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Der Alarm kommt in der Nacht. Auf einem Stockholmer Campingplatz wurden Einbrecher gesichtet. Vor Ort bietet sich der Polizei in einem Wohnwagen dann ein grauenvoller Anblick. Alles ist in Blut getränkt, der Boden, die Wände, alles. Hier wurde offenbar ein Mensch zerstückelt. Und da ist noch jemand, ein junger Mann im Tiefschlaf, dessen Kopf auf einem abgehackten Arm ruht. Wie sich herausstellt, ist es der Sohn eines berühmten Schriftstellers, der an Somnambulismus leidet. Wegen seiner Krankheit kann er Täter oder Zeuge des Gemetzels sein. Kommissar Joona Linna übernimmt den Fall und ahnt nach dem Verhör und dank des Hypnotiseurs Bark, dass dies erst der Beginn einer brutalen Mordserie ist ...
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Seitenzahl: 692
Veröffentlichungsjahr: 2025
Der Alarm kommt in der Nacht. Auf einem Stockholmer Campingplatz wurden Einbrecher gesichtet. Vor Ort bietet sich der Polizei in einem Wohnwagen dann ein grauenvoller Anblick. Alles ist in Blut getränkt, der Boden, die Wände, alles. Hier wurde offenbar ein Mensch zerstückelt. Und da ist noch jemand, ein junger Mann im Tiefschlaf, dessen Kopf auf einem abgehackten Arm ruht. Wie sich herausstellt, ist es der Sohn eines berühmten Schriftstellers, der an Somnambulismus leidet. Wegen seiner Krankheit kann er Täter oder Zeuge des Gemetzels sein. Kommissar Joona Linna übernimmt den Fall und ahnt nach dem Verhör und dank des Hypnotiseurs Bark, dass dies erst der Beginn einer brutalen Mordserie ist …
Lars Kepler ist das Pseudonym der Eheleute Alexandra Coelho Ahndoril und Alexander Ahndoril. Jeder für sich hat bereits erfolgreich eigene Romane veröffentlicht, bis sie sich entschieden haben ihre ganze Energie und Kreativität in ein gemeinsames Schreibprojekt zu stecken. Der Hypnotiseur, ihr Krimidebüt, war sensationell erfolgreich und wurde in über 40 Sprachen übersetzt. Die folgenden Kriminalromane mit dem Ermittler Joona Linna (Paganinis Fluch, Flammenkinder, Der Sandmann und Ich jage Dich) setzten die Erfolgsgeschichte fort und standen allesamt auf Platz 1 der schwedischen Bestsellerliste. Allein in Schweden sind inzwischen über zwei Millionen Bücher des Autorenpaars verkauft. 2012 wurde Der Hypnotiseur von Lasse Hallström für das internationale Kino verfilmt.
Das Pseudonym Lars Kepler ist eine Hommage an zwei bekannte Persönlichkeiten. Der Vorname Lars wurde zu Ehren des Bestseller-Autors Stieg Larsson gewählt, während der Nachname Bezug auf den deutschen Wissenschaftler Johannes Kepler nimmt.
Als ihr erster gemeinsamer Kriminalroman im Jahr 2009 veröffentlicht wurde, war die Identität der beiden Schriftsteller hinter dem Pseudonym unbekannt, was eigentlich auch so bleiben sollte. Damit waren einige hartnäckige Journalisten allerdings nicht einverstanden. Nachdem eine Reihe Autoren jegliche Beteiligung an dem Pseudonym abgestritten hatte, gelang es der schwedischen Zeitung Aftonbladet, ausreichend Beweise in diesem Fall zu recherchieren und das Ehepaar Ahndoril als Lars Kepler zu entlarven.
Alexandra Coelho Ahndoril hat portugiesische Wurzeln und wurde 1966 in Schweden geboren. Sie wuchs in Helsingborg an der Südküste Schwedens auf und zog in den frühen 1990er Jahren nach Stockholm um Schauspielerin zu werden, was sie für das Schreiben aber aufgab. Neben den Lars-Kepler-Kriminalromanen schreibt Alexandra Coelho Ahndoril Bücher über historisch bedeutende Persönlichkeiten und ist Literaturkritikerin für die schwedischen Zeitungen Göteborgs-Posten und Dagens Nyheter.
Alexander Ahndroril wurde 1967 in Upplands Väsby, Stockholm geboren. Dort studierte er auch Philosophie, Religion und Film. Bereits in den 80er Jahren bewies er sein Können als Romanschriftsteller. Neben Romanen schreibt er Drehbücher, Radio-Skripte sowie Theaterstücke und gehört zu Schwedens originellsten Schriftstellern der jüngeren Generation.
Das Ehepaar lebt mit seinen drei Töchtern in Stockholm, nur einen Steinwurf vom schwedischen »Scotland Yard« entfernt.
LARS KEPLER
DER NACHTGÄNGER
THRILLER
Übersetzung aus dem Schwedischen vonThorsten Alms und Susanne Dahmann
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Dieser Titel ist auch als Hörbuch und E-Book erschienen
Titel der schwedischen Originalausgabe:
»Sömngångaren«
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2024 by Lars Kepler
Published in German language by arrangement
with Salomonsson Agency, Stockholm, Sweden
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2025 by Bastei Lübbe AG,
Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln, Deutschland
Bei Fragen zur Produktsicherheit wenden Sie sich bitte an:
Textredaktion: Anja Lademacher, Bonn
Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau und Guter Punkt, München
Umschlagmotiv: © LUMEZIA.com/Shutterstock Images; Lario Tus/Shutterstock
Images; bjdlzx/E+/GettyImages
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7517-6089-8
luebbe.de
lesejury.de
Der Schlaf und der Traum sind stets gemeinsam mit uns Menschen gewandert, wie zwei rätselhafte Begleiter.
In der griechischen Mythologie heißt der Gott des Schlafes Hypnos, er wohnt in einer dunklen Grotte, umgeben von Mohn, in der Nähe des Flusses des Vergessens. Wenn Hypnos schläft, wacht sein Sohn Morpheus, der Gott der Träume, über ihn.
Mittlerweile teilt die Wissenschaft den Schlaf in zwei Hauptphasen ein: den Tiefschlaf und den REM-Schlaf. Während der Tiefschlafphasen sind die elektrischen Wellen in der Hirnrinde sehr groß und langsam. Zwei- bis dreimal in der Nacht sind die Hirnwellen ebenso kurz und schnell wie bei wachen Menschen: Das sind die Phasen des REM-Schlafs, benannt nach dem Rapid Eye Movement, den schnellen Augenbewegungen, die dann typischerweise auftreten.
Parasomnie ist ein Sammelbegriff für Funktionsstörungen, in denen sich das Gehirn teils im Schlaf und teils im Wachzustand befindet.
Die gut dokumentierte Störung, die Schlafwandeln oder Somnambulismus genannt wird, kommt bei fünf Prozent aller Kinder, aber sehr viel seltener bei Erwachsenen vor.
Wie bei den meisten Parasomnien tritt auch das Schlafwandeln während des Tiefschlafs auf und dauert nur wenige Minuten an, aber in einzelnen Fällen wird Somnambulismus auch im REM-Schlaf beobachtet. Bei diesen Menschen lösen die Träume körperliche Aktivitäten aus, dann ziehen sie sich an, schließen die Tür auf und verlassen ihr Zuhause.
Das silbergraue Licht aus dem Regenhimmel glitzert in den rastlosen Ringen der Wasserpfützen, an der Dachtraufe und der überlaufenden Waschwanne aus Zink.
Seine Mutter steht im Regen auf der Kiesfläche zwischen Opas verrostetem Auto und dem Holzschuppen. Ihr blondes Haar ist völlig durchnässt, und der BH und die Jeans sind ganz dunkel vor Feuchtigkeit.
Frisches Blut steigt in die Wunden und wird vom Regen direkt wieder weggespült.
Am Morgen hat sie sich am ganzen Körper geschnitten und dann das Messer im Flur auf den Boden geworfen, bevor sie barfuß das Haus verließ.
Jetzt blickt der Junge in den Flur und betrachtet die blutige Türklinke, die buckelige Tapete an den Wänden, den Fußboden, wo das Messer noch liegt, und die leere Flasche Schnaps, die zwischen den Segelstiefeln seines Vaters steht.
Die ganze Nacht hat seine Mutter mit dem Benzinkanister im Auto und mit der Axt im Holzschuppen geredet, hat beide angeschrien und dann direkt den Himmel angefleht, dass der Vater zurückkehren solle.
Der Junge geht wieder in sein Zimmer und betrachtet sie durch das Fenster. Der Regen trommelt immer schneller auf die Beschläge und das Blechdach vor seiner Nase.
Die Dachrinne ist mit altem Laub verstopft und läuft über.
Der mit Plastik ummantelte Stahldraht am linken Handgelenk des Jungen läuft über eine Führungsstange, die an der Decke festgeschraubt ist. Die Leine ermöglicht es ihm, sich frei in seinem Zimmer zu bewegen. Er kann in seinem Bett liegen, am Fenster stehen und auf dem Boden sitzen, um dort mit seinen Sachen zu spielen.
Er hat einen Troll aus Gummi mit einem orangen Haarschopf, spitz wie eine Flamme, einem biegsamen Rosaroten Panther und einen amerikanischen Streifenwagen, dessen Blaulicht in der ersten Woche noch funktionierte.
Wenn er angebunden ist, kann er auch in den Flur und auf die Toilette gehen, aber nicht bis zur Haustür. Wenn er den Arm ausstreckt und das Seil spannt, bis es am Handgelenk brennt und in der Achsel spannt, kann er auch in die Küche mit dem aufgebrochenen Fußboden sehen.
