von fremdem Namen
Das unerhörte Kind
Es sind die herausfordernden Zeiten, die uns zeigen, wie wir wirklich sind. Mit all den Wesenszügen, die uns Menschen erst ausmachen. Wir stehen füreinander ein, rücken zusammen und finden Trost in der Stärke und Wärme der Gemeinschaft.
Doch Krisen legen auch auf gnadenlose Weise die Missstände einer Gesellschaft offen. Sie bringen in uns schlummernde Charakterschwächen ans Tageslicht, die den Zusammenhalt auf Dauer untergraben und dem Eigennutz Vorzug geben. Einen Ausgleich zwischen den zwei Seiten des menschlichen Ichs zu finden, ist ein tägliches Werk. Diese Geschichten sollen dazu einen Beitrag leisten: Sie sind der Versuch, uns allen den zerbrechlichen Segen einer friedlichen Gesellschaft in Erinnerung zu rufen.
Ein flüchtiges Bild schweift im Kopf herum. Frei von Wort und Sinn geistert es umher, sucht langsam nach fester Gestalt und wächst an Größe, bis sich daraus der Kern eines Gedankens formt. Dieser Gedankenkern verbleibt unausgesprochen im Geist vergraben. Mancher vermag mit der Zeit zu reifen und an Güte zu gewinnen, doch mit diesem bestimmten verhält es sich anders. Einem im Nest vergessenen Ei gleich, gärt er vor sich hin, während seine schützende Schale immer fester wird.
Mit den Jahren ist sein Inneres faulig und ungenießbar geworden. Ein Gedanke, so fest geformt, dass weder kluges Wort noch gut gemeinte Tat ihm die Härte zu nehmen vermögen.
Eines Tages bahnt sich das Unausgesprochene seinen Weg. Von Wut und Geschrei getragen, bricht es hervor; unwiederbringlich, wie eine Gewehrkugel auf ihrem Weg. Eine Waffe, nicht in der Hand, sondern auf der Zunge.
Was wäre erspart geblieben, hätte der erste Gedanke direkt zur Sprache gefunden; noch ohne unnachgiebige Schale und verdorbenen Sinn. Vielleicht hätte es Unverständnis gegeben und harte Worte. Vielleicht aber auch: Verständnis und mitfühlende Worte, die einander bereichern, statt Wunden zu schlagen. Mit etwas Glück wäre dem Gedanken mit dem harten Kern ein Spross entstiegen, um als Blume in die Zukunft aller zu wachsen und seine Blüten zu entfalten. Und Taten wären Worte geblieben.
Dort, wo der Berg in seinem Anstieg nur kurz pausiert, um sich bald weiter in die Höhe zu schwingen, tauchen jeden Tag aufs Neue zögerliche Sonnenstrahlen die Bergwiese in erstes, fahles Licht. Ein Fleckchen Erde, von Mensch und Unruhe noch nicht ergriffen; ohne Weg und Straße, die es mit der restlichen Welt verbinden würden. Mit Blumen und Kräutern auf saftigem Grün; einem Bach, der dem Gestein entspringt; und einem Wald voller krummer Bäume, die sich an den Berg schmiegen.
Ein Ort der Stille und des Stillstandes, mag man meinen, so nah am Himmel, wie er ist. Nur hin und wieder unterbrochen vom Gezwitscher vereinzelter Vögel, dem Ruf des Adlers im Reich der Lüfte und dem Pfeifen alarmierter Murmeltiere. Doch mit etwas Zeit im Gepäck und dem Willen, dem Selbstverständlichen von Angesicht zu Angesicht zu begegnen, würde einem das kleine Reich gewahr, das dem schnellen Auge zumeist entgeht.
