9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
Police Officer Sofia Perikles und ihr britischer Verlobter sind mitten in den Vorbereitungen ihrer Traumhochzeit auf der Sonneninsel. Da wird im See der größten Kupfermine Zyperns die Leiche eines jungen Mannes gefunden. Ist er ein Opfer illegaler Geschäfte? Was kann der Mann aus dem türkischen Norden der Insel in den finsteren Schächten gesucht haben? Die Ermittlungen führen Sofia und ihren knurrigen Kollegen Kostas vom Troodos-Gebirge an die Sandstrände von Limassol – und in die düstere Vergangenheit Zyperns: Ins Jahr 1974 nämlich, als infolge der türkischen Besetzung dutzende griechisch-orthodoxe Kirchen geplündert wurden und millionenschwere Kunstwerke und Ikonen spurlos verschwanden. Von den glänzenden Fassaden der Kunsthändler lässt sich Sofias Scharfblick nicht blenden, aber wird es ihr gelingen, Licht ins Dunkel zu bringen, bevor es weitere Opfer gibt?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 309
Yanis Kostas
Der Schatz von Bellapais
Ein neuer Fall für Sofia Perikles
Zypern-Krimi
Atlantik
Für Ulrike
Für ein freies Zypern
Für Frieden auf der schönsten Insel der Welt
Sofia Perikles konnte nicht anders, als immerfort den Kopf zu schütteln. Sie sah an sich herab. Ihre nackten Füße im weißen Sand, die abgeschnittene Jeans, aus der ihre dunkelbraunen Beine schauten, und immer wieder fielen ihr Strähnen ihrer blonden Haare ins Gesicht, die sie umständlich mit ihrem linken Arm wegstrich, den rechten konnte sie immer noch nicht bewegen, weil er so dick verbunden war und außerdem tierisch schmerzte. An diesem Tag. Ausgerechnet.
Es war ganz anders, als sie es sich ausgemalt hatte.
Und sie hatte sich diesen Tag beileibe oft ausgemalt. Nun sah sie aus wie ein zerrupfter Wischmopp. Dazu war ihr so heiß, dass sie zerfloss, und zwar nicht vor Aufregung, sondern weil die Sonne unerbittlich vom Himmel brannte. Klar, die Westküste der Insel bekam immer die meisten Sonnenstunden ab, vor allem die Akamas-Halbinsel, Lara-Beach, der wohl idyllischste Strand, den es gab. Er wurde nur von vereinzelten Felsen und wilden Sträuchern wie der hier überall vorkommenden Macchie flankiert – eine Sichelbucht, auf deren türkisblauem Wasser zarte weiße Schaumkronen tanzten, Zeugen der besonderen Strömung, die das Wasser hier so stark wärmte, wie Sofia es von keinem anderen Ort kannte.
Weit und breit war sonst kein Mensch zu sehen. Kein Urlauber, kein Zypriot. Lara Beach war nur mit dem Geländewagen zu erreichen – oder zu Fuß, wenn man sehr viel Ausdauer hatte, sodass sich nur Eingeweihte hierher verirrten. Es war einer ihrer liebsten Orte auf dieser Insel, ein Kleinod unberührter Natur. Es war die Welt der grünen Meeresschildkröten, die in den Sommermonaten hier nisteten und ihre Eier legten, aus denen zwei, drei Monate später in einer Mondnacht die Jungen schlüpften und ihren ersten Weg ins Meer antraten.
Sie besann sich und ging die wenigen Schritte nach vorne zum Meer, kramte in ihren Gedanken. Etwas hatte sie eben stutzig gemacht: die Hitze. Sie hatte gedacht, dass sie nicht vor Aufregung schwitzte, sondern wegen der Hitze. Warum bloß? Warum war sie nicht aufgeregt, wo war dieses unangenehm heiße Gefühl, das sie bisher immer verspürt hatte, wenn das Leben ihr eine zu große Aufgabe vorgesetzt hatte? Warum war sie ganz ruhig und bei sich – nur mit diesem Kribbeln im Bauch, dass es sich anfühlte, als könnte sie schweben? Fliegen gar …
Sie sah auf und wusste, warum. Weil die Hand sie immer noch hielt, sie den ganzen Weg bis hierher gehalten hatte und nicht losließ. Seine Hand.
Bis sie zusammen dort unten standen, an der Wasserkante, den Blick aufs Meer gerichtet, neben ihnen rechts und links nur wenige Gäste; ihre Eltern waren aus Armenien gekommen und seine Familie, ein paar mehr Leute, zugegeben.
Der griechisch-orthodoxe Priester, der ganz anders aussah als in ihrem Traum, ein junger Mann mit dunklem Haar, der freundlich lächelte, sagte laut und klar: »Wir sind heute hier zusammengekommen …«
Fünf Tage vorher
Draußen rauschte der Verkehr auf der Makarios Avenue vorbei, die Motorroller knatterten laut. Und hier drinnen stand Sofia auf einem Podest, an der Decke war das indirekte Licht so angebracht, dass es nur sie war, die strahlte – sozusagen am Ziel ihrer Träume.
An der Decke des Geschäfts hingen zwei weiße Kronleuchter, die Tapeten waren aus einem goldenen Brokatverschnitt, und doch wirkte alles so provisorisch, als könne die Inhaberin es in zwei Stunden zusammenpacken, um aus dem Brautmodengeschäft einen Souvlaki-Grill zu machen.
Aber noch war der Laden, was er war – und insgesamt drei Bräute in weißen Kleidern schienen über allem zu schweben. Die beiden Schaufensterpuppen, deren Kleider so ausladend waren, dass sie aussahen wie die Debütantinnen beim Wiener Opernball – und Sofia, die in einem ganz ähnlichen Kleid aus rosafarbenem Damast mit einer langen strassbesetzten Schleppe auf dieser Empore stand.
