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Das Werk "Der rote Kreis" ist ein 1922 veröffentlichter Roman von Edgar Wallace. Der Originaltitel lautet "The Crimson Circle". Richard Horatio Edgar Wallace (geboren 1. April 1875 in Greenwich, London; gestorben 10. Februar 1932 in Hollywood, Kalifornien) war ein englischer Schriftsteller, Drehbuchautor, Regisseur, Journalist und Dramatiker. Wallace gehört zu den erfolgreichsten englischsprachigen Kriminalschriftstellern.
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Seitenzahl: 209
Philipp Brassard zahlte und blieb am Leben, denn anscheinend hielt der Rote Kreis Wort. Jacques Rizzi, der Bankier, zahlte auch, lebte aber in beständiger Angst und starb einen Monat später am Herzschlag. Eisenbahndirektor Benson, der nichts auf die Drohungen gab, wurde eines Tages tot neben seinem Privatwagen aufgefunden.
Mr. Derrick Yales erstaunlichen Fähigkeiten war es gelungen, den Neger zu fangen, der sich in Bensons Auto eingeschlichen und das Attentat verübt hatte. Der Neger wurde gehängt, ohne seinen Auftraggeber verraten zu haben. Die Polizeibeamten mochten über Yale und seine psychometrischen Kräfte spotten, aber innerhalb achtundvierzig Stunden hatte er sie zum Hause des gedungenen Mörders geführt, und der überrumpelte Verbrecher hatte gestanden.
Nach diesem Vorfall zahlten wohl viele Leute, ohne die Sache der Polizei anzuzeigen; denn während einer langen Zeit brachten die Zeitungen keine Nachrichten über den Roten Kreis.
Aber eines Morgens fand James Beardmore auf dem Frühstückstisch einen Umschlag mit einer Karte, auf der ein roter Kreis aufgedruckt war.
»Du interessierst dich ja für Sensationen, Jack – lies das einmal.«
James Stamford Beardmore warf die Karte seinem Sohne über den Tisch zu und griff nach dem nächsten Brief.
Es handelte sich um eine gewöhnliche Postkarte ohne Adresse. Der rote Kreis reichte bis an die vier Ränder. Er schien mit einem Gummistempel aufgedrückt zu sein, da die Farbe ungleichmäßig verteilt war. In dem Kreis selbst stand in Druckschrift:
»Hunderttausend Pfund sind nur ein kleiner Teil Ihres Vermögens. Zahlen Sie diesen Betrag in Banknoten einem Boten aus, den ich schicken werde. Im Annoncenteil der ›Tribune‹ werden Sie innerhalb vierundzwanzig Stunden die Zeit angeben, die Ihnen paßt. Das ist die letzte Warnung.«
Eine Unterschrift war nicht vorhanden.
»Nun?«
Der alte Jim Beardmore schaute lächelnd zu seinem Sohn hinüber.
»Der Rote Kreis!« rief Jack erschrocken.
Jim Beardmore lachte laut, als er das besorgte Gesicht seines Sohnes sah.
»Ja, der Rote Kreis – ich habe schon vier solche Wische bekommen!«
Jack starrte ihn an.
»Vier?« wiederholte er. »Wohnt deshalb Yale bei uns?«
»Ja.«
»Selbstverständlich weiß ich, daß er ein Detektiv ist; aber ich hatte nicht die geringste Ahnung –«
»Mach dir wegen dieses verfluchten Kreises keine Sorgen«, unterbrach ihn sein Vater ungeduldig. »Ich fürchte mich nicht. Froyant ist in Todesangst, daß er auch noch zu den Leidtragenden gehören wird. Ich würde mich auch nicht darüber wundern; er und ich haben uns in dieser Zeit manchen Feind gemacht.«
Man hätte James Beardmore mit seinem harten, durchfurchten Gesicht und seinem grauen Stoppelbart für den Großvater des hübschen jungen Mannes halten können, der ihm gegenübersaß. Er hatte sein Vermögen unter großen Mühen zusammengetragen und schon zu viel wirklichen Gefahren ins Auge gesehen, um sich durch die Drohung des Roten Kreises beunruhigen zu lassen. Außerdem galt seine Sorge im Augenblick nicht ihm selbst, sondern seinem Sohne.
»Bis jetzt habe ich mich niemals um deine Vergnügungen gekümmert«, begann er, »weil ich weiß, daß du ein vernünftiger Mensch bist. Aber – glaubst du, daß du gerade jetzt klug handelst?«
Jack verstand diese Anspielung sehr gut.
