Tod am Aphroditefelsen - Yanis Kostas - E-Book + Hörbuch

Tod am Aphroditefelsen Hörbuch

Yanis Kostas

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Beschreibung

Sommer auf Zypern: Eine gute Zeit, um heimzukehren, denkt Sofia Perikles. Sie ist jung, hübsch und eine erfolgreiche Elitestudentin. In ihrer Heimat jedoch erwartet sie alles andere als die steile Karriere im Innenministerium, die sie sich erhofft hat. Dank eines politischen Scharmützels findet sie sich in einem öden Kaff im griechisch-türkischen Grenzgebiet wieder – als Dorfpolizistin. Schon glaubt Sofia, sich arrangieren zu müssen mit einem eher gemächlichen Leben rund um die Dorfkneipe und mit den eigenartigen Bewohnern des Ortes, deren befremdlichster ausgerechnet ihr knorriger Chef ist, der auf keinen Fall beim Rakí-Trinken gestört werden will. Doch da geschieht ein Mord, und Sofia ist auf einmal mittendrin in den Ermittlungen, ohne jemals zuvor als Polizistin gearbeitet zu haben. Eine Aufgabe, die die Tochter aus gutem Hause in tödliche Gefahr bringt.

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Zeit:6 Std. 13 min

Sprecher:Julia Nachtmann
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Yanis Kostas

Tod am Aphroditefelsen

Sofia Perikles' erster Fall

Roman

Atlantik

Für meine Väter

Deftéra – Montag

Kato Koutrafas

Das winzige Dorf mit gerade mal vierzehn Einwohnern liegt nur wenige Kilometer südlich der zypriotisch-türkischen Grenze, die eigentlich nur eine Waffenstillstandslinie ist, denn die griechischen Zyprioten erkennen die Grenze nicht an.

Das Dorf besteht aus dem Ortsteil Kato Koutrafas und dem höher gelegenen, gänzlich verlassenen Pano Koutrafas. Nächstgrößeres Dorf ist Astromeritis. Dort, also rund 15 Kilometer entfernt, befindet sich auch der Grenzübergang in den türkisch besetzten Teil der Insel.

Die Gegend um Kato Koutrafas ist so dünn besiedelt wie kein anderer Teil der Inselrepublik. Viele Dörfer wurden nach dem türkischen Einmarsch im Jahr 1974 aufgegeben. Alle Zyperntürken, die vorher in Kato Koutrafas gewohnt haben, sind in den türkischen Teil übergesiedelt. Tourismus findet hier, anders als auf dem Rest der Insel, praktisch nicht statt. Die Menschen leben weitgehend von der Landwirtschaft und betreiben diese meist mit alten Methoden. Einige pendeln in die Hauptstadt Nikosia – ein Fahrtweg von etwa 45 Minuten über enge Serpentinen.

Natürlich gibt es in Wahrheit weder ein Kafenion noch ein Polizeirevier in einer so winzigen Gemeinde, aber das ist ja das Schöne an Romanen: Hier im Buch leben tote Dörfer wie Kato Koutrafas und das ländliche Zypern wieder auf und knüpfen mit dem Auftritt der neuen Junior Police Officer, Sofia Perikles, an alte Glanzzeiten an.

Éna – 1

Es war das erste Mal. In ihrem ganzen Leben. 27 Jahre, 7 Monate und 13 Tage hatte sie alt werden müssen, um derlei zu erleben.

Und nun? Sollte sie lachen, weinen oder ein Foto schießen und es auf Instagram posten? Sie war gefangen. In ihrem Auto, diesem kleinen, leicht muffigen Mietwagen irgendeiner asiatischen Marke von Hertz Cyprus. Leicht muffig – das war maßlos untertrieben. Die Karre stank. Und davor standen Schafe und Ziegen, die just in diesem Moment begannen, um den Wagen herumzulaufen. Die ersten kamen schon hinter dem Auto an, ohne sich dort weiterzubewegen – und auch die Seitentüren wurden allmählich blockiert. Insgesamt waren es bestimmt zweihundert. Etwas weiter vorne sah Sofia sogar zwei Lämmchen, die sich balgten, dass es eine Freude für sämtliche Facebook-Video-Addicts gewesen wäre.

O ja, sie war gefangen. Irgendwo hinter Kakopetria. Oder war Galata das letzte Kaff gewesen, das sie durchquert hatte? Sie wusste es nicht. Der Blick aufs Handy zeigte: kein Empfang. Das Netz von CYTA hatte irgendwo im Troodos-Gebirge schlappgemacht und war auf der weiten Hochebene nicht zurückgekehrt.

Sofias Blick fiel auf das Thermometer. 42 Grad. Und kein Schatten weit und breit. Sie hätte sich höchstens unter einem Lämmchen verkriechen können. Was eine Katastrophe für ihr weißes Sommerkleid mit den aufgestickten Blumen gewesen wäre. Sie hatte es vor einer Woche in einer kleinen Boutique in Kensington gekauft, die diese schwedische Marke führte, die Sofia so liebte. Sie wollte nun wirklich nicht ausprobieren, wie sich zypriotischer Staub auf diesem 300 Pfund teuren Stück machte.

Kein Schäfer in Sicht. Auch kein Bauernhof. Und nun? Was sollte sie tun?

Sofia hatte ihren Freunden beim Ausgehen in Shoreditch stets erzählt, ihre Heimat Zypern sei ein Kulturschock.

