Der Mönch von Eberbach - Holger Höcke - E-Book

Der Mönch von Eberbach E-Book

Holger Höcke

4,3

Beschreibung

1525, zur Zeit der Bauernaufstände. Bruder Clemens Korn aus der Zisterzienser-Abtei Eberbach wacht in einer Kerkerzelle auf. Nach und nach kehren seine Erinnerungen daran zurück, wie er dorthin gekommen ist. Seinem Zellennachbarn Peter erzählt er von den Ereignissen: Die Reise nach Köln, wo er den Klosterwein verkaufen soll, ist von schlimmen Vorzeichen geprägt. Als er zurückkommt, lagern auf der Heide vor der Abtei aufständische Bauern. Die Mönche des Klosters werden immer wieder attackiert. Clemens lernt zwei aus der Reihe der Aufständischen kennen: Konrad, mit dem ihn eine besondere Beziehung verbindet, und Marie, seine zukünftige tragische Liebe. Clemens kommt einer Verschwörung auf die Spur, deren Akteure auch innerhalb der Klostermauern zu finden sind und die mit den Bauern gemeinsame Sache machen. Als Clemens dem Kerker entrinnt, kommt es zur Konfrontation mit dem Verräter. Das großartige und seinerzeit einflussreiche Kloster Eberbach, zwischen Wiesbaden und Rüdesheim am Rhein gelegen, das als Filmkulisse für Der Name der Rose diente, bietet den Schauplatz für einen spannenden und zeithistorisch verbrieften Roman um den Infirmar Clemens. Der Mönch ist als Arzt seiner Zeit weit voraus, aber sicher in seiner katholischen Glaubenswelt beheimatet, bis die Ereignisse um Reformation und Bauernkriege alle Verhältnisse umkehren.

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»Du wirst bemerkt haben, Adson, dass die interessantesten Dinge hier immer nachts geschehen.«

Umberto Eco: Der Name der Rose

I. De profundis1

Mauern, Kälte, Dunkelheit.

Wo war ich?

Eben hatte ich noch geglaubt, in meiner Zelle zu erwachen, in meinem Habit, auf der harten Pritsche, wollte mich erheben und mich fertig machen zu den Vigilien2. Ich dachte, durch die dünnen Wände die Geräusche der Mitbrüder zu hören: das Gähnen und Stöhnen, das Knacken der Gelenke, wenn sie sich strecken, um den Schlaf zu verjagen. Dann musste erneut der Ruf des Bruders Sakristan3 ertönen, der mit einem Licht in der Hand kommt, um uns zu wecken: BenedicamusDomino! Lasst uns den Herrn loben! Ich wollte aus meiner Zelle treten, die sich ganz hinten im Dormitorium4 befindet, die neun Säulen entlanggehen, die Nachttreppe hinunter in die Kirche steigen, und dann würden die Gebete folgen, die Gesänge, das Gotteslob. Abläufe, Riten, tausend Mal ausgeübt, vertraut und sicher.

Nichts von alledem. Nichts. Die Stirn brannte, der ganze Kopf dröhnte wie eine Trommel, die Augen glichen flüssigem Blei und wollten schier aus dem Schädel treten. Die Zunge trocken wie Sand an einem wasserlosen Ufer. Das Gedächtnis leer – wie ein abgeschabtes Pergament. Da formte sich ein Satz auf diesem leeren Pergament, die Worte eines Psalms: Meine Seele ist übervoll an Leiden und mein Leben ist nahe dem Tode. Ich bin gleich denen geachtet, die in die Grube fahren, ich bin ein Mann, der keine Kraft mehr hat. Ich liege unter den Toten verlassen wie die Erschlagenen, die im Grabe liegen.

Im Grabe. Das musste die schreckliche Wahrheit sein: Ich war tot.

Hatte mich der Herr abberufen, in meinem zweiunddreißigsten Lebensjahr, nicht gerade in der Blüte der Jahre, aber dennoch früher, als es meine Gesundheit eigentlich erwarten ließ? Drohte jetzt das Fegefeuer? Da blitzte eine Erinnerung auf: Das Fegefeuer … der Ablass … ein Mönch aus Wittenberg und seine Thesen … so hatte alles angefangen in diesen Zeiten, deren Ordnung ins Wanken geraten war, gerade so wie ein Felsbrocken, der tausendfünfhundert Jahre auf einem hohen Berg gelegen hat, plötzlich schwankt, wackelt und am Ende mit Getöse herunterfällt und alles zerschlägt.