Ihre Mutter saß zu ihren Füßen, sie hatte schon kurz nach Betreten des Geschäfts begonnen, ihre Jahresreserve an Taschentüchern vollzuweinen und sich vom angebotenen Schaumwein selbsttätig nachzuschenken. Sie hatte noch kein Wort gesagt, nickte nur immerzu, trank und schluchzte abwechselnd, Sofia hätte wahrscheinlich auch einen Kartoffelsack anprobieren können, es hätte keinen Unterschied gemacht. Ihre Mutter trug ein schlichtes schwarzes Kleid und sah der Zeremonie zu, als wohne sie einem Wunder bei.
Ganz im Gegensatz dazu stand die andere Frau, die wie eine angestochene Tarantel durch den Raum jagte, Sofia im Zehnsekundentakt umrundete und nicht aufhörte, abwechselnd an Schleppe und Kleid herumzuzuppeln. Sie trug ein goldfarbenes Kostüm, dessen oberster Knopf von ihrem ausladenden Busen malträtiert wurde. Schon beim Betreten des Geschäfts hatte sie die überaus freundliche Inhaberin auf die stille Treppe bugsiert und die Auswahl der Kleider an sich gerissen. Deshalb stand Sofia nun in diesem Traum von einem Bonbon in der Mitte des Raumes und fühlte sich wie die Giraffen, die im Zoo von Paphos mit Blättern gefüttert wurden.
Die wilde Dame war Carls Mutter, Mrs Martha Evans, die gefürchtete Queen der Londoner High Society, die in ihrem Leben exakt keinen Tag gearbeitet hatte, dafür aber mit ihren unzähligen Clubmitgliedschaften, Benefizaktionen und Tea-and-Scones-Kränzchen beinahe im Alleingang das Vermögen der Familie durchbrachte.
Sie hatte auch den Brautladen für den heutigen Tag ausgewählt, indem sie in der britischen Botschaft angerufen hatte, um sich beim Botschafter persönlich nach dem besten Geschäft zu erkundigen. Allerdings war der Botschafter ein sechzigjähriger Schwuler, der einem Brautgeschäft in seinem Leben so nah gekommen war wie dem Giraffenhaus im Zoo von Paphos, und so standen sie nun in diesem Laden inmitten der Innenstadt von Limassol, der Constantina Wedding Dress hieß – ausgerechnet Constantina –, es war ihr, als hätte Adonis’ Gattin gleichen Namens ihr Kleid genäht.
»Dreh dich doch mal, Darling«, rief Martha immer wieder, und obwohl sich Sofia der Aufforderung verweigerte, weil ihre Schwiegermutter in spe sie längst vollständig umrundet hatte, fügte sie an: »Wunderbar, ganz wunderbar. So können wir dann auch die Tische in Rosa eindecken, und dann bestelle ich den passenden Blumenschmuck, und es wird ganz großartig, amazing.«
»Liebe Martha«, begann Sofia, doch Martha unterbrach sie sofort: »Sag jetzt nichts, Kindchen, ich weiß, es ist ein teures Kleid, aber ich werde es übernehmen. Wirklich. Kein Problem. Du weißt doch: Für dich ist mir nichts zu teuer. Und ihr Zyprioten mit dieser Wirtschaftskrise, wir kriegen die Hochzeit doch hier fast geschenkt. Stell dir vor, wir hätten sie in den Cotswolds organisieren müssen, herrje, da wäre Carl aber arm in die Ehe gegangen.«
Ihr hohes Lachen klang durch den Raum, und Sofia machte sich ernsthaft Sorgen um die Kronleuchter.
»Ähm, Sofia, Schätzchen«, sagte ihre Mutter leise, und ihre Tochter fragte sich, ob sie schon einen leichten Schwips hörte – andererseits: Das halbe Jahr in Eriwan hatte ihre Eltern in Sachen Alkoholkonsum bestens abgehärtet. »Es ist ganz und gar formidable«, fuhr sie mit überraschend fester Stimme fort. In ihrer Zeit als Botschaftergattin in Paris hatte sie sich einige französische Ausdrücke angewöhnt, die sie fortwährend in ihre englischen oder griechischen Sätze einstreute, »und doch würde ich noch eines anprobieren – jetzt, wo wir schon mal hier sind und das Ganze ein großer Spaß ist.« Sie zwinkerte ihrer Tochter zu, und die verstand. Ihre Mutter war genial. Sie hatte gemerkt, wie schrecklich Sofia diese Bonbonrobe fand, und hatte zugleich der nervigen Mrs Evans ein Kompliment für ihre Anprobe gemacht – das war mal wieder gelebte Diplomatie.
»Eine phantastische Idee, meine Liebe«, rief Martha Evans und winkte sofort die Inhaberin herbei, die dienstbeflissen herbeilief.
»Ein anderes Kleid, nun los doch!«, fauchte Martha, und Sofia kletterte umständlich von ihrem Podest, weil das Kleid sich irgendwie verhakt hatte und sie mit dem dicken Reifrock an einer Kante festhing.
»Bitte, kommen Sie«, bat die Inhaberin und führte Sofia wieder in die heiße und stickige Umkleidekabine. »Sie haben aber eine reizende Schwiegermutter«, sagte sie in umständlichem Englisch.
»Wir können gerne griechisch sprechen«, sagte Sofia schnell, »und Sie können mir auch die Wahrheit über meine künftige Schwiegermutter sagen, denn die spricht nur Englisch – und: Ja, sie ist wirklich reizend überdreht.«
Sofort zwinkerte ihr die Inhaberin verschwörerisch zu und lachte: »Na, da bin ich aber froh. Aber hier auf Zypern sagt man: Je schlimmer die Schwiegermutter, desto besser der Ehemann. Von daher dürfen Sie sich freuen«, sie machte eine Geste zum Himmel, »Ihr Zukünftiger muss ja ein Engel auf Erden sein.«
»Das ist er«, sagte Sofia und dachte an Carl, an seine Eleganz, sein gutes Aussehen und seinen Erfolg. Den anderen Gedanken, der sie gleich darauf ereilte, verdrängte sie schnell wieder.