»Du denkst an Miß Drummond?«
Jim Beardmore nickte.
»Sie ist die Sekretärin von Froyant.«
»Gewiß, und dadurch wird sie nicht schlechter. Aber weißt du etwas Näheres über sie?«
Der junge Mann kam etwas in Verlegenheit, aber trotzdem zeigte sich ein entschlossener Ausdruck in seinem Gesicht.
»Ich habe sie gern. Sie ist meine Freundin. Ich habe ihr aber niemals den Hof gemacht, wenn du das meinst, und unsere Freundschaft würde bestimmt bald zu Ende sein, wenn ich das täte.«
Jim nickte. Er hatte alles Nötige gesagt und wandte sich nun wieder seiner Post zu.
»Ach!« Er legte einen Umschlag ungeöffnet nieder. Als er sie kurz durchgesehen hatte, schaute er zu seinem Sohn hinüber. »Traue niemals einem Mann oder einer Frau, bis du das Schlimmste über sie weißt«, sagte er. »Heute besucht mich ein Herr, der zwar zur Gesellschaft gehört, aber ein sehr dunkles Vorleben hat. Trotzdem mache ich Geschäfte mit ihm – denn ich weiß ja das Schlimmste!«
Die Unterhaltung wurde durch den Eintritt ihres Gastes unterbrochen.
»Guten Morgen, Yale – haben Sie gut geschlafen?« fragte der alte Mann. »Jack, klingle nach frischem Kaffee!«
Jack Beardmore war in dem Alter, in dem alles Romantische großen Reiz ausübt, und die Gesellschaft des allergewöhnlichsten Detektivs hätte ihm schon Freude bereitet. Aber Yale besaß ungewöhnliche, fast übernatürliche Begabung. Auch seine äußere Erscheinung, sein feingeschnittenes Gesicht mit den ernsten, geheimnisvollen Augen und die Bewegungen seiner schmalen, ausdrucksvollen Hände zeichneten ihn vor seinen Kollegen aus.
»Ich schlafe niemals«, erwiderte er in guter Laune und faltete seine Serviette auseinander. Er hielt den silbernen Serviettenring einen Augenblick zwischen den Fingern, und James Beardmore beobachtete ihn belustigt.
»Nun?« fragte der alte Mann.
»Wer das zuletzt in der Hand hatte, bekam sehr schlechte Nachrichten – ein naher Verwandter ist schwer erkrankt.«
Beardmore nickte.
»Das Dienstmädchen, das den Tisch deckte, hat heute morgen erfahren, daß ihre Mutter im Sterben liegt.«
Jack war erstaunt.
»Und das haben Sie am Serviettenring gefühlt?« fragte er überrascht. »Wodurch erhalten Sie diese Empfindung, Mr. Yale?«
Der Detektiv schüttelte den Kopf.
»Ich will nicht versuchen, es zu erklären. Ich weiß nur, daß ich ein Gefühl tiefen Kummers hatte, als ich die Serviette aufnahm. Ist das nicht unheimlich?«
»Aber woher wußten Sie das von der Mutter?«
»Ich fühlte es irgendwie«, entgegnete Yale fast gereizt. »Es ist eine gewisse Schlußfolgerung. Haben Sie neue Nachrichten, Mr. Beardmore?«
Als Antwort übergab ihm Jim die Karte, die er am Morgen erhalten hatte.
Yale las die Mitteilung und wog die Karte dann in der Hand.
»Von einem Seemann in den Briefkasten geworfen«, sagte er. »Der Mann ist im Gefängnis gewesen und hat in letzter Zeit viel Geld verloren.«
Jim Beardmore lachte.
»Was ich sicherlich nicht ersetzen werde«, meinte er und stand auf. »Nehmen Sie diese Warnungen ernst?«
»Sogar sehr ernst«, erwiderte Derrick ruhig. »So ernst, daß ich Ihnen raten möchte, dieses Haus nur in meiner Gesellschaft zu verlassen. Der Rote Kreis arbeitet mit ungewöhnlichen Methoden, und es ist für Ihre Erben sicherlich kein Trost zu hören, daß Sie auf irgendeine theatralische Weise umgekommen sind.«
Sein Sohn schaute ihn besorgt an.
»Warum fährst du nicht ins Ausland, Vater?« fragte er.