Sobald die Sonne am Himmel steht, das Gras noch feucht vom Morgentau, kommt sie mit ihrem Gesumm geflogen: Die Biene fliegt von Blüte zu Blüte. Fleißig und mit unstetem Flug erscheint sie hier und dort, bestäubt Blumen, Kräuter, Sträucher – alles, das ihrem Wirken bedarf – und fliegt mit ihrem Lohn am Leib hinfort. Begleitet von ihren Schwestern bringt sie die kostbare Fracht nach Hause, um ohne Pause weiter zu summen, bis der Abend ihr Tagewerk beendet. Ihr Bienenstock hängt – hoch genug, um auch den gefräßigsten Räuber abzuwehren – unter einem schützenden Felsvorsprung an der von der Mittagssonne erwärmten Bergflanke.
Im Bienenstock herrscht reges Treiben. Die Arbeitsbienen bringen Nektar, Pollen und Honigtau heran. Hat ein fleißiges Bienchen eine ergiebige Quelle gefunden, so teilt es das den anderen mit und die umtriebigen Schwestern folgen seinem Weg. Die Wächterbienen am Flugloch prüfen, ob sich unter den Abertausenden Bienen Feinde in den Bienenstock einschleichen und wehren sie ab, unter Einsatz von Leib und Leben. Im Bienenstock stellen die geschicktesten Arbeiterinnen Waben aus Wachs her und verarbeiten die gesammelte Fracht zu Honig, den sie für schlechte Zeiten sorgsam in den Zellen einlagern. Die Ammenbienen kümmern sich um die Aufzucht des zahlreichen Nachwuchses.
Über all dem wacht die Bienenkönigin und schafft Leben im Einklang mit den Jahreszeiten. Ihre einzige Sorge ist das Gedeihen ihres Hofstaates. Einst war sie auf gleicher Stufe mit den anderen aus ihrem Ei geschlüpft, in nichts von ihren Geschwistern zu unterscheiden. Nur die Zelle, in der sie heranwuchs, hatte auf das Schicksal hingedeutet, welches ihr die Arbeiterinnen zugedacht hatten. Als diese erkannt hatten, dass ihre alte Königin nicht mehr fähig war, den Bienenstock in eine erfolgreiche Zukunft zu führen, hatten sie geeint entschieden, gerade dieses Ei zur zukünftigen Regentin heranzuziehen. Wie ihre fleißigen Schwestern und arbeitsscheuen Brüder, deren einzige Aufgabe der Erhalt der Art werden sollte, versorgten die Ammen die kleine Larve mit dem Besten vom Besten. Doch während sie den späteren Arbeiterinnen und Drohnen schnell magere Kost vorsetzten, war die königliche Larve weiterhin mit energiereicher Nahrung verwöhnt worden.
Mit diesem Vorsprung durch Hege und Pflege, hatten die Arbeiterinnen sie in ihrer Zelle eingemauert. Einige Tage später war sie als voll entwickelte Königin aus ihrem Gefängnis auf Zeit hervorgebrochen. Ihre Schwestern hatten sich zuerst als Putz- und Ammenbienen beweisen und schließlich als Bau- und Wachsbienen ihren Dienst für die Gemeinschaft leisten müssen, um dann auf die höchste Stufe der Wächterinnen und Sammlerinnen zu steigen. Währenddessen die junge Königin zusammen mit den Drohnen ihren ersten und letzten Flug nach draußen getan hatte, um sich begatten zu lassen. Die alte Königin hatte ihr friedlich das Zepter übergeben und war mit einem Teil der Getreuen weitergezogen, um Platz für etwas Neues zu schaffen. Seit ihrer Rückkehr hatte die junge Königin ihr Schloss aus Wachs und Honig nicht mehr verlassen und sich von da an daran gemacht, Leben zu schenken und über das Wohlergehen ihrer Untergebenen zu wachen.