Mauern, Kälte, Dunkelheit.

Die Mauern. Ich lag auf meiner rechten Seite in irgendeiner Ecke. Härte an Rücken und Gesäß. Härte auch von unten, grobe Steine, die ich durch dünnes, vergammeltes Stroh fühlte. Nur unter dem Kopf hatte ich etwas Weicheres, vielleicht eine alte Decke, die muffig und säuerlich roch. Mir war leicht übel.

Die Kälte. Frösteln am Leib, die Hände und Füße gefühllos wie Eisblöcke. Ich wollte meinen Habit zusammenraffen und noch fester um mich ziehen, da bemerkte ich, dass ich einfache Kleidung trug, eine wollene Hose und ein kratzendes leinenes Hemd, darüber einen schmierigen Kittel aus grobem Tuch. Ich versuchte die kalten Füße aneinander zu reiben und spürte schweres, klobiges Schuhwerk.

Die Dunkelheit. Nacht und nichts. So musste es am ersten Tage gewesen sein, als Gott Himmel und Erde schuf. Und die Erde war wüst und leer, es war finster auf der Tiefe, und der Geist Gottes schwebte auf den Wassern. Finsternis, Dunkelheit, ohne Trost, ohne Menschen, ohne Hoffnung. Gerade so war es hier. Aber kein Schöpfer, der das Licht entzündete. Und kein schwebender Heiliger Geist als Tröster.

Was war passiert? Wie war ich nur in diese elende Lage gekommen?

Plötzlich füllten sich die Seiten meines Erinnerungs-Pergaments erneut mit undeutlichen Sinnfetzen. Er, der Vermisste. Sie, das Mädchen. Die Nacht. Das Fass. Der freche Gesang. Flucht und Kämpfe …

Ganz langsam, so, wie eine Schnecke die Strecke einer Elle zurücklegt, kehrten die Gedanken zurück. Ich versuchte, ein Gefühl für den Körper zu bekommen, und drückte den Rücken gegen das harte Mauerwerk, alle Muskeln angespannt, verkrampft. So verweilte ich und horchte in mich hinein. Ich blieb liegen, wohl so lange, wie ein Salve Regina5 dauert.

Schließlich rang ich mich trotz der hämmernden Schmerzen dazu durch aufzustehen, um meine Lage zu erkunden. Hätte ich jetzt nur ein wenig Minzöl, ergänzt mit einer Spur Melisse, um mir eine lindernde Kompresse zu bereiten. Die beiden Kräuter im richtigen Verhältnis, wie ich sie für die Kranken zu bereiten verstand, hatten stets ihre Wirkung getan. Oder ein warmes Bad im Infirmarium6, in einer der großen Wannen, gefüllt mit angenehm temperiertem Wasser, ein Zusatz von duftenden Essenzen und Kräutern, blumigem Lavendel oder würzigem Rosmarin …

Ich zog die Beine an und stemmte mich hoch, es gelang mit zittrigen Knien. Tastete mich am kalten Mauerwerk entlang nach rechts, immer weiter, und nach zehn Fuß7 stieß ich auf die nächste Ecke. Als ich zwei Wände und zwei Ecken abgeschritten hatte, sank ich vor Erschöpfung nieder. Nach einigen tiefen Atemzügen setzte ich den Weg kriechend fort. Da machte ich eine Entdeckung: In der dritten Wand ertastete ich etwas Raues, das sich nicht wie Mauerwerk anfühlte. Holz. Es war eine starke Tür aus mächtigen Bohlen mit eisernen Beschlägen. Im selben Moment hörte ich ein heiseres Lachen und eine Stimme füllte den Raum.

»Verschlossen, Bruder, setz dich wieder hin und leiste mir Gesellschaft. Wir sind zum Verfaulen verurteilt. Zum Verfaulen, Bruder, und zum Verwesen!« Und nach einer kurzen Pause: »Die Ratten werden unsere armen Knochen abnagen, und kein Fleisch wird mehr an uns sein am Tage des Jüngsten Gerichts, wenn da antreten werden die Gerechten und die, welche zur Verdammnis bestimmt sind.«

In diesem Augenblick wurde es Licht.