»Ins Ausland!« fuhr der alte Mann auf. »Vor einer gewöhnlichen Verbrecherbande ausreißen? Ich werde schon dafür sorgen, daß sie zur –!«
Er erwähnte den Bestimmungsort nicht, aber sie konnten ihn erraten.
Jack Beardmore war in tiefe Gedanken versunken, als er an diesem Morgen über die Rasenflächen ging. Unwillkürlich schlug er die Richtung zu dem kleinen Tal ein, das ungefähr eine Meile vom Hause entfernt lag. Dort lief die Hecke, die die Besitzungen der Beardmore und Froyant voneinander trennte.
Bei einer großen Ulme blieb er stehen und schaute sich suchend um. Aber es ließ sich niemand blicken. Zehn Minuten später zwängte er sich durch das Loch in der Hecke, das er gemacht hatte, und ging auf ein kleines Gartenhaus zu. Das junge Mädchen, das sich dort aufhielt, mußte seinen Seufzer der Erleichterung gehört haben, denn sie schaute sich um und stand widerwillig auf.
Sie war außergewöhnlich hübsch, hatte blondes Haar und eine zarte Gesichtsfarbe; aber in ihren Augen leuchtete kein Willkommengruß.
»Guten Morgen«, sagte sie kühl.
»Guten Morgen, Thalia.«
»Es wäre mir lieber, wenn Sie nicht hierherkämen.«
Ihr Wesen war ihm ein Rätsel. Er hatte einmal beobachtet, wie sie einem Hasen nachjagte, und hatte erstaunt dieser lachenden Diana nachgeschaut. Er hatte sie froh und heiter singen hören, aber er hatte sie auch schon niedergedrückt und traurig gesehen.
»Warum sind Sie immer so kalt und abweisend gegen mich?« fragte er verstimmt.
Ein leichtes Lächeln ging über ihr Gesicht.
»Weil ich Bücher gelesen habe«, antwortete sie fast feierlich. »Arme Sekretärinnen, die nicht kalt und abweisend gegen Millionärssöhne sind, nehmen gewöhnlich ein schlechtes Ende. Außerdem wüßte ich nicht, warum ich nicht kalt und abweisend sein sollte. Auf diese Art und Weise tritt man doch seinen Mitmenschen gegenüber, es sei denn, man hat sie gern. Und Sie habe ich nicht gern.«
Sie sprach ruhig und gelassen.
Jacks Gesicht färbte sich dunkelrot. Er kam sich wie ein dummer Junge vor und ärgerte sich, daß er diese zurückweisenden Worte herausgefordert hatte.
»Ich möchte Ihnen etwas sagen, Mr. Beardmore, was Ihnen vielleicht noch nicht eingefallen ist. Wenn ein junger Mann und ein junges Mädchen gemeinsam auf eine Insel verschlagen werden, ist es nur natürlich, daß der junge Mann denkt, das Mädchen wäre die einzige Schöne auf der ganzen Welt. Mit der Zeit wird sie immer wunderbarer in seinen Augen. Ich habe viele Geschichten darüber gelesen und viele Filme gesehen, die dieses interessante Thema behandeln, und ich habe den Eindruck, daß es bei Ihnen ganz ähnlich ist. Sie sind auf einer verlassenen Insel – Sie verbringen zuviel Zeit auf Ihrem Landsitz, und Sie sehen nur Kaninchen, Vögel und Thalia Drummond. Sie sollten in die Stadt gehen und sich mehr unter Menschen Ihrer eigenen Gesellschaftsklasse bewegen.«
Sie nickte ihm zu und wandte sich dann ab, denn sie hatte ihren Chef bemerkt, der nähergekommen und unwillig stehengeblieben war.
»Ich denke, Sie machen die Hausabrechnung, Miß Drummond?« sagte er scharf.
Der hagere Mann mochte Anfang der Fünfziger sein. Er hatte kantige Gesichtszüge und war vorzeitig kahlköpfig geworden.
»Morgen, Beardmore«, begrüßte er den jungen Mann mürrisch und wandte sich dann wieder an seine Sekretärin. »Ich sehe es nicht gern, wenn Sie Ihre Zeit vergeuden, Miß Drummond.«
»Ich vergeude weder Ihre noch meine Zeit, Mr. Froyant«, antwortete sie ruhig. »Ich habe die Abrechnung fertig – hier ist sie!« Sie zeigte auf eine abgetragene Ledertasche, die sie unter dem Arm trug.