Und wann immer sie das gesagt hatte, genoss sie die ehrfürchtigen Blicke der anderen, die darauf folgten. Besonders die der Kerle. Kulturschock – das klang nach endlosem Ferienlager. Und es klang so, wie sie in ihren Augen gesehen werden wollte: nicht als junge Frau, die mit dem goldenen Löffel im Mund geboren worden war, sondern als Abenteurerin, die in der ganzen Welt zu Hause war. Mit Kulturschock meinte sie: die exotischen, aber klimatisierten Teestuben von Nikosia, das langsame Leben am feinsandigen weißen Strand in Paphos und vielleicht noch das familiäre Meze-Essen an der langen Tafel in Limassol. Doch hier, auf dieser staubigen Straße im Nirgendwo der zypriotischen Hochebene, musste sie lernen, was Kulturschock wirklich hieß.

Dío – 2

Was hatte sie vor ihrem Abflug in London-Heathrow gute Laune gehabt. In Vorfreude auf die Heimat, auf alte Schulfreunde, auf launige Dachterrassen-Partys bei Nikolaos in Nikosia, auf ein kleines Techtelmechtel mit Lefteris um der alten Zeiten willen. Und auf ihren allerersten richtigen Job: Junior Security Advisor im Innenministerium der Republik Zypern. Wenn das nicht toll klang. Sie hatte sich in Gedanken schon die Visitenkarte ausgedruckt. Oben das herrschaftliche Wappen des Landes, darunter der Name der Behörde, dann ihre Berufsbezeichnung. Und über allem prangte ihr Name: Sofia Perikles.

Ihr Vater hatte sie vor sechs Monaten angerufen, kurz nach Weihnachten. Die Auslandsbotschaften waren gebeten worden, in den Botschaftsländern zypriotischen Nachwuchs für eine höhere Beamtenlaufbahn zu rekrutieren. Junge topstudierte Kräfte, die zurückgelockt werden sollten in die Heimat. Das passte perfekt. Ihr Studium war fast Geschichte. Intelligence and International Security am King’s College in London. Davor ein Jahr lang in Berlin etwas Vergleichbares. Nun fühlte sie sich bereit fürs Innenministerium in Nikosia, bereit, für einige Jahre zur Neuorganisation des Polizeiwesens beizutragen.

Sie hatte sich beworben und wurde prompt genommen. Einziger Haken: Sie verpflichtete sich für mindestens drei Jahre. Kein Problem, dachte Sofia. Endlich raus aus London – weg von Dauerregen und von Fisch, der nicht mal frittiert zu ertragen war. Sie wollte wieder im Warmen leben und frischen Fisch aus dem Mittelmeer essen, Fisch, den alte Wirte in lauschigen Restaurants über offenem Feuer oder in zypriotischem Olivenöl grillten. Zumindest für eine Weile.

Der Vertrag war unterschrieben, das Gehalt einigermaßen akzeptabel.

Acht Tage vorm Abflug fand ihre Abschiedsfeier statt. Erst Vorglühen, dann Zwischenglühen und irgendwann in der Nacht fielen sie und ihre Freunde im Plan B in Brixton ein, wo ein angesagter DJ aus Berlin auflegte. Sie tanzte, knutschte mit Carl, heulte und trank viel zu viel. Dann heulte sie wieder, all ihre Freundinnen heulten mit, und sie tanzten noch mehr. Morgens um halb zehn war Sofia aus dem Laden gestolpert. Ihr Display zeigte acht Anrufe in Abwesenheit. Eine Pariser Nummer.

»Papa«, sagte sie halblaut zu sich selbst. Und rief zurück.

»Mensch, Sofia. Warum meldest du dich jetzt erst?«

Er hatte diesen Ton, den er so oft angeschlagen hatte, als sie noch ein kleines Mädchen war. Er zog das A in Sofia dann wie einen Kaugummi.

»Was ist denn, Papa? Wir waren … frühstücken«, sagte sie, konnte aber selbst nicht an den Erfolg dieser Lüge glauben. Ihre Zunge fühlte sich schwer an, und die griechischen Wörter holperten darüber wie eine noch zu erfindende Fremdsprache.

»Hast du es nicht gesehen? Das Ergebnis?« Er klang äußerst ungläubig.

»Welches Ergebnis? Hat AEL verloren?« Sie rechnete nach. Gestern war Sonntag gewesen. AEL Limassol, ihr gemeinsamer Lieblingsfußballverein, hatte Sommerpause. War also reichlich unwahrscheinlich.

»Verdammt, Sofia. Die Wahl …«

Die Wahl. Ich blöde Kuh, dachte sie. Sie hatte tatsächlich die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Zypern vergessen. Weil sie sich ungefähr so sehr für Politik interessierte wie für zypriotische Volkssagen. Das passte zwar nicht unbedingt zu ihrer Studienrichtung, aber im Studium hatte sie sich deutlich mehr mit richtiger Politik beschäftigt – mit dem Nahostkonflikt, mit Donald Trump, mit dem Brexit – und nicht mit den zyprischen Normen für den Olivenanbau.

»Papa, mach mal halblang, was ist denn passiert?« Sie ahnte Schlimmes, wusste aber rein gar nicht, um was es sich handeln könnte.

»Die Kommunisten«, stöhnte er, und es klang, als hätte er schwere körperliche Schmerzen.

»Was ist mit den Kommunisten?«, fragte sie, weil sie immer noch nichts ahnte.

