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Slik Lemmis, Abenteurer und Lebenskünstler, lernt Annabelle, die Liebe seines Lebens kennen. Gemeinsam bauen sie einen alten Bauernhof in ein kulturelles Eventzentrum um. Sliks Streben nach neuen Abenteuern gibt diesen Plänen und seiner Liebe zu Annabelle keine Chance. Die Trennung ist unausweichlich. Slik will diese Tatsache nicht akzeptieren und beginnt um Annabelle und die gemeinsamen Kinder zu kämpfen. Immer weiter verfällt er dabei dem Alkohol und hegt Selbstmordgedanken. Erst das Finden und Empfangen einer außergewöhnlichen Kraft offenbart Slik die gemachten Fehler und lassen ihn einen neuen Weg der Liebe gehen. "Gefühlvoll geschrieben und wunderschön zu lesen"
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Seitenzahl: 396
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Winfried Friedel, Jahrgang 1963, ist geschieden, hat zwei Kinder und lebt in Hessen. Ehrenamtlich engagiert er sich für Menschen in Not.
„Ich bin ein Träumer, ein Müßiggänger, ein Phäake, ein glücklich und sorglos lebender Seefahrer, der durch das Meer der Zeit steuert und sich von seinen Gedanken über die Wogen der Gezeiten treiben lässt. Keine Unwetter und keine Stürme werfen mich aus meiner Bahn, können es nicht, da ich mich auf keinen ausgefahrenen Pfaden bewege. Ich schwebe dahin, akzeptiere und arrangiere mich mit den Höhen und Tiefen und finde keinen Grund, den Herausforderungen des Lebens ausweichen oder ihnen feindselig gegenüber stehen zu müssen.“
Für Tschei Tschei
Teil 1
Saufgelage 1
Prolog
Traum des Todes
Teamlauf in Fulda
Annabelle
Begegnungen
Saufgelage 2
Berlin Marathon
Der Einzug
Der Antrag
Marathon des sables
New York
Hochzeit
Vergangenheit und Zukunft
Hundeschlittenführerschein
Kulitouren
Johannes
Tapas, Tanz & Talk
9 / 11 - nine eleven
Julia
Badwaterultra
Der Zusammenbruch
Neuanfang
(Un-) Sicherheiten
Teil 2
Der Auszug
Die lebensverändernde Begegnung
Kann Gott unsere Ehe retten?
Meine neue Familie
Keine Zufälle
Weihnachten 2004
Eine neue Liebe
Herausforderungen
Das eiserne Herz
Glaube, Hoffnung, Liebe
Leben im Schatten
Der letzte Axthieb
Gottes Gnade
Epilog
Ein Floß im grünen Ozean
Die kleine gelbe Ente
Ich habe bereits eine halbe Flasche Sekt intus. Irgendeine Billigmarke. Kalt prickelnd läuft die Flüssigkeit in mich hinein, und ich freue mich auf die Wirkung.
Rechts neben mir flimmert eine Filmdoku über die Bee Gees über den Schirm.
Der Sound inspiriert mich: Night fever.
Welch eine Zeit! Wie alt war ich damals? 10 Jahre? Ja! Schule, Sport, Schreiben, SSS.
Einschub außerhalb meiner delirierenden Gedanken: Die Wirkung von Alkohol beim Schreiben ist wahrlich interessant. Man schreibt, ungehemmt, einfach darauf los. Was werde ich da zustande bringen?
Lesenswertes? Keine Ahnung.
Ich muss dieses Experiment wagen. Was heißt muss, ich will. Ich will raus, aus diesem Käfig der alltäglichen Sorgen. Nein, ich bin ein positiver Mensch. Es sind keine Sorgen, es sind Herausforderungen!
Und was soll eigentlich dieses Schreiben? Ich kann meine Finger nur schwer über die Tastatur steuern.
Die Geschichte der Bee Gees läuft weiter. Ich komme mir vor wie Charles Bukowski, der ausschließlich mit einer (einer!?) Flasche Whisky den Stift halten konnte (wie hat er das nur geschafft?), und was hat er für unglaublich gute Stories geschrieben. Er hat aus seinem Leben erzählt, davon, wie es dir und mir ergeht. Die tägliche Maloche. Ärger mit Frauen.
Und für was das alles? Doch nur um sich zu Recht mit irgendwas volllaufen zu lassen. Der Alltag war nur zu überstehen, mit dem einen und anderen Schluck aus der Bulle und der Freude, endlich wieder auf dem Sofa liegen zu können, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Ein Ausschnitt von Sergeant Peppers läuft jetzt auf der Mattscheibe. Die Bee Gees auf einem offenen Wagen in bunten Kostümen. Männer als Prima Ballerinas in grellen Röckchen turnen vorne weg. Ein schräger Film.
So schräg, wie wir alle sind. Jeder auf seine Weise. Jeder ist ein Individuum. Einzigartig von Gott geschaffen.
Sollte ich hier Gott erwähnen. Ja! Ich nenne ihn, trotz meiner Flasche Sekt.
Gott gefunden zu haben, ist etwas Großartiges.
Aber ist dieser Gott auch bei mir, bei all den Herausforderungen, die ich habe? Wie soll ich meine Miete bezahlen? Meine Telefonrechnung?
Warum steckt mir Gott nicht ein paar Mäuse zu, um auf den verdammten Sekt verzichten zu können, den Schlag mit dem Hammer auf den Kopf.
Wäre ich nicht lieber klar in meinen Gedanken?
Ich bin klar, so klar wie mein Leben!
Und was klar ist, ist mein Schleuderkurs, von der einen Seite auf die andere. Hinein in die linke Leitplanke und dann ungebremst in die rechte.
Und so fort.
Das ist die Konstante in meinem Leben.
Wenigstens etwas, was konstant ist. Gut, die Flasche Sekt am Abend gehört seit kurzem dazu. Eine weitere Konstante.
Vielleicht entdecke ich im Laufe meiner Schreibsitzungen noch mehr Konstanten? Sicherlich keine, womit ich angeben könnte. Muss ich auch nicht. Ich bin wie ich bin. Jeder ist wie er ist. Jeder ist, wie Gott ihn geschaffen hat.
Super! You win again. Die Bee Gees waren großartig.
Ja, auch ich werde wieder gewinnen. Werde zurückfinden auf den trockenen Weg.
Aber ist das ein Gewinn?
Mir gefällt mein Schleuderkurs. Es ist doch langweilig, mit den anderen brav im Stau zu stehen oder mit exakt 50 anständig durch die Stadt zu fahren. Ich fühle mich, nein, nicht großartig, aber beflügelt, vom 120.
Stock des Empire State Building zu springen, auf dem Dach eines gelben Caps zu landen und über den Broadway zu segeln. Hinein in ein Lichtermeer, grell, bunt, flackernd, die Sinne verwirrend.
Okay, jetzt reicht das sinnlose Gefasel. Ich will mit meiner Geschichte beginnen.
Welcher Geschichte? Ich habe doch gar keine.
Will ich von Selbstmitleid schreiben, vom Versagen, von Fragen nach dem Sinn meines restlichen Lebens?
Ja, vielleicht hilft es. Gegen was? Gegen meinen Schleuderkurs. Aber ich liebe meinen Schleuderkurs!
So, für den Anfang soll das erstmal reichen.
Du packst es
Ich. Erfolg kommt von innen.
Geiz ist geil.
Der letzte Schluck.
Prost!
Wir sehen uns morgen wieder.
„Träume sind der Motor des Lebens!“ Dieses Motto habe ich, Slik Lemmis, über mein Leben gesetzt. Aber wenn ich es genau nehme, stimmt das nicht ganz! Nicht die Träume sind der Motor des Lebens, sondern die Träume treiben mich an, danach zu streben, sie zu erreichen.