»Sie hätten die Arbeit im Haus machen können. Es war wirklich nicht nötig, damit in die Wildnis zu gehen.« Er rieb seine lange Nase und schaute Jack an. »Ich wollte gerade Ihren Vater besuchen, Beardmore. Vielleicht begleiten Sie mich?«
Thalia war schon auf dem Wege zum Hause, und Jack hatte keine Ausrede, noch länger zu bleiben.
»Nehmen Sie ihre Zeit nicht zuviel in Anspruch, Beardmore. Sie haben keine Ahnung, wieviel sie zu tun hat – und ich bin sicher, Ihr Vater sieht es auch nicht gern.«
Jack hatte eine scharfe Antwort auf der Zunge, unterdrückte sie aber.
»Diese Art Mädchen«, begann Mr. Froyant wieder, als sie am Rande der Hecke entlanggingen, »diese Art Mädchen –« er blieb plötzlich stehen. »Zum Teufel, wer ist durch die Hecke gebrochen?« fragte er und wies mit dem Stock auf die Stelle.
»Ich«, erwiderte Jack grimmig. »Übrigens ist es unsere Hecke. Man erspart dadurch eine halbe Meile Weges – wir wollen weitergehen.«
Sie stiegen langsam den Hügel hinauf und hatten die Spitze fast erreicht, als Jack seinen Begleiter plötzlich am Arm packte.
Mr. Froyant drehte sich um, sah, daß Jack Beardmore auf einen Baumstamm starrte, und folgte der Richtung seines Blicks. Seine ungesunde Gesichtsfarbe wurde noch fahler, als er den roten Kreis entdeckte, der auf den Baumstamm gemalt war. Die Farbe schimmerte noch feucht.
Jack Beardmore schaute sich in der Umgebung um, sah aber nur einen Mann mit einem Handkoffer, der sich langsam von ihnen entfernte. Er rief ihn an, und der Fremde wandte sich um.
»Wer sind Sie?« fragte Jack. »Was wollen Sie hier?«
Der große, korpulente Herr war etwas außer Atem gekommen, weil er die Ledertasche tragen mußte.
»Mein Name ist Felix Marl«, erwiderte er. »Vielleicht haben Sie schon von mir gehört? Wenn ich mich nicht irre, sind Sie der junge Mr. Beardmore?«
»Das ist mein Name«, sagte Jack. »Was wünschen Sie?«
»Man erzählte mir, daß ich auf diese Weise den Weg vom Bahnhof abkürzen könnte; aber er ist nicht so kurz, wie man mir versprochen hatte. Ich will zu Ihrem Vater.«
»Sind Sie in der Nähe jenes Baumes gewesen?« fragte Jack.
Marl starrte ihn an.
»Warum sollte ich denn überhaupt in die Nähe eines Baumes gehen?« fragte er herausfordernd. »Ich bin über die Felder gegangen.«
Harvey Froyant trat jetzt zu ihnen.
»Das ist Mr. Marl, ich kenne ihn«, wandte er sich an Jack.
»Was ist denn vorgefallen?« erkundigte sich Marl, als auch Froyant ihn fragte, ob er niemand in der Nähe des Baumes gesehen hätte.
»Nichts«, erwiderte Harvey Froyant scharf.
Jack trug die Tasche des Besuchers, und sie erreichten das Haus bald. Mr. Marl machte keinen guten Eindruck auf ihn. Die Stimme des Mannes klang rauh, und sein Benehmen war gewöhnlich. Jack wunderte sich, was sein Vater mit diesem merkwürdigen Menschen zu tun haben mochte.
Kurz vor dem Hause stieß Mr. Marl plötzlich einen Schrei des Entsetzens aus und sprang zurück. Er war bleich, seine Lippen zuckten, und er zitterte am ganzen Körper.
Jack und Froyant sahen ihn erstaunt an.
»Zum Teufel, was ist mit Ihnen los, Marl?« fragte Froyant wütend. Seine eigenen Nerven waren schon bis zum äußersten angespannt, und er konnte den Anblick dieses erschrockenen Mannes kaum noch ertragen.
»Nichts – nichts«, murmelte Marl heiser. »Ich habe –«
»Wahrscheinlich getrunken«, fuhr ihn Froyant an.
Nachdem Jack den Besucher ins Haus begleitet hatte, suchte er Derrick Yale. Der Detektiv saß in einem großen Rohrstuhl im Gebüsch; sein Kinn hatte sich auf die Brust gesenkt, und seine Arme waren gekreuzt. Als er die Schritte des jungen Mannes hörte, schaute er auf.