Eine dunkle Masse bewegte sich, wechselte die Stellung und ein scharfer Schein schnitt in meine Augen. Erneut erschallte ein krächzendes Lachen und wurde von den Mauern als gespenstisches Echo zurückgeworfen. Ich bin nicht allein, durchzuckte es mich. Dann fiel ich in eisigem Schrecken zu Boden und mein Geist sank in die Dunkelheit zurück.

Als ich wieder zu mir kam, bemerkte ich eine Hand, die meinen Hinterkopf stützte. Die Berührung fühlte sich ungewohnt an, pelzig und stachelig. Ich tastete mit einer Hand nach meinem Haupt und merkte, dass meine Tonsur nicht mehr wie vorgeschrieben war. Auch spürte ich einen schmerzenden Wundschorf.

»Bruder, willkommen im Abgrund«, sagte die raue Stimme. »Gepriesen sei der Herr, dass du bei Bewusstsein bist – so hab’ ich endlich jemanden zum Reden. Es war entsetzlich einsam in den letzten Stunden.«

»Was ist passiert, wo bin ich?«, wollte ich fragen, doch es kam kein Laut heraus. Nur ein Gurgeln quälte sich aus meiner Kehle.

»Einen Augenblick«, sagte das fremde Wesen, »gleich geht es etwas besser.«

Es ließ meinen Kopf sanft auf ein Büschel Stroh gleiten und entfernte sich. Ich hörte Schritte, dann ein Kratzen auf dem Boden, die Schritte näherten sich wieder. Mein Kopf wurde erneut angehoben und ein Krug an meine Lippen gesetzt. Ich spürte den schmierigen Rand des Gefäßes und trank vorsichtig, mit schmerzender Kehle. Als ich ein paar Schlucke getan hatte, hielt ich inne. Mein Wohltäter setzte den Krug ab, und ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen: schroff und trocken, zugleich aber geschwollen.

»Ja, trink nur«, sagte er. »Es ist zwar eine üble, abgestandene Brühe, aber besser als nichts. Warte, ich hole dir auch etwas zu essen.« Kurz darauf führte er mir einen spröden Brotkanten zum Mund.

Ich wehrte ab. »Wo bin ich? Wo sind wir?«, konnte ich nun endlich mit matter Stimme hervorstoßen.

»Im Abgrund, mein lieber Klosterbruder. In der Hölle, im Schlund des Todes. Wir sind Verlorene. Wie ich schon sagte: ein Schmaus für die Ratten.« Und abermals erklang ein raues, aber wie ich in meinem benebelten Sinn dennoch völlig klar feststellte, ein fröhliches, ja herzliches Lachen, und der Widerhall hämmerte auf mich ein.

»Wer bist du?«, wollte ich wissen und fragte mich gleichzeitig: Wer bin ich? Denn noch hatte ich nur eine vage Ahnung von meinem Wesen, meiner Existenz.

»Ich? Mein lieber Bruder! Fragt er mich, wer ich bin, der liebe Klostermann, hei! Der Klostermann im falschen Gewand. Hahaha! Kennt den alten Peter nicht! Den Pi-pa-po, den Peter!« Er stand auf und ging im Raum herum.

Allmählich konnte ich die Umrisse seiner Gestalt wahrnehmen. Der Raum, in dem wir uns befanden, wurde, wie ich nun erkannte, schwach durch einen dünnen Kienspan erhellt, der auf einem kurzen eisernen Halter aufgesteckt war. Er war doch nicht mehr so finster, wie es mir im Moment des Augenöffnens vorgekommen war. Wahrscheinlich hatte Peter zuvor die Flamme mit seinem Körper oder seinem Gewand verdeckt. Allmählich konnte ich auch einen weiteren, schwachen Lichteinfall ausmachen: ein Fenster mit einem Gitter in Form eines Kreuzes, aber viel zu weit oben, wohl zwei Mann hoch. Es stank nach Urin.

Und wie die Sonne nach einem Gewitter plötzlich klar und hell hinter der letzten Wolke hervortritt, unerträglich stechend und zu stark für die Augen der Sterblichen, so traf mich auf einmal mit voller Wucht die bittere Erkenntnis dessen, was ich in den vergangenen Wochen und Monaten getan hatte und wo ich mich in diesem Moment befand.

Dies war ein Verlies, ein Kerker!