Doch eine Bienenkönigin schenkt nicht nur Leben, sie blickt auch weise in die Zukunft. Unter ihrer einvernehmlichen Herrschaft sind die Honigvorräte darum stets gut gefüllt. Die Arbeiterinnen sammeln von morgens bis abends so viel an Nektar, Pollen und Honigtau, wie sie zum Bienenstock fliegen können, und nehmen damit Teil am Kreislauf von Fülle und Wachstum. Wenn die Königin spürt, dass sich schlechtes Wetter ankündigt, teilt sie es den Arbeiterinnen mit und sie sammeln am Tag vorher mehr, um den Ausfall aufzufangen. Wenn es schließlich in dieser unbeständigen Höhe erst einmal zu regnen anfängt, kann es gut für Tage so bleiben. Das Leben gedeiht auf dieser hoch gelegenen Wiese knapp unter den Wolken – und das verdankt sie den emsigen kleinen Helferinnen.
Jede Biene leistet ihren Beitrag aus eigenem Antrieb. Jeglicher Egoismus des Menschen ist ihnen fremd und die Königin strebt nicht nach Macht und Anerkennung, sondern versteht sich als Teil eines großen Ganzen. Eines Tages wird sie ihren Vorgängerinnen folgen: Entweder ihre Aufgabe erfüllen, bis die Zeit sie nimmt, oder mit einem Teil der Schar der Zehntausenden weiterziehen und das Zepter an ihre Nachfolgerin übergeben. So war es immer und so sollte es auch immer sein.
Doch mit einem Mal zerbricht das friedliche Gleichgewicht. Die Bienen fangen an, sich selbst in der Masse zu sehen und den eigenen Flügelschlag herauszuhören. Sie beginnen davon zu träumen, selbst Königin zu sein – nicht aus dem Drang heraus, den Kreislauf des Lebens zu erhalten, sondern um zu herrschen und einen eigenen Bienenstock mit Hofstaat ihr Eigen zu nennen. Anscheinend waren die Waben am Ende zu gut gefüllt, dass sie nun in einer Zeit des Überflusses zu der Ansicht gelangen, einander nicht mehr zu brauchen. Möglicherweise ist es aber auch der sich ändernde Wind, der aus der Welt unten tief im Tale zu ihnen nach oben dringt. Vielleicht trug er den zerstörerischen Geist des Menschen mit sich. Vielleicht ging er auf die Bienen über – und mit ihm Verstand und Seele.
Jetzt suchen sich die Ammenbienen unter den hungrigen Larven Lieblinge heraus, während sie anderen Hilfsbedürftigen den Rücken zukehren. Sie hegen und pflegen ihre Auserwählten, damit sie groß und stark werden, um später in ihrem Schatten etwas von der Macht abzubekommen. Junge Bienen, gerade erst ihren Zellen entschlüpft, tun sich lieber am so schwer gesammelten Honig gütlich, statt zu heizen und zu putzen, oder folgen dem vielversprechenden Beispiel der Ammenbienen. Die Wachsbienen stellen immer weniger Baumaterial her, was lieber für die großen Geburtszellen der vermeintlich zukünftigen Königinnen verbraucht wird. Den wenigen Baubienen, die noch ihre Arbeit verrichten, lassen sie kein Material mehr übrig, mit dem sich der Bienenstock vergrößern oder verstärken ließe. Der kleine Palast zerfällt zusehends und bald verdreckt Unrat die Waben.
Die Sammlerinnen erfüllen ihre Aufgabe lange nicht mehr mit dem Schwung, den sie sonst an den Tag legen. Sie sehen nicht mehr ein, dass andere sich an ihren Mühen laben, und legen Verstecke an, wo sie eigenen Honig lagern.
Die selbsternannten neuen Regentinnen verstärken ihre Stellung innerhalb des Hofstaates und scharen Verbündete um sich, während sie auf den passenden Moment warten, um die Macht an sich zu reißen. Selbst einfache Arbeiterinnen träumen vom Platz an der Spitze und verschwören sich miteinander.
Die bisher unangefochtene Königin sieht nun nur noch Rivalinnen und klammert sich umso mehr an ihre liebgewonnene Herrschaft. Auch sie versammelt ihre Gefolgsleute und die noch so einstimmig gewählte wie selbsternannten Regentinnen bekämpfen einander.