»Das kann ich Ihnen nicht sagen«, erklärte er, bevor Jack eine Frage stellen konnte, und lachte dann. »Sie wollten mich doch fragen, was Marl erschreckte.«
»Das war allerdings meine Absicht«, erwiderte Jack verblüfft. »Sie sind wirklich unübertrefflich, Mr. Yale! Ist Ihnen seine unbegreifliche Angst auch aufgefallen?«
Der Detektiv nickte.
»Ich sah ihn, kurz bevor er den Anfall hatte. Man kann von hier aus den Feldweg überblicken.« Er zog die Stirne in Falten. »Er erinnert mich an jemand«, fuhr er dann langsam fort, »und doch könnte ich um keinen Preis sagen, wer er ist. Kommt er öfter hierher? Ihr Vater erwähnte gestern seinen Besuch, deshalb vermutete ich, daß es sich um Mr. Marl handelt.«
Jack schüttelte den Kopf.
»Ich sehe ihn zum erstenmal. Aber ich erinnere mich, daß Vater und Froyant Geschäfte mit einem gewissen Marl hatten – Vater sprach einmal davon. Soviel ich weiß, ist Marl ein Grundstücksspekulant, und Vater interessiert sich augenblicklich sehr für Grundstücke. – Übrigens habe ich das Zeichen des Roten Kreises gesehen«, fügte er hinzu und erzählte dann von seinem Erlebnis.
Yales Interesse an Mr. Marl schwand sofort.
»Es war noch nicht an dem Baum, als ich in das Tal hinunterging«, sagte Jack. »Das kann ich beschwören. Es muß angebracht worden sein, während ich mit – mit einem Freunde sprach. Was bedeutet das nur, Mr. Yale?«
»Viel Verdruß«, erwiderte Yale kurz. Dann stand er auf und ging auf dem mit Fliesen belegten Weg auf und ab. –
Marl war inzwischen bei der Besprechung zwischen Beardmore und Froyant ziemlich überflüssig. Es handelte sich um Grundstückskäufe, und er hatte einen vielversprechenden Vorschlag mitgebracht. Aber er war jetzt nicht in der Lage, Einzelheiten darüber zu geben.
»Ich kann mir nicht helfen«, sagte er und faßte zum vierten Male mit zitternder Hand an die Lippen. »Ich habe heute morgen einen Anfall gehabt.«
»Was war es denn?« fragte Beardmore.
Aber Marl schien keine Aufklärung geben zu können. Er schüttelte nur hilflos den Kopf.
»Ich kann die Sache jetzt nicht in Ruhe durchsprechen. Sie werden es bis morgen verschieben müssen.«
»Glauben Sie vielleicht, ich bin gekommen, um einen solchen Unsinn zu hören?« fuhr Mr. Froyant auf. »Ich will die Geschichte jetzt erledigt haben, und Mr. Beardmore denkt ebenso.«
Jim Beardmore, dem es gleichgültig war, ob die Angelegenheit heute oder morgen zu Ende gebracht wurde, lachte.
»Ich glaube kaum, daß es so wichtig ist«, meinte er. »Warum sollten wir Mr. Marl quälen, wenn er zu aufgeregt ist? Vielleicht bleiben Sie die Nacht über hier, Mr. Marl?«
»Nein, nein, nein!« Die Stimme des Mannes klang beinahe wie ein Aufschrei. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, bleibe ich lieber nicht hier.«
»Wie Sie wünschen«, erwiderte Jim Beardmore und faltete die Papiere zusammen, die er zur Unterschrift vorbereitet hatte.
Das Auto brachte Mr. Marl zur Bahnstation, wo er seinen Koffer bis zur Stadt aufgab. Er selbst stieg aber schon in der nächsten Ortschaft aus, und obwohl er das Gehen haßte, begann er, die neun Meilen, die ihn von dem Beardmoreschen Besitztum trennten, zu Fuß zurückzulegen. Und er benutzte nicht einmal den kürzesten Weg.
Die Dunkelheit brach schon herein, als er an seinem Ziel ankam und sich verstohlen in ein Gebüsch schlich. Er war müde und staubig, aber entschlossen setzte er sich hin und wartete. Sorgfältig prüfte er den schweren Selbstlader, den er aus seinem Koffer genommen hatte.