Seine Mutter holt die Axt aus dem Schuppen, geht wieder in den Regen hinaus und steht mit hängendem Kopf vor dem Haufen Altreifen und verrosteten Motorblöcken.
Das Licht des großen Neonschilds mit der Aufschrift »Service – Ford Tractor« beleuchtet den Regen hinter ihr. Sie hebt das Kinn, dreht sich langsam um, zeigt auf ihn dort am Fenster und kommt mit großen Schritten auf das Haus zu.
Das riesige Raumschiff Razor Crest schwebt vollkommen regungslos in Dunkelheit und Stille. Die Mutter lächelt, als sie ihren Sohn betrachtet. Sein Gesicht wirkt ganz blass in dem Mondlicht, das durch das gesicherte Fenster fällt. Zwischen seinen Augenbrauen ist eine kleine Furche zu erahnen.
Die regelmäßigen Atemzüge zeichnen sich an Bauch und Brustkorb ab.
Nach dem Bad, dem Abendessen und dem Zähneputzen hat sie ihm fünfzehn Milligramm Phenotiazin gegeben, und jetzt schläft er tief und fest.
Sie spürt immer noch den Stress, weil Robert kam, als der Junge noch wach war, weil sie ihren Sohn anlügen musste, ihm gesagt hat, es wäre ein Paketdienst.
Die Linse der Babykamera ist auf seinen schlafenden Körper gerichtet.
Es entsteht eine schwache Luftbewegung im Schlafzimmer, obwohl sie vorsichtig aufsteht, und das große Raumfahrzeug aus grauem Lego schaukelt an seiner Nylonaufhängung.
So leise wie möglich schleicht sie in den Flur hinaus, drückt die Tür hinter sich zu und dreht den Schlüssel im Schloss, als drinnen etwas lautstark zu Boden fällt.
Sie hält den Atem an und horcht an der Tür.
Er schläft.
Leise Musik ist aus dem großen Schlafzimmer zu hören, obwohl sie Robert gesagt hat, dass er mucksmäuschenstill sein solle. Sie schließt ab, zupft ihr Kleid zurecht, geht durch den Flur, kommt an der Tür mit dem Fenster vorbei, durch die man über eine Treppe ins Untergeschoss gelangt.
Robert sitzt mit dem Telefon in der Hand in der Dunkelheit auf dem Lehnstuhl und entschuldigt sich flüsternd bei ihr. Sie kann ein Lächeln nicht unterdrücken, als sie seinem Blick begegnet. Mit dem kurzen lockigen Haar und der Silbermünze an der Halskette auf seiner nackten Brust sieht er aus wie ein junger römischer Kaiser.
»Er ist eingeschlafen«, sagt sie.
»Okay, worauf warten wir dann?«, fragt er mit einem Lächeln.
»Immer auf dich, wenn du mich fragst«, antwortet sie.
»Ich bin hier, bin extra hergekommen«, sagt er und steht auf.
Du kamst, du sahst, du siegtest, denkt sie und geht zum Fenster, zieht die Gardinen zur Seite und spürt eine plötzliche Angst in ihrer Brust. Ein riesiger Vollmond hängt über den Baumwipfeln, narbig und silbergrau. Unten in der Einfahrt zum Haus steht Roberts rostiges Auto im Schatten des Ahornbaums.
»Ist er jemals zu früh nach Hause gekommen?«, fragt Robert.
»Ich bin trotzdem nervös«, sagt sie und sieht ihn an.
»Komm schon, ich habe eine Flasche Schampus aus dem …«
»Warte«, unterbricht sie ihn und hebt eine Hand an den Mund.
»Was ist denn?«, fragt er.
»Nichts, ich muss nur gerade daran denken, dass ich den Schlüssel zweimal gedreht habe.«
»Was spielt das für eine Rolle?«
»Gar keine, es geht um mich, du weißt schon, reine Routine, ich möchte schnell in sein Zimmer hineinkommen, wenn es nötig ist«, sagt sie und verlässt das Schlafzimmer.
Der Flur ist dunkel und kühl.
Neben der Wand steht der Staubsauger, das Kabel ist um das Gehäuse gewickelt.
Als sie vor der Zimmertür ihres Sohnes stehen bleibt, kann sie es nicht lassen, über die Schulter nach hinten zu blicken. Robert steht ein Stück entfernt und hebt die Flasche mit dem perlenden Roséwein hoch, die er unten in der Küche gefunden hat. Immer eifrig. Sie lächelt, zeigt ihm den aufgerichteten Daumen und dreht den Schlüssel im Schloss einmal zurück.
Es klickt in der Mechanik.
Sie denkt, dass sie das Ohr gegen die Tür legen sollte, aber der Impuls wird unterbrochen, als sie ein gedämpftes Ploppen aus dem Schlafzimmer hört.
Robert wartet mitten im Mondenschein mit zwei gefüllten Gläsern auf sie, gibt ihr das eine und sieht ihr tief in die Augen.
Sie stoßen an, küssen einander und trinken. Ihre Körper bewegen sich schattengleich über die alte Wanduhr, die über dem Doppelbett hängt.
»Lecker«, sagt sie und setzt sich auf die Bettkante.
Auf dem Überwachungsbildschirm der Babykamera sieht sie das ruhige Gesicht des Jungen und den gleichmäßigen Takt des Atems unter der hellblauen Decke. Aus den Lautsprechern hört sie ein raschelndes Geräusch, als er im Schlaf seine kleine Hand über das Betttuch bewegt.
Robert leert sein Glas, lässt es auf der Kommode neben der Flasche stehen, geht auf sie zu, beugt sich hinunter und küsst sie sanft auf den Mund.
Vorsichtig stellt sie das Glas auf dem Nachttisch ab, legt ihre Hände auf seine Hüften und blickt in seine intensiven Augen.
»Was denkst du?«, fragt sie, ohne ein Lächeln verbergen zu können.
»Was glaubst du?«
Sie senkt den Blick und sieht, wie sich seine Jeans ausbeult, küsst ihn mehrere Male sanft auf den Schritt, bis er steif wird, der Stoff sich spannt und der Reißverschluss entblößt wird.
»Komm schon«, sagt sie mit einem Lächeln.
Sie legt sich auf das Bett, schiebt ein Kissen weg, dreht sich auf den Rücken und betrachtet den Überwachungsmonitor. Das Gesicht ihres Sohns gleicht im kühlen Licht des Vollmonds einem Ei aus Blei. Robert öffnet seine Jeans und taumelt zur Seite, als er aus ihr heraussteigt. Er kriecht zu ihr ins Bett, küsst sie auf den Venushügel und atmet warme Luft durch ihre Kleidung ein.
Es kribbelt in ihrem Bauch, als er seine Hände unter ihr Kleid schiebt, die Unterhose herunterzieht und ihre Schenkel spreizt.
»Komm«, flüstert sie und betrachtet die dunkle Tür.
Er legt sich auf sie und küsst lächelnd ihren Mund. Sie keucht leise, während er langsam in sie hineingleitet. Ihre Oberschenkel werden auseinandergedrückt, und in einem regungslosen Augenblick umschließt sie ihn voll und ganz.
Ihre Brustwarzen versteifen sich unter der weichen Innenseite des BHs.
Er zieht sich halb heraus und beginnt rhythmisch und mit ansteigender Intensität zu stoßen. Das Bett knallt gegen die Wand, und plötzlich beginnt die Wanduhr im Takt zu bimmeln.
Sie sieht einen verlassenen Jungen vor sich, der mit einer Klingel an einer Schnur um den Hals durch den Kiefernwald geht.
Sie blickt auf den Monitor, versucht die Gedanken abzuschütteln, schließt die Augen und findet zurück in den Genuss. Ihre Brüste schaukeln mit den Stößen, und sie spannt die Schenkel und den Beckenboden an, hält sich an seinem gekrümmten Rücken fest, nähert sich, entspannt sich keuchend für ein paar Sekunden, spannt die Muskeln erneut an und hat einen lang gezogenen Orgasmus.
Sie versucht, nur leise zu stöhnen, krümmt die Zehen, die Kopfhaut ist verschwitzt, und sie hört aus der Entfernung, wie ein Auto auf der Straße stehen bleibt.
Robert macht weiter, atmet schnell, stößt heftiger und ejakuliert mit einem dumpfen Ausatmen, bevor er keuchend auf ihr liegen bleibt. Es rinnt aus ihr heraus, die Schenkel hinunter.
Sein Herz dröhnt schnell gegen ihr Herz.
Diese Schläge, denkt sie, dieser Countdown.
Sie bleiben in der Umarmung liegen, und sie denkt, dass sie gleich den Wein austrinken, dass sie im Bett sitzen und über ihre gemeinsame Zukunft reden.
Doch dann werden sie von einem heftigen Krachen mitten in der Dunkelheit geweckt. Das Schlafzimmerfenster ist weit geöffnet.
Es knallt, als ein Dachziegel draußen auf der Rasenfläche zerbricht, und dann hört man einen schrecklichen Schrei.
Der Novemberhimmel liegt wie dunkles Gusseisen über dem Zentrum von Vårberg. Es ist beinahe drei Uhr nachts, und die Straßen sind wie leer gefegt.
Ein Streifenwagen rollt langsam an den vergitterten Fenstern eines Schönheitssalons vorbei.
Die Kollegen John Jakobsson und Einar Bofors sitzen schweigend nebeneinander. Sie haben bereits vor fast einem Jahr aufgehört, miteinander zu sprechen.
Sie schweigen, wenn sie nicht dringend kommunizieren müssen.
