Der Narrenturm - Tomás de Torres - E-Book

Der Narrenturm E-Book

Tomás de Torres

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Beschreibung

"Der Ablieferungstermin ist in einer Woche!" Miguel Hermano traten die Schweißperlen auf die Stirn. Dabei sollte er diesmal gar keinen kompletten SM-Roman abliefern, sondern nur das allererste Kapitel. Allerdings war der Auftraggeber kein Verlag, sondern der Entführer seiner Frau María. Wenn er sie lebend wiedersehen wolle, müsse er - Woche für Woche ein Kapitel - einen Roman mit dem Titel "Der Narrenturm" schreiben, einen SM-Roman über die schaurig-schönen, mit allerlei Zwangsjacken, Fesseln und Gittern ausgestatteten Irrenhäuser vergangener Jahrhunderte. Hermano macht sich umgehend an die Arbeit - an die literarische und an die fieberhafte Recherche nach dem Entführer. Bald schon stellt sich heraus, dass der Entführer selbst einen alten Narrenturm besitzt - und es stellen sich neue Fragen: Welche Rolle spielt María wirklich? Ist alles nur inszeniert und vorgetäuscht? Zu welchem Zweck? Mehr und mehr verwischen sich die Grenzen zwischen Roman und Realität, und für Miguel Hermano beginnt ein Tanz auf dem Vulkan … Ungekürzte Ausgabe; (die Papierback-Ausgabe ist gekürzt)

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Seitenzahl: 410

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Der Narrenturm

SM-Thriller

von

Tomás de Torres

MARTERPFAHL VERLAG

»›Der Narrenturm‹ –

erstmals die ungekürzte Originalfassung,

exklusiv für die E-Book-Ausgabe!

2006 / 2020«

Der Autor über diese Ebook-Ausgabe (siehe ausführlicher im Nachwort)

Impressum der Ebook-Ausgabe:

© 2021 by Marterpfahl Verlag Rüdiger Happ,

Firstbergstr. 2, D-72147 Nehren

https://marterpfahlverlag.wixsite.com/erotikbuch

[email protected]

E-Book-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmund, www.readbox.net

Cover: Rüdiger Happ unter Verwendung desselben Bilds wie bei der Paperback-Ausgabe

E-Book ISBN 978-3-944145-75-4

Impressum der Paperback-Ausgabe:

© 2009 by Marterpfahl Verlag Rüdiger Happ,

Postfach 8 / Firstbergstr. 2, D-72147 Nehren

www.marterpfahlverlag.com

[email protected]

Umschlaggestaltung: Domlupina ([email protected])

unter Verwendung eines Bilds, das das Model JosieM/

genuine zeigt

Druck: Print Com, Erlangen

ISBN 978-3-936708-64-6

1

»Alison schloss die Augen, als sie sah, wie ihr neuer Herr mit der Bullenpeitsche ausholte. Als das Ende des geflochtenen Lederriemens in ihren Körper schnitt, wenige Zentimeter unterhalb ihrer bloßen Brust, schrie sie ihren Schmerz in den bis an den Rand des Berstens aufgeblasenen Knebel. Während sich ihre Hände um die Ketten krallten, die sie unbarmherzig mit der steinernen Mauer verbanden, fühlte sie, wie sie trotz des Schmerzes ein Glücksgefühl durchströmte.

Alisons Suche hatte ein

Ende.«

Miguel Hermano, seit genau zwei Wochen 47 Jahre alt, mit kurzgeschnittenen schwarzen Haaren und einem ebensolchen Vollbart, lehnte sich zurück und schob die Tastatur des Computers bis an den Fuß des Flachbildschirms zurück. Er nahm die Brille ab und rieb sich die schmerzenden Augen. Seit dem frühen Morgen hatte er geschrieben, lediglich unterbrochen durch eine kurze Mittagspause. Wenn die Arbeit an einem Roman sich ihrem Ende zuneigte, wenn das Finale, in dem sich alle Knoten auflösten, bereits bis ins kleinste Detail feststand, vermied er jegliche Ablenkung, bis er das schöne Wort mit den vier Buchstaben niedergeschrieben hatte.

Miguel setzte die Brille – er war seit seiner Kindheit stark kurzsichtig – wieder auf und holte ein kleinformatiges Schulheft aus der obersten Schreibtischschublade. Er war in gewisser Beziehung ein altmodischer Mensch, und obwohl es keine Alternative zu dem Schreiben mit dem Computer gab, pflegte er seine bibliographischen Daten auf Papier festzuhalten. Das Schulheft öffnete sich wie aus eigenem Willen an der richtigen Stelle, und Miguel trug mit einem roten Kugelschreiber das heutige Datum neben demjenigen ein, an dem er den Roman begonnen hatte. Der Eintrag in dem Heft sagte ihm auch, dass »Alisons Suche« sein zwölfter SM-Roman war. Dann zog er die Tastatur wieder zu sich heran und setzte noch drei Zeilen unter das »Ende«:

»Torquemada«

Torelló

28. März bis 10. Juni 2006

Der Stand der Sonne, die durch das Westfenster in das kleine Türmchen lugte, in dessen Obergeschoss sich Miguels Büro befand, sagte ihm, dass es bereits auf 18 Uhr zugehen musste. Es gab keine Uhren in seinem Arbeitszimmer, die ihn ablenken konnten – sogar die Zeitanzeige am rechten unteren Bildschirmrand hatte er ausgeschaltet.

Miguel stand auf und reckte sich. Sein Blick fiel durch das Nordfenster auf den Wald, der sich etwa 100 Meter jenseits der engen und ungeteerten Straße befand, die sich in einiger Entfernung an seinem Haus vorbeiwand. Das Haus selbst, ein 200-Quadratmeter-Einfamilienhaus, befand sich weit abgelegen vom nächsten Nachbarn vier Kilometer von der kleinen Stadt Torelló im Hinterland der Costa Brava. Er hatte es vor knapp zehn Jahren gekauft, noch vor seiner Heirat mit María. Zu Beginn war die Umgewöhnung für jemanden, der in der Großstadt geboren und aufgewachsen war, ziemlich hart gewesen, doch heute konnte er sich kaum mehr vorstellen, anders zu wohnen.

Er nahm einen CD-Rohling von dem Regal, das sich links an den Schreibtisch anschloss, und legte ihn auf die Tastatur. Er durfte nicht vergessen, eine Sicherung des in den letzten Tagen Geschriebenen anzufertigen. Doch zunächst …

Er hastete die enge Wendeltreppe ins Erdgeschoss hinunter. Das Türmchen, das nur etwa drei Meter durchmaß, war wohl nachträglich an die Nordwestecke des Hauses angeflanscht worden. Die Treppe mündete direkt ins Wohnzimmer, dem damit gewissermaßen eine Ecke fehlte. Dafür jedoch hatte man, direkt unter Miguels kleinem Büro, einen zusätzlichen Raum gewonnen, der größtenteils durch einen runden Tisch ausgefüllt wurde, den sechs hohe Stühle umstanden.

»María!«

Miguel durchquerte das 40 Quadratmeter messende Wohnzimmer, das beinahe die komplette Westhälfte des Grundrisses in Anspruch nahm, und betrat durch die in der entgegengesetzten Ecke liegende Tür – eine von zweien, die andere führte auf den Flur – die Kombination aus Küche und Esszimmer.

»María!«

Diesmal klang seine Stimme bereits ungeduldiger. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, jeweils nach Abschluss eines Romans in Pepes Restaurant in Torelló zu Abend zu speisen, und wie er seine Frau kannte, würden zwei Stunden für sie kaum Zeit genug sein, sich fertig zu machen. Noch dazu an einem Samstagabend.

Er passierte die andere Küchentür und stand nun auf dem breiten Flur.

»María!«

Keine Antwort.

War sie vielleicht kurz weggefahren, um etwas einzukaufen? Miguel öffnete die schwere Haustür, in die in Brusthöhe eine Scheibe aus vielfach geschliffenem Glas eingelassen war. Er ging die drei Stufen hinab, die ihn auf den gepflasterten Vorplatz führten, und betrat die Doppelgarage durch die Seitentür.