Mich bewegten viele Träume in meinem Leben, und das wird bis an mein Lebensende so bleiben. Niemals träumte ich von materiellen Gütern, dem größten Auto, einem Haus, viel Geld. Meine Träume zielten immer auf Aktivitäten: Die Welt kennenzulernen, Menschen zu helfen, ihnen Mut zu machen, ihnen Hoffnung zu geben, sich zu versöhnen, sie aufzuheitern, sie optimistisch zu stimmen und sie zu motivieren, eigene Träume anzugehen.
Mein Traum, der sich tief in meinem Innersten als kleiner Junge manifestiert hatte, galt einer glücklichen Familie, die sich liebt und gegenseitig in den Arm nimmt.
Nur mit Bruder und Mutter aufgewachsen - der Vater war verstorben, als ich sechs war -, habe ich in meiner Kindheit vermisst, von Eltern geliebt und umarmt zu werden. Ich erinnere mich an Augenblicke, in denen ich als Jugendlicher geweint habe, als ich abends im Bett in Jugendbüchern las. Dort schlossen Eltern ihre Kinder glücklich in die Arme, wenn sie nach einem überstandenen Abenteuer nach Hause kamen. Wie schön musste das sein! Die Tränen kullerten, und ich träumte von einer Frau, die ich von Herzen liebte, und von zwei Kindern, einem Jungen und einem Mädchen, denen ich meine Liebe schenken und sie immer in den Arm nehmen wollte. Eine Umarmung ist das schönste Geschenk.
Es sollte über 35 Jahre dauern, bis ich diese Frau kennen und lieben lernte: Annabelle . Und sie schenkte mir zwei Kinder, Johannes und Julia.
Mein Traum war wundervolle Realität geworden. Aber ich selbst lebte nicht in der Wirklichkeit, sondern in anderen Träumen, die meine Familie zerstörten.
Heute weiß ich, dass es für mich nur einen Traum gibt, den es lohnt im Leben zu erreichen und zu halten: eine glückliche Familie.
Denn nur wenn wir in der Lage sind, in der kleinsten Einheit des Zusammenlebens, in der Familie, in der Partnerschaft glücklich und zufrieden zu sein, können wir unsere Träume umsetzen und erreichen, können wir andere zu Frieden anstiften, um ihren Nächsten zu lieben.
Der Traum nach einer glücklichen Familie, meine zerstörte Familie wieder zusammenzuführen, ist der Motor meines jetzigen Lebens.
Ganz eng stehen wir zusammen. Wenn du mich küsst, rieche ich deine Haut nach Pfirsich duften, und dein runder, spitz geschürzter Mund drückt mir ganz leicht und vorsichtig einen nassen Schmatz auf die Lippen.
Du bist die süßeste Maus der Welt!
Mit deinen zwei Jahren und zwei Monaten hast du allein die Bakterien von deinen Zähnen gebürstet, sie in der Badewanne fortgespült, den Mund mit deiner nassen Hand saubergemacht, um ihn anschließend mit dem Handtuch trocken zu tupfen. Das Handtuch lässt du achtlos fallen; es hat ja seinen Zweck erfüllt und wird nicht mehr gebraucht. Du wendest dich dem Cremetopf zu, dessen Inhalt herrlich fruchtig nach Pfirsichen duftet. Etwas unbeholfen – "In welche Richtung geht das Ding denn nun wieder auf?", scheinst du dich dabei zu fragen - schraubst du am Deckel.
Du reichst ihn mir, damit du mit der nun freien Hand herrlich tief deinen kleinen Zeigefinger in den Topf stecken kannst. Ich ermahne dich, den Finger abzustreifen, was du tust, und dann drückst du dir viele weiße cremige Punkte ins Gesicht.
„Und jetzt schön verreiben“, sage ich.
Du gibst mir den Cremetopf zum Aufräumen und fährst mit beiden Händen über deine Wangen und deinen Mund und verteilst die Creme.
„Papa, riech mal, wie ein Pfirsich!“, strahlst du freudig über den gelungenen Abschluss deiner Abendtoilette, und schon klebt dein Kussmund in meinem Gesicht.
Wunderschön, dich so erleben zu dürfen.
* * *
Aus der Dunkelheit rauscht er heran wie ein Sturm, der in seiner Bahn gelenkt wird. Rasch braust der ICE an mir vorbei. Ich spüre den Luftzug an meinem Körper, die ungestüme Kraft, die mich ganz leicht mitreißen könnte, wenn ich noch näherstünde, oder die mich in tausend Stücke zerfetzen würde, wenn ich auf den Schienen läge.
Wie einfach die Gleise doch zugänglich sind: Ich muss nur einen schmalen Streifen der mit Gras bewachsenen Böschung hinaufspringen, und schon stehe ich auf dem Schotterbett, das die Schienen von rechts nach links durchqueren.
Halbstündlich hätte ich die Möglichkeit, meinem leer gewordenen und sinnlosen Leben ein Ende zu bereiten. Den Kopf über das eine Gleis hängend, die Beine über das andere, Rücken und Po auf einer Holzschwelle liegend, würde ich auf das unheimliche Rauschen warten.
Die Augen nach oben in den Himmel gerichtet, sehe ich die dunkle Nacht und vereinzelt blinkende Sterne aus dem Schwarz leuchten, die mir geheime Signale zuzumorsen scheinen.
Meinen Abschiedsbrief hätte ich gut sichtbar auf das Gras gelegt und mit einem Stein beschwert, damit er nicht fortflöge, sondern gefunden würde, um die dann herumliegenden Fleisch- und Knochenstücke einem Menschen - mir - zuordnen zu können.
Lieber Johannes, liebe Julia, steht da geschrieben.
Wahrscheinlich werdet ihr niemals verstehen, weshalb ich mich zu diesem letzten Schritt entschieden habe. Aber ich liebe euch so sehr, dass mir die Trennung von euch mehr als schwer fällt. Dieses Leid ist schlimmer, als wenn geliebte Menschen sterben. Zu wissen, dass ich euch eigentlich jeden Tag sehen könnte, es aber nicht darf, foltert mich immer wieder von neuem, wenn ich euch bei eurer Mama abgegeben habe. Nass geschwitzt wache ich nachts auf, weil ich euch vermisse, und rechne ganz schnell, wie viele Tage und Stunden es sind, bis ich euch das nächste Mal sehen darf.
Mit heftig klopfendem Herzen kann ich meistens nicht mehr einschlafen.
Mich quälen die Gedanken über meine Fehler, die Trauer, dass das geschehen konnte, meine Erkenntnis, dass ich versagt habe, und die Verzweiflung, dass Annabelle mir keine letzte Chance einräumen möchte, es noch einmal mit mir zu versuchen.
Dieses Leid wird auch im Laufe der Zeit nicht geringer werden, das spüre ich, und ich merke auch die Trauer, das Nichtverstehen in deinen Worten, mein geliebter Johannes. Dein Weinen, wenn ich dich verlasse, deine Worte: "Dann lasse ich dich nicht mehr los, dann lasse ich dich nicht gehen!", das Festhalten und Zerren an meiner Hose, wenn ich mich entferne! Aber ich darf nicht bleiben, obwohl ich es gerne würde.
Julia, meine geliebte süße Maus, du verstehst das mit deinen 2 Jahren noch nicht. Aber ich liebe dich genauso wie Johannes, und deine Pfirsichcremeküsse werde ich unendlich vermissen.
Nein, ich werde uns allen dieses Leid ersparen, auch dir, liebe Annabelle.