Viele der unterlegenen Umstürzlerinnen verlassen den Bienenstock, um anderswo ihr eigenes Volk zu gründen, und der verbleibende Hofstaat wird immer kleiner. Überall tauchen neue Bienenstöcke auf – kleiner als der Stammsitz unter der Felswand und weniger gut gebaut, aber trotzdem unabhängige Staaten, die ein eigenes Revier verlangen. Schnell wird es schwierig, genügend Nektar, Pollen und Honigtau zu finden und die Vorräte der abtrünnigen Staaten wachsen nur langsam.
Die am Stammsitz verbliebenen Wächterbienen wachen nun nicht mehr am Eingang, sie fliegen lieber mit den Umstürzlerinnen davon oder versüßen sich das Leben auf Kosten der schweren Arbeit anderer. So bleibt keine Wächterin mehr übrig, um den immer leerer werdenden Bienenstock gegen Eindringlinge zu verteidigen. Das fällt vorerst nicht schlimm ins Gewicht, gibt es hier oben doch so gut wie keine Räuber, die ihrem Bienenstock gefährlich werden könnten.
Doch gibt es einen Feind, der sie alle gleichermaßen bedroht und keinen Unterschied zwischen Königin und Putzbiene macht. Der Winter kommt mit aller Macht und trifft auf ein unvorbereitetes Opfer. Während der Felsvorsprung die schlimmste Kälte abhält, setzt sie den zersplittert hängenden Bienenvölkern unbarmherzig zu. Wie viel Kraft und Energie sie auch darauf verwenden, einander zu wärmen – sie sind zu wenige, die Vorräte bei Weitem zu überschaubar und ihre in aller Eile erbauten Behausungen den Elementen zumeist so ungeschützt ausgeliefert, dass der Tod sie bald bedroht. Der Winter zeigt ihnen, unbarmherzig wie er ist, dass nur überdauert, wer mit anderen zusammen allen Widrigkeiten trotzt.
Die abtrünnigen Königinnen spüren nun, dass die Arbeiterinnen, die sie mit ihren Leibern zu schützen suchen, allesamt sterben werden, wenn sie an Ort und Stelle verbleiben, und vernehmen das Flehen der alten Königin, die verzweifelt versucht, ihr altes Volk wieder zusammenzurufen. Da erinnern sich die Abtrünnigen wieder an ihre vornehmliche Aufgabe: den Erhalt des Lebens.
Die Königinnen selbst sind zu schwer und zu langsam, um es mit dem Schneetreiben aufzunehmen. Also schicken sie die Arbeiterinnen allein zum Stammsitz, um den Hofstaat zu vereinen, obwohl sie damit ihr eigenes Todesurteil unterschrieben. Die Arbeiterinnen saugen so viel von dem dringend benötigten Honig auf, wie sie wagen können. Dann machen sie sich auf den Flug. Im Winter ist es die Biene nicht gewohnt zu fliegen. Die Kälte lässt ihre Kräfte allzu schnell erlahmen und so sterben viele Arbeiterinnen bei ihrem verzweifelten Versuch und fallen in den unberührten Schnee. Nur wenige schaffen es, ihrem uralten Instinkt zurück zum angestammten Bienenstock zu folgen.
Gerade angekommen schließen sie sich in der Mitte des Bienenstocks mit den verbliebenen Schwestern zu einer Traube zusammen. Mit ihrem gleichmäßigen Flügelschlag und dem Zittern ihrer Körper erzeugen sie genügend Wärme, um zusammen die kalten Nächte zu überstehen. Den Honig teilen sie in dieser Zeit schwesterlich zu gleichen Teilen.
Wie der Winter sich verabschiedet und der Frühling Einzug hält, sind die Bewohnerinnen des Bienenstocks auf dem Berge von jeglicher Anwandlung menschlichen Strebens geheilt. Die Königin erfüllt ihre Aufgabe wie einstmals als Teil eines größeren Planes und die Arbeiterinnen arbeiten wieder emsig, wie eh und je, dass es ein Uhrwerk nicht besser könnte. Das Summen kleiner Flügel erfüllt wieder die Bergwiese und sorgt für die Hülle und Fülle, die unsereins so beiläufig mit Blicken streift – und doch so nötig braucht.