»Also, ich hatte vorhin gar keine Zeit, mich vorzustellen, mein Name ist Constantina – wie der Laden. Und jetzt sagen Sie mir doch mal, was für ein Kleid Sie wollen – dann hole ich es sofort, und Sie müssen nicht wie eine aufgeplusterte Rose zu Ihrer Hochzeit gehen, einverstanden?«
Sofia war gleich Feuer und Flamme – vielleicht würde das hier ja doch noch eine traumhafte Anprobe werden. Sie zog ihr Handy aus der Tasche und suchte in ihrer Galerie nach dem Foto, das sie extra vorbereitet hatte.
»Hier, sehen Sie?« Die Verkäuferin nickte und lächelte.
»Zu mir kommen viele und zeigen mir Prinzessinnen mit ihren Hochzeitskleidern. Sagen wir, es ist nur in den seltensten Fällen möglich. Aber in Ihrem Fall – warten Sie, ich habe da schon eines im Sinn. Wollen Sie zwischendurch ein Glas Champagner? Den gibt es nur für die Braut …«
Sofia nickte, und schon war die Frau verschwunden, kam gleich darauf mit einem Kelch wieder und reichte ihn ihr. Dann schloss sie den Vorhang und eilte davon. Sofia war allein. Sie prostete sich selbst zu und atmete tief durch. Sollte es wirklich wahr werden? Das alles?
Carl Evans. Einer der begehrtesten Junggesellen Englands. Sie hatte ihn in einem angesagten Club in Shoreditch kennengelernt, als sie am Londoner King’s College ihr Politikstudium zu Innerer Sicherheit und Terrorabwehr absolviert hatte. Der junge Mann mit dem leicht geöffneten weißen Hemd und der teuren Armbanduhr war ihr gleich aufgefallen. Er hatte sie den ganzen Abend von der Bar aus angelächelt. Irgendwann war sie es gewesen, die den ersten Schritt gemacht hatte. Es folgten Dates in angesagten Restaurants, für die Normalsterbliche ein Jahr im Voraus ihren Tisch reservieren mussten – Carl Evans aber hatte immer am selben Abend Erfolg. Das wiederum war sicher ein Erfolg, der von der londonweiten Furcht der Restaurantbesitzer vor seiner Mutter Martha herrührte.
Er hatte jedes Mal heftig um Sofia geworben, doch sie hatte ihn zappeln lassen. Zwei Wochen später hatte er sie in einem alten Aston Martin, dem Wagen seines Vaters, wie sie später herausfand, nach Cornwall eingeladen, dort hatten sie in einem schicken Hotel am Strand zum ersten Mal die Nacht miteinander verbracht. Hinterher war beiden klar, dass sie nun ein Paar waren. Anderthalb Jahre ging das so, bis Sofia ihr Studium beendet hatte und dem Ruf ihres Vaters gefolgt war, der ihr vorgeschlagen hatte, sich für eine hohe Position im zypriotischen Innenministerium zu bewerben. Die Rückkehr auf die Sonneninsel kam Sofia gerade recht, weil sie die Nase voll hatte vom britischen Dauerregen, von fettig gebackenem Fisch und von allzu steifen Manieren. Von Carl aber hatte sie die Nase nicht voll, auch wenn sie nicht wusste, ob es klappen würde mit einer Fernbeziehung. Aber ihr Liebster hatte sich zwischenzeitlich so in sein neugegründetes Start-up gestürzt, dass ihm ohnehin nur wenig Zeit blieb für seine Beziehung. So flog sie ohne allzu große Skrupel auf ihre Heimatinsel – ohne zu ahnen, dass damit das größte Abenteuer ihres Lebens beginnen würde.
Sie erinnerte sich schmerzhaft an die Ankunft auf dem sonnendurchfluteten Airport von Larnaka. An die E-Mail, die sie auf ihrem Handy vorfand – und die alle Gewissheiten der Sofia Perikles von jetzt auf gleich durcheinanderwirbelte. Trotz ihres Studiums hatte sie nämlich der heimischen Politik keine rechte Beachtung geschenkt. Doch bei den Parlamentswahlen hatten sich statt der Konservativen die Kommunisten durchgesetzt. Das betraf zuerst mal ihren zutiefst konservativen Vater, der auf dem Ticket seiner Partei eine beeindruckende Diplomatenkarriere hingelegt hatte – aber nun wurde er von den verhassten Kommunisten vom glamourösen Paris ins abenteuerliche Eriwan geschickt, der Hauptstadt Armeniens. Doch all die alten Feinde ihres Vaters machten auch vor Sofias Karriereplanung nicht halt – auf Zypern galt noch Sippenhaft. So fand sie sich auf Geheiß des neuen Innenministers nicht in einem klimatisierten Büro in der Hauptstadt Nikosia wieder, sondern sprichwörtlich am Ende der Welt: als Junior Officer der Dorfpolizei von Kato Koutrafas. Einem Kaff, das an einer staubigen Landstraße im Inselinnern lag, kurz vor der Pufferzone und damit kurz vor der Grenze in den türkisch besetzten Norden, der für die richtigen Zyprioten nicht mal existierte. Gleich ihr allererster Fall am Ende der Welt brachte Sofia nicht nur in echte Lebensgefahr. Er brachte sie auch um ihren Schlaf und um jegliche Freizeit. Als sie sich drei Tage am Stück nicht meldete, wurde der sonst so arbeitsame Carl auf einmal rasend eifersüchtig, setzte sich ins Flugzeug nach Zypern und stand auf einmal vor seiner ahnungslosen Freundin, um mit ihr gemeinsam der Lösung des kniffligen Falles beizuwohnen – und dabei selbst fast draufzugehen. Herrgott, wenn sie jetzt daran dachte, klang das alles wie ein atemberaubender Kinofilm.