Sowohl Marías roter BMW als auch sein nur drei Monate alter, stahlblauer Audi standen unberührt da, Seite an Seite.

Wo, zum Teufel, steckte María? Machte sie vielleicht einen Spaziergang? Wenig wahrscheinlich, um diese Uhrzeit …

Er verließ die Garage wieder und wandte sich in Richtung des Gartentors, das der Haustür gegenüberlag. Er hatte es noch nicht erreicht, als er bereits das Heck von Cristinas silbergrauem Mercedes erkannte, der in der Einfahrt parkte. Unwillkürlich lachte er auf. Er war so in seine Arbeit vertieft gewesen, dass er die Ankunft von Marías »Wochenendsklavin« überhaupt nicht bemerkt hatte. Nun war auch klar, wo seine Frau steckte und warum sie ihn nicht gehört hatte!

Sekunden später befand er sich im Keller des Hauses. Treffer! Neben der Treppe lagen, säuberlich zusammengefaltet auf einem alten Stuhl, Cristinas Kleider, darunter ein Paar weißer Schuhe, Größe 37, mit hohen Absätzen. Zwei Schritte brachten Miguel zu der schweren Eisentür, die in das »Spielzimmer« führte. Er öffnete sie, und das Erste, was er im spärlichen Licht der kleinen, mit Milchglasscheiben versehenen Kellerfenster sah, war Cristina – splitternackt an allen vieren von der Decke hängend. Der Stahl des Keuschheitspiercings, das ihre sauber ausrasierte Schamgegend versperrte, blitzte Miguel an. Cristinas Kopf war zum größten Teil von einer schweren, ledernen Knebelmaske bedeckt, deren Augenklappen jedoch offen standen.

Die junge Frau – mit ihren 32 Jahren immerhin anderthalb Jahrzehnte jünger als Miguel und immer noch zehn Jahre jünger als María – blickte ihn flehend an. Sie versuchte, etwas zu sagen, doch der in die Maske eingearbeitete Ballknebel erstickte ihre Worte.

»María?«

Doch außer der hängenden Frau befand sich niemand in dem großen Raum. Immerhin war nun klar, dass María nicht weit sein konnte, denn es war nicht ihre Art, eine geknebelte Sklavin längere Zeit allein zu lassen.

Miguel zuckte mit den Schultern und verließ das »Spielzimmer« wieder, ohne sich um Cristinas Versuche, sich ihm mitzuteilen, zu kümmern. María hasste kaum etwas so sehr, wie wenn jemand in die Bestrafung ihrer Sklavin eingriff, und das bezog sich auch und besonders auf ihren Ehemann. Wenn er jetzt Cristina von dem Knebel befreite, würde María, so viel war klar, für den Rest des Abends ungenießbar sein. Und wie stets nach dem Abschluss eines Romans war er viel zu gut gelaunt, um sich leichtfertig den Abend zu verderben.

Bevor Miguel in sein Arbeitszimmer zurückkehrte, hastete er noch in den ersten Stock, wo sich das Schlafzimmer mit dem angrenzenden Bad befand, doch auch hier konnte er seine Frau nicht finden.

Wahrscheinlich hatte sie doch einen Spaziergang gemacht – entgegen aller Gewohnheit. Frauen, das hatte er schon vor vielen Jahren gelernt, waren kaum vorausberechenbar.

Zurück im Büro, brannte er zunächst, wie alle paar Tage, sein Arbeitsverzeichnis mit allen bisher geschriebenen Romanen auf CD, bevor er den heute verfassten Abschluss des Romans einer ersten Korrektur unterzog. Anschließend druckte er das komplette Manuskript für die Endkorrektur aus und legte den Papierstapel auf das Fensterbrett.

Die Schatten wurden länger.

Miguel überlegte, ob er sicherheitshalber Pepe anrufen und einen Tisch reservieren solle, beschloss dann jedoch zu warten, bis er mit María gesprochen hatte. Mittlerweile musste sie wieder zurück sein.

Im Wohnzimmer öffnete er zunächst eine der beiden Türen, die auf die große Terrasse hinausführten, und tat auch einige Schritte in den durch hohe Hecken begrenzten Garten.

Niemand da.

Die Küche: leer. Das Gästebad und der angrenzende Hauswirtschaftsraum ebenso.

Also zurück in den Keller.

Diesmal schaltete Miguel das Licht im »Spielzimmer« ein. Cristinas Position war unverändert. Ihre Augen hafteten auf den seinen, und unter dem Knebel drangen dumpfe Laute hervor.

María war nicht hier.

Er trat zu Cristina hin. Ein Speichelfaden hing unter dem Knebel hervor; die Flüssigkeit hatte eine kleine Pfütze auf dem Parkettboden gebildet. Noch zögerte er, der Sklavin die Maske abzunehmen, doch dann gab er sich einen Ruck. Es war klar, dass sie ihm etwas sagen wollte, und in Anbetracht der Tatsache, dass María noch immer nirgends aufzutreiben war, konnte es wichtig sein. Er öffnete den Schnallenverschluss auf der Rückseite ihres Kopfes und entfernte dann die Maske. Cristinas langes, schwarzes Haar fiel herab. Sie schluckte schwer und leckte sich die Lippen. Sie machte einen erschöpften Eindruck.

»Wasser!«, flüsterte sie.

Miguel ging in den kleinen, durch Plexiglaswände abgegrenzten Duschraum in einer Ecke des langgestreckten »Spielzimmers« und füllte dort ein kleines Schälchen. Während Cristina, nach wie vor an Händen und Füßen hängend, gierig trank, musterte er ihren nackten Körper. Mit 1,65 Metern besaß sie eine für eine Spanierin durchschnittliche Größe. Ihre Brüste waren wohlgeformt, aber etwas zu klein. Helle Stellen an den Ober- und Unterseiten ihrer Warzenhöfe zeugten von häufiger Anwendung von Klammern. Möglicherweise, dachte Miguel, hing Cristinas Vorliebe für Brusttorturen mit der unterdurchschnittlichen Größe ihrer Brüste zusammen. Knapp unterhalb des Ansatzes ihrer linken Brust befand sich eine dünne, etwa anderthalb Zentimeter lange Narbe, wie von einem Messerstich. Miguel wusste, dass sie auf der linken Pobacke eine ähnliche Narbe besaß. Woher die Narben stammten, war ihm nicht bekannt; Cristina hatte sie bereits gehabt, als sie María und ihm zum ersten Mal begegnet war. Miguel war kein übermäßig neugieriger Mensch, und so hatte er die Sklavin nicht danach gefragt; möglicherweise wusste es María.

Miguels Blickte glitten weiter, über den flachen, hellen Bauch hinunter zu dem, was sich zwischen den weit gespreizten Beinen befand. Auch das stählerne Keuschheitspiercing hatte sie schon »mitgebracht«; sie hatten das Schloss gewaltsam öffnen und durch ein neues ersetzen müssen, dessen Schlüssel María wohlverwahrte. Das Piercing war einfach, aber effektiv: Es bestand aus jeweils vier in die äußeren Schamlippen eingelassenen Stahlringen mit einer Stärke von drei Millimetern. Von oben durch diese acht Ringe war ein T-förmiges Stahlstück geführt worden, an dessen unterem Ende sich ein kleines Loch befand, und in diesem Loch steckte der Bügel eines handelsüblichen Vorhängeschlosses, so dass der Stahlstift nicht mehr entfernt werden konnte, ohne das Schloss zu öffnen. Damit konnte an dieser Stelle, so lange das Piercing verschlossen war, nichts in Cristinas Körper eindringen, das dicker als ein Bleistift war. María war, als sie es zum ersten Mal gesehen hatte, begeistert von dem Piercing gewesen, wenn es sie später auch zunehmend störte, dass es ihrer »Wochenendsklavin« nicht die Möglichkeit nahm, sich selbst zu befriedigen.

Cristina hustete, und etwas von dem Wasser tropfte auf den Boden. Miguel stellte die Schüssel ab.

»Wo ist María?«, fragte er.