Nicht weit von hier, gleich in Nachbars Garten, trug sich einst eine Geschichte zu. Der große Garten lag an einem Fluss: ein fruchtbares Stück Land mit einer Scheune und einer alten Eiche in der Mitte. Hecken und Zäune umschlossen den Garten mit seinen Obstbäumen, Sträuchern, Blumen- und Gemüsebeeten. Die Vögel, die den Garten zu ihrer Heimstatt gewählt hatten, teilten sich seine üppig bereitgehaltenen Gaben mit den anderen Tieren, die dort kreuchten und fleuchten. Sie achteten aufeinander und warnten sich gegenseitig vor drohender Gefahr. Mit ihrem Geträller begleiteten sie den Sonnenschein und das üppig sprießende frische Grün. Sie grüßten einander beim Namen und erzählten sich dies und das; hörten zu und antworteten einander.
Doch von einem Frühling auf den anderen änderte sich etwas in dem friedlichen Garten. Im Geheimen heißt es, Herr Taube sei der Erste gewesen. Er setzte sich mit Frau Taube in den Kirschbaum und gurrte laut und vernehmlich, dass dieser Baum und seine Früchte nur noch ihnen und ihrer Brut zustanden und niemandem sonst. So kam es, dass Familie Meise den Nistkasten an zweitbester Stelle des Gartens bezog und die Sträucher rundherum sowie den Pflaumenbaum zu ihrem angestammten Sitz erklärte. Die Amsel ließ sich im Apfelbaum nieder und wachte in seinem Schatten. Die Sperlinge bezogen in den Hecken der Südseite und die Finken in den weitläufigeren, wenn auch spärlicheren Hecken der Nordseite und auf dem angrenzenden Rasen Stellung. Die Drossel erhob Anspruch auf die Schnecken und das Getier in den Blumenbeeten. Um das vielversprechende Gemüsebeet herum flogen die Spatzen Patrouille. Der Zaunkönig residierte, dem treffenden Namen nach, auf dem Zaun am Fluss, der reichlich Mücken versprach. Die Nachtigall erklärte auf dem Scheunendach mit lautem Klang ihre Unabhängigkeit, und der Eichelhäher keckerte aus der alten Eiche gleich daneben sein eigenes Lied.
Die Vögel kümmerten sich nicht mehr um das Wohlergehen der anderen und achteten stattdessen eifersüchtig darauf, dass ja niemand etwas von ihren Bäumen und Vorräten stahl oder sich auf dem Ast nebenan niederließ. Sie lehrten ihre Küken, nur mit der eigenen Brut zu singen und zu spielen. Aus voller Kehle trällerte nun jede Art für sich. Nicht um eine schöne Gesangseinlage zu bieten, die den Sonnenschein und das frische Grün umschmeichelt, sondern um die anderen zu übertönen und Besitzansprüche geltend zu machen. Sie schreckten auch nicht davor zurück, sich aufzuplustern und einander zu bedrohen. Wer nicht hören wollte, bekam es mit Schnabel, Kralle und Flügel zu tun. Jeder hatte nur noch die eigene Art und ihr Wohlergehen im Sinn.
So kam es, dass das sonst so große Angebot des Gartens immer schmaler wurde. Die Tauben lebten einen Monat im Schlaraffenland und mussten hungern, sobald der Kirschbaum leergefressen war. Dann schauten sie sehnsuchtsvoll zu dem Pflaumenbaum und dem Apfelbaum herüber, die bereits zarte Früchte trugen, oder malten sich aus, im Blumenbeet nach jungen Insekten zu suchen. So ging es nach und nach allen Vögeln. Sobald ihr Reich leergefressen war, hungerten sie, denn die Jahreszeiten kamen und gingen, wie sie wollten.