Die Tüte mit den Resten aus dem Imbiss steht auf dem Boden neben Einars Füßen, und der Duft von Bratenfett und kaltem Frittieröl erfüllt den Innenraum.
John trommelt auf dem Lenkrad und denkt wie üblich an seinen graublassen großen Bruder, während er durch die Windschutzscheibe blickt.
Verstaubte Fenster voller Werbung reflektieren den erleuchteten U-Bahn-Eingang. Müll, altes Laub und zerbrochenes Glas haben sich zwischen den Betonpfeilern der Arkade angesammelt.
Vor der Stadtmission liegen leere Sprayflaschen, Plastiktüten und zertretene Kartons. In die eigenen Gedanken versunken fahren die beiden Polizisten am Parkplatz vorbei und biegen an der äthiopischen Kirche rechts ab.
Große Schneeflocken segeln inzwischen durch das Licht der Straßenlaternen, und der ganze Stadtteil kommt einem plötzlich märchenhaft vor.
Für John ist es wie ein unangenehmer Gruß aus der Kindheit.
Der milchige Widerschein vom Bildschirm des Steuerungselements ihrer POLMAN-Kommunikationseinheit beleuchtet seine zur Faust geballte Hand. Einar holt gerade seine Snusdose heraus, als ein Anruf von der regionalen Einsatzzentrale hereinkommt.
Es geht um einen aktuellen Einbruch auf dem Campingplatz Bredäng.
Einar beantwortet den Anruf, während John auf die Rückseite des Lebensmittelgeschäfts fährt, um die grünen Recyclingcontainer herum und wieder zurück auf den Weg.
»Der Campingplatz ist über den Winter geschlossen, und der Eigentümer befindet sich in Florida«, berichtet der Wachhabende. »Aber die Überwachungskameras sind mit seinem Handy verbunden, und er hat gesehen, dass in diesem Augenblick in einem der Wohnwagen Licht brennt.«
Ohne Sirene und Blaulicht fährt der Streifenwagen mit erhöhter Geschwindigkeit auf der leeren Straße an den Reihen der Hochhäuser und der alten Heizzentrale vorbei.
Die Wischerblätter fegen die Schneeflocken von der Windschutzscheibe.
Sie reden nicht, aber beide denken, dass es sich bei dem Einbrecher vermutlich um jemanden handelt, der in dieser Nacht nicht erfrieren möchte: wohnungslos, ohne Ausweis, drogenabhängig oder eine Person mit psychischen Beeinträchtigungen.
Das Übliche.
Sie fahren am Scandic Hotel vorbei und biegen in den Skärholmsvägen ein.
Vor beinahe fünf Jahren war es John gelungen, die Tür zum Zimmer seines älteren Bruders aufzubrechen. Luke lag mit blauen Lippen neben seinem Bett auf dem Boden. Der vergilbte Gummischlauch hing schlaff um den Arm, und der Baumwolltupfer mit den Blutflecken war an seinem Nirvana-T-Shirt hängen geblieben.
John wird die Pupillen in den weit aufgerissenen Augen niemals vergessen. Sie waren unwirklich klein, als wären sie mit der Spitze der Kanüle dort hineingemalt worden.
Seit John den Dienst auf der Straße angetreten hat, führt er stets drei Packungen des Gegengifts Naloxon mit sich, obwohl es nicht Teil der Ausrüstung ist. Es ist nichts, worüber er spricht, aber mithilfe des Nasensprays hat er bereits das Leben von acht Personen gerettet.
Sie fahren an dem dunklen Fußballfeld vorbei, durch das Industriegebiet und hinein in das Naturschutzgebiet von Sätraskogen.
Als sie vor den Stahltoren des Campingplatzes halten, sind acht Minuten vergangen, seit sie auf den Anruf geantwortet haben.
Der Laden, das Büro und das Thairestaurant sind für die Saison geschlossen. Schneeflocken segeln still durch die Luft und landen auf der Asphaltfläche vor ihnen.
John und Einar verlassen schweigend ihren Wagen und klettern über das Tor. Sie betrachten die Übersichtskarte, finden den Stellplatz G und machen sich zu Fuß auf den Weg.
Der große Campingplatz wirkt seltsam verlassen ohne Autos, Zelte und Menschen.
Sie überqueren eine gelbe Grasfläche mit einem Muster aus Trampelpfaden, die zu einem Wohnwagengebiet führen.
Rechts sehen sie Hügel mit nackten Laubbäumen. Schneeflocken segeln zwischen den schwarzen, sich spreizenden Zweigen zu Boden.
Sie kommen an einem kleinen Spielplatz und der Entsorgungsstation für WC-Kassetten vorbei, bevor sie sich zwischen die aufgebockten Wohnwagen begeben. Die Akustik verändert sich, das Geräusch ihrer Schritte wird von den Wänden aufgefangen und auf irritierende Weise als Echo zurückgeschickt.
Die Fenster sind dunkel, kleine Wimpel hängen schlaff von den hohen Fernsehantennen, die kleineren Stellplätze sind alle unbesetzt.
John muss daran denken, dass er im vergangenen Jahr Angst vor seinem Bruder hatte, weil Luke manchmal wütend wurde, rücksichtslos, wie damals, als John ihn um das Geld bat, das Luke sich von ihm geliehen hatte.
Schon von Weitem sehen sie das Licht, das aus einem der entferntesten Wohnwagen strahlt. Als sie sich nähern, erkennen sie, dass hinter den Gardinen in einem der Fenster eine Lampe brennt.
John hält inne und füllt seine Lungen mit der kühlen Luft, zieht seine Dienstwaffe, geht eine Metalltreppe hinauf, klopft energisch an und öffnet die Tür.
»Polizei, wir kommen jetzt rein«, ruft er ohne wirkliche Kraft in der Stimme.
Er betritt die Finsternis des Wohnwagens und sieht, dass dunkle Fußspuren in beide Richtungen über den Plastikboden mit Parkettmuster führen. Er blickt nach rechts in den Gang, an zwei geschlossenen Türen und dem engen Badezimmer vorbei.
Alles ist ruhig und still.
Mit der auf den Boden gerichteten Pistole bewegt er sich auf den beleuchteten Wohnbereich zu. Bei jedem Schritt, den er macht, knackt es in den Wänden und Decken.
Was er direkt vor sich erkennen kann, ist ein Küchentisch mit vier Stühlen. Das indirekte Licht von der verdeckten Lampe wird schwach von den zerschrammten Oberflächen der Möbel reflektiert.
Er bleibt ruckartig stehen, als eine Frau irgendwo schräg vor ihm gedämpft zu sprechen beginnt.
»Antworte, Hengst, antworte«, sagt sie spielerisch. »Antworte, Hengst …«
»Polizei, ich komme jetzt rein«, ruft John und spürt, wie sich die Haare auf seinen Armen infolge des Adrenalinschubs aufgerichtet haben.
»Hengst, antworte … antworte, Hengst, antworte … antw…«
Die Frau verstummt mitten im Satz, und John dringt mit erhobener Waffe weiter vor.
Ein metallischer Geruch, der an einen feuchten Schleifstein erinnert, erfüllt die stehende Luft. Er spürt die Vibrationen im Fußboden, als Einar mit schweren Schritten in den Wohnwagen steigt. John hält inne, atmet zitternd durch die Nase, lauscht und macht anschließend mit einer schwingenden Bewegung der Waffe einen Schritt in die Küche hinein, bevor er aufstöhnt.
Auf dem Spültisch aus rostfreiem Stahl liegt ein vollständiges Menschenbein mit einem Pflaster auf dem Knie und einem schwarzen Herrenstrumpf am Fuß. Die Muskeln und Sehnen sind mit einem Dutzend nachlässiger Axthiebe durchtrennt worden.
Der Hüftkopf ist aus der Schale des Hüftgelenks gerissen worden und leuchtet weiß vor dem blutroten Gewebe.
»Was zum Teufel …«
Wände, Fußboden und Decke sind von Blut bespritzt. Auf dem Couchtisch zwischen den beiden Vasen mit Plastikblumen liegen Teile eines Kopfes. Obwohl der Kiefer mit dem Kinn fehlt, erkennt John, dass das Opfer ein Mann mit schwarzem, struppigem Haar und blond gefärbten Spitzen ist.
Blut bedeckt die gesamte Tischplatte und tropft schleimig in einen großen Flecken auf dem Boden.
Ein Telefon, das auf dem Sofa liegt, beginnt zu leuchten, auf dem Display erscheint der Name Anna, während erneut der persönliche Klingelton zu hören ist:
»Antworte, Hengst, antworte … Antworte, Hengst …«
Im anderen Teil des Wohnwagens öffnet Einar im selben Moment die Tür zum großen Schlafzimmer und richtet seine Taschenlampe hinein. Auf dem Doppelbett liegt ein Torso ohne Arme und Beine. Die Schnitte sind unregelmäßig und schlampig ausgeführt, blasser Knorpel und faserige Knochen sind sichtbar.
Einar starrt auf den behaarten Bauch des zerstückelten Mannes, den zusammengeschrumpften Penis und die muskulöse, tätowierte Brust, auf den Hals und die unteren Teile des Kopfes.
Die Matratze ist getränkt von Blut, und der gesamte Körper glänzt dunkel.
Einar spürt, wie die Pistole in seiner Hand zittert, als stünde sie unter Strom. Der optische Eindruck ist so bedrängend, dass er ins Taumeln gerät.
Er klemmt die Taschenlampe unter den Arm und führt die Hand zum Mund. Als sich das Ketchup-Aroma von seinen Fingern mit dem Geruch des frischen Blutes mischt, dreht sich sein Magen um.