Cristina schüttelte den Kopf. »Weiß nicht«, krächzte sie. »Bitte, Herr, lassen Sie mich herunter!«

Selbstverständlich musste sie María als »Herrin« und ihn als »Herrn« titulieren. Miguel war das nicht so wichtig, aber seine Frau bestand darauf und ahndete jeden Verstoß gegen diese Regel – aber natürlich nicht nur gegen diese.

»Wie lange hängst du hier schon so?«, wollte er wissen.

»Seit dem Mittag. Bitte, Herr!«, flehte sie. »Ich muss ganz dringend auf die Toilette!«

»Vielleicht später«, antwortete er. Gedankenverloren legte er seine Hand auf ihren Bauch. Seit heute mittag? Das sah María gar nicht ähnlich! Aber noch immer zögerte er, Cristina herunterzulassen. Wenn María feststellte, dass er »ihre« Sklavin befreit hatte, würde der Rest des Abends in eisigem Schweigen erstarren, und Miguel fürchtete Marías Schweigen – das bockige Schweigen eines verwöhnten Kindes, dem nicht alles nach seinem Willen ging – mehr als alles andere.

Miguel beschloss, noch einmal nach seiner Frau zu suchen. Wenn er sie diesmal nicht fand, konnte er sie immer noch auf ihrem Handy anrufen. Er kniff Cristina in ihre rechte Brustwarze, was ihr einen erschrockenen Schrei entlockte, dann wandte er sich ab. Er hörte noch ein flehendes »Bitte, Herr!«, kurz bevor sich die eiserne Tür hinter ihm schloss.

Abermals durchsuchte er alle Räume, ging sogar noch einmal hinauf in sein Büro, doch vergebens. Endlich verließ er das Haus und ging den sechzig Meter langen Zufahrtsweg entlang bis zu der Stelle, wo dieser in die Staubstraße, die Torelló mit Sant Pere de Torelló verband, einmündete.

Keine Spur von María!

Allmählich drang die Erkenntnis, dass irgendetwas Unerwartetes geschehen sein musste, zu den bewussten Schichten seines Denkens durch. Er hastete zurück zum Haus in der festen Absicht, Marías Handy anzuklingeln. Als er die Tür hinter sich schloss, fiel sein Blick auf die kleine Flurkommode unter dem Spiegel. Dort, wo sonst Marías Handtasche griffbereit stand, lag ein mittelformatiger Briefumschlag.

Miguel bliebt abrupt stehen. Die Handtasche fehlte – also war María doch weggegangen! Aber einen Spaziergang mit Handtasche hatte sie noch niemals unternommen, und bis zur nächsten Ortschaft waren es immerhin vier Kilometer. Solche Entfernungen pflegte sie grundsätzlich nur mit dem Wagen zurückzulegen.

Er wollte bereits in das Wohnzimmer eilen, wo eines der beiden Telefone stand – das andere befand sich in seinem Büro neben dem Computer –, als er mehr zufällig die geschwungene Handschrift auf dem Kuvert sah.

Eine unbekannte Handschrift.

In großen, fast kalligraphischen Buchstaben standen nur zwei Worte darauf: Sr. Hermano.

Miguel stand reglos im Flur, die Blicke auf den Umschlag gerichtet. Plötzlich schienen die vielfältigen Geräusche der frühsommerlichen Natur, die das Haus umgab, zu verstummen. In Miguels Gehirn entstand ein Spiegelbild der Szene, die er gerade erlebte – ein Déjà-vu-Erlebnis. Für die Dauer eines Blitzschlags wusste er, was er im nächsten Moment tun würde, wusste er, was das Kuvert enthielt.

Dann war der Augenblick vorbei.

Endlich, widerstrebend beinahe, schüttelte er seine Benommenheit ab und streckte eine Hand nach dem Brief aus. Er fühlte sich leicht an, konnte kaum mehr als zwei oder drei Blätter Papier enthalten. Außer den beiden Worten war das braune Geschäftskuvert sowohl auf der Vorder- als auch auf der Rückseite völlig unbeschriftet; Briefmarke und Poststempel fehlten ebenso.

Der Umschlag war verschlossen.

Plötzlich fand Miguel sich in der Küche wieder, wo er den Brief mit der Hilfe eines Messers öffnete. Eine fahrige Bewegung bewirkte, dass ein Stück weißen Kartons herausflatterte und zu Boden fiel. Mit zitternden Händen hob Miguel ihn auf; erst beim zweiten Versuch konnte er ihn greifen.

Er drehte ihn um.

Es war ein Polaroidbild, möglicherweise von einer Wegwerfkamera aufgenommen.

Und es zeigte María.

Genauer: Marías nackten Oberkörper mit vor dem Bauch über Kreuz gefesselten Armen. In ihrem Mund steckte ein Knebel – nicht ein Tuch oder etwas Ähnliches, wie man es meist im Fernsehen sah und wie es niemanden ernsthaft am Schreien hindern würde, sondern ein Knebel aus schwarzem Gummi oder Leder, wie man ihn in Sexshops kaufen konnte (und wie es mehrere im »Spielzimmer« gab) – und ihre dunklen Augen sahen ihn entsetzt an. Die brünetten, gelockten Haare machten einen zerzausten Eindruck.

Wie in Trance ging Miguel zu dem aufgeräumten Esstisch und setzte sich. Er legte das Bild auf die polierte Fläche und entnahm dem Umschlag den restlichen Inhalt. Es handelte sich um einen zweiseitigen Brief, mit dem Computer geschrieben und offensichtlich auf einem Laserdrucker ausgedruckt.

Miguel las:

Sehr geehrter Sr. Hermano,

wie Sie beiliegender, heute Nachmittag entstandener Fotografie sicher unschwer entnehmen können, befindet sich Ihre Frau in meiner Gewalt. Nein, nein, keine Sorge – es wird ihr nichts geschehen, vorausgesetzt natürlich, Sie verhalten sich kooperativ! Ihre Frau tut es jedenfalls, wie Sie aus untenstehendem Satz ersehen; es bleibt ihr auch in ihrer derzeitigen Lage – deren Dauer ausschließlich von Ihnen abhängt, werter Sr. Hermano – nichts anderes übrig.

Ich möchte Sie an dieser Stelle nicht damit langweilen, dass ich Selbstverständlichkeiten aufzähle – beispielsweise, dass Sie die Hinzuziehung der Polizei sehr, sehr bedauern würden, in mehr als einer Hinsicht … Es liegt mir fern, Sie zu beunruhigen, aber in diesem Fall wäre der Tod Ihrer Frau mitnichten ein angenehmer, und überdies wüsste ich es so einzurichten, dass es aussähe, als hätte sie durch Ihre Hand bei einem außer Kontrolle geratenen Spielchen in Ihrem Hobbykeller das Weltliche und auch Zeitliche gesegnet! In Anbetracht Ihres Rufes als Autor von einschlägigen Romanen würde das niemanden wundern, werter Sr. Hermano – oder sollte ich besser sagen: Torquemada? Ein bezeichnendes, wenn auch naheliegendes Pseudonym, das erheblich weniger einfallsreich ist als die meisten Ihrer Romane, wenn ich das sagen darf – als »Fan«, als den Sie mich ruhig betrachten können.

Um zurückzukommen auf den durchaus vermeidbaren Tod Ihrer Frau: Ihnen ist vielleicht aus der Presse bekannt – es gab da im Laufe der letzten Jahre einige Fälle –, dass es der spanischen Justiz in solchen Fällen – die Sensationspresse spricht in diesem Zusammenhang gerne von »Lustmorden«, was für ein vulgärer Ausdruck! – an jeglichem Verständnis für den Delinquenten fehlt, dem eine langjährige Haftstrafe gewiss ist. In Ihrem konkreten Fall hieße dies, dass Sie den weitaus größten Teil ihres restlichen Lebens an einem Ort verbrächten, dem es der Annehmlichkeiten Ihres Landsitzes ermangelt …

Um Sie in Ihrem Entschluss, die Polizei unter keinen Umständen hinzuzuziehen, weiter zu bestärken, möchte ich bereits jetzt darauf hinweisen, dass ich im Gegenzug für das Leben und die Freiheit Ihrer Frau kein Geld will; schließlich bin ich kein Verbrecher! Sie werden im Laufe der nächsten Tage detaillierte Anweisungen erhalten, was Sie zu tun haben, um Ihre Frau in einer angemessenen Zeit wohlbehalten wieder in Ihre Arme schließen zu können.