Mein Tod bringt euch Geld durch meine Lebensversicherung und Ruhe und Ordnung für euren neuen Weg ohne mich. Ich werde euch immer begleiten, werde immer bei euch sein, und wenn ihr an mich denkt, werdet ihr spüren, dass ich euch ganz nahe bin. Wie ein Schutzengel werde ich über euch wachen und durch euren Glauben euch helfen, euren Weg zu gehen, eine eigene Familie zu gründen und glücklich und zufrieden zu leben. Wenn ihr mich braucht, in welcher Situation auch immer, presst einfach ganz fest den Daumen und Zeigefinger der rechten Hand aneinander und reibt ein paar Mal hin und her. Dann weiß ich, dass ihr mich ruft, und ich werde schneller bei euch sein, als das momentan der Fall ist. Denn das ist das Schöne daran: Es gibt im Himmel kein Verbot, keine Grenze, keine Entfernung, die mich abhalten kann, zu euch zu kommen.
Ich liebe euch von Herzen und weiß, dass wir uns irgendwann mal wieder sehen.
Euer Papa
Und ganz am Schluss steht meine Adresse.
Ich erwache aus meinem Todestraum. Unzählige Tränen rinnen aus den Augenwinkeln, über die Wangen, am Ohr vorbei und fallen auf das Kopfkissen. Ich setze mich im Bett auf, schalte das Licht an und wische mit der Hand über die Augen, so, als wolle ich den Tränenfluss stoppen. Es gelingt mir nicht. Zu intensiv waren meine Gedanken. Sie haben mir eine Situation vorgespielt, die ich mir nie wünsche, und vor kurzem hätte ich noch gesagt, die ich mir niemals vorstellen kann. Jetzt sind diese Gedanken, nach einem Ausweg zu suchen, in meine Vorstellungswelt eingedrungen. Wie kann so etwas passieren? Mir, einem Menschen, der immer optimistisch denkt und positiv eingestimmt ist? Bin ich nun wirklich suizidgefährdet, werde ich depressiv, verfalle endgültig dem Alkohol und dem Lotterleben?
Die Ansätze dazu scheinen vorhanden zu sein: Ich hatte soeben Selbstmordgedanken mit absolut realistischer Vorstellungskraft, bis hin zum Abschiedsbrief, ich war heute eher traurig und niedergeschlagen als glücklich, habe am Abend eine Flasche Sekt getrunken, und um das Geschirr vom Frühstück und Abendessen zu spülen, hatte ich auch keine Lust. Wenn ich das so fortsetze und noch steigere … Nein! Daran will ich keine Gedanken verschwenden, soweit wird es nicht kommen! Meine Kinder brauchen mich, und ich werde für sie da sein.
Immer! Wie auch immer.
Meine Tränen versiegen. Ich wische mir mit der Handfläche die Wangen trocken, und langsam kehrt positive Energie in meine Gedanken zurück.
Ich will mit 100 Jahren noch einen Marathon laufen, in New York! Ob es möglich ist, weiß Gott allein, aber ich muss alles dafür tun, danach handeln und leben, um mir diese Möglichkeit offen zu halten.
Und doch hatte ich soeben diese schreckliche Abschiedsszene vor Augen.
Weshalb?
Annabelle hat mir heute am Telefon eindringlicher denn je gesagt, dass ich mir keine Hoffnung auf eine letzte Chance mehr machen brauche. Es sei aus und vorbei. Ich lebe hier im Dorf, sie und die Kinder 30 Kilometer entfernt in der Kleinstadt. Ich könne die Kinder regelmäßig sehen, doch außer beim Abholen und Zurückbringen der Kinder wolle sie keinen weiteren Kontakt mit mir haben.
Klare Regeln, klare Verhältnisse, kurz und knapp, keinerlei Gefühle in ihrer Stimme. Rums! Wie durch ein Fallbeil wurde das dünne Gedankenseil, gesponnen aus meinen Hoffnungsfäden, gekappt, und ich stürzte in dieses tiefe, schwarze Loch ohne Boden, dem ich abends mit Alkohol entgehen wollte.
Und während ich fiel und fiel und auf den Aufprall wartete, der meinem Leben ein Ende setzen würde, dachte ich an den Tod, der zwangsläufig diesem Sturz folgen würde.
Ja, genau, jetzt verstehe ich meine Suizidgedanken. Annabelles Worte trafen mich unerwartet und hart. Wie einen Boxer, der wie aus dem Nichts einen Kinnhaken verpasst bekommt. Ich hatte keine Chance, mich irgendwo festzuhalten, bin in die Tiefe gestürzt, und während ich fiel, dachte ich an meinen Abschied vom Leben.
Eine innere Kraft fing mich auf, warf mir ein neues Gedankenseil zu, und an ihm klettere ich jetzt mit Mühe und doch kraftvoll aus der finsteren Tiefe ins Tageslicht.
Oftmals erkennen wir nicht gleich, auf welchen Wegen uns Gott führt und welches Ziel er damit verfolgt. Als ich Annabelle das erste Mal wahrnahm, hätte ich niemals gedacht, dass sie ein Jahr später meine Frau werden würde. Ich hatte gerade eine vierjährige Beziehung hinter mir, lebte wieder allein und wollte vordergründig von Frauen erst mal nichts wissen, sondern lieber meinen Wunsch nach einem Bauernhaus realisieren und mich dem Schreiben widmen.
Das erste Bild von Annabelle, das sich unauslöschlich in mein Gedächtnis einbrannte, sah ich im Fitnessstudio, in dem ich mehrmals die Woche trainierte. Annabelle stand in einem blauen Spinningdress hinter dem Tresen und schrieb irgendwas in ein Buch. Ihre knapp schulterlangen braun rot gelockten Haare waren verschwitzt, Schweiß rann über ihr Gesicht und über ihre leicht geröteten Wangen den Hals hinab, versickerte im Stoff ihrer Trainingskleidung und bildete sichtbare dunkle Schweißflecken. Sie schien gerade eine Trainingsstunde hinter sich zu haben. Meine Vermutung, eine neue Fitnesstrainerin für das Spinning vor mir zu sehen, bestätigte sich später.
Während ich meinen Trainingsplan studierte, der auf dem Tresen lag, konnte ich kurz ihre strahlend blauen Augen erkennen und ihre prägnante Nase über einem faszinierenden Mund mit großen geschwungenen Lippen und blendend weißen Zähnen.
Der flüchtige Blick dauerte nur wenige Sekunden, und wäre Annabelle nicht meine Frau geworden, würde ich mich nicht mehr an dieses Bild erinnern: eine große athletische Frau in einem blauen, eng anliegenden Radfahrerbody, mit langen schlanken Beinen und einem verschwitzten Wuschelkopf.
Ohne weitere Gedanken zu verschwenden, wandte ich mich vom Tresen ab und strebte das nächste Trainingsgerät nach meinem Plan an.
Mindestens drei Mal pro Woche war ich in diesem Studio anzutreffen, um mein Kraftausdauertraining zu absolvieren. Wie bereits erwähnt, lebte ich wieder allein und wollte das so schnell nicht ändern. Trotzdem war ich nicht abgeneigt, mich mit Frauen zu unterhalten, die mich interessierten.
In dem Fitnessstudio traf das auf eine blonde, ebenfalls athletische Sportstudentin zu, die in den Abendstunden als Aerobic-trainerin arbeitete: Katrin. Sie gefiel mir außergewöhnlich gut, ihr Wesen faszinierte mich, hin und wieder wechselten wir ein paar Worte, und was sie sagte, war klug, sinnreich und begeisternd, ihr Lachen herzlich und zum Verlieben. Kurzum: eine schöne, sportliche, geistreiche Frau, die mir gefiel, und die ich im Auge behalten wollte.