John hört die trampelnden Schritte seines Kollegen, schaut in den Gang zurück und sieht, wie Einar aus dem Schlafzimmer zurückweicht. Die Taschenlampe fällt ihm aus der Hand, als er nach der RAKEL-Einheit greift, den Wohnwagen verlässt und sich übergibt.
John will gerade zurückgehen, hält dann aber plötzlich inne, lauscht und spürt einen kalten Schauder an seinem Rücken. Ein seltsam schlaffes und gleichzeitig mechanisches Lachen ist durch die Wände zu hören.
Vielleicht kommt es von draußen, denkt John gerade, als das Lachen in einen jämmerlichen Laut übergeht, bevor es komplett verstummt.
Mit pochendem Herzen nähert er sich der letzten geschlossenen Tür.
Er denkt plötzlich ganz irrational, dass sein Bruder Luke dort drinnen mit seinen blau angelaufenen Lippen steht, mit diesen winzigen Pupillen und einer blutigen Machete, die auf der einen Schulter ruht.
Vor dem Wohnwagen hört er Einar aufgeregt und unzusammenhängend mit der regionalen Einsatzzentrale reden.
John drückt die Klinke herunter, schiebt vorsichtig die Tür auf und zielt mit der Pistole in die Dunkelheit.
An der Wand unter dem Fenster mit den heruntergelassenen Jalousien hängt ein Lüfter mit herausgezogenem Stecker. Blut ist auf die weiße Metallfront gespritzt.
Die Angeln knirschen schwach, bevor die Tür zum Stehen kommt. John streckt die Hand aus, öffnet die Tür ganz und geht hinein.
Auf dem Boden neben dem Etagenbett liegt ein Junge auf der Seite, sein Kopf auf einem abgetrennten Arm, als wäre es ein Kissen.
Das blasse Gesicht ist schlaff, und die Augen sind geschlossen. Er trägt Jeans, Turnschuhe und einen moosgrünen Pulli. John nähert sich, um seinen Puls zu fühlen.
Eine Axt liegt auf der Matratze des unteren Betts. Einar ruft ihm von draußen irgendetwas zu.
Der Boden knarrt unter Johns Gewicht, als er sich nach vorne streckt.
Plötzlich lacht der Junge mit geschlossenen Augen. Die Zähne blitzen im blutverschmierten Gesicht.
John stolpert nach hinten, tastet nach der Pistole und entsichert sie, rutscht in einer Blutlache aus, stößt mit dem Rücken gegen die Wand und schießt mit der Waffe in den Fußboden.
Der Junge zuckt zusammen und setzt sich hin, er blinzelt und sieht John verständnislos an. Er wischt den Pony mit einer blutigen Hand zur Seite und befeuchtet sich die Lippen.
»Wo bin ich? Was ist passiert?«, fragt er mit ängstlicher Stimme.
Bernard Sand steht in der großen Küche, trägt seinen weinroten Morgenrock und bereitet ein übertriebenes Frühstück zu. Er pfeift vor sich hin und brät zwei Kartoffelpuffer auf großer Hitze. Es ist Viertel nach sieben, und sein von grauen Strähnen durchzogenes Haar ist vom Schlaf noch zerzaust.
Bevor er sich als Schriftsteller etabliert hat, war er Professor für Ideengeschichte an der Universität von Stockholm. Er schreibt romantische Romane und hatte seinen internationalen Durchbruch mit der Reihe rund um die Geschwister DeVille.
Nach sechs Büchern will er jetzt etwas Neues probieren.
Es ist nicht so, dass es ihn langweilt, aber er macht sich Sorgen, dass er es sich mittlerweile als Schriftsteller zu bequem gemacht hat.
Bernard arbeitet gerade am siebten Buch und hat außerdem eine Beziehungskolumne in der Boulevardzeitung Expressen, in der er jeden Sonntag auf die Fragen seiner Leser antwortet.
Von der Buchreihe kann er leben, aber sie bedeutet auch jede Menge Arbeit neben dem Schreiben selbst.
Am Tag zuvor hat er noch die digitalen Verträge mit den Niederlanden und Polen für zwei weitere Bücher gesichtet. Er hat eine Stunde lang mit dem japanischen Übersetzer gesprochen, drei Mail-Interviews hinter sich gebracht, die er bis dahin nicht in Angriff genommen hatte, und eine ganze Reihe von Videogrüßen und Anfragen zu Lesungen beantwortet.
Bernard ist zweiundfünfzig Jahre alt, hat einen siebzehnjährigen Sohn, Hugo, aus einer früheren Ehe und lebt seit acht Jahren mit Agneta zusammen.
Er ist ein schmaler und ziemlich großer Mann mit blassem Gesicht, einem intensiven blauen Blick und kräftigen Augenbrauen, die jede Woche geschnitten werden müssen.
Es brutzelt in der Pfanne, und ein kurzer Schmerz durchfährt ihn, als ein paar Tropfen erhitzter Butter auf seine Hand spritzen.
Bernard platziert die knusprigen Kartoffelpuffer auf zwei kleinen Tellern und fügt Crème fraîche hinzu, unter die er geriebene Zitronenschale, frischen Dill und Pfeffer gerührt hat.
Es ist ein schwarzer Wintermorgen.
Der gesamte Raum spiegelt sich in den dunklen Fenstern wie eine erleuchtete Theaterszene.
Agneta trägt einen sanften Parfümduft in den Raum, als sie die Küche betritt. Sie hat ihre beruhigenden Atemübungen gemacht, hat geduscht und sich Jeans und einen Strickpullover angezogen.
»Ich muss in sechzehn Minuten im Auto sitzen«, sagt sie.
Agnetas Gesicht ist immer noch erhitzt, die Haut glänzt wie Bronze, und kleine Wasserperlen glitzern in ihrem schwarzen, kurz gestutzten Haaren.
»Ein neuer Lippenstift«, sagt Bernard.
»Gutes Auge.«
»Er wirkt sehr anziehend.«
»Danke, aber wenn du denkst, dass ich mich deswegen an deinen Hals werfe und dich mit Küssen überdecke, dann …«
»Mach es doch einfach«, fällt er ihr ins Wort.
»So denkst du?«, antwortet sie mit einem Lächeln und wird dann wieder ernst. »Du lieber Gott … ich bin so leicht zu verführen, ich muss dir einfach alles verzeihen, weil ich …«
»Verzeihung.«
»Weil mein Herz … mein leider so dummes Herz dich so liebt«, sagt sie und setzt sich an den Tisch.
»Ich liebe dich.«
Sie seufzt und sieht ihn mit einer Furche zwischen den Augenbrauen an.
»Ja, ich glaube tatsächlich, dass du es so meinst … aber als Schriftsteller solltest du eigentlich wissen, dass es nicht reicht, jemandem seine Liebe zu gestehen, man muss es auch zeigen.«
»Da bin ich ganz deiner Meinung.«
Agneta Nkomo ist siebenunddreißig Jahre alt, arbeitet als freischaffende Kulturjournalistin, schreibt Tanzrezensionen für das Svenska Dagbladet, Reportagen für das lokale Nachrichtenbüro Besserer Stadtteil und betreibt Recherchen für einen großen True-Crime-Podcast.
Sie hat den Produzenten bereits viele Male gefragt, ob sie nicht richtig mitmachen und Reportagen schreiben oder vor einem der Mikrofone im Studio sitzen könne, um über die neuesten Theorien und Fehler in den Ermittlungen der Polizei zu diskutieren.
Sie weiß, dass sie das gut könnte, aber bislang hat sie immer nur Verwunderung geerntet und wurde mit leeren Worten abgefertigt: Man werde darüber nachdenken.
Agneta hatte Bernard kennengelernt, als sie ihn vor der Verfilmung des ersten Buchs der Geschwister DeVille interviewen sollte. Er war extrem ausgebucht, sie bekam nur dreißig Minuten, aber das reichte, um sich ineinander zu verlieben.
Bernards Hand beginnt zu zittern, und er wartet ein paar Sekunden, bis er sich wieder beruhigt hat, dann nimmt er einen großen Löffel Maränenrogen, schnippelt Schnittlauch darüber und serviert die Vorspeise mit Champagner, obwohl er weiß, dass Agneta ihr Glas nicht berühren wird.
»Wir hätten uns gestern tatsächlich noch unterhalten sollen, aber du bist einfach eingeschlafen«, sagt sie gedämpft und nimmt das Besteck.
»Ich schlafe manchmal ein, aber ich bin niemals müde«, erwidert er und setzt sich ihr gegenüber hin. »Mich hetzt Venus, unsere Königin, durch unerträgliche Nächte, und nicht eine einzige Stunde lässt mich Amor in Frieden.«
»Wie passioniert«, seufzt sie und beginnt zu essen.
»Ich würde meinen halben Arsch dafür verwetten, das geschrieben zu haben«, antwortet er und trinkt ihren Champagner.
»Du bist ein unglaublicher Schriftsteller.«
»Manchmal.«
Agneta tupft ihren Mund mit der Leinenserviette ab und geht die Korrespondenz auf dem Telefon durch, während Bernard zwei neue Teller mit Tatar, Kapern und Dijonsenf holt.
»Bernard, jetzt ganz im Ernst, das ist wirklich nett«, sagt sie und versucht, seinem Blick zu begegnen. »Ich liebe Tatar, aber ich möchte nicht jede Menge Essen bekommen, sondern ich will, dass du mit Hugo redest, wie du es versprochen hast.«
»Es ist gestern nicht gut gelaufen«, sagt er und schenkt tschechisches Bier in zwei Seidel ein.
»Gestern, vorgestern, an jedem Tag …«
»Ja«, flüstert er.
»Was würdest du dir selbst raten in deiner Herzensspalte?«, fragt sie.