»Die Kommunisten haben gewonnen. Ganz knapp, 51,3 Prozent. Eine Katastrophe.«

»Was? Aber die Umfragen waren doch eindeutig. Es war doch völlig klar, dass dein alter Freund die Wahlen gewinnt.«

Zyperns Präsident und ihr Vater waren zusammen zur Schule gegangen. Was in einem Land mit einer Million Einwohnern nicht schwer war. Beinahe jeder war mit irgendwem aus der Regierung zur Schule gegangen. Doch bei den beiden bedeutete es mehr: Zusammen waren sie mit siebzehn in die konservative Partei eingetreten. Hatten einander von Anfang an beim Aufstieg geholfen. Sobald er in der Position dazu war, hatte Sofias Vater seinen Freund mit wichtigen Parteiämtern bedacht. Durch diverse Zufälle stieg dieser höher und höher – und als er schließlich Präsident und Regierungschef wurde, dachte er wiederum an seinen alten Freund und machte diesen zum Botschafter in Paris. Sofias Vater hätte nie länger in Nikosia Dienst tun wollen, gar Minister werden oder Ähnliches. Er liebte die große weite Welt, und in Paris war er nun seit drei Jahren überglücklich. Washington, D.C., war der nächste Traum.

Dass er sich als Nächstes erfüllen würde – das hatten ihr Papa und ihre Mutter zumindest bis zu dieser Wahl gedacht. Sofia war ihr einziges Kind. Sie liebte ihre Mutter, war aber stets Papas Mädchen geblieben. Zu ihrem Vater hatte sie einfach die tiefere und innigere Beziehung.

»Ich habe es dir doch gesagt: Wenn es schon die Amerikaner nicht hinkriegen mit den Umfragen, wie sollten wir Winzlinge dann darauf vertrauen können. Verdammtes Staatsfernsehen, die haben uns in Sicherheit gewiegt«, sagte ihr Vater wütend, und in Gedanken hörte sie ihn schon stundenlang wehklagen über Trump und den Brexit und eben darüber, dass es nun sogar die Zyprioten erwischte.

Klar, dachte Sofia, für ihren Vater waren mal wieder nur die anderen schuld. Dabei hatte sich der konservative Präsident in seinen acht Jahren an der Spitze des Landes nun auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert – seine Präsidentschaft fiel mitten in die schwere Wirtschaftskrise, und er hatte enorme Sparmaßnahmen eingeleitet.

»Aber Papa«, begann sie beschwichtigend, »das ist doch nun wirklich kein großes Ding. Du bist ein so erfahrener Diplomat. Die brauchen dich. Und ich geh bald nach Hause auf unsere Insel, werde mich da ein bisschen engagieren und den Kommunisten mal zeigen, wo’s langgeht, und dann rocken wir das Ding.«

Ihre Unbekümmertheit kam ihr in diesem Moment völlig natürlich vor. Sie war die einzig denkbare Reaktion. Denn Zypern war ein Mittelmeer weit weg. Ihr Vater seufzte und stieß ein griechisch-orthodoxes Stoßgebet aus. Sie legten auf, und Sofia hatte die Angelegenheit vergessen.

Die letzte Woche in England verging wie im Fluge: Kofferpacken, WG-Zimmer übergeben, Sommerklamotten kaufen.

Als Sofia wenige Stunden zuvor in Larnaka gelandet war, hatte sie sich blendend gefühlt. Sie hatte den Flug genutzt, um bei Netflix sieben Folgen Jane, the Virgin zu schauen und herzhaft zu lachen. Sie hatte sich in der Business-Class von Aegean die Nägel lackiert und dabei ihrem Nachbarn abschätzige Blicke geschickt, als der wegen des Lackgeruchs immer wieder die Nase rümpfte. Womit sich ihre Blicke genau genommen natürlich nicht so viel nahmen. Und sie hatte mehrere kleine Gläser Champagner getrunken. Aegean servierte tatsächlich Taittinger. Was war sie froh, dass Cyprus Airways schon vor Jahren pleitegegangen war – die hatten immer nur Prosecco an Bord gehabt.

Mit ihrem Diplomatenpass war die Einreise eine Sache von Sekunden. Bald schon stand sie vorm Flughafengebäude, sah die kunterbunten Taxis und Busse und spürte die Sonne auf der Haut. Endlich. Sie war zu Hause.

Das Telefon piepte gleich mehrfach. Auf der Mailbox: Papa. Er murmelte irgendetwas, es war ein leises Wehklagen, unterbrochen von mehreren Rufen, immer wieder glaubte sie, das Wort Eriwan zu hören. Sie nahm sich vor, ihn später zurückzurufen, wenn die Verbindung möglicherweise weniger durchrauscht war.

Aus Spaß schaute sie noch ihren News Feed durch. Aber von wegen Spaß. Sie schrie auf. Was? Ihr Prinz! BBC vermeldete doch tatsächlich, dass Prinz Harry heiraten wolle. Seine Freundin. Eine geschiedene Schauspielerin. Allen Ernstes. Dabei hätte er doch sie, Sofia, haben können. Nun gut, konnte sie also länger auf Zypern bleiben.

In ihren Mails fand sie genau eine einzige vor, die ihr Leben in seinen Grundfesten erschüttern sollte – deutlich mehr als die Prinz-Harry-Meldung jedenfalls, auch wenn Sofia das zu diesem Zeitpunkt nicht wusste – und es auch drei Stunden später in der Schafherde noch nicht abschätzen konnte. Die E-Mail kam vom Innenministerium in Nikosia und klang wie alle offiziellen Schriftstücke des Landes äußerst salbungsvoll.

Sehr geehrtes Fräulein Perikles,

wir danken Ihnen für Ihre Bewerbung im Dienste unserer Republik. Gerne bestätigen wir Ihnen, dass Ihre Aufopferung für den zypriotischen Staat auch nach dem vor drei Tagen erfolgten Regierungswechsel eine äußerst wichtige Angelegenheit für uns ist – und dass wir uns freuen, auch mit Ihrer Hilfe das Staatswesen der Republik Zypern auf einen modernen Weg zu führen. Im Zuge des Regierungswechsels ist es eine selbstverständliche Maßnahme, dass wir Reformen durchführen, um unsere Ziele auch tatsächlich durchzusetzen.