Genau aus diesem Grund sah ich keinen Anlass, mir über Annabelles Anblick Gedanken zu machen. Da war Katrin, und von ihr wollte ich mehr wissen, mehr erfahren. Das bedeutete, sie während meines Trainings erst mal zu beobachten und, wenn es passte, ein paar Worte mit ihr auszutauschen. Hatte sie einen Freund oder war sie solo? War sie glücklich oder unglücklich? Welche Pläne verfolgte sie beruflich? Alles Fragen, auf die ich eine Antwort haben wollte, ohne Katrin merken zu lassen, dass sie mich näher interessierte.
Mit großer Freude und Spannung ging ich jedes Mal ins Studio, war ein wenig enttäuscht, wenn Katrin keinen Dienst hatte, und glücklich, wenn ich sie sah, mit ihr sprechen konnte und so von ihr ein Mosaiksteinchen erhielt, um mein Gedankenbild von ihr zu erweitern.
Dann begegnete mir wieder Annabelle. Und mein nächstes Erinnerungsbild von ihr ist noch kürzer als das erste.
Ob es eine oder zwei Wochen später war, weiß ich nicht mehr genau. Ich war mit dem Training fertig und ging gerade die Treppe nach oben zu den Umkleideräumen und Duschen, als mir Annabelle entgegen kam. Frisch geduscht, erhitzte, rote Wangen, eine große Sporttasche in der Hand, in einem leichten beigen Herbstmantel, eleganter blauer Hose und Lackschuhen sah sie aus wie eine sportliche, erfolgreiche Geschäftsfrau.
Wir lächelten uns an, sagten „Hallo“, und ich dachte mir: „Wow! Aber so eine Frau wird für dich unerreichbar bleiben.“
Wieder eine oder zwei Wochen später folgte die letzte flüchtige Begegnung mit Annabelle. Nach dem Hanteltraining im Fitness-Studio beschloss ich an diesem frühen Abend - es war kurz vor 18 Uhr - eine kurze Runde im nahe gelegenen Park zu joggen. Auf dem Weg dorthin kam mir die Laufgruppe des Studios entgegen, die ihre Runde im Park bereits hinter sich hatte und auf dem Rückweg war. Und wer lief da als Trainer vorneweg? Annabelle!
Ich war erstaunt, sie zu sehen, und es freute mich so sehr, dass ich ihr ein überraschtes, herzliches „Ei, hallo!“ entgegenrief und ihr die linke Hand zum Abklatschen in die Höhe hob. Annabelle lachte auch, ich sah ihre weißen Zähne strahlen. Als wir auf gleicher Höhe waren, hatte sie ebenfalls ihre Hand gehoben, und im Vorbeilaufen klatschten unsere Handflächen gegeneinander. Ich bemerkte nicht, dass ich in der linken Hand meinen Autoschlüssel festhielt. Später erzählte mir Annabelle, dieses durch die Laufgeschwindigkeit heftige Abklatschen und der Schlüssel, der sich in ihre Hand bohrte, hätten ihr sehr wehgetan. Aber in dieser Zehntelsekunde, unserer ersten Berührung, sagte sie nichts, ertrug tapfer den Schmerz, und beide liefen wir in entgegengesetzter Richtung weiter.
Nach dieser letzten, sehr kurzen Begegnung kann ich mich nicht erinnern, Annabelle noch einmal bewusst gesehen, geschweige denn gesprochen zu haben. Meine Augen und meine Aufmerksamkeit galten nach wie vor Katrin.
Ende September sollte ein Team von zehn Personen des Fitness-Studios an einem 21km-Lauf in Fulda teilnehmen. Norbert, ein Trainer, der wusste, dass ich Halbmarathon und Marathon lief, fragte mich, ob ich Lust hätte mitzumachen.
„Wir müssen mindestens zehn Läufer zusammen bringen“, bat er mich.
„Nein, ich denke nicht“, lehnte ich ab. „Ein Teamlauf ist nichts für mich.
Ich laufe lieber mein Tempo ganz allein.“
Norbert nahm die Antwort hin, aber eine Woche später sprach er mich erneut an.
„Du, wir brauchen dringend noch einen Läufer“, fing er an. „Und die Anmeldefrist für das Team läuft ab.“
Ich antwortete nicht gleich.
„Lauf doch mit“, bat er mich, und dann las er mir die Namen der feststehenden Teilnehmer vor. Nach dem zweiten oder dritten Namen folgte „Katrin“.
„Die Katrin?“, unterbrach ich ihn, und in meinem Gehirn begann es zu arbeiten.
Norbert bejahte kurz und nannte mir die restlichen Teilnehmer, deren Namen ich aber gar nicht mehr wahrnahm.
Die Katrin war dabei? Ich war erstaunt, überrascht und begeistert, und ich erkannte meine Gelegenheit, an diesem Laufwochenende Katrin näher kennen zu lernen.
„Wenn die Katrin dabei ist“, sagte ich scherzhaft, „laufe ich natürlich mit!“
Norbert notierte meinen Namen, und zwei Wochen später, an einem Samstagnachmittag, trafen sich die Teilnehmer des Laufteams vor dem Fitness-Studio, um in Fahrgemeinschaften geschlossen nach Fulda aufzubrechen. Wir wollten einen Tag vorher anreisen, einen lustigen Nachmittag und Abend in Fulda erleben, in einer Sporthalle in Schlafsäcken übernachten, am nächsten Morgen laufen und nach einem gemeinschaftlichen Abschlussessen die Heimfahrt antreten.
Ich war mit allem einverstanden, nur nicht mit dem Übernachten in der Sporthalle. Nach einer anstrengenden Arbeitswoche zog ich ein gemütliches Bett einem unbequemen Sporthallenboden vor. Deshalb hatte ich für mich ein Doppelzimmer in einem preiswerten Hotel nahe dem Sportstadion bestellt.
Mit fünf oder sechs Autos fuhren wir los, und ich hatte Andreas als schweigsamen Beifahrer zugeteilt bekommen. "Schade", dachte ich, "nicht die Katrin." Aber sie fuhr natürlich im Auto von Norbert, ihrem Trainerkollegen, mit.
Dass Annabelle auch irgendwo im Team dabei war, hatte ich zu diesem Zeitpunkt gar nicht richtig registriert. Ich hatte sie wohl aus den Augenwinkeln gesehen, aber jeder war mit Einpacken seiner Sachen in irgendein Auto beschäftigt, und ich schielte ständig nach Katrin, die leider in ein anderes Auto stieg und nicht zu mir.
Na gut, dachte ich mir, fahren wir erst mal los. Gelegenheiten und Möglichkeiten, welcher Art auch immer, wird es heute und morgen viele geben.
Bis zur ersten Pinkelpause auf einer Autobahnraststätte ereignete sich nichts Besonderes. Die Autos parkten nebeneinander, wer musste, lief zur Toilette, und die anderen vertraten sich neben den Fahrzeugen die Füße und unterhielten sich. Irgendwie kam die Sprache auf den Schlafplatz in der Sporthalle, und dabei scherzte irgendwer: „Der Slik hat’s gut, der wird morgen der Einzige sein, der keine krummen Knochen hat, nach der Nacht im Hotel.“
„Was, du schläfst im Hotel?“, fragte einer erstaunt und neidisch. Und Annabelle, die ich jetzt zum ersten Mal bewusst wahrnahm, meinte: „Da würde ich auch lieber schlafen!“
Und ein anderer: „Wenn ich das gewusst hätte, dass das möglich ist …“ „Ruhe jetzt“, sagte Heiner, „Slik hat sein Bett und wir unseren Schlafsack.