Der von der Sonne Geblendete kann sich mit der Hand die Augen schützen, kann Helm oder Hut tiefer ins Gesicht rücken, unsereins kann die Kapuze ein Stück nach vorn ziehen; doch vor dieser Erkenntnis schützte mich nichts: Ich war gefangen.

Ich sah hinauf zum Fensterkreuz und wünschte mir, ich wäre damals bei Nacht in meiner Zelle geblieben, schlafend oder noch besser: betend und meditierend …

Da trat der seltsame Peter auf mich zu und beugte sich zu mir nieder. Er hob den Kienhalter und hielt die Flamme genau zwischen unsere Gesichter, sodass ich mir von ihm ein Bild machen konnte. Zwischen Flamme und Fensterschein erschien er in einem seltsamen Zwielicht. Der Mann war klein, sehr hager und hatte dunkles, leicht gelocktes Haar, das ihm in wirren Fransen bis auf die Schultern hing. Das Gesicht war ebenfalls sehr schmal, das hervorspringende Kinn wurde durch einen von grauen Fäden durchzogenen Spitzbart noch markanter. Aber das Auffälligste in diesem Gesicht war vielleicht der grinsende Mund, in dem ich gute, kräftige Zähne bemerkte, jedoch auch eine Lücke: Ein Schneidezahn links oben fehlte; es war noch eine klaffende Wunde zu sehen. Ja, dieser fast rechteckig aufgespannte Mund mit den gefletschten Zähnen war ein … was soll ich sagen, ein Ochsenmaul, ein Riesenschlund, von dem ich nicht mehr den Blick abwenden konnte.

Peter reichte mir erneut ein Stück trockenes Brot, in das ich jetzt gierig biss. Es schmeckte nach nichts und war hart, daher tastete ich nach dem Wasserkrug. Peter schien meine Absicht zu erraten, holte das Gefäß herbei und zeigte sein Grinsen. »Nein, mein guter Mönch«, sagte er, »mit diesem Brotkanten habe ich mir den Zahn nicht ausgebissen, auch wenn er hart ist wie ein Stück Eichenholz.« Offensichtlich hatte er bemerkt, dass ich auf seinen offenen Mund starrte. »Das war in Pfeddersheim, einer der Söldner der frommen Herren Fürsten, mit einem hübschen Hieb, hahaha.«

Pfeddersheim, die Söldner, die Schlacht: weitere Steine im Mosaik meiner Erinnerung. Alles fügte sich zusammen. Und während ich kaute und schluckte, lebte die Vergangenheit wieder auf. Mich schauderte.

»Guter Mönch, hast du denn auch einen Namen?«, fragte Peter. »Wenn wir schon hier zusammen schmachten müssen, will ich wenigstens etwas über meinen lieben Bruder Mitgefangen wissen. Hei, Brüderlein, hast ja schon viele Stunden lang in Ohnmacht hier gelegen und auch ein wenig im Schlaf geredet, oh ja, vom Wein und vom Feuer auf irgendeiner Heide, Bruder Mitgefangen, ja, das ist gut, das gefällt mir, oder lieber auf Lateinisch, haha: Bruder Concaptus – Frater Concaptus! Hahaha, hoho!«

Wieder wurde das Lachen als gespenstisches Echo von den Wänden der Zelle zurückgeworfen, und dennoch linderte Peters überschäumende Fröhlichkeit – war sie nun gespielt oder kam sie von Herzen – meine trüben Gedanken. Ich glaube, wenn nicht dieser merkwürdige Mensch bei mir im Kerker gewesen wäre, ich hätte verzweifeln und in Tränen ausbrechen müssen. Und sonderbar: Sein Lachen war so ansteckend, dass ich, die Regel des heiligen Benedikt außer Acht lassend, sogar selbst lachen musste. Dieses Lachen schenkte mir für einen Moment die Freiheit, ließ mich alle Kerkermauern niederreißen.

Frater Concaptus – woher konnte dieser Mann Latein? Offensichtlich war er kein einfacher Bauer wie so viele in diesen Zeiten des Aufstands, die sich mit anderen zusammenrotteten und sich den Heeren der Fürs­ten entgegenstellten. Sie waren wie reife Ähren, der Sense harrend, die sie niedermäht ohne Erbarmen. Ja, unbarmherzig hatte sie zugeschlagen, die Obrigkeit, in den Schlachten bei Böblingen, Frankenhausen, Pfeddersheim und wie sie alle hießen, die Stätten des furchtbaren Fürs­tengerichts.