Doch das Happy End sollte erst noch kommen: Eine Woche nach der Festnahme der Täter trafen sich alle – Polizisten, Angehörige, Zeugen – zu einem feierlichen Abendessen am Strand von Pissouri. Und plötzlich kniete Carl Evans im Sand nieder und machte ihr, Sofia Perikles, den Antrag. Was dann kam … Sofia schüttelte den Kopf und kniff schnell die Augen zu, als könne das helfen, die Bilder dieses Moments zu verscheuchen.
Doch nun war es so weit: In neun Tagen würden sie heiraten. Dass sie ewig kein Kleid ausgesucht hatte, schob Sofia darauf, dass sie auf ihre Mutter und – gottlob – auch ihre Schwiegermutter warten wollte, die erst für die Hochzeitsvorbereitungen auf die Insel kamen. Seit einer Woche waren sie nun im Vollstress und hatten den Besitzer der Hochzeitslocation schon nah an die Einweisung in eine Psychiatrie gebracht – Martha Evans wollte auch noch die kleinste Blütendekoration besprechen.
Während die Trauung in der kleinen anglikanischen Kirche Saint Barnabas in Limassol stattfinden sollte, hatte die Familie Evans für die Feierlichkeiten deutlich größere Geschütze aufgefahren. Sie konnte gar nicht glauben, was für eine Location Carls Eltern gebucht hatten – und doch war Sofia auch ein wenig stolz auf das ganze Tamtam. Schließlich galt all das ihr – natürlich nur, wenn man die Geltungssucht der Schwiegermutter außer Acht ließ.
Doch sie hatte sich längst entschieden, dass dieser große Tag ihrem künftigen Mann und ihr gehören würde, ihnen beiden ganz alleine – dass er ohnehin nur sie ansehen würde, wäre ausgemacht, wenn er sie in dem Kleid sehen würde, das ihr vorschwebte. Auf dem Handy hatte sie der Verkäuferin vorhin ein Foto einer royalen Hochzeit gezeigt, so wie sie, seit ihrer Kindheit, jede Prominentenhochzeit einzig wegen der Kleider verfolgt hatte. Doch für sich selbst hatte sie nicht etwa jenes strenge und klassische Givenchy-Kleid von Meghan Markle ausgewählt, sondern jenes, das die frischgebackene Prinzessin am Abend der Feier getragen hatte, diesen schmal geschnittenen Neckholder-Traum von Stella McCartney.
Eigentlich hatte sie, Sofia, sich in ihren Träumen immer an der Seite von Prinz Harry gesehen, aber so konnte sie sich ihrem Traummann zumindest bei der Hochzeit nah fühlen. So ein Kleid brauchte sie – auch wenn nicht klar war, ob sie hier auf dieser Insel auch nur annähernd so etwas Schönes zustande brächten.
Der Vorhang öffnete sich unvermittelt, und die Verkäuferin trat ein – ihr verschwörerischer Blick sagte Sofia, dass sie in ihr nunmehr eine Komplizin hatte. Sie reichte ihr auf einem Bügel das schneeweiße Kleid, und als die junge Polizistin es erblickte, korrigierte Sofia sich: Constantina war nicht nur ihre Komplizin, sie war ab sofort ihre Freundin. Ihre beste Freundin.
»Ich helfe Ihnen, kommen Sie.«
Sie befreite Sofia von dem rosafarbenen Desaster und half ihr in das neue Kleid. Sofia zog es über den Kopf, und die Inhaberin musste nichts weiter tun, als den Reißverschluss auf der Rückseite zu schließen. Der Blick der beiden fiel in den Spiegel, weil die Umkleidekabine zu klein war, um ein Gesamtbild zu bekommen – und dann: war Stille. Atemlose Stille. Sie beide schauten sprachlos Sofia an, die in diesem Moment wahrhaftig zu einer Prinzessin geworden war.
»Unglaublich«, sagte Constantina die Zweite, »das passiert so gut wie nie. Ich muss nicht mal eine Stecknadel einsetzen, um irgendwas zu verändern. Das passt dir wie angegossen.« Sie war, ohne zu zögern, ins Du umgeschwenkt, Sofia bemerkte es nur am Rande.
»Los, gehen wir hinaus«, sagte Constantina und zog schon den Vorhang auf, Sofia trat noch in dem Nebenraum auf den kleinen Laufsteg und ging gemessenen Schrittes und voller Aufregung in den Hauptraum, es war so leise, dass sie die nicht vorhandene Stecknadel im Kleid hätte hören können.
Sie ging bis an den Rand des Podests, dann drehte sie sich einmal um die eigene Achse, und erst dann – weil sie bisher den Blick gehoben hatte – sah sie ihre Mutter, der der Mund offen stehen geblieben war, und in ihren Augen lag alles: Stolz, Rührung, Unglauben, oder vielmehr Glauben an eine höhere Kraft, die ihr dieses Wunder hier präsentierte. Die Tränen folgten gleich darauf, und sie griff schnell nach den Taschentüchern, ein tiefes Lächeln auf dem Gesicht.
Sofia drehte sich noch einmal, sodass sie sich selbst in der riesigen Spiegelwand sehen konnte, und sie fasste es immer noch nicht: Sie hatte sich noch nie so gut, so glamourös, aber auch so bei sich gefühlt.
Das schneeweiße Kleid schmiegte sich an sie wie eine zweite Haut, es fuhr ihre Körperlinie entlang, saß perfekt am Bauch und glitt dann lang und glatt ihre Beine entlang. Ja, sie sah aus wie eine Prinzessin, aber eben nicht mehr – wie früher als Kind erträumt – wie eine Märchenprinzessin, sondern wie eine selbstbewusste, tatkräftige, zupackende Prinzessin, die mitten im Leben stand – so wie sie heute gesehen werden wollte und sich an guten Tagen auch selber sah.