Wir danken in diesem Ringen um eine bessere Zukunft für unser Land für Ihr Verständnis. Zu diesem Zwecke möchten wir Ihnen mitteilen, dass wir eine Neuordnung der Zuständigkeiten in den Ministerien vornehmen. Das betrifft natürlich auch das Innenministerium. Wir sind sehr daran interessiert, dass unsere künftigen Führungskräfte die gesamte Bandbreite der Aufgaben in der Republik Zypern kennenlernen, denn damit können sie dem Wohl unseres Volkes am besten dienen. Deshalb ist es für uns und für Sie, liebes Fräulein Perikles, eine Pflicht, die Dezentralisierung des Landes voranzutreiben und auch regionalen Tätigkeiten nachzugehen.

Wir freuen uns dementsprechend sehr, Ihnen mitteilen zu können, dass Sie ab dem 1. August – befristet für ein Jahr – in folgender Abteilung tätig sein werden:

Polizeidienststelle von Kato Koutrafas

Ihre Aufgaben dort werden sehr vielfältig sein und Sie mit dem Polizeialltag in der Republik Zypern vertraut machen.

Bitte melden Sie sich nach Ihrer Ankunft bei Chief Inspector Kostas Karamanlis.

Da das größte Wahlversprechen unserer neuen Regierung ein ausgeglichener Haushalt ist, sind wir sehr zuversichtlich, dass auch unsere neuen Beamten diesem Ziel folgen wollen. Wir danken Ihnen daher im Voraus dafür, dass Sie sich selbstständig um eine Unterkunft am Dienstort bemühen wollen.

Mit kommunistischem Gruße

Petros Matriopoulos

designierter Innenminister der Republik Zypern

Sie ließ das Handy sinken. Die Taxis und Busse verschwammen. Und die Sonne fühlte sich auf einmal ganz anders an. Sie brannte auf Sofias Haut wie Feuer. Sie hob das Telefon noch einmal und las den Namen des Unterzeichners.

»Petros Matriopoulos«, murmelte sie. Auch mit ihm war ihr Vater zur Schule gegangen. Und er hatte zu vielfältigen Anlässen derart deftige Schimpfwörter für den ehemaligen Generalsekretär der Kommunistischen Partei gebraucht, dass Sofias Mutter oft tagelang nicht mehr mit ihm gesprochen hatte. Nun, es schien so, als beruhte dieser jahrzehntelang gewachsene Hass auf Gegenseitigkeit. Nur fand sie sich nun als das völlig unschuldige Opfer dieser Fehde wieder. Sie, die arme Sofia, musste büßen. Und nicht ihr Vater, der ja eigentlich der böse Mann war. Der den Fluch heraufbeschworen hatte. Dachte sie. Zu diesem Zeitpunkt wusste sie noch nichts von der Versetzung ihres Vaters nach Armenien, genauer gesagt, nach Eriwan. Nun gut, sie hätte davon wissen können. Aber dieses verdammte zypriotische Handynetz …

Tría – 3

Als Antwort auf eine selten gestellte Frage: Schafe lassen sich mit zehnminütigem Hupen von der Landstraße vertreiben.

Sofia hatte es nun experimentell erprobt. Möglicherweise hatte es zusätzlich auch am Schäfer gelegen, der nach neunminütigem Dauerhupen über das Brachland gehumpelt kam und aus seiner Pfeife einen leisen Ton abgab. Die Schafe bewegten sich daraufhin recht zügig in Richtung Bergkette, während der Hirte ihr in ihrem asiatischen Kleinwagen einige wüste Beschimpfungen hinterherrief. Vielleicht wünschte er aber auch nur einen schönen Tag. Sofia konnte das nicht mit Gewissheit sagen, weil ihre Kenntnis des nikosianischen Bergdialekts nicht so ausgeprägt war.

Sie fuhr weitere zwanzig Minuten durch die Steppe; die Beschilderung hatte längst aufgehört, die Sonne stand im Zenit. Die Straßenmarkierungen waren so gut wie vollständig abgeschabt, aber das machte nichts: Ein anderes Auto war ihr seit einer Dreiviertelstunde nicht mehr entgegengekommen. Links und rechts der Straße standen ein paar karge Bäume, dazu die dornigen Gräser und Sträucher, die für die Gegend so typisch waren. Schließlich kam doch noch ein Schild. Ein Ortsschild. Kato Koutrafas. Das Schild war allem Anschein nach älter als Sofia. Vielleicht sogar älter als ihr Vater. Es benannte Sofia Perikles’ neue Heimat.

Der Charme des Dorfes erschloss sich nicht sofort. Sie war in England in einem Sommer durchs Land gereist und hatte so beschauliche Orte besucht wie Hull und Liverpool. In Deutschland hatte ihr ein verliebter Freund einmal Bitterfeld gezeigt. Alles keine Offenbarungen, alles Städte unterhalb der natürlichen Attraktivitätsgrenze. Aber in Kato Koutrafas zeigte sich, dass sie in Hull vielleicht doch ein schönes Eigenheim hätte beziehen sollen.

Die ersten Häuser des Dorfes waren gänzlich verfallen. Es waren alte Steinbauten, bei zweien von ihnen war das Dach eingestürzt, Fenster gab es ohnehin keine mehr. Im Zentrum, das nach zwanzig Sekunden Autofahrt erreicht war, sah es nicht wesentlich besser aus. Hier waren zwar die Dächer auf den Häusern intakt, aber alle Behausungen sahen erbärmlich aus, so arm und runtergekommen, dass ein Kosmopolit wie ihr Vater den Ort wahrscheinlich zum Komplettabriss freigegeben hätte.