Und nun lasst uns weiterfahren.“
Beim Einsteigen hörte ich noch einige lachen, dann fuhren wir wieder auf die Autobahn. "Mist, kein Wort mit Katrin gewechselt", dachte ich mir.
Schlief sie gerne im Schlafsack in der Sporthalle? Ich hatte ein Doppelzimmer mit einem Doppelbett. Sollte ich sie anrufen und fragen, ob sie bei mir schlafen wolle? Da kam mir Annabelles Reaktion ins Gedächtnis: „Da würde ich auch lieber schlafen!“ "Na klar", sagte ich zu mir, "ich rufe Annabelle an und biete ihr die zweite Hälfte meines bequemen Bettes an."
Wie konnte ich bloß auf eine so verrückte Idee kommen? Da hatte ich nicht mal drei vernünftige Worte mit Annabelle gewechselt, und ich wollte sie fragen, ob sie bei mir schliefe. Irgendwer zwang mich diesen Gedanken sofort umzusetzen. Tat ich es aus Nächstenliebe, einer bedauernswerten Teamkollegin gegenüber? Steckten andere Absichten dahinter? Ich kann es nicht sagen, weil ich mir keine Gedanken darüber machte. Irgendwer führte mich, und ich sollte Kontakt zu Annabelle aufnehmen. Während der Fahrt schnappte ich mein Handy und überlegte, wen ich anrief, um jetzt sofort Annabelle mein Angebot unterbreiten zu können. Bei wem saß sie eigentlich im Auto? Ich wusste es nicht, deshalb rief ich Roland an. Mit diesem liebenswerten Menschen verstand ich mich gut. Fast jeden Abend verbrachte er im Studio, nicht nur zum Training, sondern vor allem um eine Tasse Kaffee zu trinken und mit den Mädels zu quatschen.
„Hey, Roland, ich bin’s!“
„Servus, was gibt’s?“
„Kannst du mir sagen, bei wem Annabelle im Auto sitzt?“
„Na klar“, antwortete er mit seiner bärigen, gutmütigen Stimme. „Bei Nils, ihrem alten Freund.“
„Hast du eine Handy-Nummer von Nils oder Annabelle?“, fragte ich.
„Von Nils“, sagte Roland und nannte mir die Nummer.
„Danke!“
Ich drückte die Tasten, und nach einem Klingeln hörte ich in einem lockeren Ton: „Hier ist der Nils.“
Nils schien zu ahnen, dass einer aus unserer Gruppe anrief.
„Hallo, Nils“, begann ich ganz sachlich. „Hier ist der Slik. Kann ich die Annabelle mal sprechen?“
„Klar, Moment.“ Pause. Fahrgeräusche. Dann ihre Stimme.
„Ja, hier Annabelle.“
Kein bisschen nervös, sondern sachlich trug ich mein Angebot vor: „Du hast vorhin gesagt, dass du nicht gern in der Turnhalle schlafen würdest. Ich habe ein großes Doppelbett in meinem Zimmer, und bevor es leer steht, biete ich es dir gerne an, wenn du willst.“
Annabelle lachte ihr wundervolles Lachen, dass ich später so sehr an ihr liebte, und sagte:
„Danke, das ist nett. Ich überleg‘s mir.“
„Gut, bis dann!“
Ich legte auf und musste schmunzeln. Wie konnte ich nur so einen Blödsinn wagen? Es gab keinen Grund, der Annabelle zu einem Ja veranlassen konnte. In dem Wissen fuhr ich mit dem ganzen Team zur Sporthalle. Annabelle kam auf mich zu und sagte freundlich: „Ich hab’s mir überlegt. Ich schlafe doch lieber in meinem Schlafsack.“
Dabei schaute sie mir in die Augen. „Trotzdem vielen Dank für dein Angebot.“
Gelassen nahm ich die Antwort hin, denn ich hatte nichts anderes erwartet. Ich verabschiedete mich von Annabelle, verabredete einen Treffpunkt für das gemeinsame Abendessen mit dem Team und fuhr in mein Hotel.
In einem rustikalen Restaurant in der Innenstadt von Fulda hatten wir einen Tisch reserviert, wo wir uns alle zum Abendessen trafen. Ich saß in der Nähe von Katrin, konnte mich gut mit ihr unterhalten, strahlte und war glücklich. An Annabelle dachte ich nicht mehr.
Am nächsten Tag war sie wieder da, die geheimnisvolle Kraft, die uns zusammenbringen wollte. Um 9.30 Uhr startete der Teamlauf. Wir waren alle gut drauf, scherzten miteinander und warteten auf den Schuss, der uns auf die 21 Kilometer lange Strecke rund um Fulda schicken sollte. Eine abwechslungsreiche Streckenführung durch die Stadt hinaus, über Wiesen und Felder, Hügel und Waldhaine machte den Lauf kurzweilig und interessant. Wir hatten viel Spaß im Team. Das Lauftempo orientierte sich am schwächsten Läufer; dennoch forderte die Strecke ihren Tribut. Vor allem die Laufanfänger, die zum ersten Mal diese lange Distanz in Angriff genommen hatten, kostete es viel Kraft, Anstrengung und Willen, die letzten Kilometer bis ins Ziel durchzustehen.
Auch Annabelle fiel plötzlich weit zurück, weil sie massives Seitenstechen verspürte. Ich lief an der Spitze und kontrollierte das Tempo. Als ich merkte, wie weit Annabelle hinter uns war, ließ ich mich von den anderen überholen und wartete, bis sie mich erreichte.
„Komm, das schaffst du noch“, ermutigte ich sie und trabte ganz langsam neben ihr her. Ich blieb an ihrer Seite, und als wir das Ziel vor Augen hatten, ergriff ich ihre Hand, und wir überquerten gemeinsam die Ziellinie. Was für ein Augenblick! Annabelle hatte zum ersten Mal diese Distanz bewältigt, war erschöpft aber überglücklich, und wir strahlten uns vor Freude gegenseitig an.
Wenn ich an diese Minuten zurückdenke, frage ich mich, wer das gesteuert hat. Ich, der immer als Erster vorneweg lief, auf Katrin schielte, ließ sich zurückfallen, um mit Annabelle Hand in Hand durchs Ziel zu laufen. Ich hatte mir über diese Handlung keinerlei Gedanken gemacht; es war einfach geschehen. Ich verfolgte keinerlei Absicht, außer Annabelle ins Ziel zu verhelfen, und es waren keine Gefühle im Spiel, die ihrer Person galten. Es schien einfach so richtig zu sein.
Nachdem ich im Hotel und die anderen in der Sporthalle geduscht hatten, wollten wir uns zu einem Abschlussessen in einer Pizzeria treffen. Zum abgesprochenen Zeitpunkt trafen alle ein, und ich ergatterte diesmal den Platz genau gegenüber Katrin. Ideal, um mich mit ihr zu unterhalten.
Neben Katrin saß Annabelle mit Nils, und diese Sitzordnung wäre mir niemals in Erinnerung geblieben, wenn sich nicht wieder eine mysteriöse Begebenheit ereignet hätte.
Natürlich kam ich mit Katrin schnell ins Gespräch. Sie schien mich auch sympathisch zu finden, und wir plauderten über den Lauf, ihr Studium, ihre beruflichen Pläne und ihre und meine Interessen. Nebenbei verdrückten wir Pizza und Nudeln, tranken Wasser und Saftschorle.