Und so beschloss ich in einer grotesken Mischung aus Verwunderung, Ablehnung und Sympathie, mich auf diesen sonderbaren Vogel, diesen Peter einzulassen und ihm zu antworten. »So weißt du bereits, dass ich ein Gottesmann bin? Ja, ich bin ein Zisterziensermönch aus Eberbach im Rheingau. Man nennt mich …«

In diesem Augenblick hörten wir hinter der Zellentür schlurfende Schritte. Ein Schlüsselbund klirrte; schwer und langsam schwang die dicke Tür auf. Ich nahm den Kienspan und leuchtete. Ein Hauch frischer, kühler Luft drang herein und ließ das Licht flackern.

»Aha, der andere Kerl ist wach!«, sagte eine hohe, ölige Stimme. »Gut, gut, du Wicht, dann kannst du dich bald auf deine Hinrichtung freuen.« Der Wächter trat ein, ein kräftiger Mann mit buschigen Brauen über finsteren Augen. Er machte die Bewegung des Halsabschneidens. »Hier ist noch einmal Brot und Wasser, dass ihr Gesindel mir inzwischen nicht verschmachtet. Auf, nimm schon, du Madensack, greif zu, ich habe nicht ewig Zeit!«

»Das gute Wasser, ja«, ließ sich mein Mitgefangener hören, »hei, jetzt brauchten wir ein Wunder, um aus dem frischen Trunk einen köstlichen Rebensaft zu machen, wie unser Herr es in Kana gewirkt hat, haha.«

»Ach, der andere Mordbube ist auch noch da mit seinem frechen Mundwerk. Warte nur ab, du Schurke und Bauernfreund – Halsabschneider, der du bist, dich kriegen wir schon auch noch klein!«

»Den kleinen Peter willst du noch kleiner kriegen, das geht ja gar nicht.« Und als ob er vollends toll geworden wäre, begann mein Zellengenosse zu singen: »Der Peter, der Peter, da steht er, da geht er, das ist mir schon einer, den kriegt keiner kleiner!«

»Schweig still, du Bauernschwein, sonst gibt es in Zukunft nur halbe Ration, dann kannst du dich mit dem anderen prügeln um das bisschen Wasser und Brot.«

»Dass dich die Pestilenz ankomme, Cerberus! Du jagst mir keine Angst ein!«

Ich muss sagen, dass mir Peters Blödelei Mut einflößte. »Gib her«, sagte ich zu dem Wärter, um den Disput abzubrechen und ihn nicht noch mehr zu reizen. Mühsam und unter Schmerzen stand ich auf und nahm ihm den Krug und einen halben Laib Brot ab. Begierig sog ich die frische Luft ein. »Gib uns noch ein Licht, guter Mann«, bat ich, »unseres hält nicht mehr lange.«

»Das nächste Mal, wenn ich komme, gibt es wieder ein Licht. Vielleicht. Aber nur, wenn ihr Vagabunden friedlich seid und mich nicht reizt. Bis dahin seid sparsam. Gehabt euch wohl für heute. Und vergesst euer Nachtgebet nicht!«

»In saecula saeculorum, amen«8, vollendete Peter frech.

Der Wärter wollte noch etwas sagen, besann sich aber eines Besseren und warf noch zwei runde, faustgroße Kugeln herein; es waren halbfaule Äpfel, wie ich später feststellte. Dann wurde mit einem Knall die Tür zugeworfen, und seine Schritte entfernten sich rasch.

»Das war Kuno«, sagte Peter, »versteht einfach keinen Spaß, der Bursche. Da lob’ ich mir den Stenz, mit dem lässt sich wenigstens plaudern. Hat ein Herz für seine Gefangenen, der Stenz. Aber nun, lieber Mönch, wollen wir es uns gemütlich machen wie zu Hause in der guten Stube am Feuer; schau unser Kienspänlein, wie lieblich und mild es brennt, wenn auch nicht mehr lange. Zu essen und zu trinken haben wir auch, wenn’s auch kein zartes Forellchen aus dem Klosterteich zum Schmaus und kein köstlicher Steinberger9 zum Trunk ist, hahaha. Also erzähle, mein guter Mönch, erzähle!«