»Nimm eine Schrotflinte und öffne den Mund.«
»Im Ernst.«
Er seufzt und setzt sich hin.
»Bernard, es reicht nicht, einfach ein leckeres Frühstück für Agneta zu machen«, antwortet er.
»Nicht nur das.«
»Ich glaube nicht, dass sie von dir verlangen wird, dass du dich über Nacht veränderst, aber sie muss spüren, dass du einen ersten Schritt in die richtige Richtung machst, bevor du Rosen und Champagner kaufst.«
»Weil es deine Art zu fliehen ist«, erklärt sie. Auch wenn Agneta froh ist, dass sie Blumen bekommt und diese Dinge.
»Sie muss verstehen, dass deine Worte über die Liebe wirklich von der Liebe handeln, dass du loyal bist und auf ihrer Seite stehst, wenn dein Sohn sich dumm benimmt … damit sie spürt, dass sie ein vollwertiges Mitglied der Familie ist«, sagt sie voller Ernst.
Agneta legt sich ihre Ohrringe an und denkt an das gestrige Abendessen. Sie hatte zehn Milligramm Inderal genommen, um nicht nervös zu wirken. Bernard weiß, dass sie manchmal Betablocker nimmt, wenn sie auf wichtige Treffen geht, aber nicht, dass sie damit angefangen hat, wenn sein Sohn zu Hause isst.
Hugo beugte sich über seinen Teller, hielt sein wirres Haar mit der linken Hand zurück und führte die Gabel zum Mund.
»Jetzt habe ich mich jedenfalls auf diesen Job beim KULT-Magazin beworben, du weißt ja«, sagte Hugo und kaute mit offenem Mund. »Ich werde morgen Mittag nach Uppsala fahren und die Redaktion treffen.«
»Hervorragend, das wird dir die Türen öffnen«, sagte Bernard.
»Ich weiß nicht, es kommt mir ein bisschen selbstgefällig vor, da zu sitzen und jede Menge Floskeln aufzusagen und …«
»Du musst einfach nur du selbst sein«, unterbrach ihn Agneta. »Und du liebst Bücher, das kannst du ihnen zeigen, mehr müssen sie gar nicht sehen.«
»Ich werde dort trotzdem nicht anfangen dürfen«, seufzte er und blickte aufs Handy.
»Gib einfach dein Bestes«, sagte Bernard.
»Es wird auch nicht gerade das Sparschwein füllen … ich weiß nicht einmal, ob ich mir überhaupt die Mühe machen soll, dorthin zu fahren«, murmelte er.
»Das schaffst du schon, wenn du heute Abend nicht zu lange wach bleibst«, sagte Agneta.
»Du bist nicht meine Mutter«, schnitt er ihr das Wort ab.
»Nein, aber …«
»Du glaubst es vielleicht, aber du bist es nicht.«
»Aber du musst es mir auch nicht die ganze Zeit erzählen«, sagte sie.
»Würde es etwas ändern, wenn ich es sein ließe?«, fragte er und begegnete ihrem Blick.
»Ich bin nicht deine Mutter, aber ich wohne nun einmal hier, und ich mache mir Sorgen um dich«, erwiderte sie und konnte die Tränen nicht unterdrücken, die ihr in die Augenwinkel traten.
»Ernsthaft? Tränen? Damit Papa Mitleid mit dir hat? Denn …«
Hugo unterbrach sich, als sein Handy klingelte, er blickte aufs Display und ging hinaus, ohne seinen Teller zur Spüle zu bringen. Bernard saß mit gesenktem Kopf da und wich Agnetas Blick aus. Hugos Schritte verschwanden im Flur, die Haustür wurde geöffnet, und dann hörten sie eine Frauenstimme.
»Die Milf ist da«, sagte Agneta leise.
Hugo ist in einer Beziehung zu einer Frau, die Olga heißt und doppelt so alt ist wie er. Agneta findet sie schön, fast atemberaubend, ahnt aber gleichzeitig eine Härte unter der Oberfläche. Als würde Olga im Grunde verbergen wollen, dass sie eine Söldnerin ist, mit glitzernder Schminke und jugendlichen Kleidern.
Ohne in die Küche zu kommen und ihnen einen guten Abend zu wünschen, ging Olga mit Hugo direkt in sein Zimmer. Sie schlossen die Tür hinter sich ab und hörten laute Musik.
Agneta weiß nicht, ob Olga die ganze Nacht geblieben ist, denn sie hatte eine Schlaftablette genommen, um nicht ewig wach zu liegen.
Jetzt ist es jedenfalls still, und Hugo wird nicht vor zwölf Uhr mittags aufwachen, wenn ihn niemand weckt. Bernard war den ganzen Morgen voller künstlicher Energie gewesen, war durch das Schlafzimmer getanzt, hatte die Decke am Fußende hochgeschlagen und jeder einzelnen Zehe einen kleinen Kuss gegeben, dann war er nach unten in die Küche und geeilt und hatte das Frühstück vorbereitet, während sie langsames Atmen trainierte, um ruhiger zu werden.
»Willst du das Tatar nicht probieren?«, lockt er sie jetzt.
»Im Ernst, ich bin immer noch zu traurig, um zu essen«, sagt Agneta und trägt ihren Teller zur Spüle.
Sie geht zum Flur, zieht sich ihren Mantel über und beginnt ihn zuzuknöpfen, als Bernard mit einer kleinen Prinzessinnentorte auf einem Teller und einer Tasse starken Kaffees zu ihr kommt.
Sie kann ein Lächeln nicht unterdrücken, als er versucht, sie zu füttern, während sie sich die Stiefel überzieht. Er folgt ihr im Morgenrock und in Pantoffeln bis zum Auto. Es ist so kalt, dass der Schnee, der über Nacht gefallen ist, liegen bleiben wird, bis die Sonne um halb neun aufgeht.
»Ich würde das nicht wiederholen, wenn ich das Gefühl hätte, du würdest mich verstehen … aber kannst du Hugo bitte erklären, dass ich nicht versuche, mich als seine Mutter aufzuspielen«, sagt sie, bevor sie die Tasse Kaffee nimmt. »Ich möchte nur ein gutes Verhältnis zu ihm haben, und ich würde mir wünschen, wie ein Familienmitglied behandelt zu werden.«
»Du hast recht, ich stimme dir zu.«
»Aber du tust nichts«, erwidert sie und trinkt, bevor sie die Tasse zurückgibt.
»Ich versuche es ja, aber ich begreife nicht ganz, was du von mir erwartest, er ist siebzehn Jahre alt …«
»Du großer Gott«, sagt sie und holt tief Luft. »Ich hoffe zumindest, dass du verstehst, warum das hier nicht funktioniert … vor allem, weil du nicht loyal bist.«
»Ich will doch nur …«
»Bernard«, unterbricht sie ihn sanft. »Du musst auf meiner Seite stehen, nicht immer, aber manchmal.«
»Entschuldige.«
»Ich brauche deine Liebe«, sagt sie und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. »Ich liebe es, mit dir zusammen zu sein, mich über Bücher zu unterhalten oder über die Philosophie …«
»Das ist das Schönste, was es gibt.«
»Aber das reicht nicht, das versuche ich ja zu sagen, ich komme damit nicht mehr zurecht, ich werde mit meiner Mutter telefonieren und fragen, ob ich zu ihr ziehen kann.«
»Du willst ausziehen?«
»So geht es jedenfalls nicht weiter, ich muss eine Weile hier raus«, beendet sie die Diskussion und setzt sich in den Wagen, zieht die Tür hinter sich zu und lässt den Motor an.
Agnetas Lexus rollt los, er sieht ihr mit pochendem Herzen hinterher, trinkt den Rest des Kaffees und stellt die Tasse auf der Ladesäule ab.
Er denkt gerade, dass er Hugo bald wecken sollte, damit er rechtzeitig zu seinem Treffen mit der Redaktion des KULT-Magazins in Uppsala kommt, als ein Streifenwagen in seine Auffahrt fährt und vor dem Haus hält.
Bernard zieht den Gürtel seines Morgenrocks zusammen, als eine Polizistin aus dem Auto steigt und sich mit ernstem Gesicht nähert.
»Bernard Sand?«
»Ja«, antwortet er.
»Ein junger Mann, der behauptet, dass er Ihr Sohn ist, wurde heute Nacht festgenommen«, erklärt sie.
»Warten Sie mal kurz …«
»Er hatte keine Ausweispapiere, und wir brauchen Sie, um seine Identität festzustellen.«
»Ich verstehe das alles gerade nicht so richtig.«
»Also …, Sie haben einen Sohn namens Hugo?«
»Ja, aber er schläft … ich werde ihn um neun wecken.«
»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«
»Gestern Abend.«
Sie seufzt und nimmt ihr Diensttelefon, spricht kurz mit einem Staatsanwalt über die Fotos von der Abnahme der Fingerabdrücke nach der Festnahme in Bredäng.
»Darf ich denn erfahren, worum es geht?«, sagt Bernard mit einer steigenden inneren Angst.
»Darauf kann ich nicht antworten, bevor Sie nicht …«
»Ist er verletzt?«
Die Frau gibt keine Antwort, steht nur stumm mit dem Telefon in der Hand da, bis es klingelt. Mit neutralem Gesicht öffnet sie die Nachricht und zeigt ihm ein Bild auf dem Display.
Es fühlt sich an, als würde ein harter Strahl Luft direkt durch Bernards Kopf blasen. Er sucht mit der Hand Halt und stößt die Tasse von der Säule.