Die Straße führte in einer geraden Linie durch das staubige Dorf. In der Ortsmitte gab es das klassische zypriotische Dreieck: rechts die Kirche, ein kleiner Bau mit spitzem Portal und rotem Dach, eigentlich war es eher eine Kapelle. Ein Schild verriet, dass sie der »Jungfrau Maria« geweiht war. Der Kirche gegenüber, auf der anderen Straßenseite, lag das Kafenion. Es trug keinen Namen mehr, die Aufschrift über der Tür war längst abgeplatzt. Vor dem Haus standen drei kleine Plastiktische mit den dazugehörigen weißen Stühlen. Keiner war besetzt. Und genau daneben befand sich die … Nun ja, es fiel ihr schwer, das Wort auch nur laut zu denken. Aber genau neben dem Café war Sofias neuer Arbeitsplatz. Die Polizeiwache.

Sie wusste nicht, ob sie schallend lachen oder weinen sollte. Und das schon zum zweiten Mal heute. Mit der E-Mail am Flughafen gar zum dritten Mal.

Was für ein absurder Ort. Denn es war kein richtiges gemauertes Gebäude, sondern ein Container. Die Aufschrift Police war an einem kleinen Schild neben der Tür angebracht, das stolze zypriotische Wappen über dem Schriftzug wirkte an dieser Baracke wie trotziger Hohn. Der Container maß vielleicht fünf mal vier Meter. Ein Loch. Sie würde einen Weg finden müssen, diesen Irrsinn zu beenden. Sie würde ihren Vater anrufen. Oder das Ministerium. Sie würden sie schon nach Nikosia kriegen. Irgendwie.

In diesem Moment klingelte es in ihrer Hosentasche. Sie hatte Netz. Hier. In Kato Kout… Wie auch immer das Kaff genau hieß. Hinter dem Namen des Netzbetreibers stand ein Balken. Wahnsinn! Aber irgendwie funktionierte die Rufnummernübermittlung nicht.

»Sofia hier, Papa, bist du es?«

»Wieso denn Papa? Babe, ich bin’s, Carl.«

»Carl …«

Sie schmolz dahin. Ihr schmucker blonder gutriechender Carl. Nicht zu vergessen: ihr reicher Carl. Ihr schlauer Carl. Ihr Carl aus verdammt gutem britischem Hause. Mit zwei Worten: ihr Carl.

»Wie geht es dir? Bist du gut angekommen? Dachte schon, irgendwas wäre mit deinem Flugzeug, weil du ewig keinen Empfang hattest …«

»Ach Carl, wenn du wüsstest. Es ist so richtig furchtbar hier.« Sie musste ein Schluchzen unterdrücken. Carl hatte sie noch nie weinen sehen. Na gut, das eine Mal, als ihr die Joints in Verbindung mit zwei Pale Ale nicht bekommen waren. Da hatte sie einen solchen Lachflash gehabt, dass sie hatte weinen müssen. Diesmal aber war es ernst.

»Was ist denn los, Sofia? Du klingst ja völlig verzweifelt.«

Sie schilderte in drei Sätzen, was ihr zugestoßen war. Allerdings war das Netz genauso stark, wie der eine Balken es vermuten ließ.

»Sofia, ich krieg nur die Hälfte mit. Die Kommunisten haben die Polizei übernommen? Und du musst Urlaub in einem Dorf machen? Was?«

Es war hoffnungslos.

»Ich rufe dich heute Abend an, o.k.?«

»Ja, ich glaube, das ist besser.«

»Du kommst mich in zehn Tagen besuchen, ja? Wie wir es besprochen haben? Es ist ganz furchtbar, ich brauch dich hier.«

Sofia hatte keine Ahnung, wo sie in zehn Tagen sein würde. In welchem Dreckloch sie wohnen würde. Aber sie wollte Carl hier haben. Es gäbe ja auch Hotels, im Zweifel.

»Ich hab dir doch gesagt, es ist leider viel los in der Firma. Aber du weißt, ich versuche es.«

Die verdammte Firma. Als müsste Carl überhaupt arbeiten. Sein Vater Abgeordneter im Unterhaus, seine Mutter Anwältin – aber Carl wollte ja unbedingt selbst Unternehmer sein. Jetzt machte er Werbung für irgendwelche amerikanischen Start-ups, verdiente schlecht und arbeitete achtzig Stunden die Woche. Nie hatte er Zeit für sie.

»Wir sprechen später, ja?«

»O.k., babe, bye.«

Er hatte aufgelegt. Und sie stand immer noch auf dieser staubigen Straße am Ende der Welt. Na gut, dann würde sie mal ihren Schreibtisch einnehmen, dachte sie und stapfte los.

Sofia klopfte dreimal an. Keine Reaktion. Die metallene Tür knarzte in den Angeln, als Sofia daran zog.

»Kalimera«, rief sie zaghaft.

Drinnen war es dunkel, weil die Jalousien vor den Fenstern runtergelassen waren. Dachte sie. Doch dann roch sie, was vor allem zur Dunkelheit beitrug: der dichte Rauch. Sofia musste husten. Die Luft war zum Zerschneiden. Als würde man in Manchester in eine Kneipe kommen. Also vor dem Rauchverbot. Vor fünfundzwanzig Jahren.

Als sie sich an den Nebel gewöhnt hatte, sah sie drinnen eine einsame Gestalt sitzen. Einen Mann, der aussah wie die Bäume vorhin in der Steppe. Hager und windschief, quasi ein Strich in der Landschaft. Er sah nicht auf, sie konnte nicht genau erkennen, was er überhaupt tat. Na gut, er rauchte. Eine erstaunlich dicke Zigarette steckte in seinem Mundwinkel, sie sah im Dunst wie selbstgedreht aus. Und vor ihm auf dem winzigen Schreibtisch stand eine Flasche mit einer durchsichtigen Flüssigkeit. Viel war nicht mehr drin. Auch das Glas, das vor ihm stand, war nahezu leer. Die Lache auf dem Schreibtisch war dabei anzutrocknen.