Es verbleibt mit den besten Grüßen

Ihr

GROSSER UNBEKANNTER

Darunter stand, in Marías Schulmädchenhandschrift, die allerdings etwas zittriger als gewohnt ausgefallen war, der Satz:

Miguel, tue bitte alles, was er von Dir verlangt – er hat versprochen, mich dann bald wieder freizulassen! Ich liebe Dich. María.

Miguel legte die Blätter auf den Küchentisch. Er wusste nicht, ob er über diesen Brief lachen oder weinen sollte, und wäre da nicht das Bild seiner Frau gewesen, er hätte den Schreiber für einen kompletten Irren gehalten und das Papier zerrissen, ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden. Seine Profession brachte es mit sich, dass er des öfteren Briefe von Spinnern erhielt, wenn diese auch normalerweise auf die reguläre Art zugestellt wurden.

Doch dieser Brief war anders, das musste er sich eingestehen, nachdem er sich wieder so weit beruhigt hatte, dass seine Gedanken in einigermaßen geregelten Bahnen verliefen. Orthographie und vor allem der verschnörkelte Stil deuteten auf einen Mann hin, der deutlich intelligenter war als alle Entführer, die Miguel aus dem Fernsehen kannte. Und noch etwas fiel ihm auf, als er den Brief zum zweiten Mal las: Der Entführer sprach von sich in der ersten Person Singular, während in den TV-Sendungen und auch Kriminalromanen, die er zu diesem Thema gesehen und gelesen hatte, in der Regel von »wir« gesprochen wurde!

War der Entführer also allein?

Und was wollte er von ihm, wenn es kein Geld war?

Um das herauszufinden, würde ihm nichts anderes übrig bleiben als zu warten – zu warten auf die versprochenen »detaillierten Anweisungen«, die in den nächsten Tagen eintreffen sollten.

Zu warten … oder zur Polizei zu gehen!

Aber die Argumente, die der »große Unbekannte« dagegen vorgebracht hatte, waren zu gut. Miguels Ehe war zwar weder im Himmel geschlossen worden noch waren sie beide nach sechs gemeinsamen Jahren das, was man ein »glückliches Paar« nannte; sie lebten eher nebeneinander her. Dennoch, dachte Miguel, liebte er seine Frau, und selbstverständlich liebte sie ihn auch – wäre sie sonst bei ihm geblieben? Unter keinen Umständen wollte er, dass ihr etwas zustieß, schon gar nicht etwas von der Art, wie es der Kidnapper angedeutet hatte.

Er würde also, schloss er endlich, auf die »detaillierten Anweisungen« warten und dann weitersehen.

Noch einmal nahm er das Bild zur Hand und musterte es. Es war leicht unscharf, dennoch waren alle Details ausreichend gut zu erkennen, mit Ausnahme des Hintergrunds – der bestand aus einem homogenen Graublau. Ein Vorhang? Oder eine Decke? Außerdem fiel ihm auf, dass es auf dem Bild Schatten gab, also wohl kein Blitz verwendet worden war. Marías volle Brüste, die bereits begannen, dem Zug der Schwerkraft nachzugeben, warfen einen harten Schatten nach rechts unten, ebenso die Stupsnase auf ihr leicht seitwärts gewandtes Gesicht.

Miguel zuckte mit den Schultern und warf das Bild zurück auf den Tisch. Die Aufnahme brachte ihn nicht weiter, das war klar. Alles, was er im Moment tun konnte, war zu warten …

Er stand auf und ging zu dem Hängeschrank, um sich ein Glas zu holen. Dabei fiel sein Blick durch das Küchenfenster, und er bemerkte das Heck von Cristinas Wagen. Richtig, die hing ja immer noch im Keller!

Während er die Treppe hinunterhastete, überlegte er, dass es wohl das beste sei, sie wegzuschicken. Wahrscheinlich war sie heute, wie jeden zweiten oder dritten Samstag, kurz nach dem Mittagessen aufgekreuzt. Manchmal sprach sie sich vorher mit María ab, manchmal kam sie einfach so vorbei. In der Regel blieb sie bis Sonntagabend, seltener bis Montagmorgen. Doch jetzt, in dieser Situation, konnte und wollte er sich nicht um sie kümmern. Außerdem war sie ja Marías Sklavin und nicht die seine. María, die er bei einer Party seines Verlegers kennengelernt hatte, hatte sich schon immer eine eigene Sklavin gewünscht – am liebsten natürlich eine Vollzeitsklavin, aber die fand man ja nicht an jeder Ecke. Er selbst dagegen war gar nicht so erpicht darauf; ebenso wenig, wie er auf ein Haustier erpicht war – es war die Verantwortung, die er scheute. Es genügte ihm, ab und zu mit seiner Frau einige Stunden im »Spielzimmer« zu verbringen, wobei María, die sich sonst gerne dominant gab (und Cristina konnte ein Liedchen davon singen, in allen Tonarten sowie in Dur und in Moll), sich mit der Rolle der Devoten bescheiden musste. Nach so einer »Sitzung« mit Miguel hatte es Cristina unter María dann stets besonders schwer.

Als er die Tür des »Spielzimmers« öffnete, stellte er fest, dass er vorhin vergessen hatte, das Licht zu löschen. Cristinas braune Rehaugen sahen ihn flehend an.

»Bitte, Herr!«

Miguel nickte und drückte einen Knopf auf dem kleinen, neben der Tür in Augenhöhe angebrachten Schaltpult. Summend aktivierte sich der Elektromotor, und die Sklavin begann, sich langsam herabzusenken. Als sie mit dem Rücken den Boden berührte, drückte Miguel den Knopf erneut, und das Summen verstummte.

»Du kannst nicht länger hierbleiben«, sagte er, während er die ledernen Manschetten an ihren Hand- und Fußgelenken löste. »María musste heute nachmittag überraschend zu ihren Eltern nach Murcia, im Süden – ein Trauerfall in der Familie!« Dann wurde ihm bewusst, dass diese Aussage nicht ganz mit seinem Verhalten vorhin zusammenpasste, als er Cristina nach dem Verbleib seiner Frau gefragt hatte. »Sie hat mich soeben angerufen«, fügte er hastig hinzu. »Ich habe den ganzen Tag geschrieben und nichts gehört.«

Meine Güte, dachte er, wenn ich bereits ihr gegenüber ins Schlingern komme, was passiert dann erst, wenn mich ein anderer nach meiner Frau fragt? Plötzlich begann er zu ahnen, dass die Forderung des Entführers nach Heraushaltung der Polizei vielleicht nicht so einfach zu erfüllen sein würde.

Doch Cristina hatte offensichtlich andere Sorgen, als sich um den Wahrheitsgehalt seiner Worte zu kümmern. Sie stöhnte und reckte sich. Dann kniff sie die Beine zusammen. »Bitte Herr, ich muss zur Toilette, ich kann es nicht mehr halten …«

Miguel seufzte. Natürlich gab es keine Toilette im »Spielzimmer«, nicht einmal in dem kleinen, eingebauten Duschraum. Das hatte »psychologische« Gründe. Denn sowohl für María als auch für ihn selbst war es unvorstellbar, dass eine Sklavin, so lange sie sich in ihrem Haus befand, eine Toilette benutzte. Bei länger dauernden Sitzungen pflegte María, sehr zu Cristinas Leidwesen, mit Windeln oder Gummihosen zu arbeiten; bei anderen Gelegenheiten musste ein alter Eimer diesem Zweck dienen. Selten ließ María sich ihre Sklavin in ein Sektglas erleichtern, aus dem diese anschließend ihren eigenen »Sekt« wieder genießen durfte …

Doch für so etwas hatte Miguel im Moment weder Zeit noch Lust. Er holte den Eimer aus dem Duschraum und stellte ihn vor Cristina hin, die sich unverzüglich darüber kauerte. Als Sklavin – wenn auch nur Freizeit- oder Wochenendsklavin – verfügte sie über keinerlei Recht auf so etwas wie ein Schamgefühl.