»Ich weiß nicht, warum Marl heute morgen nicht wiedergekommen ist«, sagte Jim Beardmore unwillig. Er stand mit Jack und Mr. Yale auf der Terrasse, von wo aus sie die Umgebung überschauen konnten.
Der Morgenzug war bereits eingelaufen und weitergefahren. Nur die Rauchfahne war in der Ferne noch zu sehen.
Jim Beardmore rieb sein Kinn.
»Ich will lieber Froyant anrufen und ihm sagen, daß er nicht zu kommen braucht. Marl ist mir ein Rätsel. Ich glaube allerdings, daß er jetzt ein ganz tüchtiger Kerl ist. Früher hat er mit den Gerichten zu tun gehabt – Diebstahl. Hat sich aber gebessert, wenigstens hoffe ich es. Was hat ihn eigentlich gestern so aus der Fassung gebracht, Jack? Er sah wie der leibhaftige Tod aus, als er ins Arbeitszimmer kam.«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung. Vielleicht hat er ein schwaches Herz. Er erzählte nur, daß er ab und zu solche Anfälle hätte.«
Beardmore lachte leise, ging ins Haus und kam mit einem Spazierstock zurück.
»Ich mache einen kleinen Spaziergang. Nein, du brauchst nicht mitzukommen. Ich muß über Verschiedenes nachdenken. Ich verspreche Ihnen, Yale, daß ich das Grundstück nicht verlasse. Aber ich glaube bestimmt, Sie nehmen die Drohungen dieser Raufbolde zu wichtig.«
»Und das Zeichen am Baum?« fragte der Detektiv.
Jim Beardmore brummte verächtlich.
»Es gehört schon mehr dazu, um hunderttausend Pfund aus mir herauszupressen!«
Er winkte mit der Hand zum Abschied, als er die breite Treppe hinunterging und durch den Park schritt.
»Befindet sich mein Vater wirklich in Gefahr?« fragte Jack.
Yale, der dem alten Herrn nachsah, drehte sich plötzlich um.
»In Gefahr?« wiederholte er. »Ja, ich glaube, er ist in den nächsten Tagen sogar in größter Gefahr.«
»Ich hoffe, Sie haben unrecht. Vater scheint die Sache nicht so ernst zu nehmen wie Sie.«
»Weil er noch nicht die nötigen Erfahrungen hat. Wie ich hörte, hat er Inspektor Parr aufgesucht, und Parr ist derselben Meinung wie ich.«
Jack mußte trotz seiner Sorge lachen.
»Wie können Wolf und Schaf zusammenkommen?« fragte er. »Ich dachte nicht, daß das Polizeipräsidium für Leute Ihrer Art viel übrig hat.«
»Ich bewundere Parr«, sagte Derrick langsam. »Er geht nicht schnell, aber gründlich vor. Man hat mir gesagt, er wäre einer der gewissenhaftesten Beamten im Polizeipräsidium. Aber nach dem letzten Verbrechen des Roten Kreises haben ihm die hohen Herren wahrscheinlich ziemlich unverblümt gesagt, er könne sein Entlassungsgesuch einreichen, wenn er die Bande nicht endlich hinter Schloß und Riegel bringe.«
Die Gestalt Mr. Beardmores war inzwischen im Schatten eines kleinen Waldes am Rande des Anwesens verschwunden.
»Ich habe bei der letzten Affäre mit ihm gearbeitet«, fuhr der Detektiv fort. »Es fiel mir auf –«
Plötzlich hielt er inne, und die beiden schauten sich an.
Der Schall war nicht zu verkennen. In dem kleinen Wäldchen war ein Schuß gefallen. Im nächsten Augenblick sprang Jack die Terrasse hinunter und eilte auf das Gehölz zu. Derrick Yale folgte ihm.
Sie fanden Jim Beardmore auf dem Waldweg. Er lag auf dem Gesicht und war tot. Während Jack noch entsetzt auf seinen Vater niederschaute, eilte ein junges Mädchen aus der entgegengesetzten Seite des Waldes. Rasch wischte sie etwas Rotes von ihrer Hand und floh dann im Schutz der Hecke, die Froyants Besitztum begrenzte.
Thalia Drummond sah sich nicht um, bis sie das kleine Landhaus erreicht hatte. Ihr Gesicht war weiß und verzerrt, und ihr Atem kam stoßweise, als sie einen Augenblick in der Tür stehenblieb und nach dem Wald zurücksah. Dann trat sie rasch ins Haus, kniete auf den Fußboden nieder und nahm mit zitternden Händen eins der Bretter heraus. Schnell warf sie den Revolver, den sie in der Hand gehalten hatte, in die Höhlung und schloß das Loch wieder.