Sie hatte beim Anblick der Braut Sofia im Spiegel ganz vergessen, wo sie sich befand, bis sie das bekannte Räuspern hörte, Marthas Räuspern. Ihre Schwiegermutter, die in den letzten Sekunden auch stumm geblieben war, ob vor Neid oder Rührung war nicht auszumachen, jedenfalls ruderte sie nun mit den Armen in der Luft, als müsse sie eine Mücke verscheuchen, dann sagte sie mit brüchiger Stimme: »Na, das ist ja auch ganz hübsch, obwohl mein Favorit das andere …«, doch dann fing sie den Blick der anderen drei Frauen im Raum auf und sagte leise: »Nun, dieses hier ist mein Favorit, gut, packen Sie es ein, es muss ja nichts dran gemacht werden, na ja, vielleicht ist es ein wenig eng am Bauch …«
Sofia konnte nicht sagen, ob es erst in diesem Moment passierte oder ob sich die unangenehme Wärme schon vorher verbreitet hatte, Sekunden oder gar Minuten vorher. Sie spürte nur, wie das Bändchen um ihren Nacken immer enger wurde und der Reißverschluss an ihrem Rücken zerrte und der Stoff am Bauch ihr den Atem nahm. Sie sah, wie sich das Gesicht ihrer Mutter zu einer sorgenvollen Miene verzog, sie sah Martha Evans vor sich, die auf sie zueilen wollte, um wieder an ihr herumzuzuppeln, und irgendwie war sie in diesem Moment wieder am Strand, kurz nach dem Antrag, denn sie sah sein Gesicht, sein schönes, freundliches, liebevolles Gesicht – und gerade, als sie versuchte, sich irgendwie den Reißverschluss zu öffnen, weil sie keine Luft mehr bekam, stöhnte sie noch kurz auf: »Lasst mich raus hier, raus hier …«, und dann schwanden Sofia Perikles die Sinne.
Der Schleier lüftete sich nur langsam, als Sofia erwachte. Sie musste erst mal aktiv den Blick scharf stellen, um sich zu besinnen, doch bevor sie überhaupt etwas sah, hörte sie Marthas spitze Stimme.
»Das ist doch jetzt schon das zweite Mal in wenigen Wochen. Herrgott, das Kind muss mehr essen. Es hilft ihr ja nichts, das Kleid noch eine Größe kleiner nehmen zu können, wenn sie dann kurz vorm Jawort umkippt.«
»Ich glaube, sie kommt langsam zu sich«, sagte eine andere weibliche Stimme, und Sofia erkannte Constantina, die zu ihren Füßen hockte, die auf einem grau bezogenen Hocker lagen. Sie selbst lag auf dem Fußboden. Sie wendete langsam den Kopf und blickte in das besorgte Gesicht ihrer Mutter.
»Geht es wieder, mein Liebling?«, fragte sie leise und beugte sich hinab, um ihr über die Haare zu streichen.
»Es ist einfach zu heiß«, bemühte sich Sofia zu sagen, doch die Worte kamen so zäh aus ihrem Mund, als würde sie drei Kaugummis gleichzeitig kauen.
»Zu heiß, hach, ich muss doch noch mal mit Carl reden, dieses Mädchen hat einfach eine schlechte Konstitution«, zischte Martha, und Sofia richtete sich mühsam auf.
»Hallo, ich bin hier«, sagte sie wütend.
»Mach langsam, chérie«, sagte ihre Mutter, »die Ambulanz kommt gleich.«
»Was? Wieso das denn?«, fragte sie mit weit aufgerissenen Augen.
»Na, es war ja schon das zweite Mal innerhalb kurzer Zeit, dass du umkippst«, sagte ihre Mutter, »und da hat Martha eben den Notruf gewählt, ich konnte sie nicht davon abhalten.«
»Ach, das ist doch nicht nötig, ich habe nur …«, sie stützte sich mit den Händen ab, und Constantina half ihr, sich aufzurichten. Immer noch trug sie ihr Hochzeitskleid, doch jemand hatte den Neckholder gelöst, sodass sie wieder besser Luft bekam. Irgendwas in diesem Traumkleid hatte ihr die Luft abgeschnürt, sie konnte nur nicht sagen, was es war. In der Ferne erklangen Sirenen.
»So, meine liebe Sofia«, sagte Martha, »du lässt dich jetzt mal gründlich durchchecken, und wir organisieren den Rest. Mach dir keine Sorgen, es läuft ohnehin schneller, wenn wir nicht ständig auf deine Entscheidungen warten müssen. Und du siehst zu, dass du bei der Hochzeit nicht wieder umfällst, das ist jetzt das Wichtigste.« Sie schloss die Augen und schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen. »Nicht auszudenken, was das für ein Skandal wäre.«
Sofias Mutter rollte mit den Augen, und Sofia selbst wäre Martha gerne an die Gurgel gegangen, aber irgendwie fühlte sie, dass sie noch zu schwach war für eine starke Geste des Widerstands.
Die Klänge der Sirenen kamen näher, das scharfe Heulen durchfuhr den Sommertag. Doch es war nicht einer dieser gelben Rettungswagen mit blauen Rundumleuchten, der vor dem Hochzeitsausstatter auf der belebten Makarios Avenue hielt. Nein, Sofias Überraschung hätte nicht größer sein können, als sie den Vauxhall Corsa sah, mit der abgeplatzten blauen Schrift auf weißem Grund und der winzigen blauen Leuchte auf dem Dach. Police stand auf dem klapprigen Kleinwagen, der ihr wunderbar bekannt vorkam. Als sich die Tür öffnete und hinter dem Steuer eine schmale Gestalt zum Vorschein kam, musste sie lächeln.