Während Miguel zusah, wie Cristina sich erleichterte, dachte er darüber nach, was er über sie wusste. Viel war es nicht: Das Paar hatte sie durch Miguels Bücher kennengelernt. María, die die im Laufe der Jahre langsam, aber stetig anwachsende Leserpost ihres Mannes erledigte – und dies mit großem Vergnügen, etwas, das Miguel nie verstanden hatte –, hatte ihm ihren Brief mit dem aufgeklebten Foto in die Hand gedrückt und dazu gesagt: »Die will ich haben!«

Und sie hatte sie bekommen, wenn auch nur an jedem zweiten oder dritten Wochenende; seltener für längere Zeit, wenn Cristina Urlaub hatte. Die neue Sklavin hatte bereits einschlägige Erfahrungen hinter sich gehabt, wie das Piercing und die Narben zeigten, und sie war wohl auf der Suche nach jemandem gewesen, dem sie vertrauen konnte – und mit dem sie nicht gleich ein Lebensbündnis eingehen musste. Miguel wusste, dass Cristina in Barcelona arbeitete, aber der Name ihrer Firma war ihm entfallen, falls er ihn überhaupt jemals gekannt hatte. Jedenfalls war es eine Software-Firma, und Cristina hatte darin irgendeine leitende Position inne; Oberkante der mittleren Führungsschicht oder so etwas. Die Softwarebranche war nach wie vor praktisch eine reine Männerdomäne, und so hatte Cristina bei ihrer Arbeit wohl schwer zu kämpfen. Und immer dann, wenn sie der berufliche Stress zu überwältigen drohte, kam sie hierher, um einige Tage in absoluter »Entspannung« zu verbringen.

Als sie fertig war, ging sie mit dem Eimer in den Duschraum und entleerte ihn in dessen Abfluss. Dann spülte sie ihn mit Wasser aus und stellte ihn zurück an seinen Platz. Zurück bei Miguel kniete sie sich nieder, den Kopf in der Höhe seines Schritts, und blickte ihn fragend an.

Er schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt! Du musst gehen. María wird sich bei dir melden, wenn du wieder kommen kannst. Ich habe heute und morgen keine Zeit für dich!«

Cristina schlug die Augen nieder, dann nickte sie wortlos. Sie stand auf und wartete, während er die schwere Eisentür öffnete. Es war ungeschriebenes Gesetz, dass die Sklavin niemals die Tür des »Spielzimmers« berühren durfte, sei es von außen oder von innen.

Draußen kleidete sie sich rasch und schweigend an. Miguel betrachtete von hinten das Spiel ihres Keuschheitspiercings, als sie sich nach dem Slip bückte. Wie lange mochte kein Mann sie mehr gehabt haben? Den Schlüssel verwahrte María, also wohl mindestens drei Jahre lang – seit Cristina zum ersten Mal in dieses Haus gekommen war. Vielleicht aber auch viel länger …

Endlich war Cristina fertig. Miguel geleitete sie bis zur Haustür und nickte ihr zum Abschied zu. Als der Motor ihres Mercedes aufbrummte, saß er bereits wieder in der Küche und las den Brief ein drittes Mal.

2

Miguel hatte den Funkwecker abgestellt, was er ganz selten tat, sogar an einem Sonntag. Aber er hatte die halbe Nacht damit verbracht, sich den Kopf über das zu zerbrechen, was an diesem Tag geschehen war. Über Marías ungewisses Schicksal – möglicherweise war sie ja bereits tot, trotz der »beruhigenden« Worte des Entführers; über die Motive des »großen Unbekannten«, der beteuerte, kein Geld zu wollen; und nicht zuletzt darüber, wie er auf diese unerwartete Situation, die sein bislang ruhig und in eingefahrenen Bahnen verlaufenes Leben mit einem Schlag in tausend Stücke schmetterte, reagieren sollte.

Und er hatte zu viel Sherry getrunken.

Irgendwann in dieser Nacht war er schreiend aufgefahren, erwacht aus einem Alptraum, von dem er in seiner Kindheit oftmals gequält worden war, vor allem in Situationen großer emotionaler Belastung, der mittlerweile aber lange vergessen war; begraben im tiefsten Verlies seines Unterbewusstseins, aus dem niemals etwas entkommen konnte.

Ein Insekt … eine Fliege … ich bin eine kleine Fliege, eingeschlossen in ihren Kokon, in Dunkelheit …

Ich will den Kokon abschütteln, will mich befreien, will ans Licht, doch es geht nicht! Anstatt sich zu öffnen, wird der Kokon immer enger, erdrückt mich …

Ich kann meine Flügel nicht bewegen, kann nicht fliegen, nicht fliehen …

Der Kokon wird mich zerquetschen.

Er erwachte erst kurz nach halb zehn Uhr, was schon seit mindestens zwei Jahren nicht mehr vorgekommen war. Immerhin hielten sich die Kopfschmerzen in Grenzen. Er schalt sich einen Narren; mit Alkohol ließ sich dieses Problem gewiss nicht lösen!

Miguel verzichtete auf ein Frühstück und machte sich lediglich einen starken Kaffee. Normalerweise hätte er heute mit der Endkorrektur von »Alisons Suche« begonnen oder sich eines von mehreren halbfertigen Exposés für einen neuen Roman vorgenommen, denn er hasste nichts so sehr wie Leerlauf. Doch daran war nun natürlich nicht zu denken – er hätte sich niemals auf die Arbeit konzentrieren können.

Er wurde hin- und hergerissen zwischen dem drängenden Wunsch, die Polizei anzurufen und damit die schwere Last der Verantwortung für Marías Schicksal von seinen Schultern zu nehmen, und der Angst, der Entführer könne seine Drohung wahr machen und María töten und seine – Miguels – Existenz durch fingierte Beweise vernichten.

So oder so: Die Verantwortung, das erkannte er endlich, lag ausschließlich bei ihm; er konnte sie auf keinen anderen abwälzen. Sie legte sich wie ein eiserner Ring

– ein Kokon –

um sein Herz und drohte, ihn zu erdrücken.

Er trank den Kaffee im Stehen, während er durch das Küchenfenster auf die Zufahrt starrte, ohne tatsächlich etwas wahrzunehmen. Der Entführer hatte angekündigt, die »detaillierten Anweisungen« im Laufe der nächsten Tage zu schicken, hatte aber keine Aussage darüber gemacht, auf welchem Weg dies geschehen werde. Am wahrscheinlichsten, überlegte Miguel, war natürlich der Postweg …

Einem plötzlichen Impuls folgend zog er den Hausschlüssel aus der Hosentasche, in der er ihn stets trug, seit er sich vor vielen Jahren zum ersten und bislang einzigen Mal selbst ausgesperrt hatte, und ging die wenigen Meter zum Briefkasten. Natürlich wurde sonntags keine Post ausgetragen, aber vielleicht …

Er hörte bereits am dumpfen Klang des Metalls, als er den Schlüssel umdrehte, dass der Kasten nicht leer war. Als die Tür aufschwang, fiel ihm ein brauner Umschlag im C4-Format entgegen. Miguel drehte ihn um: Ein unbeschriebenes Geschäftskuvert, keine Zieladresse, kein Absender und natürlich auch keine Briefmarke. Dennoch bestand kein Zweifel daran, wer diesen Umschlag in seinen Briefkasten geworfen hatte – persönlich! Wann war das geschehen? Letzte Nacht? Eigentlich, erkannte Miguel, hätte der Entführer den Umschlag bereits gestern nachmittag dort deponieren können, denn er oder María leerten den Kasten stets mittags.

Mit weichen Knien ging er zurück ins Haus und setzte sich an den Esstisch, wo immer noch der gestrige Brief lag. Er schob ihn zur Seite, nahm das Messer und öffnete das große Kuvert langsam, beinahe übervorsichtig. Er entnahm ihm drei ungefaltete Blätter – ein zweiseitiger Brief, wieder mit dem Computer geschrieben, und ein Blatt mit etwas, das wie eine Grund- und Aufrissskizze eines alten Turms aussah.