Die Pizzeria befand sich in der Passage eines überdachten Einkaufscenters, und wir saßen nicht drinnen, sondern draußen. Da bemerkten wir, wie sich fast neben unserem Tisch eine Zwei-Mann-Band platzierte und Tanzmusik zu spielen begann. Als schon einige aufgestanden waren und tanzten und wir amüsiert zuschauten, forderte ich, als absoluter Nichttänzer, Katrin zum Tanzen auf. Einen Foxtrottrhythmus müsste ich einigermaßen hinbekommen, dachte ich mir und führte meine Auserwählte, die begeistert Ja gesagt hatte, aufs Parkett. Sobald wir aufgestanden waren, folgten Annabelle und Nils, und irgendwie fand ich das merkwürdig. Während ich mit Katrin tanzte und ihr dabei mehrmals auf die Füße trat, was sie mir mit einem bedauernswerten Lächeln entschuldigte, wurde mir bewusst, dass Annabelle meiner Unterhaltung mit Katrin ganz aufmerksam gefolgt war.
Sie hatte sich kaum mit Nils unterhalten, ihr Kopf war immer meinem Gespräch mit Katrin zugewandt, in das sie sich bei passender Gelegenheit mit einbrachte. Sie lächelte mich an, während wir tanzten, und ich verfolgte ihre Gestalt, die leicht, locker und elegant dahinschwebte.
Die Musik war zu Ende, wir applaudierten der Band, und beim Zurückgehen auf unsere Plätze interessierten mich Katrins Füße nicht die Bohne, was sie mir sicherlich verübelte. Vielmehr spürte ich, dass zwischen Annabelle und mir etwas in der Luft lag, eine Schwingung, ein Interesse, eine Zuneigung, die mich anzog und bis zum heutigen Tag an sie fesselt.
Wenn ich jetzt, beim Aufschreiben an dieses Gefühl denke, frage ich mich, ob es eine göttliche Fügung war. Natürlich empfindet jeder die erste Begegnung mit dem Menschen, den er später liebt, als außergewöhnlich und wunderschön. Der Augenblick des ersten Augenkontakts, dem sich beide Partner nicht wissend und fragend aussetzen und innerhalb einer millionstel Sekunde bestätigt bekommen und wissen: Ja, das ist der Mensch, mit dem ich zusammen sein will. Dieser Bruchteil einer Sekunde, der alles entscheidet. Das bewusste Aufnehmen und Annehmen eines Menschen, der bis dahin fremd war und einem plötzlich bekannt und vertraut erscheint. All diese Gefühle hatte ich in meinem Leben schon mehrmals erlebt. Deshalb konnte ich vergleichen und wusste: Da war mehr zwischen Annabelle und mir passiert als nur der platonische Austausch von Sympathie.
Als sich unsere Blicke beim Hinsetzen begegneten, fühlte es sich an wie das Aufeinandertreffen zweier sich anziehender Magnete, wie das Ineinandergreifen passender Steckverbindungen, wie zwei Suchende, die getrennt waren, aber immer wussten, dass sie zusammengehörten, wie zwei Herzen, die nacheinander Sehnsucht hatten und sich jetzt umarmten.
Die nächste Stunde, die wir noch zusammensaßen, habe ich den Blick nicht von Annabelles Gesicht abgewendet. Sie hatte faszinierende, strahlend blaue Augen und wundervoll geformte rote Lippen, die zwischen Erzählen und Lachen eine Akrobatik vollführten, die auf mich unglaublich interessant wirkte. Ihr Mund, ihre Lippen begeisterten mich ungemein, und ich weiß im deutschen Wortschatz keinen Ausdruck, der diese Faszination in einem Begriff beschreiben könnte. In der englischen Sprache fand ich ein wunderschönes Wort, das die ganze Magie beschreibt: mesmerizing. Melodisch und schwingend hört es sich an und heißt übersetzt etwa hypnotisch, magisch, faszinierend, anziehend.
Mesmerizing lips.
Unglaublich! Ich war hin und weg von Annabelles ganzem Wesen. Sie erzählte von Suppe und Eintopfgerichten, die sie zaubern, gut, ich meine kochen konnte. Und als sie mich zu einem leckeren Gemüseeintopf für den kommenden Freitag einlud, sagte ich mehr als begeistert zu.
Wie es Katrin an diesem Nachmittag nach unserem Tanzversuch weiter erging, vermag ich nicht zu sagen. Ich könnte nicht mal beschwören, ob sie überhaupt noch mit am Tisch saß. Katrin hat von meinem starken Interesse an ihrer Person gar nichts mitbekommen, denke ich.
Übel genommen hat sie mir mein Verhalten nicht, denn nach diesem Nachmittag wechselten wir weiterhin ein paar Worte, wenn wir uns im Studio begegneten. Einige Jahre später lud sie Annabelle und mich zu ihrer Hochzeit ein. Zum Tanz mit der Braut habe ich sie an ihrem Festtag nicht aufgefordert.
Treffend beschreibt mein erster Eintrag zu Annabelle in meinem Tagebuch meine damalige Gefühlswelt. Ganz banal notierte ich: „Bei Annabelle bin ich zum Essen eingeladen.“ Mehr nicht! Ein ganz schlichter Satz. Diese emotionslose Randnotiz über ihr Kennenlernen gründet auf den Ereignissen, die ich in den letzten zwölf Monaten erlebt hatte.
Nach dem Ende einer vierjährigen Beziehung wollte ich meinen Traum vom Leben auf einem Bauernhof realisieren und von Frauen erst mal nichts wissen. Vier Jahre hatte ich um die Liebe von Birgit gekämpft, jedoch vergeblich. Wir haben uns in Freundschaft getrennt, und von da an beschloss ich, mein Leben zu leben, meine Träume anzugehen - ohne weiblichen Anhang. Ich wollte meine Ruhe haben und neben meinem Job in einer Druckerei mein Lauftraining intensivieren, Zeit zum Schreiben haben, meinen Traumbauernhof finden, um ihn zu einem kulturellen Schmuckstück umzugestalten, und außerdem wollte ich ein paar neue Flecken auf der Erde erkunden.
Zwischen meinen Reisen nach Nepal, Thailand, Kanada und Alaska ging ich meinem Job nach, joggte durch die Wälder und saß fast jeden Abend nach dem Training im „Dave’s Rib House“, einem amerikanischen Steakrestaurant in Nürnberg, und schrieb Kurzgeschichten. Irgendwie schien dieses Schreiben Frauen anzuziehen, denn ich schaffte es doch tatsächlich, vier Affären hinter mich zu bringen, bei denen immer ein bisschen Liebe mitspielte: zweimal von meiner Seite und zweimal von anderer Seite aus. Aber ich wollte von all den Eskapaden nichts wissen und beendete diese Kontakte relativ schnell.
Als ich im Juni aus Alaska und Kanada zurückkam, erwartete mich großes Glück: Ich erhielt den Zuschlag für einen riesigen, wunderschön gelegenen Bauernhof, den Haaghof. Als an diesem Fuldawochenende - es war Sonntag, der 6. September 1998 - Annabelle in mein Leben trat, war ich voll damit beschäftigt, das Haupthaus mit etwa 200qm Wohnfläche zu renovieren.
Für dieses Jahr galt Annabelle zunächst nur als ein weiteres Ereignis, deshalb der nüchterne Tagebucheintrag. Die Faszination ihrer Person und unseres Kennenlernens wurde mir erst im Laufe der nächsten zwei Wochen bewusst.
Der erste Abend bei ihr bekräftigte meine Gefühle, dass Annabelle nicht nur ein Ereignis war, sondern ein Erdbeben, das alles bisher Dagewesene in meinem Leben verändern sollte.