»Ist das nicht …?«, fragte ihre Mutter, doch dann riss er schon die Tür des Ladens auf, und die warme Luft drang herein. Ganz entgegen seiner Gewohnheit trug er seine Uniformjacke und dazu ein sauberes weißes Hemd. Die Dienstwaffe der zypriotischen Polizei baumelte an seiner dunkelblauen Hose. Als er Sofia sah, verzog er das Gesicht, so als sei er erschrocken, doch als er dann sprach, ließ er sich nichts anmerken.
»Endlich finde ich dich, Tausendschön. Das ist der verdammte dritte Brautladen, bei dem ich’s versuche, ich kann keine weißen Kleider mehr sehen. Aber Lady Gladstone hatte vergessen, in welchen du gehen wolltest.«
»Aber Kostas«, sagte Sofia, der die Überraschung immer noch ins Gesicht geschrieben stand. Sie strich ihr Kleid glatt, irgendwie war ihr nicht wohl damit, in diesem Aufzug vor ihm zu stehen. Was für eine merkwürdige Situation. »Was machst du denn hier?«
»Na, was wohl? Wir haben einen Einsatz. Meine Damen, Sie müssen verzeihen, aber der Dienst geht vor. Ist ja auch noch etwas Zeit bis zum großen Tag. Los, auf geht’s, Tausendschön.«
»Du willst jetzt einfach hier rausmarschieren, Sofia?«, fragte Martha, »wir haben uns alle Zeit genommen …«
»Du hast ihn doch gehört, meine Teure«, sagte ihre Mutter mit fester Stimme. »Außerdem wäre Sofia doch ansonsten eh ins Krankenhaus gefahren. Und ich glaube, sie hat sich ohnehin längst entschieden.«
In diesem Moment bremste der Rettungswagen mit quietschenden Reifen vor dem Brautmodengeschäft, und zwei Sanitäter sprangen heraus, öffneten die hinteren Türen und kamen mit einer Trage ins Geschäft gerannt.
»Ambulanz von Limassol!«, rief der eine. »Wo ist denn …?«
Wie angewurzelt blieben sie vor der merkwürdigen Versammlung stehen.
»Sorry, Jungs, der Einsatz hat sich schon erledigt, der Patientin geht es wieder gut«, sagte Sofia schulterzuckend. Der Ältere der beiden sah sie in ihrem weißen Kleid, eben im Begriff, mit Kostas das Geschäft zu verlassen, fragend an. »Wo ist denn die Patientin?«, beharrte er und ließ die Trage langsam sinken, »wir müssen uns doch vergewissern.«
»Na, hier«, gab Sofia zurück. »Und jetzt bin ich im Einsatz.«
»Ihr Ernst?«
»Leider ja. Aber danke, dass Sie so schnell hier waren.«
»Sofia, wir müssen«, drängelte Kostas. »Deine Uniform ist im Wagen. Kannst dich dort umziehen, ich guck auch weg.«
»Constantina«, sagte Sofia schnell, »kann ich das Kleid …«
»Natürlich, meine Liebe. Es ist deins. Und da wir nichts mehr umnähen müssen … viel Glück Ihnen beiden!«
Und damit raste Sofia hinter ihrem Chef her, der prompt den Laden verließ und um den Wagen herumging.
Sie stieg auf der Beifahrerseite ein, schlug die Tür zu, und Kostas wendete sofort, sodass sie im Geschäft noch die fassungslosen Blicke der beiden Sanitäter sah – und den offenen Mund ihrer Schwiegermutter. Doch am meisten freute sie der Stolz auf dem Gesicht ihrer Mutter.
»Schnall dich an, Tausendschön. Da, wo wir jetzt hinfahren, kommt jeder Rettungswagen zu spät.«
»Wohin fahren wir?«, fragte Sofia, als sie die nördlichen Wohngebiete von Limassol hinter sich ließen und die Autobahn 1 unterquerten, um dann die kurvige B8 in Richtung Alassa zu nehmen. Vor ihnen lagen die ersten Ausläufer des Troodos-Gebirges als dunkle Schatten unter dem blauen Himmel. Kostas fuhr wie ein Besengter, nahm jede Kurve mit quietschenden Reifen, die die altersschwache Sirene mühelos übertönten. »Und warum fährst du ausgerechnet mit dieser Karre? Was ist mit deinem Auto?« Eigentlich mied der Chief Inspector den mickrigen Dienstwagen der zypriotischen Polizei wie der Teufel das Weihwasser. Er fuhr lieber mit seinem privaten Pick-up durch die Gegend, der vollgepackt war mit Jagdwaffen, Angelzeug und Tausenden von Hundehaaren, wobei ihn Sofia noch nie mit einem Hund gesehen hatte.
»Kleine Panne heute Morgen, war wohl zu heiß für den Kühler. Ich war gerade in Nikosia, als der Anruf kam, und da dachte ich, ich hole dich vorher ab. Vier Augen sehen schließlich mehr als zwei – selbst wenn die zusätzlichen Augen deine sind.«
Immer weiter ging es hinauf in die Berge, die Vegetation wurde immer karger. In der Ferne ragte der Olympos auf, mit 1952 Metern der höchste Berg der Insel.
»Du solltest dich wirklich noch umziehen. Das schöne Kleid. Wir fahren nämlich nach Skouriotissa.«
Er sprach den Namen aus, als müsse Sofia daraufhin zusammenzucken. Doch sie blickte ihn einfach an, weil sie immer noch darauf wartete, dass er weitersprach. Ja, sie hatte den Namen schon einmal gehört, aber sie kam nicht drauf, in welchem Zusammenhang.