Miguel las zunächst den Brief.

Werter Sr. Hermano – oder vielleicht besser: Lieber Sr. Hermano, denn schließlich kennen wir uns ja bereits! Und wir werden uns im Laufe der nächsten Wochen und Monate noch wesentlich besser kennenlernen.

Lassen Sie mich zunächst auf den Punkt zu sprechen kommen, der Sie vermutlich am meisten interessiert (zumindest hoffe ich das): Ihrer Frau geht es, den Umständen gemäß, gut; sie ist nicht verletzt und hat auch anderweitig keinen körperlichen Schaden davongetragen. Ich habe mich bemüht, es ihr so bequem wie möglich zu machen. Natürlich sind dieser Bequemlichkeit dort Grenzen gesetzt, wo es darum geht zu verhindern, dass sie sich selbstständig macht und ohne meine Einwilligung zu Ihnen zurückkehrt … Aber sie scheint sich allmählich an die Zwangsjacke und die stählernen Fußfesseln zu gewöhnen. Nur stubenrein ist sie nicht, das muss ich leider tadelnd anmerken.

Kommen wir nun ohne weitere Umschweife zu den in meinem einführenden Schreiben versprochenen Anweisungen, wie Sie Ihre Frau möglichst bald und unversehrt wieder in Ihre Arme schließen können. Ich hatte bereits geschrieben, dass Sie mich als großen »Fan« Ihrer Romane betrachten können, und als solcher habe ich nur einen sehnlichen Wunsch, den zu erfüllen einem routinierten Autor wie Ihnen keine allzu großen Mühen machen sollte. Und angesichts der Umstände denke ich, dass Sie mir diesen Wunsch kaum abschlagen werden :-) Ich möchte, dass Sie einen Roman exklusiv für mich schreiben! Sehr gerne dürfen Sie ihn mir auch widmen – schließlich würde er ohne mich niemals geschrieben werden, nicht wahr? –, doch bestehe ich nicht auf diesem Punkt; ich überlasse dies Ihrem Gefühl für Takt und Höflichkeit. Um Ihnen die Arbeit zu erleichtern, habe ich bereits einen Titel und auch einen Schauplatz für Ihren neuen Roman ausgewählt: »Gefangen im Narrenturm«! Sie wissen doch, was damit gemeint ist, oder? Ah, ich bin mir dessen ganz sicher! In der so oft zitierten »guten, alten Zeit«, in der es weder Heizung noch eine halbwegs brauchbare medizinische Versorgung noch Arbeitslosen- oder Rentenversicherung gab, steckte man die Geisteskranken oder diejenigen, die man dafür hielt (oder halten wollte), einfach ins Gefängnis und ließ sie dort in ihrem eigenen Unrat verrotten. Später, sagen wir vor zwei- bis dreihundert Jahren, schuf man dann eigene »Anstalten« für solche Problemfälle, von denen man einige aufgrund ihrer Form als »Narrentürme« bezeichnete. Ich möchte nun, dass Ihr neuer Roman – den Sie mir gerne widmen dürfen, hatte ich das bereits erwähnt? – einen solchen »Narrenturm« zum Hauptschauplatz hat, daher auch der Titel. Ich wage gar nicht daran zu denken, was für »erbauliche« Szenen ein Autor wie Sie in diesem Turm inszenieren kann! Die Insassen dieser Anstalten waren, zumindest in früheren Zeiten, weitgehend sich selbst überlassen; eingekerkert und teils angekettet, manche in Einzelhaft (wussten Sie, dass man Käfige wie für Raubtiere verwendete?), andere gemeinsam, ohne einen Unterschied zwischen Männlein und Weiblein zu machen! Und alle zusammen waren sie der Willkür und Dekadenz der Aufseher ausgeliefert …

Aber natürlich muss der Roman nicht unbedingt in der Vergangenheit spielen; er kann auch in der heutigen Zeit angesiedelt sein, das überlasse ich ganz Ihnen und Ihrer bewährten Phantasie! Wichtig ist nur eines: Er muss, wie Ihre anderen Romane auch, für die Sie in gewissen Kreisen so bekannt sind, genügend anschauliche Beschreibungen der Insassen und ihres, ähem, schrecklichen Schicksals enthalten …

So viel zum Inhalt. Wie gesagt, alles andere bleibt Ihnen überlassen. Damit Sie sich ein Bild des Schauplatzes machen können, habe ich den Plan eines solchen Turms beigelegt. Ich bitte Sie, sich unbedingt an diesen zu halten! Tun Sie es nicht, würde Ihre Frau es sehr bereuen – und Sie letztlich auch, wenn Ihnen diese nicht ganz gleichgültig ist! Zu dem Plan wäre noch hinzuzufügen, dass sich etwa 40 Meter vom Turm entfernt eine alte Stallung befindet, die nicht mehr verwendet wird, aber noch einigermaßen »gut in Schuss« ist. Vielleicht können Sie damit etwas anfangen? Ach ja, und das den Turm und die Stallung umgebende Gelände ist leicht hügelig (wirklich nur ein wenig gewellt), sehr dicht bewaldet (man sieht den Turm erst, wenn man nur noch zwanzig oder dreißig Meter davon entfernt ist) und ziemlich abgelegen – noch abgelegener als Ihr Landsitz!

Zurück zu dem Roman. Damit Sie nicht der zweifellos aufkommenden Versuchung erliegen, mir ein Novellchen oder gar eine Kurzgeschichte als »Roman« anzudrehen, sollte er einen Umfang von, sagen wir, mindestens zehn Kapiteln zu jeweils mindestens zwölf Manuskriptseiten haben. Diesen Wunsch werden Sie mir (und Ihrer Frau …) doch nicht abschlagen, oder? Schließlich weiß ich, dass Ihre letzten Romane jeweils ein Mehrfaches dieses Volumens hatten! Des weiteren bitte ich Sie dringend, mir jede Woche mindestens ein Kapitel zuzusenden! Im Gegenzug erhalten Sie jeweils eine aktuelle Fotografie Ihrer Frau, die Ihnen anzeigen wird, dass sie noch lebt und sehnsüchtig auf die Vollendung des Romans wartet, der ihre umgehende Freilassung folgen wird.

Sie sehen: Es liegt ausschließlich an Ihnen, wie lange es dauern wird, bis Sie Ihre Frau wieder in den Armen halten können! Also hurtig, hurtig an die Arbeit! Ihre Frau ist für jeden Tag, den Sie das Manuskript früher beenden, dankbar, dafür werde ich schon sorgen :-)

Ach so, beinahe hätte ich das Wichtigste vergessen: die Art der Übergabe der einzelnen Kapitel! Die ist, dank unserer modernen Zeit und ihrer Errungenschaften, denkbar einfach: Senden Sie die Textdateien via E-Mail an folgende Adresse: »[email protected]«! Die Antwort erfolgt jeweils baldmöglichst; ob per Mail oder Post oder auf welche Weise auch immer.

Ich wünsche Ihnen viel Erfolg und hoffe auf einen spannenden und erbaulichen Roman! Und ich erwarte das erste Kapitel baldigst!

Ihr

GROSSER UNBEKANNTER

»Das glaubt mir kein Mensch!«, stieß Miguel hervor, als er den Brief sinken ließ. Wie beim ersten Schreiben des Entführers wusste er nicht, ob er lachen oder weinen sollte.

Er nahm das Blatt mit den Turmskizzen zur Hand. Das Papier war identisch mit dem des Briefes; wahrscheinlich waren die Skizzen aus einem Buch oder einer Broschüre eingescannt und dann ausgedruckt worden. Die linke Hälfte bestand aus einem schematischen Aufriss eines Turms. Der darunter abgedruckte Maßstab zeigte an, dass er einen Durchmesser von ziemlich genau 15 Metern aufwies, von dem die dicken Mauern allein mehr als ein Viertel in Anspruch nahmen. Die Höhe betrug etwa 30 Meter. Der Eingang befand sich einen Meter über dem Erdboden. Insgesamt verfügte der Turm über drei hohe oberirdische und zwei wesentlich niedrigere unterirdische Geschosse sowie möglicherweise – genau war das anhand der Skizze nicht zu erkennen – über eine Dachplattform. Eine Reihe von Zinnen bekrönte den Turm, deren unterschiedliche Höhe wohl auf ihren uneinheitlichen Erhaltungszustand zurückzuführen war.