Sie kam näher, er rührte sich immer noch nicht. Dabei glimmte seine Zigarette stetig und unablässig, die Glut wurde rot, schwarz, wieder rot, wieder schwarz. Es sah aus, als würde E.T. seinen Finger zum Leuchten bringen. Der Mann lebte also. Sie las die Aufschrift auf der Flasche: Zivania. Das zypriotische Äquivalent zum Grappa. Das Getränk für die, denen Ouzo zu schwach war.

Sofia versuchte es erneut, sie sagte ganz sanft: »Kalimera.«

Sie stand nun ziemlich nah vor ihm und sah, dass der Mann schlief. Und zwar tief und fest. Dabei saß er aufrecht – und: ja, sie konnte es ganz deutlich sehen –, seine Zigarette glimmte bei jedem Atemzug, den er tat. Ein Wunder, dass der Kerl nicht schon die Hütte abgefackelt hatte. Es wäre nicht schade drum gewesen.

Sofia trat noch einen Schritt auf ihn zu. Diesmal versuchte sie es mit einer Symbiose aus Akustik und Physis: Sie sagte ziemlich laut: »Yiassou« und klopfte mit ihrer Hand sachte gegen seine Schulter. Nun gut, nicht sachte im wörtlichen Sinne. Offensichtlich hatte sie die Schwere der Berührung unterschätzt, denn im nächsten Moment schreckte der Mann hoch, riss die Augen auf, verlor das Gleichgewicht und fiel mitsamt dem Stuhl schwerfällig auf den Boden, sodass es ein lautes Krachen und zugleich einen dumpfen Aufprall gab.

»Putana«, rief er, und seine Augen funkelten entschlossen, sodass Sofia nicht sagen konnte, ob er wütend oder irre war, »was ist denn los? Wer bist du? Bist du verrückt?«

»Es tut mir leid«, stammelte Sofia, aber sie sah nun an seinem Blick, dass er voller Wut ergründete, warum genau er auf dem Fußboden lag, und dass er die ihm langsam dämmernde Erkenntnis, dass eine Frau ihn soeben geschubst und samt seinem Stuhl auf den Fußboden befördert hatte, nun wahrlich nicht sonderlich anregend fand. Er sah sie an, prüfend, fuhr mit dem Blick ihr Sommerkleid entlang, suchte sie quasi von unten nach oben ab. Nach und nach berappelte er sich und versuchte aufzustehen. Aber er musste sich mit beiden Armen auf dem Boden abstützen, damit es gelang. Mühsam richtete er den Stuhl auf und ließ sich schwer hineinfallen. Er war, um es schlicht zu sagen, vollkommen besoffen. Wahnsinn, dachte Sofia. Es war noch nicht mal Mittagszeit. Eine hagere Gestalt mit hängendem Kopf und Trauermiene, zu der die rauchige Stimme nur zu gut passte: »Was wollen Sie hier? Es ist geschlossen.«

»Sie sind doch die Polizei?«

Er blickte sie an, als hätte Sofia ihn angeschossen. »Bitte?«

»Das ist doch die Polizeiwache. Und Sie sind Polizist. Wie kann da geschlossen sein?«

Er schüttelte sich kurz, als liefe es ihm kalt den Rücken herunter.

Sie besann sich. »Na, wie auch immer. Mein Name ist Sofia Perikles. Ich bin die Tochter des Botschafters in Paris und habe eigentlich eine Stelle im Innenministerium. Aber nun bin ich hierherversetzt worden.«

Er sah sie mit vollkommen leerem Blick an.

»Sind Sie denn nicht Chief Inspector Karamanlis?«

»Keine Ahnung, wovon Sie reden.«

»Man hat mich hergeschickt. Zum Arbeiten. Es muss ein Versehen sein.«

»Glauben Sie mir«, sagte er, und es war der erste Satz, den er deutlich sagte und der nüchtern klang, als wäre er sein Mantra, »hier in Kato Koutrafas ist jeder nur aus Versehen.«

Er lachte ein heiseres lautes Lachen, das die Luft durchschnitt. Er konnte gar nicht mehr richtig aufhören, schließlich sagte er, zwischen zwei neuen Lachsalven: »Sie sind hierherversetzt worden? Sie …?« Er musterte sie wiederum, diesmal von oben bis unten, und musste erneut lachen, diesmal noch lauter.

»Ihre Schuhe sind staubig, ganz staubig«, rief er und wies auf ihre schwarzen Schuhe mit dem Keilabsatz, die sie in London in einem kleinen Designerladen extra für ihre Landpartie gekauft hatte, und sein Lachen blökte wie die Schafe, die vorhin ihr Auto umstellt hatten. Doch er konnte nicht aufhören: »Sie sind die Tochter von, was, von einem Botschafter?«

Sie nickte, und er fing wiederum an. Hatte sie so ein Lachen schon mal gehört? Jemals in ihrem Leben? Der Typ war verrückt. Hatte draußen wirklich »Police« an der Tür gestanden? Allmählich glaubte Sofia, dass sie sich doch getäuscht hatte.

»Na, mal schauen«, sagte er und beruhigte sich langsam.

Er stand von seinem Stuhl auf und ging nach hinten zu einem altmodischen Faxgerät, wobei er gar nicht mehr so wackelig aussah wie zuvor. Im Eingangskorb lagen Dutzende Blätter.