Der Kommissar schaute auf den Zeitungsausschnitt und zupfte nervös an seinem Schnurrbart. Inspektor Parr, der diese Anzeichen kannte, beobachtete ihn gespannt.
Parr war ein kleiner, untersetzter Mann. Er war fast fünfzig Jahre alt, hatte aber ein faltenloses Gesicht, das jedoch nicht die geringste Intelligenz verriet. Runde, ausdruckslose Augen, eine große, fleischige Nase, dicke Hängebacken und ein halb kahler Kopf machten es unscheinbar.
Der Kommissar nahm den Ausschnitt in die Hand. »Hören Sie sich das an«, sagte er und las dann den Leitartikel im »Morning Monitor« vor.
»Zum zweitenmal in diesem Jahre werden wir durch die Ermordung eines bekannten Mannes schwer getroffen. Es erübrigt sich, hier Einzelheiten über das neue Verbrechen des Roten Kreises zu geben, da diese an anderer Stelle gefunden werden können. Aber wir müssen mit allem Nachdruck feststellen, daß das Polizeipräsidium dieser Verbrecherbande gegenüber vollständig hilflos zu sein scheint. Inspektor Parr, der sich während des letzten Jahres ausschließlich der Verfolgung dieser Erpresser gewidmet hat, kann uns nichts weiter bieten als unbestimmte Versprechungen über Enthüllungen, die sich niemals verwirklichen. Im Polizeipräsidium müßte man einmal gründlich aussieben. Wir hoffen, daß die Verantwortlichen jetzt nicht mehr zögern, endlich wirksame Maßnahmen zu ergreifen.«
Kommissar Morton schaute auf.
»Nun, was denken Sie davon, Parr?«
Der Inspektor rieb sein großes Kinn und sagte nichts.
»James Beardmore wurde ermordet, obwohl die Polizei rechtzeitig gewarnt worden war«, fuhr Morton nachdenklich fort. »Er wurde dicht bei seinem Hause erschossen, und der Mörder befindet sich auf freiem Fuß. Das ist der zweite faule Fall, Parr, und ich muß Ihnen offen sagen, daß ich die Absicht habe, nach dem Vorschlag dieser Zeitung zu handeln.« Er klopfte auf das Papier. »Das letztemal haben Sie zugelassen, daß Mr. Yale sämtliche Lorbeeren für die Festnahme des Mörders einheimste. Haben Sie ihn schon gesehen?«
Der Detektiv nickte.
»Und was sagt er?«
Parr machte ein verlegenes Gesicht.
»Er hat mir eine Menge Blödsinn von einem Mann mit Zahnschmerzen erzählt.«
»Wie kommt er denn darauf?« fragte der Kommissar schnell.
»Er hat eine Patronenhülse auf dem Boden gefunden. Aber ich will von diesem psychometrischen Zeug nichts wissen –«
Morton lehnte sich zurück und seufzte.
»Ich glaube, Sie wollen von allem, was nützlich ist, nichts wissen. Spotten Sie nicht über Yale. Dieser Mann besitzt wirklich eine ungewöhnliche Begabung, auch wenn Sie es nicht verstehen.«
»Sie wollen doch damit nicht sagen, daß ein Mann nur eine Hülse in die Hand zu nehmen braucht, wenn er das Aussehen und die Gedanken der Person beschreiben will, die zuletzt damit umging?« Parr war von Widerspruchsgeist erfüllt. »Das wäre doch zu albern!«
»Nichts ist albern«, erklärte Morton ruhig. »Man arbeitet schon jahrelang wissenschaftlich mit Psychometrie. Es gibt eben Menschen, die für Eindrücke sehr empfänglich sind und die sonderbarsten Dinge feststellen können. Yale gehört zu ihnen.«
»Er war dort, als der Mord begangen wurde. Er und der junge Beardmore standen keine hundert Schritte entfernt, und doch hat er den Mörder nicht gefangen.«
»Ihnen ist es doch auch nicht gelungen. Vor zwölf Monaten haben Sie mir von Ihrem Plan erzählt, wie Sie den Roten Kreis fassen wollten. Ich glaube, wir haben beide zuviel davon erwartet. Sie müssen etwas anderes versuchen. Ich sage es nicht gern, aber es ist notwendig.«
Parr antwortete eine Weile nicht, dann zog er plötzlich seinen Stuhl näher an den Schreibtisch. Er machte ein ungewöhnlich ernstes Gesicht, und der Kommissar sah ihn erstaunt an.