Die rechte Seite des Blatts enthielt drei kreisförmige Grundrisse, die mit den Worten »Kellergeschosse«, »Erdgeschoss« und »Obergeschosse« bezeichnet waren. Die Raumaufteilung war in allen Ebenen ähnlich: Um einen runden Platz in der Mitte gruppierten sich an den Außenwänden je nach Stockwerk sechs bis zehn Räume – »Zellen«, dachte Miguel, wäre gewiss der passendere Ausdruck. Eine wohl ziemlich enge und anachronistische Wendeltreppe ringelte sich im Kern des Gebäudes wie ein Korkenzieher nach oben.

Minutenlang saß Miguel reglos am Küchentisch, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können. Schließlich zwang er sich, den Brief ein zweites Mal zu lesen; langsam diesmal, nachdem er ihn zunächst hastig verschlungen hatte. Über die geschraubte Ausdruckweise des Schreibers wunderte er sich mittlerweile nicht mehr, wohl aber über dessen Ansinnen.

»Der gehört in seinen eigenen Narrenturm«, murmelte er. »Und den Schlüssel dazu sollte man nicht wegwerfen, sondern einschmelzen!«

Zwei Dinge waren es, die Miguel am Brief des Entführers besonders auffielen: Zum einen die detaillierten Pläne mit der Anweisung, sich »unbedingt« an diese zu halten, und zum anderen die angegebene E-Mail-Adresse. ».ph«? Davon hatte Miguel noch nie etwas gehört, aber er war auch kein großer Internetsurfer.

»Könnten die Philippinen sein«, überlegte er, »da kann man bestimmt kaum zurückverfolgen, wer hinter welcher Adresse steckt …«

Er lehnte den Kopf an die Wand, nahm die Brille ab und schloss die Augen. Eines stand fest: Jetzt war der Moment gekommen, in dem er sich entscheiden musste, ob er mit den Briefen zur Polizei ging oder nicht. Schließlich konnte er immer noch behaupten, dass er den ersten Brief für einen üblen Scherz gehalten habe, obwohl Marías Fotografie und ihr handschriftlicher Zusatz auf dem Schreiben dem klar entgegenstanden. Aber wahrscheinlich würde man Verständnis für sein Zögern aufbringen.

Kein Verständnis allerdings, da konnte er sicher sein, würde man bei der Polizei haben, wenn er auch diesen Zeitpunkt verstreichen ließ. Meldete er sich später – oder kam die Polizei gar auf eine andere Weise hinter die Entführung –, so würde er damit wahrscheinlich selbst zum Verdächtigen Nummer eins werden.

Die meisten Morde, erinnerte er sich, werden von den Ehegatten begangen …

Plötzlich überfielen ihn höllische Kopfschmerzen. Er stöhnte und rieb sich die Stirn.

Er liebte seine Frau und wollte alles vermeiden, was ihr schaden konnte. Er kannte die entsprechenden Statistiken nicht – schließlich war er kein Autor von Kriminalromanen –, aber wie jeder einigermaßen unterrichtete Zeitungsleser wusste er, dass es genug Entführungen gab, die von der Polizei glücklich beendet wurden. Doch nach seiner Einschätzung gab es mindestens ebenso viele, die in einer Katastrophe endeten …

Es gab niemanden, der ihm diese Verantwortung jetzt abnehmen konnte – die Verantwortung für das Leben seiner Frau. Ob er zur Polizei ging oder nicht: Es konnte die falsche Entscheidung sein, und diese Entscheidung konnte Marías Tod bedeuten!

Endlich nahm er die beiden Briefe, Marías Foto und die Turmskizzen und ging mit langsamen, schweren Schritten hinauf in sein Büro. Dort stand auch ein Telefon, von dort aus konnte er immer noch die Polizei anrufen, wenn er sich dafür entscheiden sollte …

Er schaltete den Computer ein und wartete ungeduldig, bis das System endlich bereit war. Die angegebene E-Mail-Adresse hatte ihn auf eine Idee gebracht. Er startete den Webbrowser und tippte eine Adresse in die Kopfzeile:

www.foolstower.ph

Es dauerte keine Sekunde, bis in dem Fenster des Browsers die Zeichnung eines Männchens mit einem Presslufthammer erschien. Darunter stand in englischer Sprache:

Hier entsteht eine neue Webpräsenz.

Der Fall war so weit klar: Die Adresse war vergeben, aber nicht mit Inhalt belegt. Dennoch konnte der Entführer wohl problemlos Mails empfangen, die an diese Adresse gesandt wurden.

Miguel erkannte, dass er etwas vergessen hatte, und rief Google auf. Eine kurze Recherche ergab Gewissheit: ».ph« stand für die Philippinen.

Eine kleine Spur, aber immerhin eine Spur …

Das Telefon neben dem Bildschirm zog seine Aufmerksamkeit plötzlich magisch an. Ruf an!, schien es zu flüstern. Ruf endlich die verdammte Polizei an! Sie finden ihn! Vielleicht dauert es gar nicht lange!

Doch vielleicht dauerte es zu lange … Und wenn der »große Unbekannte« Verdacht schöpfte, wenn er nicht völlig überrascht wurde von dem Zugriff …

Miguel schüttelte den Kopf.

Die Entscheidung, nichts zu unternehmen, war einfacher zu treffen als die Entscheidung, etwas zu tun.

Sein Blick fiel wieder auf die Turmskizze. Tatsächlich hatte er bereits vor Jahren überlegt, etwas zu schreiben, was in diesem »Milieu« spielte. Er hatte die Idee aber irgendwann abgehakt, da sie ihm nicht genug Substanz für einen Roman zu haben schien.

Doch seit damals besaß er einige Fachbücher zum Thema »Psychiatrie gestern und heute«. Vielleicht …

Eine oder zwei Stunden saß er beinahe reglos vor dem Computer und dachte nach. Zwischendurch stand er einige Male auf, um sich verschiedene Bücher und eine Landkarte zu holen.

Dann, mit einem Ruck, zog er die Tastatur zu sich heran und startete das Textprogramm.

»Gefangen im Narrenturm«, 1. Kapitel

An einem Freitagnachmittag, gerade zur Hauptverkehrszeit, verließ Dr. Alberto Vidal die katalanische Stadt Manresa auf der N 141 in Richtung Moia. Er hasste es, bei dichtem Verkehr fahren zu müssen, aber als frischgebackener Assistenzarzt konnte man sich seine Vorstellungstermine nicht aussuchen. Im Gegenteil: Man musste froh sein, überhaupt ein Jobangebot zu bekommen. Und Vidal hatte großes Glück gehabt, dass er so kurze Zeit nach Abschluss seines Studiums die Gelegenheit erhielt, an einer wenngleich kleinen Privatklinik arbeiten zu können. Vielleicht war es aber auch weniger Glück als vielmehr die Qualität seiner Doktorarbeit und die Tatsache, dass sie den richtigen Leuten aufgefallen war.

Nach einer halben Fahrtstunde hatte er die kleine Ortschaft Calders erreicht und bog in Sichtweite des Kastells rechts ab in Richtung Monistrol de Calders. Er atmete auf, als die Verkehrsdichte schlagartig nachließ. Hierhin verirrten sich nicht viele Menschen. Genau der richtige Ort für eine psychiatrische Klinik, dachte er. Hoffentlich fand er sie überhaupt wieder, so versteckt wie sie lag! Vor knapp zwei Monaten war er das bisher einzige Mal dort gewesen, bei einem Vorstellungsgespräch. Seither hatte er mit dem Leiter der Klinik, Dr. Carlos Delgado, nur telefoniert. Auch die Zusage für die Stelle als Assistenzarzt hatte ihm Dr. Delgado vor drei Wochen telefonisch mitgeteilt, gleichzeitig mit der Bitte, am Freitag, dem 9. Juni, nachmittags um vier Uhr zu einer Art informellem Antrittsbesuch zu kommen, so dass er dann am darauffolgenden Montagmorgen ohne Verzögerung mit seiner neuen Arbeit beginnen konnte.