Irgendwann machten die Starken den anderen ihren Besitz streitig und die Schwachen mussten fortfliegen. Der einst so friedliche Garten mit dem so lieblichen Gesang aus verschiedenen Schnäbeln war zu einem Ort geworden, an dem Neid, Egoismus, Gewalt und Hunger gediehen. Wo zuvor noch Gesang durch den Garten wehte, ward er zu einem grausigen Hickhack lauter Stimmen verkommen, die sich zu übertönen suchten.
Eines Tages, angelockt vom vielstimmigen Streitgesang, kam der Marder in den Garten geschlichen. Anders als sonst war der Eichelhäher nicht auf der Wacht, denn er war damit beschäftigt, seinen Eichelvorrat zu verstecken und nach unerwünschten Blicken Ausschau zu halten. Der Marder hatte leichtes Spiel: Die Vögel waren zerstritten und so schnappte er sich den lautesten Schreihals zuerst. Er brauchte seine Augen nicht einmal anzustrengen und einfach seinen Ohren zum nächsten Opfer zu folgen. Ungestört trieb er sein Unwesen. Wenn das eine oder andere verschlagene Federvieh es anfangs begrüßt hatte, dass der Marder einen Baum von den ungeliebten Nachbarn befreite, so änderte es seine Meinung schnell. Der Marder nahm nämlich nicht nur mit den Küken des einen Vogels vorlieb, er kletterte in alle Ecken und machte sich über die Sprösslinge eines jeden her. Da verstummten die Vögel in ihrem eigennützigen Gezeter.
Wie so oft brauchte es nur einen, um den ersten Schritt zu wagen. Die Amsel grüßte Sonnenschein und frisches Grün wie zu früheren Zeiten. Wenn auch zögerlich und lang nicht mit vollem Klang, ermutigte sie die anderen, mit einzustimmen. Natürlich machte der Marder sich schnurstracks auf den Weg, sie zu fangen. Doch der Gesang des einen Vogels verstummte und ein anderer begann an seiner Stelle. Also machte der Marder kehrt, um sich seiner anzunehmen. Auf halber Strecke wurde aus dem Gesang ein Duett und der Marder blieb zögernd stehen. Er war gerade dabei, eine Wahl zu treffen, auf wen er sich zuerst stürzen wollte, da fielen mehr und mehr in den Gesang mit ein, der zu einem wahren Chor anschwoll. Der Marder wandte sich mal hierhin und mal dorthin und drehte suchend den Kopf, bis ihm schwindelig wurde. Ihren Gegner ermüdet, gingen die Vögel zum Angriff über. Sicherlich, sie waren keine Adler mit großen Schnäbeln, keine Falken mit schnellen Schwingen und scharfen Krallen, und der Marder hätte jedem allein im Handumdrehen den Garaus gemacht. Aber er ist ein Jäger, der im Chaos seine Beute findet. Gegen alle Vögel des Gartens, die sich in einem Schwarm erhoben, hatte er keine Chance. Die einen flogen Scheinangriffe, während andere mit ihren Schnäbeln pickten und mit ihren Krallen ausholten. Sie rupften dem Marder sprichwörtlich das Fell und hinterließen schmerzende Spuren. Sobald der Marder sich umwandte, um seinen Gegner zu stellen, zwickte ihm schon ein anderer in den Schwanz. Mir nichts dir nichts hatten die Vögel den Garten vom Marder befreit. In ihrer Freude über den gemeinsamen Sieg und der Trauer um die verlorenen Artgenossen besannen sich die Vögel der alten Zeit, in der alles friedlich gewesen war. Eintracht hielt Einzug und der Gesang wurde wieder zum gutmütigen Geträller von einst. Herr Taube teilte wieder mit den anderen und sie gaben alle aufeinander acht. Nachbars Garten verwandelte sich erneut in eine Oase der Fröhlichkeit und des Überflusses. Nichts erinnerte mehr an das Drama, dass sich dort noch vor kurzer Zeit zugetragen hatte. Nur der Eichelhäher hörte nicht auf, wachsam zu sein. Denn der Marder war nicht gänzlich verschwunden. Er war nur ein paar Gärten weitergezogen.