In dem grellen Licht ist Hugo zu sehen, sein Gesicht verdreckt und sein Blick voller Angst. Er hat die schönen Gesichtszüge von seiner Mutter, aber das schulterlange Haar ist zerzaust. Sie haben die Ringe aus der Nase und der Unterlippe in Verwahrung genommen, genau wie die Ohrringe und die Halskette. Auf dem Bild sehen die Tätowierungen aus, als hätte er beide Arme in blauen Lehm getaucht.
Vor seinem Körper ist eine Tafel zu sehen, sein Name und die Personennummer fehlen. Das Einzige, was auf der Tafel steht, sind seine Körpergröße, die Nummer der Aufnahme, die Bezirksnummer und das Datum.
»Das ist er, das ist mein Sohn«, sagt Bernard und drückt sich die zitternde rechte Hand auf den Bauch. »Ich verstehe es nicht … Ich bin mir sicher, dass das Ganze ein Missverständnis ist. Das haben Sie sicher schon oft gehört, aber ich … ich …«
»Befindet sich gerade jemand im Haus?«
»Nein, ich denke nicht …«
»Sie wissen es nicht?«
»Ich dachte, dass Hugo in seinem Zimmer ist, aber wenn er es nicht ist … dann bin ich wohl der Einzige, der gerade hier ist«, antwortet er.
»Okay, danke«, sagt sie.
»Ich kann hineingehen und nachsehen«, schlägt er vor.
»Sie müssen draußen warten, bis die Techniker hier sind, aber wenn Ihnen kalt ist, können Sie gerne in unserem Auto warten«, sagt die Polizistin.
»Ich friere nicht, ich kann mich jetzt nicht um solche Dinge kümmern, entschuldigen Sie bitte, aber ich muss verstehen, was hier passiert«, sagt Bernard mit unsicherer Stimme.
»Die Techniker sind bald hier. Sie werden Sie hineinbegleiten und Ihnen helfen, damit Sie sich anziehen und mitnehmen können, was Sie brauchen, bevor das Haus versiegelt wird.«
»Soll ich einen Anwalt einschalten? Hugo ist erst siebzehn, ich nehme an, dass ich das Recht habe zu erfahren, warum er festgenommen wurde.«
»Er wird verdächtigt, einen Mord begangen zu haben«, antwortet die Polizistin.
Ohne innezuhalten, feuert Joona zwei Schüsse in direkter Folge ab. Der doppelte Rückstoß hämmert wie ein zusätzlicher Herzschlag durch seinen Körper.
Er sieht, wie die beiden Kugeln direkt in die Stirn einschlagen und Fragmente aus Karton durch die Austrittslöcher wirbeln.
Joona läuft gebückt, vorbei an den aufgestellten Spanplatten, sieht die nächste Silhouettenscheibe hinter einem orangefarbenen Plastiknetz auftauchen, kniet sich hin und schießt. Die Kugel schlägt in dem roten Kreis mitten auf dem Bauch der Pappfigur ein.
Die Erde im Schatten eines rostigen Containers ist nass. Patronenhülsen glitzern im Schotter.
Joona folgt der aufgemalten Bahn, umrundet zwei sandgefüllte Plastiktonnen, steckt die Pistole ins Holster, bringt eine schwere Puppe hinter einem Streifenwagen in Sicherheit und erschießt die letzte Pappfigur durch das rote Dreieck mitten auf der Stirn.
Eine Wolke aus Papierstaub hängt noch immer im Sonnenlicht. Joona sichert die Pistole und steckt sie ins Holster.
Aus irgendeinem Grund denkt er an seinen Vater, der ebenfalls Polizist war, er wurde im Dienst getötet. Joona war damals gerade elf geworden, aber der Verlust seines Vaters wurde zu einem Prisma, in dem sich das Licht brach, seinen Winkel änderte und ihn anscheinend zu dem machte, der er heute ist.
Er hat sein gesamtes erwachsenes Leben geopfert, um die Welt zu einem noch sichereren Ort zu machen, erst beim Militär und dann als Polizist.
Ohne darüber nachzudenken, wozu ihn diese Arbeit formt, hat er all die Jahre einfach weitergemacht.
Er muss sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass er eine Spur des Todes hinter sich gelassen hat: ein Schlachtfeld, auf dem sich immer mehr Rabenvögel versammeln, um an den Leichen zu picken.
Joona ist immer wieder gesagt worden, dass es sich nicht lohnt, zurückzublicken, aber das zu vermeiden ist mittlerweile immer schwieriger, wenn er allein ist.
Er hält die Einsamkeit nicht mehr richtig aus, denkt er. Privat nicht, aber auch nicht beruflich.
Er vermisst Valeria schon jetzt und sehnt sich nach seiner Tochter Lumi.
Und selbst wenn er jedes Mal antwortet, dass er lieber alleine arbeitet, wenn er gefragt wird, weiß er, dass er im Grunde jemanden an seiner Seite braucht.
Er wünscht sich, dass Saga Bauer diesen Platz einnehmen könnte. Sie würden einander perfekt ergänzen.
Saga ist wie eine Schwester, eine brillante, aber komplizierte Frau, die ihn braucht, ohne dass sie es sich jemals eingestehen würde.
Sie ist zu stolz, zu eigensinnig.
Er selbst ist auch eigensinnig.
Wenn er weiß, dass er recht hat, kann er nicht nachgeben, sich nicht zurückziehen – der Preis, den er dafür zahlt, ist ihm egal.
Joona bürstet seine Kleidung ab, kontrolliert, wie viel Zeit er gebraucht hat, bevor er sich auf die nächste Schießbahn begibt. Sein Diensthandy klingelt.
Der Anruf kommt von der Staatsanwältin Lisette Josephson. Sie unterhalten sich kurz, während er zum Parkplatz geht.
Fünf Minuten später bricht Joona von der Trainingsanlage der Nationalen Eingreiftruppe in Sörentorp auf. Er trainiert dort dynamisches Pistolenschießen, sooft er Zeit hat.
Die Staatsanwältin hat ihm berichtet, dass sie in der Nacht beschlossen hat, einen siebzehnjährigen Mann laut Paragraf 2, Abschnitt 24 des Strafgesetzbuchs zu verhaften, mit der Begründung, dass seine Identität nicht festzustellen war.
Am Morgen wurde er dann als Hugo Sand identifiziert, gemeldet in Hägersten. Er erscheint in keiner Akte der Polizei oder des Jugendamts, steht jetzt allerdings im Verdacht, einen brutalen Axtmord begangen zu haben.
Das Opfer im Wohnwagen hieß Josef Lindgren und war einunddreißig Jahre alt. Er arbeitete als Lehrer an der Englischen Schule und lebte in einem Reihenhaus in Tumba mit seiner Ehefrau Jasmin und einem Kind im Vorschulalter.
Die Staatsanwältin bat Joona Linna, an der vorgeschriebenen Vernehmung zur Sache nach Kapitel 24, Abschnitt 8 von Hugo Sand teilzunehmen, in Anwesenheit des Erziehungsberechtigten und des Verteidigers.
Joona Linna ist Kommissar bei der Nationalen Operativen Abteilung, NOA, in Stockholm. Er ist Experte für Serienmörder und hat mehr komplizierte Kriminalfälle gelöst als irgendjemand sonst in Nordeuropa. Bevor er Polizist wurde, war er Mitglied der Sondereinsatztruppe des Militärs und erhielt eine Spezialausbildung in den Niederlanden bei Leutnant Rinus Advokaat in unkonventionellen Nahkampftechniken und an innovativen Waffen.
*
Auf der einen Seite des lackierten Kiefernholztisches in dem fensterlosen Vernehmungszimmer haben der Anwalt und der Vater des Verdächtigen, Bernard Sand, Platz genommen.
Joona bemerkt, dass der Vater gefasst wirkt. Er sitzt mit geradem Rücken auf seinem Stuhl und hat die Hände in den Schoß gelegt. Er ist sauber rasiert, hat graue Strähnen in seinem dichten zurückgekämmten Haar und aufmerksame Augen.
Ihnen gegenüber sitzen Joona und die Staatsanwältin Lisette Josephson. Lisette hat blondes, borstiges Haar, einen fast unmerklichen Unterbiss und einen strengen Blick. Sie trägt eine walnussbraune Lederhose und einen nougatfarbenen Kashmirjumper. Ihre Jacke liegt gefaltet auf der Armlehne neben ihr.
Joona blättert sich ein weiteres Mal durch die Fotos, die die Forensiker im Wohnwagen gemacht haben, hält inne und vertieft sich in ein Bild aus dem Schlafzimmer, in dem der Verdächtige angetroffen wurde.
Die Axt liegt im Bett, der blanke Kopf ruht auf dem Kissen, als hätte sie den jungen Mann auf den Boden geworfen und sich selbst zur Ruhe gelegt.
Überall gibt es blutige Fußspuren und Handabdrücke, helle Spritzer bis ganz oben an der Wand, verschmiertes Blut und eine größere Lache um einen abgetrennten Arm.
Der deutliche Abdruck einer Schulter ist in der Lache zu erkennen.
Man hört ein kurzes Klopfen, bevor Hugo Sand von einem Justizvollzugsbeamten hereingeführt wird, der sich auf einem Stuhl neben der Tür niederlässt.
Hugo setzt sich zwischen seinen Vater und den Anwalt.
Die grüne Kleidung lässt seine Haut kränklich blass erscheinen und verstärkt die dunklen Ringe unter den Augen.
Als er anfängt, am Daumennagel zu kauen, fängt der Vater vorsichtig seine Hand und legt sie auf den Tisch.
Nach den üblichen Formalitäten heißt die Staatsanwältin alle willkommen und erklärt dann, dass den Richtlinien der Generalstaatsanwaltschaft zum Umgang mit jugendlichen Straftätern Folge geleistet wird.