Die Straße führte leicht bergauf und folgte eine Weile den Windungen eines kleinen Flüsschens, bis sie schließlich Monistrol de Calders erreichte. Hier musste er irgendwo links abbiegen … Er verfluchte im stillen seinen mangelhaften Orientierungssinn und den mindestens ebenso mangelhaften Sinn des katalanischen Straßenbauamtes für Beschilderungen. War es hinter der Kirche? Bestimmt! Solche Straßen ins Nirgendwo zweigten immer hinter der Kirche ab …

Der Zustand der Straße, die durch dichten Laubwald führte, ließ viel zu wünschen übrig. Vidal konnte kaum über den zweiten Gang hinausschalten, und bei jedem Schlagloch befürchtete er, sein alter Toyota Corolla könne irreparablen Schaden nehmen. Endlich kam nach einer leichten Biegung das altmodische, schmiedeeiserne Tor in Sicht. »Clínica Gutierrez Montoya« verhieß das einfache Schild. »Klinik«, nicht »Psychiatrische Klinik« oder gar »Irrenanstalt«!

Auf dem kleinen Parkplatz standen lediglich ein altersschwaches Motorrad und vier Autos – drei Kleinwagen und ein BMW. Vidal sah auf die Uhr; es war kurz vor vier. Freitags um diese Zeit befand sich wohl nur das nötigste Personal in der Klinik; eine gute Gelegenheit, sich in Ruhe alles anzusehen.

Bevor er ausstieg, überprüfte er den korrekten Sitz seines Anzugs. Er war zwar kein Mensch, der großen Wert auf Äußerlichkeiten legte, wusste aber, dass er darin eher die Ausnahme bildete. Namentlich Vorgesetzte – und vor allem zukünftige Vorgesetzte – sahen dies meist anders.

Er schritt durch eine sich automatisch öffnende Glastür und fand sich in einem kleinen Foyer wieder. Es war hell und freundlich eingerichtet, mit drei Besucherstühlen, die sich um einen niedrigen Tisch gruppierten. Am Empfang saß die gleiche junge Dame wie bei seinem ersten Besuch; sie hatte sich ihm damals vorgestellt, aber sein Namensgedächtnis war äußerst mangelhaft ausgeprägt.

»Hallo«, grüßte er betont unkonventionell, »mein Name ist Alberto Vidal, und ich habe einen Termin bei Dr. Delgado.« Er hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, das »Dr.« seinem Namen voranzustellen, und eigentlich wollte er das auch nicht. Er fand, es klang einfach zu protzig, vor allem für jemanden, der noch keine 30 Jahre alt war.

»Wir haben Sie nicht vergessen«, lachte die Frau. »Herzlich Willkommen im Klub! Ich bin Ana Simón, falls Sie sich noch erinnern … Dr. Delgado erwartet Sie bereits.«

Dr. Vidal fühlte sich ertappt. »Selbstverständlich erinnere ich mich«, beeilte er sich zu versichern und folgte ihr durch einen kurzen Korridor in das Arbeitszimmer des Leiters der Klinik.

Dr. Delgado erhob sich erfreut, als Ana den zukünftigen Mitarbeiter in sein Büro führte. Er war etwa 45 Jahre alt, trug schwarze Haare und einen gepflegten schwarzen Vollbart, beides mit einigen grauen Strähnen durchsetzt. Er war hochgewachsen – wenn auch nicht ganz so hochgewachsen wie Alberto Vidal mit seinen stolzen 1,83 Metern – und machte einen sehr sympathischen Eindruck. Vidal hatte schon bei ihrem ersten Gespräch das Gefühl gehabt, dass sie sehr gut würden zusammenarbeiten können.

Delgados Büro war ebenso hell, zweckmäßig und freundlich eingerichtet wie das Foyer. Seine Rückwand wurde beherrscht durch eine große Schwarz-Weiß-Fotografie, die einen etwa 60jährigen Mann mit schneeweißen Haaren, ebensolchem Vollbart und Nickelbrille zeigte. Ein beeindruckendes Gesicht mit einem leisen Anflug eines Lächelns – ein Bild, das Vidal sich sehr gut als Frontispiz eines wissenschaftlichen Werkes des ausgehenden 19. oder beginnenden 20. Jahrhunderts vorstellen konnte – vielleicht eines Lehrbuches der Psychiatrie.

Dr. Delgado hatte den Blick des jungen Assistenzarztes verfolgt. »Das ist Dr. Dr. Anselmo Gutierrez Montoya«, erläuterte er, »hier allgemein bekannt als ›Don Anselmo‹. Er hat diese Klinik 1975 begründet und sie beinahe 30 Jahre lang geleitet, bis ich ihn vor zwei Jahren in dieser Position abgelöst habe. Ein großer Mann! Es ist ihm nicht leichtgefallen, sein Lebenswerk in andere Hände zu legen, aber wir werden schließlich alle nicht jünger …« Er lachte freundlich. »Die Bilder hier an den Seiten stammen aus seiner Sammlung. Ein seltsamer Wandschmuck für eine moderne psychiatrische Klinik, gewiss, aber ich habe es bisher nicht gewagt, sie abzuhängen. Vielleicht tritt er ja eines Tages plötzlich durch diese Tür …«

Die vier Bilder waren in der Tat ein »seltsamer Wandschmuck für eine moderne psychiatrische Klinik«! Es handelte sich um Kupferstiche, die allesamt Behandlungsmethoden von Geistesgestörten im frühen 19. Jahrhundert zeigten.

Da war zum einen der »Drehstuhl«, eine käfigähnliche Vorrichtung, in die der Patient – in diesem konkreten Beispiel eine Patientin, nackt, mit langen Haaren und großen Brüsten – mit Hilfe von ledernen Fesseln geschnallt wurde. Anschließend wurde der Käfig durch Betätigung einer Kurbel in Rotation versetzt – vom Prinzip her nicht unähnlich den Zentrifugen, die heutzutage beim Training von Astronauten verwendet werden. Was dadurch allerdings »geheilt« werden sollte, blieb das Geheimnis des Erfinders dieses Geräts.

Auf dem nächsten Bild war ein »Sturzbad« zu sehen; die Irre – wieder war es eine nackte Frau – saß, mit ledernen Brust- und Armriemen befestigt, in einem hölzernen Badezuber, während ein Wärter, geschützt durch einen Bretterschirm, ihr aus einiger Höhe einen vollen Eimer kalten Wassers über den Kopf goss. Vidal erinnerte sich, im Studium über diese »Behandlungsmethode« gelesen zu haben. Ein Irrenarzt hatte darüber im Jahre 1818 geschrieben: »Ein Brunnen steht mit einer nebenstehenden Badewanne in Verbindung und erhält sie stets so mit Wasser gefüllt, dass die anderen Gehilfen dasselbe mit Eimern schöpfen und den höher Stehenden ohne Unterbrechung mit vollen Eimern schnell genug versorgen können, um die Übergießungen viertel- und halbe Stunden lang fortzusetzen, wie es bei großer Unempfindlichkeit vieler Kranker durchaus erforderlich ist.«

Das dritte Bild zeigte eine im hölzernen Zwangsstuhl an Leib, Armen und Beinen festgeschnallte Frau, und Vidal fiel auch hierzu wieder ein Zitat des gleichen Irrenarztes ein: »Ein mit einem hohen Sitze und starken Armen aus festem Holze verfertigter Lehnstuhl mit beweglichem Rücken, in welchen der Irre vermittels eines breiten Brustgurtes, Arm-, Hand- und Fußriemen befestigt wird. Zugleich ist eine Vorrichtung angebracht, durch welche die Rückenlehne höher und niedriger gestellt werden kann, für solche Fälle, in denen der Kranke ungestüme Bewegungen mit dem Kopfe macht, welche durch Hinablassen des oberen Stückes der Rückenlehne sogleich unschädlich gemacht werden können.« Oh ja, die Leute damals hatten keinerlei Mühen gescheut, Geisteskranke zu »kurieren«!