»Die Rote-Kreis-Bande ist leicht zu fangen«, begann der Inspektor. »Ich schaffe Ihnen jeden einzelnen her, wenn Sie mir Zeit geben. Aber vor allem will ich die Nabe des Rades packen. Wenn ich die habe, sind die Speichen bedeutungslos. Und dazu müssen Sie mir etwas größere Vollmachten als bisher geben.«
»Etwas größere Vollmachten?« fragte der Kommissar verblüfft. »Was soll denn das heißen?«
»Ich will es Ihnen erklären.«
Und er erklärte es so gut, daß der Kommissar nachdenklich und schweigsam zurückblieb, als sich Parr verabschiedet hatte.
Nachdem Inspektor Parr Scotland Yard verlassen hatte, machte er einen Besuch in der Mitte der Stadt.
In einer kleinen Wohnung im dritten Stock erwartete ihn Mr. Derrick Yale.
Einen größeren Unterschied in der Erscheinung zweier Männer hätte man sich kaum vorstellen können: Yale, der überreizte, nervöse und sensible Träumer – Parr in erdenschwerer Massigkeit.
»Nun, wie steht es?« fragte Yale.
»Nicht besonders gut«, erwiderte der Inspektor bedrückt. »Ich glaube, der Kommissar hat etwas gegen mich. Haben Sie schon etwas herausgebracht?«
»Ich habe den Mann mit den Zahnschmerzen gefunden. Sein Name ist Sibly. Er ist ein Seemann, und man hat ihn einen Tag nach dem Mord in der Nähe des Hauses gesehen.« Er nahm ein Telegramm in die Hand. »Gestern wurde er wegen Trunkenheit festgenommen. In seinem Besitz fand man einen Revolver, und meiner Ansicht nach wurde das Verbrechen mit dieser Waffe verübt.«
Parr starrte ihn verwundert an.
»Wie haben Sie das herausgefunden?«
Derrick Yale lachte leise.
»Sie haben ja kein großes Vertrauen zu meinen Schlußfolgerungen. Aber als ich jene Hülse berührte, wußte ich, daß ich den Mann sehen würde. Ich habe einen meiner Leute hingeschickt, um Nachforschungen anzustellen, und das ist das Ergebnis.« Er wies auf das Telegramm.
Auf Parrs Stirne zeigten sich tiefe Falten.
»Man hat ihn also gefangen. Ich möchte nur wissen, ob er das geschrieben hat.«
Er holte ein angebranntes Stückchen Papier aus seiner Brieftasche, und Yale nahm es ihm aus der Hand.
»Wo haben Sie das gefunden?« fragte er.
»Das habe ich gestern aus dem Beardmoreschen Ascheneimer gerettet.«
Die kritzligen, großen Schriftzüge lauteten:
»Sie allein ich allein Block B Schmiergeld.«
»Ich allein – Sie allein«, las Yale. »Block B – Schmiergeld?« Er schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht. Ich kann auch nichts herausfühlen. Feuer zerstört die Aura.«
Parr legte das Blättchen wieder sorgfältig in seine Brieftasche und steckte sie ein.
»Ich möchte Ihnen noch etwas mitteilen«, sagte er. »Es war jemand im Walde, der spitze Schuhe trug und Zigarren rauchte. Ich fand in einer kleinen Höhlung Zigarrenasche, und die Fußabdrücke sah ich auf den Blumenbeeten.«
»In der Nähe des Hauses?« fragte der Detektiv erstaunt.
»Ja. Ich nehme an, daß jemand Beardmore warnen wollte, diesen Brief schrieb und ihn im Hause nach Einbruch der Dunkelheit abgab. Der alte Beardmore muß den Brief bekommen haben, denn er verbrannte ihn.«
Es klopfte leise.
»Jack Beardmore«, sagte Yale halblaut.
Die sorgenvollen Tage, die er durchlebt hatte, waren dem jungen Mann anzusehen. Er nickte Parr zu und streckte Yale die Hand entgegen.
»Ich habe eben Froyant aufgesucht«, erzählte er. »Er ist hier in London. Es war allerdings nicht sehr angenehm, denn er ist vollständig herunter mit den Nerven.«
Derrick Yale berichtete ihm nun von der Verhaftung Siblys.