Ich setzte mich wieder auf mein Strohlager und legte mir die alte Decke auf die Beine. Es war mehr als seltsam: Der Steinberger erinnerte mich an etwas. Peter hatte den Namen genannt – offenbar kannte er unsere beste Weinlage – und noch dazu den Klosterteich erwähnt. Orte, die in den vergangenen Wochen eine Rolle in meinem Leben gespielt hatten, Orte der Freude, der Leidenschaft, aber auch der Beklemmung. Mich schauderte. Reden musste ich, ja, ich war geradezu begierig zu reden, um der Furcht Herr zu werden und mich nicht von meiner elenden Lage überwältigen zu lassen.

Ich richtete meinen Blick in die ruhig brennende Flamme. Mauern, Kälte, Dunkelheit traten zurück, und die Ereignisse der unheilvollen vergangenen Wochen wurden wieder lebendig. So begann ich zu sprechen.

Und während ich erzählte, wunderte ich mich über meine zunehmende Offenheit, über die reinigende Kraft des Gesprochenen, es war beinahe … ja, es hatte seltsamerweise fast die Kraft des heiligen Sakraments der Beichte; ich erinnerte mich, ich redete, ganz ohne Zwang, und Peter saß mir gegenüber im Schneidersitz, das stoppelige Gesicht in die Fäuste gestützt, neben sich die Flamme, und hörte zu.

So strömten die Worte aus meinem Munde, und ich erzählte von meinem seltsamen Schicksal, von meinen Verfehlungen, die eines Klos­terbruders unwürdig waren, ferner von jenem, den ich nicht wiederzu­sehen geglaubt hatte, und … von ihr, von ihr …

II. Omina mala10

In nomine Domini.11Amen. Wir fuhren nach Köln. So fing alles an.

Ja, wenn ich es mir recht überlege, begann meine seltsame Geschichte, die mit dem Ungemach unseres Klosters auf das Engste verbunden ist, genau auf dieser Schiffsreise den Rhein hinab. Es fing an mit schlimmen Ereignissen, von denen man wohl mit einigem Recht sagen kann, dass es böse Vorzeichen waren.

Böse Vorzeichen in einer unruhigen, bösen Zeit. Schon seit Monaten war eine wilde Gärung im Gange, die die deutschen Lande aufbrausen ließ wie die Hefe den Traubenmost: Allüberall rumorte und brodelte es. Wir frommen Fratres, wohlbehütet hinter unseren Klostermauern, spürten dies zunächst gar nicht direkt; doch immer mehr Reisende, die unsere Abtei oder deren Klosterhöfe aufsuchten, erzählten von erschütternden Vorfällen, die sich landauf, landab zutrugen. In Württemberg, dann in Franken und Thüringen waren Bauern und Bürger ohne Zahl aufgestanden, rotteten sich zusammen, forderten mehr Rechte und zettelten Aufruhr an. Sie beriefen sich dabei auf das Evangelium und verlangten, ihren Pfarrer selbst wählen zu dürfen. Einen Prediger der neuen Lehre forderten sie, jener Lehre, die der ehemalige Mönch und Professor aus Wittenberg ausgegossen hatte über die Kirche, über das ganze kunstvolle und ehrwürdige Gebäude scholastischer Theologie, wie sie seit Dekaden und Säkula in Geltung gestanden hatte und noch immer steht, ja, ausgegossen wie ein Fass Wasser über eine Feuerstelle.

Ein Fettsack sei er und ein Fresser, so hieß es, er transpiriere beim Fressen und Saufen, beim Predigen und Dozieren, und mit seinem Namen machten die Rechtgläubigen ihre derben Späße. Nicht nur das Volk in den Dörfern und Städten, auch die Gelehrten des rechten alten Glaubens nannten ihn bei dem Namen, der ihn treffend beschrieb: Luder! Jenes Luder soll sich sogar erkühnt haben, unseren Heiligen Vater in Rom als den apokalyptischen Antichrist zu bezeichnen! Ein Frevler, der bei Gott höchste Strafe verdiente, sollte man seiner habhaft werden. Martin Luther, Bruder Martin, Bruder Martinus: welch eine Beleidigung für den verehrungswürdigen Bischof von Tours und Heiligen der katholischen Kirche! Ein Name, der bei uns im Konvent einen ganz besonderen Klang hatte, hieß doch so unser ehemaliger Abt Martin Rifflinck von Boppard, und sein Name wird– obgleich er vor neunzehn Jahren verstarb– bis heute genannt und gepriesen.