Frisch geduscht fuhr ich in die Tucherstraße und läutete an der Türglocke des Hauses Nummer Drei. Der Türöffner summte, und ich musste eine Treppe hinaufsteigen. Irgendwo stieß ich auf eine leicht geöffnete Tür. Ich näherte mich dem Türschild, um den Namen lesen zu können. Es war zu dunkel, und ich konnte nichts entziffern, aber durch den Türspalt roch es nach Essen. Ich schob die Tür ein wenig auf und hörte im nächsten Moment Annabelles Stimme: „Du bist richtig! Komm rein!“
Weiße Wände, grüner Teppichboden, Spiegel, Lichter. Modern und gemütlich eingerichtet - das war mein erster Eindruck. Ich zog die Schuhe aus und folgte den Klappergeräuschen, die aus der Küche drangen. Hinter dem Rücken hielt ich einen kleinen Strauß Blumen versteckt. Als ich Annabelle am Herd stehend erblickte, rührte sie gerade in einem großen Topf, aus dem es herrlich nach Gemüseeintopf duftete. Sie hatte ihr Versprechen gehalten.
„Hallo“, begrüßte ich sie freudestrahlend. Ebenso erfreut ließ Annabelle den Deckel auf den Topf fallen, legte den Kochlöffel zur Seite und umarmte mich mit einem herzlichen „Hallo!“
Sie bat mich, auf einem der zwei Stühle am Küchentisch Platz zu nehmen.
Annabelle setzte sich auf den anderen Stuhl und fragte, ob ich was trinken wolle.
„Gerne ein Glas Wasser“, erwiderte ich, weil ich sah, dass eine Flasche Mineralwasser mit zwei Gläsern auf dem Tisch bereitstanden.
Zunächst erklärte mir Annabelle ihre Küche, eine kleine, aber feine Single-Küche. Was es zu essen gab, verriet sie mir nicht, denn das war noch ein Geheimnis. Anschließend unterhielten wir uns über unsere Jobs und wie oft wir diese Woche gejoggt waren. Dabei erfuhr ich, dass Annabelle in zwei Wochen den Berlin-Marathon laufen wollte. Ich war erstaunt über das, was sie sich zutraute, so kurz nach dem Halbmarathon in Fulda.
Zwischendurch stand sie auf und kontrollierte die Töpfe auf dem Herd.
Nach einer Weile verkündete sie, dass das Essen fertig sei. Da es früh am Abend war und wir beide noch keinen Hunger verspürten, entschieden wir uns spontan, über den Flohmarkt zu schlendern, der sich dieses Wochenende durch die Altstadt von Nürnberg zog. Annabelles Wohnung lag mitten in der Stadt, und wir mussten nur unsere Schuhe und Jacken anziehen und standen nach ein paar Schritten im Getümmel.
Anfangs verhielten wir uns sehr sachlich, scheinbar ohne Emotionen, vorsichtig herantastend. Doch als wir auf der Straße standen und die ersten Schritte nebeneinander zurückgelegt hatten, ergriff ich wie selbstverständlich Annabelles Hand. Ihre Hand schien bereits darauf zu warten, denn zielsicher vereinten sich ihre Finger mit den meinen, und ohne uns anzusehen, liefen wir Hand in Hand weiter.
Ich spürte die Knochen ihrer kalten Finger, ihre warme Handfläche, und ich fühlte in diesem festen Griff, wie ihre Freude von ihr zu mir wanderte, mein Herz berührte, kehrtmachte und angefüllt mit glitzernden Funken zu ihr hinüberfloss. Dieser Austausch von Glücksgefühlen, der sich unzählige Male in der Sekunde vollzog, dauerte während unseres Spaziergangs an, und wären unsere Köpfe Glühbirnen gewesen, hätte die fließende Energie sie zum Leuchten gebracht. Es fühlte sich wunderschön an, ihre Hand zu halten. Als wir nach einer Stunde wieder vor ihrer Haustür standen, hatte ich den Eindruck, dass wir es beide bedauerten, einander loslassen zu müssen. Gerne hätten wir uns länger festgehalten.
An einem festlich gedeckten Tisch mit Kerzen und leiser Musik im Hintergrund ließ ich mich von Annabelles Kochkünsten verwöhnen. Zu dem fantastischen Gourmetessen, bestehend aus Suppe, Hauptgericht und Nachtisch, tranken wir trockenen Rotwein und Wasser.
Mich faszinierte an unserem ersten Abend besonders die Vertrautheit, mit der wir uns begegneten - angefangen von unserem Hand-in-Hand-Spaziergang über den Flohmarkt, fortgesetzt bei den Gesprächen beim Essen, das sich bis kurz vor Mitternacht hinzog. Unsere Unterhaltung war offen, herzlich, ehrlich, lustig, Neugier weckend, anziehend, magisch und fesselnd, denn das Band des Begehrens hatte uns umschlungen.
Für den Fall der Fälle hatte ich meine Zahnbürste eingesteckt, aber er traf nicht ein. Ich hätte es als unpassend und unromantisch empfunden, an diesem Abend mit Annabelle gleich intim zu werden und bei ihr zu übernachten. Vielleicht ist meine Einstellung altmodisch oder dem Zeitgeist gegenüber antiquiert, aber wenn ich eine Frau kennen lernte, die mir etwas bedeutete, wollte ich mit ihr nie am ersten Abend ins Bett.
Keiner von uns vermisste etwas, als ich weit nach Mitternacht aufstand, um mich zu verabschieden. Annabelle begleitete mich zur Tür. Dort zog ich meine Schuhe an, und dann standen wir uns gegenüber und schauten uns in die Augen. Ich dankte ihr für den wundervollen Abend, umarmte sie und zog sie dabei an mich heran. Keinerlei Gegenwehr konnte ich spüren, ganz im Gegenteil. Auch sie näherte sich mit ihren Lippen meinem Mund, und als wir uns berührten und küssten, explodierten tausende kleiner Feuerwerkskörper überall in uns.
Tagelang brannte und explodierte dieses Feuerwerk nach dem Abend in jeder Faser meines Körpers unauslöschlich weiter. Ich hatte mit Annabelle nichts ausgemacht, wann wir uns wiedersehen oder treffen wollten. So wartete ich auf einen Anruf von ihr, zwei Tage, drei Tage, vier Tage. Nein, ich wollte nicht anrufen! Wenn ich ihr etwas bedeutete, sollte sie sich melden. Aber am vierten Tag habe ich es nicht mehr ausgehalten und sie doch angerufen. Sie freute sich riesig, sagte, sie habe auf meinen Anruf gewartet, und wir verabredeten uns gleich für den Abend wieder bei ihr zu Hause.
Wie zwei Ausgehungerte, die vor einem reichhaltigen Mittagsbüffet stehen und freie Auswahl haben, sind wir über uns hergefallen und haben unseren Liebeshunger gestillt. Unser beiderseitiges Feuerwerk wurde an diesem Abend zu einem Vulkan, der seine Feuer und seine unbändige Kraft bündelte und am Höhepunkt seiner aufgestauten Energie vereint in einer gigantischen Explosion in den Himmel schleuderte. Unser Vulkan schien von Beginn an unerschöpflich viel Energie zu haben, und noch nach einem Jahr fragten wir, uns in den Armen liegend, woran das lag und ob das bis an unser Lebensende anhalten würde.
Der nächste Ausbruch sollte von dieser Nacht an nicht lange auf sich warten müssen, denn Annabelle wollte mich am Wochenende auf meinem Bauernhof besuchen, den ich erst kürzlich gepachtet hatte.