Entweder die zypriotische Polizei hatte heute entschieden, alle wichtigen Anfragen aus sämtlichen Teilen des Landes ab sofort wieder per Fax zu versenden – und zwar an alle Reviere –, oder dieser Typ hatte den Korb seit Wochen nicht mehr geleert. Tatsächlich blätterte er seltsam orientierungslos in den Faxen, ließ die Seiten, die er nicht gebrauchen konnte, einfach zu Boden fallen und hatte erst nach einer Minute etwas Brauchbares gefunden. Er las das Papier ganz langsam, pfiff durch die Zähne, als hätte er eine enorme Zahnlücke, und blickte sie an: »Hier steht es. War viel los, habe das Fax nicht gelesen. Ist erst heute Morgen gekommen.«

Sofia hätte zu gern das Datum gesehen, aber er hatte den Zettel schon zerknüllt und warf ihn in den Eimer direkt neben seinem Schreibtisch.

»Sind Sie denn nun Kostas Karamanlis? Der Chief Inspector?«

Er setzte sich wieder auf den durchgesessenen Drehstuhl, und es war, als ließe der Klang seines Namens ihn zusammensinken.

»Freunde sagen Kostas. Für Sie Karamanlis. Und was soll das heißen, Sie arbeiten jetzt hier?«

»Das, was in meinem Berufungsschreiben steht. Dass ich, bevor ich zum Bürohengst in einer Behörde der Republik werde, erst mal für eine Weile die Praxis kennenlernen soll. Eine Entscheidung der neuen Regierung.« Sofia wusste gar nicht, warum sie hier so auf die Kacke hauen musste. Aber es lag in diesem Fall nicht mal an ihrer Eitelkeit. Sie wollte dem komischen Vogel vielmehr deutlich machen, dass sie eine große Nummer war und er mit ihr nicht so umspringen durfte.

»Eine gute Regierung«, murmelte er. »Der neue Präsident …«, er hielt sich den Kopf.

»Sind Sie Kommunist?«

In England hätte sie diese Frage nicht stellen dürfen, genauso wenig in Deutschland. In London kamen Gespräche über Politik zwar vor, aber niemand war dort ernsthaft Kommunist. In Berlin dagegen wurde nie wirklich über Politik gesprochen, das ganze Volk war in großer Sorge davor, entweder als Nazi oder als Linker abgestempelt zu werden, deshalb sprach man lieber übers Wetter. Damit hatte man ja auch genug zu tun. Doch hier in Zypern war das eine durchaus logische Frage: Entweder man war Kommunist – dann sah man aus wie Kostas Karamanlis, die Klamotten zerschlissen, die Haut eine Mondlandschaft, auf dem Tisch eine Flasche Ouzo oder Zivania –, oder man war Konservativer, dann sah man aus wie Sofia – oder wie ihr Vater. Der trug eine teure Schweizer Uhr am Handgelenk, hatte Schuhe aus Budapest und Anzüge aus Italien, ging einmal im Monat zur Pediküre und zur Hautpflege, er trank nur in Maßen und überhaupt keinen Schnaps.

»Ich war nicht wählen«, antwortete Karamanlis, sehr zu Sofias Erstaunen.

»Aber war das Wahllokal nicht hier in der Station?«

»Doch.«

»Und wo waren Sie?«

»War Sonntag.«

»Das heißt?«

»Ich war drüben.«

»Drüben wo?«

Er zeigte mit dem Finger aus dem Fenster und versank wieder in sich selbst.

Sie erinnerte sich. Ihr Vater hatte auch oft gesagt, er sei drüben gewesen. Und drüben musste von hier aus sehr nah sein. Sie nahm sich vor, die Lage von Kato Koutrafas noch mal auf der Karte zu überprüfen, nachher, wenn sie endlich Google Maps befragen konnte, sollte sie denn Netz haben.

»Kann ich einen Schreibtisch haben?«, fragte Sofia mit Blick auf den zweiten Tisch im Raum. Das gleiche billige Modell, dafür aber gänzlich leer und ohne Spirituosen und Aschenbecher.

Er antwortete nicht, goss sich stattdessen aus der Flasche nach und wischte mit dem Ärmel seines karierten Hemdes über die Lache auf dem Tisch, die mittlerweile zu einer klebrigen Schicht geworden war, weshalb die Säuberungsaktion ohne Wirkung blieb. Immerhin hatte er es versucht.

Als er weiter schwieg, ging Sofia ein Stück in den Raum hinein und stellte ihre Handtasche auf dem anderen Tisch ab. Sie betrachtete ihr erstes Werk in diesem Container: Pariser Luxusmodeschick traf griechische Spanplatte. Eine feine Kombination.

Urplötzlich war er hinter ihr und bimmelte mit etwas in seiner Hand – einem Schlüssel.

»Die Karre ist mir ohnehin zu schwul. Ich fahr Jeep. Und da du ja was Feines gewohnt bist, kriegst du einen Dienstwagen. Steht hinterm Haus.«

Wie er Haus sagte, klang irgendwie, als wüsste er selbst, wie lächerlich das klang, bezogen auf diesen Hühnerstall. Aber wenigstens konnte Sofia den winzigen Mietwagen zurückgeben und würde ein echtes Polizeiauto fahren. Was das hier in den Bergen wohl war? Ein Land Rover? Sie würde gleich nachschauen.

»Wissen Sie, wo ich hier eine Wohnung finden kann? Erst mal für einige Wochen? Ich muss mit dem Ministerium sprechen. Vielleicht reicht es ja auch, wenn ich hier bei Ihnen«, und ohne rot zu werden, fügte sie hinzu, »bei einem so hochdekorierten Beamten wie Ihnen, ein kurzes Praktikum absolviere.«

Wie heißt es so schön: Die Hoffnung stirbt zuletzt – vielleicht würde sie den Innenminister ja doch noch erweichen. Was konnte sie schließlich für ihren Vater und seinen Hass auf die neue Elite des Landes? Sofia wusste nicht, warum Karamanlis leise vor sich hin lachte, ein grunzender Ton, der eher nach Bauernhof klang als nach wahrer Fröhlichkeit. Dann fiel ihr wieder ein, dass sie gerade nach einer Wohnung gefragt hatte.