Aber wie ich schon sagte, es war nur die Kunde, welche in unser stilles Klostertal wehte, von alledem waren der Rheingau und unser Konvent noch verschont geblieben. Wir ehrten Gott in Gebet und Gesang, wir arbeiteten, Chormönche, Konversen12 und Knechte, und waren nicht unmittelbar betroffen von den schlimmen Dingen draußen. Dies sollte sich bald ändern.

Ich bin Bruder Clemens Korn von Oppenheim, Infirmarius13 im Kloster Eberbach, schon einunddreißig Jahre und ein halbes weile ich auf Gottes Erde und diene ihm, dem gewaltigen, unfassbaren und rätselhaften Gott, dem Dreieinigen, dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist.

Nach vier Jahren stand es wieder einmal an, eine Fuhre Wein zu verschiffen nach der ehrwürdigen alten Stadt Colonia. Endlich wieder nach Köln! Zu unserem Hauptmarkt und Hauptumschlagplatz. So lange hatten keine Fahrten mehr dorthin stattgefunden. Warum? Weil die Stadt uns immer wieder mit üblen Schikanen zugesetzt hatte. Wir besitzen in Köln einen Hof, zu dem ein Stadttor mit Wehrturm gehört. Dieser Hof ist in der Servasgasse gelegen, das Tor nennt man die Servatiuspforte. Seit alten Zeiten waren wir für diesen Mauerabschnitt zuständig.

Es hatte damit angefangen, dass der Stadtrat sich unseres Klosterhofes bemächtigt und einen bewaffneten städtischen Wächter dort postiert hatte. Der Hof war für uns Brüder geschlossen worden. Scharfe Proteste seitens des Abtes hatten nicht gefruchtet, im Gegenteil, es waren weitere Erschwernisse und Nadelstiche gefolgt. Auch die Bürger waren uns nicht mehr wohlgesonnen; die Brüder erzählten, dass sie auf der Straße scheel angesehen wurden. Es herrschte eine giftige Stimmung, die sich gegen die Geistlichkeit richtete, insbesondere gegen uns Eberbacher Mönche, vielleicht weil wir ein ganzes Stadttor unser Eigen nannten, vielleicht auch wegen unseres Weines, mit dem wir große Geschäfte machten, was zahllose Neider auf den Plan rief. Doch auch die Brüder und Schwestern anderer Klöster hatten darunter zu leiden. Einmal, so wurde erzählt, soll sogar ein Bierbrauer vor einem Mönch aus der Abtei Altenberg ausgespuckt haben.

Doch wir waren nicht gesonnen, uns die Schikanen seitens der Stadt bieten zu lassen. Wir reagierten mit einem mächtigen Druckmittel: Unsere Weinfässer verkauften wir fortan im rechtsrheinischen Deutz und in der einige Meilen14 rheinabwärts gelegenen kurkölnischen Zollfeste Zons, wo wir über Stapelplätze verfügten. Die Kölner merkten rasch, was für gewaltige Summen der Stadt infolge des fehlenden Weinhandels verloren gingen, und sie lenkten irgendwann ein. Im Februar dieses Schicksalsjahres 1525 nun war es nach monatelangen Verhandlungen mit der Stadt zu einem Vergleich gekommen. Abt Nikolaus und der Stadtrat erzielten in jenen frostigen Tagen eine Einigung, und die Ketten an den Toren unseres Klosterhofes wurden wieder abgenommen.

Nun also war es wieder so weit: Es ging nach Köln– die erste Fuhre mit unserem guten und weit über die Lande berühmten Eberbacher Wein!

Doch halte ein, meine Zunge! Der Herr strafe mich für zwei Laster, deren ich mich schuldig bekenne: meinen Hochmut und meine Völlerei. Hochmut: weil ich– wie fast alle Brüder– voller Stolz war auf die edlen und kostbaren Gewächse unserer Weinberge, blieb ich doch keineswegs gleichgültig, wenn Gäste der Abtei unsere Kreszenzen lobten als beste Tropfen in deutschen und welschen Landen. Doch Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall, und mein Fall war tief.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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