Der Haaghof, etwa 40 Kilometer nordwestlich von Nürnberg, war für mich eine einzigartige Idylle, wie ich sie mir zum Arbeiten und Leben immer vorgestellt hatte. Ein großes, herrliches Bauernhaus mit altem Fachwerk, Deckenbalken und Kachelofen im Wohnzimmer und in der großen Küche, neue Fenster in allen Zimmern, einer Zentralheizung, die mit Holz versorgt werden musste, einem riesigen, stillgelegten Kuhstall, der direkt mit dem Wohngebäude verbunden war, einem Dachgeschoss mit alten Möbeln und Utensilien aus früheren Zeiten und einem Dachgeschossfenster. Von dort oben glitt der Blick fasziniert über die sanft hügeligen grünen Wiesen bis an den Horizont, und der Betrachter konnte sich leicht in einer Landschaft mitten in der Toskana wähnen. Der Haaghof war ein frei stehendes Gut, umgeben von Wiesen mit Obstbäumen, Feldern und Wäldern. Der nächstgrößere Ort mit Geschäften war sieben Kilometer entfernt.
Dieser einzigartige Blick aus dem kleinen, mit Spinnweben behangenen Dachfenster eroberte mein Herz. Doch meine Gedanken zum Kuhstall halfen mir entscheidend, den Zuschlag als Pächter zu erhalten. Ich wollte nicht nur einfach auf dem Land wohnen, sondern in geeigneten Räumlichkeiten eine Begegnungsstätte schaffen, wo Musik- und Literaturabende angeboten, Theaterstücke aufgeführt und andere kulturelle Veranstaltungen durchgeführt werden konnten.
Mit diesen Vorstellungen traf ich unerwartet ins Herz der alten Bäuerin und deren Mann, die nun ihr ehemaliges Wohnhaus an mich vermieteten.
Tina war trotz ihres Alters von 63 Jahren eine aktive und agile Frau, belesen, redegewandt, aufgeschlossen, herzlich, und von einem Bauerntheater in ihrem Kuhstall habe sie schon immer geträumt. Paul, ihr Mann, paffte seine Pfeife auf der Bank vor dem Wohnhaus und strahlte ebenfalls übers ganze Gesicht, als ich ihm meine Vorstellungen schilderte.
Eine Besonderheit bot der Haaghof noch: Paul und Tina vermieteten zwar ihr großes Wohnhaus und den Kuhstall, blieben aber trotzdem auf ihrem Grund und Boden sesshaft. Sie hatten ihre ehemalige Garage zu einem kleinen Wohnhaus umgebaut, und da wohnten sie seit kurzem, einen Meter vom Haupthaus entfernt.
Für mich stellte diese Nähe zu den Eigentümern kein Problem dar. Ich verstand mich bestens mit Paul und Tina, und im Laufe der Zeit hatte ich mit ihnen fast ein Verhältnis, wie zwischen Eltern und ihrem Sohn. Paul und Tina standen mir in den nächsten Monaten hilfreich mit Rat und Tat zur Seite, ohne sich jedoch aufzudrängen oder einzumischen.
Nachdem ich Annabelle die ganze Woche über im Fitness-Studio nicht gesehen hatte, konnte ich es kaum erwarten, dass sie mich endlich am Haaghof besuchen kam. Ich machte mir keine Gedanken, wie es momentan hier aussah: Überall standen Farbeimer herum, es gab noch keine Küche, keine Schränke. Nur ein bordeauxrotes altes Bauernsofa und einen großen massiven langen Esstisch ohne Stühle im Wohnzimmer sowie das Bett im Schlafzimmer. Der Wandschrank, den ich für meine Kleidung baute, war gerade halb fertig.
Vor ein paar Tagen erst hatte ich meine kleine Wohnung in der Stadt aufgelöst und lebte bis auf weiteres auf einer Baustelle. Dadurch konnte ich jede freie Minute nutzen, um die Zimmer zu renovieren, zu streichen und einzurichten. Obwohl ich schon über drei Monate im Haus schuftete, lag noch jede Menge Arbeit vor mir.
Annabelle wollte an diesem Freitagabend nach ihrer Arbeit kommen und bis Sonntag bleiben. Ich nutzte meine Zeit, den Bau der Küche vorzubereiten, und kurz vor Sonnenuntergang joggte ich eine große Runde ums Haus. Irgendwie war ich aufgeregt, auf Annabelle zu warten.
Würde ihr das Haus gefallen?
Ich hatte ihr viel davon erzählt und vorgeschwärmt, aber alles war noch so chaotisch, dass sie einiges an Phantasie brauchte, um sich vorzustellen, wie es später mal aussehen sollte.
Die Sonne ging unter, es wurde dunkel und Annabelle war noch nicht da, als ich zum Haus zurückkam. Ich duschte, zog mich an, legte mich aufs Bett und vertiefte mich in meine Küchenzeichnungen. Zum ersten Mal baute ich eine Küche selbst, und damit alles passte, musste ich die Pläne immer wieder prüfen und überarbeiten. Ich hatte ganz bestimmte Vorstellungen, wie die Küchenzeile auszusehen hatte: Die Korpusse sollten auf rot bemalten Rundhölzern stehen, die sich an den Ecken bis zur Arbeitsplatte hochzogen. Die Frontteile der einzelnen Elemente würden die Farbe Gelb bekommen, kombiniert mit Schranktüren mit Milchglaseinsatz und Drahtgeflecht. Das Naturholz, die Farben und die Bauweise würden der fertigen Küche ein provenzalisches Aussehen verleihen und hervorragend zum Landhausstil passen.
Durch die geöffneten Fenster hörte ich ein Motorengeräusch näher kommen. Es war ohne Zweifel ein Auto, das die Geschwindigkeit verringerte und vor dem Bauernhaus unter meinem Fenster stehen blieb.
Ich legte die Zeichnungen neben mir auf den Boden, glitt vom Bett und machte zwei Schritte zum Fenster. Aus einem schwarzen Fiat Punto entstieg Annabelle.
„Hallo“, rief ich erfreut hinunter.
Sie war gerade ausgestiegen, hatte die Autotür noch geöffnet. Als sie meine Stimme hörte, schaute sie sich um und blickte zu mir nach oben.
„Hallo!“ Ihr Gesicht strahlte. „Ist das schön hier draußen!“
„Toskana like“, erwiderte ich und war begeistert, ihren Körper in ein langes weißes Sommerkleid gehüllt zu sehen. „Warte, ich komme runter und helfe dir.“
Schnell lief ich die Stufen nach unten, öffnete die Haustür - und schon lagen wir uns in den Armen, küssten uns begrüßend und begrüßten uns küssend. Ich führte Annabelle ins Haus, zeigte ihr alle Zimmer, Ecken und Winkel, den stinkenden Kuhstall und das Dachgeschoß mit Gerümpel und dem fantastischen Ausblick über die grüne hügelige Landschaft. Als letztes gelangten wir ins Schlafzimmer. Annabelle sah die Zeichnungen der Küche auf dem Boden. Ich erklärte ihr meine Absicht, und sie fragte begeistert, ob sie mir dabei helfen könne.
„Gerne“, sagte ich, „aber erst morgen nach dem Frühstück.“
„Und was machen wir mit dem angebrochenen Abend?“, fragte sie frech.
„Uns ausruhen“, schlug ich vor und deutete dabei auf das Bett, „und wenn wir Hunger haben, eine Kleinigkeit essen. Ich habe Käse, Wein und frisches Baguette …“
Annabelle legte einen Finger auf meinen Mund und küsste mich. „Gute Idee! Aber erst muss ich duschen, nach dem langen Tag im Geschäft.“
Sie holte ihre Sachen aus dem Auto nach oben und verschwand im Badezimmer. Ich legte mich aufs Bett, wartete, begann unkonzentriert in einem Buch zu lesen. Nach einer Weile hörte ich Annabelle aus dem Badezimmer kommen. Schritte, ein Rascheln, und dann stand sie im Zimmer, als ich von meinem Buch aufschaute.