»Deshalb haben wir auch mit allen Vernehmungen zum Thema gewartet … bis du einen Verteidiger hattest, Hugo«, sagt Lisette.
»Okay«, murmelt er.
Eine Wolke aus Rasierwasser befreit sich, als Hugos juristischer Vertreter Wasser in die ungebleichten Pappbecher schenkt und seine Krawatte ein Stückchen lockert.
»Wollen wir anfangen?«, fragt Lisette und schaut dann eine Weile in die Mappe, die vor ihr liegt, bevor sie den Blick wieder hebt.
»Nach der Meldung eines Einbruchs auf dem Campingplatz in Bredäng wird Hugo Sand von den ersten Polizisten vor Ort verhaftet, genau um Viertel nach drei an diesem Morgen«, fasst sie zusammen. »Die Techniker haben Blut des Opfers an Hugo gesichert … und Spuren von Fingerabdrücken von ihm, verteilt über den gesamten Tatort.«
Der juristische Vertreter beugt sich vor und räuspert sich.
»Mein Klient leugnet nicht, sich im Wohnwagen befunden zu haben, als …«
»Seine Fingerabdrücke befinden sich auf der Mordwaffe«, unterbricht ihn die Staatsanwältin.
»Warten Sie«, sagt Hugo mit schwacher Stimme. »Ich weiß nicht, was dort passiert ist. Ich bin davon aufgewacht, dass ein Polizist vor mir in den Boden schoss, ich hatte keine Ahnung, wie ich dahin gekommen bin.«
»Mein Klient ist Schlafwandler, mit einer Diagnose … es ist alles sehr gut dokumentiert«, sagt der juristische Vertreter und öffnet seine Aktentasche.
»Schlafwandler?«, fragt Lisette mit errötenden Wangen.
»Wir haben eine Liste von Orten, an denen Hugo aufgewacht ist … unter anderem in der U-Bahn, auf einem Holzboot im Mälaren, in einem thailändischen Massagesalon …«
»Joona, kannst du hier übernehmen?«, bittet Lisette mit einem schwachen Zittern in der Stimme.
»Was hast du gestern Abend gemacht?«, fragt Joona und sieht den Jungen an.
Hugo wendet sich an seinen juristischen Beistand, bekommt ein fast unmerkliches Nicken zur Antwort, bevor er wieder Joona ansieht.
»Nichts«, antwortet er.
»Wir haben gegen sieben Uhr zu Abend gegessen«, antwortet Bernard.
»Und danach?«
»Ich war mit meiner Freundin auf meinem Zimmer«, sagt Hugo mit einem Schulterzucken.
»Wie lange ist sie geblieben?«
»Sie ist gegen elf gegangen.«
»Und wann hast du dich schlafen gelegt?«
»Ich weiß nicht so richtig«, antwortet er. »Ich habe noch ein bisschen Musik gehört, bin vielleicht um zwölf eingeschlafen.«
Hugo zieht an der Halskrause des blauen Haftanzugs.
»Wie oft schlafwandelst du?«, fragt Joona.
»Durchschnittlich einmal im Monat, denke ich … außer wenn ich in einem Schub bin, dann passiert es fast jede Nacht.«
»Wie oft kommen diese Schübe vor?«
»Inzwischen ziemlich selten, vielleicht alle zwei Jahre«, antwortet Hugo und trinkt ein wenig Wasser aus seinem Becher.
Joona hört, wie Lisette etwas in ihren Unterlagen notiert.
»Und wie lange dauern diese Schübe?«
»Drei Monate in der Regel … ich weiß es nicht, sie sind sehr anstrengend, für alle in meiner Umgebung«, antwortet Hugo.
»Weißt du, wodurch dieses Schlafwandeln ausgelöst wird?«, fragt Joona.
»Meinen Sie die Schübe? Da haben wir noch kein konkretes Muster gefunden«, antwortet der Vater.
»Ich habe eine Parasomnie, die RBD genannt wird … das steht für REM sleep behaviour disorder«, erklärt Hugo.
»Du träumst, während du schlafwandelst«, sagt Joona.
Hugo nickt und streicht das lange Haar aus den Augen. Er hat kleine Löcher in der Unterlippe, in einem Nasenflügel und entlang der Ohrmuschel bis zum Ohrläppchen.
»Mein Arzt nennt es Katastrophenträume«, sagt er.
»Um welche Katastrophe geht es da?«, fragt Joona und beugt sich über den Tisch.
»Ich weiß es nicht, erinnere mich an fast gar nichts … aber ich habe Angst und muss in der Regel fliehen oder mich verstecken.«
»Wer ist dein Arzt?«
»Lars Grind an der Klinik für Schlafmedizin in Uppsala«, antwortet Bernard.
Joona blickt Hugo wieder an. Er ist blass und schmal und hat ein Gesicht wie ein junger Märchenprinz, aber mit müden, rot unterlaufenen Augen und trockenen Lippen.
»Würdest du sagen, dass du dieselben Dinge tun kannst wie eine wache Person, wenn du schlafwandelst?«
»Wir entscheiden uns, nicht darauf zu antworten«, sagt der juristische Vertreter.
»Es ist okay, ich kann erklären, wie es für mich ist, es spielt ja keine Rolle«, sagt Hugo und wendet sich an Joona. »Zum Beispiel …, wenn ich schlafwandle, habe ich keine Probleme, meinen Code ins Telefon einzugeben und Leute anzurufen, aber wenn sie sich melden, rede ich anscheinend vollkommen unzusammenhängend.«
»Wann hat das mit dem Schlafwandeln angefangen?«, fragt Joona.
»Ich weiß nicht, ich war noch klein.«
»Er hat es schon immer getan, aber im Alter von sechs Jahren haben wir zum ersten Mal Hilfe gesucht«, sagt Bernard leise.
»Warum?«
»Hugo war mitten auf einer großen Straße aufgewacht, weil ein Lastwagen gehupt und gebremst hatte … er hatte sein Bett verlassen, war eine Treppe heruntergegangen, hatte die Haustür aufgeschlossen und war beinahe zwei Kilometer gelaufen.«
Hugo lächelt entschuldigend, wird dann aber ernst, als er Joonas Blick begegnet.
»Wie oft wachst du an unbekannten Orten auf?«
»Ziemlich oft.«
»Weißt du, wo du dich befindest, wenn du aufwachst?«
»Mal so, mal so.«
»Bist du früher schon einmal auf dem Campingplatz in Bredäng gewesen?«, fragt Joona und hält Hugos Blick fest.
»Ja … als ich kleiner war, bin ich dort immer mit meinen Freunden gewesen, wir haben manchmal auch Mädchen mitgenommen, haben Hasch geraucht …«
»Das hast du nie erzählt«, meint Bernard.
»Was glaubst du denn«, murmelt Hugo.
»So, wie ich es verstanden habe, halten Schlafwandler ihre Augen offen – gilt das auch für dich?«, fragt Joona.
»Ja, das gilt auch für ihn«, antwortet Bernard an Hugos Stelle.
»Erinnerst du dich an irgendetwas, was du gesehen hast, Hugo?«
»Nein.«
»Dann weißt du nicht, ob du den Mann im Wohnwagen ermordet hast?«, fragt Joona.
Kleine Schneeflocken wirbeln in der Halbdämmerung über den Asphalt des Göran Greiders väg. Für Joona fühlt es sich an, als würde ein langsames Motorboot durch einen grauen Kanal fahren.
Er denkt, dass es nichts Ungewöhnliches ist, dass Täter am Tatort gefunden werden, unter Drogen oder betrunken, reuevoll oder paralysiert von ihrer Tat. Aber Hugo Sand lag auf dem blutigen Boden und schlief auf einem abgetrennten Arm wie auf einem Kissen.
Joona kommt am Institut für Neurowissenschaft vorbei und biegt vor dem Backsteingebäude der Rechtsmedizinischen Abteilung ab, in jedem Fenster stehen elektrische Adventsleuchter. Åhléns weißer Porsche parkt ein paar Meter entfernt vor einer schiefen Ladesäule, die von roten Splittern einer zerborstenen Rückleuchte umgeben ist.
Joona parkt, verlässt das Auto und atmet die kalte Luft tief in die Lunge ein.
Er ist ein wenig beunruhigt wegen Valeria und versucht, sie telefonisch zu erreichen, wird aber nur mit dem Anrufbeantworter verbunden.
Sie ist nach Brasilien gereist, um sich um ihre Mutter zu kümmern. Das Tod ihres Vaters kam nicht überraschend, aber ihre Mutter war ganz plötzlich völlig verwirrt von der Leere.
Joona geht die Betontreppe hinauf, durch die blaue Eingangstür und sieht, dass Staatsanwältin Lisette Josephson schon auf der Sitzgruppe neben der Rezeption Platz genommen hat.
Auf Ersuchen der Staatsanwaltschaft wird Joona sie unterstützen. Die Ermittlung wird sich darauf konzentrieren, so schnell wie möglich ausreichend Gründe für eine Anklage gegen Hugo Sand zu finden.
Sie begrüßen einander, und Joona sucht sich einen Platz ihr gegenüber. Sie blickt kurz auf die Uhr ihres Handys und stellt nüchtern fest, dass die Zeit noch reicht, um ihn auf den neuesten Stand zu bringen.
»Du fragst dich sicher, was mit den Überwachungskameras ist? Dieses Mal wird es tatsächlich nicht leicht werden«, stellt sie mit müder Stimme fest. »Der Besitzer des Campingplatzes hat die gesamte Festplatte gelöscht, als er versuchte, die Filme zu speichern.«
»Kann sie wiederhergestellt werden?«
»Vermutlich nicht, das sagen zumindest unsere Techniker.«
»Okay.«
Durch die Wände hört man gedämpfte Hardrockmusik, Schlagzeug, Bass und Rhythmusgitarre.