»Kostas, ich weiß ja, dass du nicht viel Erfahrung im Umgang mit Menschen hast«, sagte sie und versuchte, sich ihre Ungeduld nicht anmerken zu lassen, »aber jetzt, wo ich deine Partnerin bin, bitte ich dich, mir einfach alles so zu erklären, dass auch eine total unerfahrene Polizeianfängerin dich versteht.«
Der Chief Inspector murrte. »Also gut, Tausendschön. Skouriotissa ist die größte Kupfermine der Insel. Angeblich ist sie so riesig, dass man sie aus dem Weltall sehen kann. Ich hab das noch nie überprüfen können, für Google Earth ist das Internet in Kato Koutrafas einfach zu schlecht. Die Mine beginnt ein paar Kilometer westlich unseres Ortes und gehört damit zu unserem Einsatzgebiet.«
»Und was ist dort passiert?«
»Etwas Unschönes«, murmelte er kopfschüttelnd, »etwas sehr Unschönes, sagen die Arbeiter, die die Wasserleiche gefunden haben.«
»Eine Wasserleiche?«, fragte Sofia ungläubig.
»Ja, ein junger Mann, wenn der erste Blick der Augenzeugen nicht getrogen hat. Er lag in dem dazugehörigen Kupfersulfatsee.« Er sagte das ganz ruhig, und sie spürte, dass der Chief Inspector in seinem früheren Leben wohl schon so manchen schrecklichen Anblick weggesteckt hatte.
»Ist denn schon jemand vor Ort? Ich meine … Kollegen?«
»Hm, Tausendschön, du meinst, einer unserer werten Kollegen könnte uns den ersten schlimmen Anblick schon abgenommen haben? Nein, nein, wir werden die ersten Kriminalbeamten am Tatort sein. Nur der Sicherheitsmann der Mine ist bereits vor Ort, er hat den Bereich weiträumig abgesperrt. Wenigstens etwas …«
Eine Zeit lang sagte sie nichts, sie brauchte etwas Zeit, um sich innerlich vorzubereiten.
»Wie lange brauchen wir noch bis dahin?«, fragte sie, nachdem sie den Olympos zu ihrer Linken passiert hatten.
»Na, wenn ich so weiterfahre, höchstens zwanzig Minuten.«
»Kannst du einmal anhalten, Kostas?«
»Was? Musst du pinkeln, oder was?«
»Nein«, sagte sie und sah demonstrativ an sich herunter. »Meinst du, ich würde mich wirklich bei dir im Auto umziehen? Komm schon, halt an.«
Er raste auf den Seitenstreifen, dass der Kies nur so spritzte, und bremste ruckartig. Sie stieg aus, öffnete die beiden Türen auf ihrer Seite und stellte sich in die Lücke.
»Und nun mach die Augen zu.«
»Ist schon etwas her, dass ich zuletzt eine nackte Frau gesehen habe. Aber sei dir sicher, so ein Küken wie dich, da guck ich gar nicht richtig hin.«
»Augen zu! Oder die Wasserleiche schwimmt da noch ’ne Weile länger rum.«
Kostas brummte. Aber dann schloss er die Augen doch und summte eine Melodie, Sofia erkannte ein heiteres zypriotisches Volksliedchen. Sie schälte sich aus dem weißen Kleid und schlüpfte dann schnell in die Uniform, die aus einer dunkelblauen Shorts und einer kurzärmeligen Uniformbluse bestand, den Witterungsbedingungen auf der Insel angemessen. »So, es kann weitergehen.«
Kostas fuhr wieder an, und sie schwiegen, bis er nach der kleinen Kapelle Saint John’s nach rechts abbog. Sie ruckelten über eine Straße aus Betonplatten, bis mitten in der Einöde mehrere Hallen und ein großer Parkplatz in den Blick kamen. Über dem gesamten Gelände lag rötlich grauer Staub. Ein großer gelber Radlader kam ihnen entgegen, doch Kostas bremste nicht, er wich dem riesigen Fahrzeug behände aus und fuhr weiter über den Kiesweg, der abrupt einen steilen Hügel hinaufführte.
»Wollen wir nicht fragen, wo die Leiche liegt?«, fragte Sofia.
»Ich war schon oft hier. Ich weiß es«, erwiderte Kostas.
Erst am Rand des Abhangs bremste er, und sie sahen beide einen Moment sprachlos in das Tal, das sich vor ihnen öffnete. Eine gigantische Mulde aus grauem und rotem Stein, schroffe Hänge, die steil herabfielen. Von hier oben sahen die Maserungen aus, als hätte sich ein Gigant mit Bleistift und Zirkel einen Kritzelspaß erlaubt. Wilde rote Muster, von den großen Baggern in den Fels gehauen. Transportbänder liefen über die Hänge wie Rolltreppen eines verlassenen Einkaufszentrums. Im Tal, sicher dreißig oder vierzig Meter unter ihnen, ein rostbrauner See mit silbernem Schimmer. Am Rande dieses Sees stand ein einzelnes Fahrzeug, ein weißer Pick-up mit einem Schriftzug, der von hier oben nicht zu lesen war.
»Willkommen in der größten Umweltkatastrophe des Landes«, sagte Kostas trocken, und nachdenklich sahen sie noch einen Moment auf die große Mine.
»Hier ist doch ringsum nur unberührte Natur«, sagte Sofia schließlich.
»Genau das meine ich«, erwiderte der Chief Inspector. »Aber das hier ist auch der Grund, warum Zypern nicht nur von Tourismus und Halloumi-Käse leben muss. Obwohl mir das lieber wäre.«
Er fuhr wieder an, beschleunigte und nahm die abenteuerlich steile Piste hinab ins Tal, vorbei an den riesigen Arbeitsmaschinen, die aussahen, als könnten sie ganze Dörfer dem Erdboden gleichmachen.
»Ist ja wie auf einem anderen Planeten«, sagte Sofia und spürte, dass sie in ihrer Stimme das Unbehagen nicht verbergen konnte, das dieser Ort in ihr auslöste.