»Wir haben die Ehefrau des Opfers vernommen, Jasmin … und sie sagt, dass sie keine Ahnung hat, was Josef in diesem Wohnwagen zu suchen hatte … aber auf seinem Computer wimmelt es von Cookies aus einem Forum für sexuelle Dienstleistungen … aber dann hat er wohl den Tipp bekommen, Tor herunterzuladen und ins Darknet zu wechseln.«
»Und damit ist diese Spur auch versiegt«, stellt Joona fest.
»Abgesehen davon, dass auch Hugo Sand Tor benutzt … es ist also durchaus möglich, dass sie in Kontakt gestanden haben.«
Lisette nimmt einen Stapel Papier von etwa vierhundert Seiten aus ihrer Aktentasche und legt ihn auf den Tisch.
»Abschriften von Hugos Textnachrichten, seinen Updates, seinen Telefonverbindungen und so weiter«, sagt sie.
»Und das hast du alles durchgelesen?«
»Natürlich«, antwortet sie.
»Und was sagst du dazu? Wer ist Hugo?«, fragt Joona.
»Ich sehe einen jungen Mann … wortgewandt, selbstbezogen und ziemlich unverantwortlich«, erzählt Lisette. »Er wohnt zu Hause mit seinem Vater Bernard und der Partnerin seines Vaters, Agneta Nkomo … er hat kurze, mehr oder weniger unabgeschlossene sexuelle Beziehungen zu verschiedenen Frauen … im Augenblick eine Frau namens Olga, sie planen gerade eine Reise und versuchen, genug Geld dafür zusammenzukratzen … Hugo findet sich in keinem unserer Register, es gibt ein paar kleine Drogengeschichten, aber ansonsten nichts Kriminelles, keine Gewalt, kein Extremismus … Wir haben Spuren von Benzodiazepin in seinem Blut gefunden, aber weit weniger als genug, um am Tatort einzuschlafen.«
»Welches Motiv könnte er haben?«
»Das ist nicht ganz klar, aber ich werde die Linie verfolgen, dass es sich um ein homophobes Hassverbrechen handelt«, antwortet sie. »Hugo hat ein Treffen mit dem Opfer vereinbart, um Sex zu verkaufen oder um ihn einfach auszurauben … Sie treffen sich im Wohnwagen, und entweder geschieht es direkt, oder die Annäherungen des Manns sind der auslösende Faktor … sie treiben Hugo an den Rand der Besinnungslosigkeit.«
»Gibt es hier irgendetwas, das auf Homophobie hindeutet?«, fragt Joona mit der Hand auf dem Ausdruck.
»Nein, aber wir suchen weiter.«
Åhléns neue Assistentin Chaya Aboulela kommt auf sie zu, begrüßt sie knapp und gibt Lisette und Joona die Hand.
Chaya hat ein schmales und ziemlich strenges Gesicht, mit schwarzen, gewölbten Augenbrauen, vollen Lippen und einer hellbraunen Iris. Die Haare sind bedeckt von einem mattgelben Hijab, und unter dem offenen Ärztekittel sind ihre goldbordierte Bluse und die tief sitzende Jeans zu erkennen.
»Der Maestro empfängt jetzt«, sagt sie mit einem schiefen Lächeln.
Sie gehen gemeinsam durch den Korridor.
»Ich gehe davon aus, dass du schon tote Menschen gesehen hast«, sagt Chaya zu Lisette. »Aber ich möchte dich trotzdem warnen, dieser Fall ist sehr brutal.«
»Ich sehe öfter Leichen als meine Kinder«, antwortet Lisette trocken.
Chaya zieht die schweren Türen zum Obduktionssaal auf. Das Licht ist außergewöhnlich hart und spiegelt sich im Stahl der Obduktionstische, der Becken, der Wasserhähne und der Abflusssiebe.
Åhlén wartet in seinem Ärztekittel in der Mitte des großen Saals. Seine Nase ist schmal und buckelig und die Lippen dünn. Die Lichtquellen an der Decke spiegeln sich wie Perlenbänder in seiner Pilotenbrille.
Åhlén ist Professor am Karolinska-Institut und gehört zu den angesehensten Experten für rechtsmedizinische Obduktionen.
Auf dem langen Tisch sind die sterblichen Überreste von Josef Lindgren aufgereiht und für die Fotos und die Protokollführung durchnummeriert.
Joona und Lisette gehen langsam zum Tisch und betrachten den Toten.
Es handelt sich um die chaotische Variante einer klassischen Zerstückelung, bei der der Kopf, die Arme und die Beine vom Rumpf getrennt werden, bevor der Körper fortgeschafft wird.
Die Zerstückelung dieses Opfers war extrem aggressiv, sie wurde begonnen, während es noch lebte, war also bereits ein Teil des Mordes.
Der halbe Kopf befindet sich noch am Hals, der rechte Arm ist direkt unter der Schulter gekappt worden, der linke am Ellenbogen, und beide Beine sind abgeschlagen.
»Um euch einen Überblick zu geben, haben wir die größeren Teile des Körpers hier hingelegt, ihr seht es ja … und dann versucht, die kleineren Teile in einer vertretbaren anatomischen Logik zu ordnen«, erklärt Chaya. »Die rechte Hand mit der Spitze des Zeigefingers, die ausgeschlagenen Zähne und die Knochenfragmente des Kiefers hier …«
Joona hört ihre Stimme verklingen, während er sich in einen entspannten Zustand der Hyperkonzentration zu versetzen sucht, um kein wichtiges Detail zu übersehen, während er die großen Verletzungen am Körper begutachtet.
Konzentriert betrachtet er den Armstumpf und den Riss in der Rippe, den Hals und die großen Wundoberflächen, dort, wo die Oberschenkel gekappt wurden.
Eines der abgetrennten Beine ist intakt mitsamt der Socke am Fuß, das andere wurde in fünf größere Teile zerhackt.
Ein Stück des Kopfes mit dem blondgefärbten Haar hat eine Schlagverletzung an der Schläfe. Der Großteil des Gesichts liegt neben einem Teil des Hinterkopfes mit zerfetzten Nackenmuskeln.
Zentimeter für Zentimeter arbeitet sich Joona durch die missglückten Schläge, die äußerlichen Scharten und Risse. Ein kurzer Schnitt läuft diagonal über die eine Seite des Bauchs und ein anderer quer über die Schulter.
»Ich nehme an, dass ihr euch fragt, wie das Opfer getötet wurde«, hört er Åhlén sagen.
»Ja«, antworte Lisette mit einem Nicken.
»Was war der erste Schlag, welcher war der tödliche?«, fährt Åhlén fort. »Der Verlauf der exzessiven Gewalt, die Anzahl der Verletzungen …«
Joona hält bei jedem Bluterguss inne, und bei allen schwachen Leichenflecken unter der Haut, wo sie in Kontakt mit dem Boden war.
»Hast du schon irgendeine Theorie?«, fragt Lisette und sieht Åhlén an.
»Selbstverständlich … aber ich habe inzwischen gelernt, dass zuerst Joona seine Theorie präsentiert«, antwortet er.
»Entschuldige bitte, aber du weißt schon, dass Joona Zugang zu weniger Fakten hat als ich«, sagt sie.
»Das ist doch kein Wettkampf … aber Joona hat ein sehr gutes Auge«, erklärt Åhlén und schiebt die Brille nach oben.
»Okay, bitte sehr«, antwortet die Staatsanwältin mit einem provozierenden Lächeln und deutet mit einer Geste auf Joona.
»Das Opfer und der Täter haben einander in die Augen gesehen, bevor die Gewalt losbricht«, beginnt Joona.
»Und da bist du dir sicher?«, fragt sie.
»Weil sie einander gegenüber gestanden haben«, sagt er.
»Woher weißt du das?«, fragt sie.
»Weil der erste Angriff direkt von vorne kam«, antwortet er. »Die Axt wurde wahrscheinlich verborgen gehalten, bevor sie hochgeschwungen wurde und das Opfer mit der Breitseite an der linken Schläfe trifft … es ist ein harter Schlag, der ihn seitlich auf den Boden niederstreckt … und er ist noch ziemlich benebelt, als der Täter sein rechtes Bein am Boden abtrennt.«
Lisette schüttelt den Kopf.
»Das ist unmöglich zu erkennen«, sagt sie.
»In Kombination mit den Bildern des Tatorts, die du mir geschickt hast, kann ich das erkennen«, entgegnet Joona. »Es brauchte mindestens fünf Hiebe, um das Bein vom Körper zu trennen, würde ich anhand des Spalts im Boden und der Winkel der Schnittflächen folgern. Das Blut wird mit vollem Druck aus der Arterie gepumpt … das sind die hellen Flecken ganz oben an den Wänden im großen Schlafzimmer.«
»Er ist ziemlich nervtötend, nicht wahr?«, murmelt Chaya zur Staatsanwältin.
»Die Verstümmelung ist im Grunde schon tödlich«, fährt Joona fort. »Aber in diesem Fall ist es nicht die direkte Todesursache, weil alles so schnell ging.«
»Bravo«, flüstert Åhlén.
»Das Opfer rutscht nach hinten, versucht zu entkommen und gleichzeitig den Blutverlust mit den Händen zu stoppen«, fährt Joona fort. »Es ist der nächste Hieb, durch den Kopf, der ihn umbringt … der Rest der Verletzungen gehört rein technisch zur Verstümmelung.«
Es ist für ein paar Sekunden still.