»Ja, wie eine Marslandschaft. Aber wenn die damit fertig sind, dann ist hier nichts mehr. Dann ist die Landschaft so platt wie meine Witze.«
Sofia sah ihn von der Seite aus an. Dieser Mann war ein Phänomen. Er war knurrig und depressiv, und er bemühte sich stets und meistens erfolgreich, auf jeden Menschen abstoßend zu wirken. Dabei war er tief in seinem Inneren ein sehr nachdenklicher und liebenswerter Mann. Auch wenn er so draufgängerisch Auto fuhr, dass selbst ihr angst und bange wurde. So wie jetzt, als er von siebzig auf null abbremste, indem er das Bremspedal des müden Corsa durchtrat bis aufs Bodenblech und dennoch nur Zentimeter vor dem Pick-up zum Halten kam. Sofia stieg zuerst aus und atmete einmal tief durch. Doch was ihr in die Nase stieg, war nicht die kühle Meeresbrise, die sie noch in Limassol genossen hatte, nein, in der Luft lag ein metallener Gestank, geradeso als hätte sie sich auf die Lippe gebissen und würde ihr eigenes Blut riechen.
»Das ist die Mischung aus Kupfer und Eisen«, sagte Kostas, der nun auch ausgestiegen war und sie schon wieder angrinste. »Nur dass sie das Eisen einfach wegwerfen.«
Sie verstand nicht, was er meinte, aber der Sicherheitsmann, der auf sie zukam, ließ auch kein weiteres Nachdenken zu. Ein stämmiger Glatzkopf Ende fünfzig, kräftige Bizepse lugten aus seinem zu engen Polohemd hervor. Mit der Fliegerbrille hätte er auch an der Tür eines angesagten Clubs in Nikosia stehen können, aber irgendwas an ihm ließ Sofia innerlich zusammenzucken.
»Endlich, Kostas!«, sagte er, gab ihrem Kollegen die Hand und schlug ihm mit der anderen auf die Schulter, eine allzu verbindliche Geste. »Schön, dich wiederzusehen. Wer ist denn die?« Er machte eine Kopfbewegung zu Sofia.
»Nun lass mal nicht den Chauvi raushängen, Ioannou«, sagte Kostas, der von allen Inselbewohnern wohl selbst der größte Chauvi war. »Das ist meine neue Partnerin. Officer Sofia Perikles. Eine Neupolizistin aus dem feinsten Stall der Insel. Sei lieb zu ihr, sonst petzt sie es nach ganz oben.«
Sie zog eine Augenbraue hoch.
»Sehr erfreut«, sagte der Mann, und sein Blick verharrte einen Moment zu lange auf ihr. »Ich bin Ioannou Stakis. Kommt mit, da vorne liegt er.«
»Wer hat ihn gefunden?«, fragte Kostas.
»Zwei Arbeiter. Sie haben ihn von weiter oben im See entdeckt, und dann sind sie runtergefahren, und einer der Männer ist ins Wasser gegangen, es ist ganz flach hier am Rand. Er hat nach dem Fuß gegriffen, und dann hat er ihn rausgezogen. Ihm geht es … na ja, kannst du dir denken. Die beiden sitzen vorne im Container.«
»Gut, wir sprechen gleich mit ihnen. Können wir jetzt unseren Klienten sehen?«
»Schaffen Sie das?« Der Sicherheitsmann sah Sofia zweifelnd an.
»Mach dir um sie keine Sorgen«, sagte Kostas plötzlich schroff. »Sie ist mehr Mann, als du es je sein wirst.«
»Na, dann kommt mal«, sagte der Koloss achselzuckend.
Sofia hätte Kostas umarmen können, weil er sie derart in Schutz nahm.
Sie gingen über die schroffen Felsen, die merkwürdigen Maserungen aus herausstrebenden Metallen, die wie kleine Würmer über den Boden krochen. Der See war ganz nah, das Wasser glänzte noch silbriger als beim Blick von oben, und nun erkannte Sofia, warum sie den Toten bisher nicht gesehen hatte. Der Sicherheitsmann hatte ihn mit einer hellen Plastikplane abgedeckt. Zusammen mit Kostas hob er die Plane jetzt an, und sie machte unwillkürlich einen Schritt zurück.
Ihre erste Wasserleiche. Sie hatte nur kurz hingesehen, bevor sie den Kopf abgewandt hatte, doch es genügte: Der Tote war vollständig bekleidet, mit einer grauen Jeans und einem braunen T-Shirt, doch es war die Haut, die ihr Übelkeit verursachte: Seine Arme, sein Kopf, beides blass, nein, bleich, aufgequollen, so prall und unnatürlich, wie sie es noch nie gesehen hatte.
Diese sogenannte »Auffindesituation« in einem frühen Semester im Studium durchzunehmen, war die eine Sache. Sie erinnerte sich, dass sie damals beim Anblick der entsprechenden Bilder gefeixt hatten, denn jedem der Studenten am King’s College war klar, dass er im echten Leben niemals eine Wasserleiche zu Gesicht bekommen würde, weil der Abschluss an dieser Eliteuni zu einem Job fernab der gruseligen Realität befähigte. Doch nun stand sie hier, und ihr Wissen, dass es eine Mischung aus Fäulnisbakterien, Hitze und permanenter Feuchtigkeit war, die diesen Mann hatte aufquellen lassen, half rein gar nichts. Es war einfach nur gruselig, und sie brauchte keine Wetten darüber abzuschließen, welche Bilder sie in der kommenden Nacht vom Schlafen abhalten würden. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass auch Kostas kurz die Augen schloss.
»Wir haben so wenig wie möglich zertrampelt«, sagte Stakis. »Aber irgendwie mussten die Männer ihn ja rausbekommen.«
Kostas trat auf den leblosen Körper zu. »Der lag da schon eine Weile drin, würde ich sagen.« Er kniete sich neben die Leiche, und auch Sofia machte einen mutigen Schritt näher, hielt die Augen aber fürs Erste wieder irgendwo in die Kupferberge gerichtet.
»Kennst du den Mann?«, fragte Kostas den Glatzkopf.
»Hab ich hier noch nie gesehen. Ehrlich.«
Sofia gab sich einen Ruck. Sie war nun Polizistin. Also musste es sein. Wenn irgendeiner ihrer wohlhabenden