»Ja, Tausendschön«, sagte er, und es war das erste Mal, dass er sie so nannte. »Sagen wir mal so: Der Leerstand in Kato Koutrafas ist genauso hoch, wie die Türken drüben blöde Wichser sind. Ich würde sagen: Besetz ein Haus. Kost’ nix. Und wenn du das nicht willst, überm Kafenion gibt es Fremdenzimmer. Zwölf Euro die Nacht. Bin mir aber nicht sicher, ob Kakerlaken was für dich sind.«

Er grunzte wieder und nahm noch einen Schluck aus dem Glas. Sofia fragte sich, wie er den Suff durchhielt, ohne umzukippen. Die Sonne brannte mittlerweile auf den Container, dass sie auf dem Dach Spiegeleier hätte braten können. Der Ventilator neben seinem Schreibtisch wirkte ähnlich effizient wie ein Bunsenbrenner bei der Eiswürfelherstellung.

»Alles klar. Ich guck mich mal um. Wie sind denn meine Arbeitszeiten?«

Für einen Moment herrschte Stille. Dann stützte er beide Hände auf den Tisch und richtete sich auf. Das Grinsen war aus seinem Gesicht verschwunden, er schaute sie aus kleinen listigen Augen wach an, als wäre er auf einmal ganz nüchtern.

»Pass auf, Tausendschön. Ich sage es nur einmal: Ich bin, sagen wir mal, eher nicht so sehr der Menschenfreund. Und heute Morgen hab ich gedacht, das Schlimmste, was mir an diesem Tag passieren könnte, wäre ein verendetes Schaf auf der Hauptstraße oder ein türkischer Tourist, der durch mein Dorf läuft, oder ein Anstieg der Ouzo-Preise um drei Prozent. Und dann kommst du hier rein. Ich habe wirklich nicht um irgendeinen Menschen gebeten, der sich in meinem Büro breitmacht. Und erst recht nicht um eine tussige Schnalle von irgendeiner wahnsinnig wichtigen Kack-Universität, die pro Jahr teurer ist als mein Einkommen im gesamten letzten Jahrzehnt. Ich empfehle dir also für unser beider Wohlergehen, dass du es schön ruhig angehen lässt. Such dir eine Bleibe, damit das Ministerium glaubt, du arbeitest hier. Und dann verpiss dich nach Nikosia oder Limassol oder Ayia Napa, trink Champagner aus Eimern und mach, was feine Damen so machen. Aber sei nicht hier. Und vor allem: Weck mich nie wieder auf.«

Er beendete seinen Monolog, indem er die Hände auf den Tisch knallte und sich wieder in seinen Stuhl fallen ließ. Das war’s. Mehr war wohl wirklich nicht zu sagen. Sie war zu verdattert, um zu antworten. Sie hätte gerne geweint, aber es war hier drinnen zu heiß für irgendeinen Flüssigkeitsverlust. Sie betrachtete die Autoschlüssel in ihrer Hand und verstand: Er hatte ihr den Wagen gegeben, damit sie schnell von hier verschwand. Und Sofia entschied, dass er sie kein zweites Mal würde bitten müssen.

Téssera – 4

Da stand sie auf der Dorfstraße von Kato Koutrafas und fühlte sich, als hätte sie Lepra. Und dieses Kaff wäre ihre Quarantäne. Um keinen Preis wollte sie hierbleiben. Und es schien, als wollte auch niemand, der hier wohnte, sie hier haben. Ihr Leben hatte sich in den letzten zwölf Stunden gehörig verändert. Sofia hätte nicht gedacht, dass sie sich jemals ins kalte und regnerische England zurückwünschen würde. Schwups. Da war es passiert. Nach nur zwei Stunden im Land.

Ihr mechanischer Vichy-Sonnenschutz in Stärke 20 war der zypriotischen Sonne zumindest hier im ländlichen Glutofen nicht gewachsen. Ihre Haut begann zu ziehen und zu brennen. Sie brauchte dringend eine Herberge. Sie fühlte sich ein bisschen so wie Maria in der Weihnachtsgeschichte. Nur ohne Mann und ohne Bauch und mitten am Tag.

Vor dem Kafenion saß niemand. Kein Wunder bei der Hitze. Der Bau war zweistöckig, offenbar war unten das Café des Ortes und oben das Wohnhaus der Besitzer. Die Farbe des Hauses hätte bereits vor fünfzig Jahren mal wieder nachgebessert werden können. Jetzt kam eigentlich nur noch ein Neubau infrage. Sofia öffnete die Tür und fand sich in einem Film von Aki Kaurismäki wieder. Ungefähr ein Dutzend Augenpaare hefteten sich an sie, wie sie da stand in ihren Designerklamotten. Die meisten Augenpaare gehörten alten Männern, wobei alt noch schmeichelhaft war. Sofia hatte mal gelesen, in Sardinien gebe es ein Dorf der Hundertjährigen. Das hatte wohl in der Zeitung gestanden, weil der Redakteur sich nicht nach Zypern traute. Die Männer waren jedenfalls uralt. Ihre Gesichter bestanden aus Falten, die aussahen wie Ackerfurchen, und sie hatten diese tiefbraune Farbe angenommen, die nur bekommen konnte, wer mehrere Dekaden lang auf Feldern und Hügeln zwischen Nikosia und Larnaka Schafe und Ziegen gehütet hatte. Keiner von ihnen sagte ein Wort.

Sofia überlegte, ob alle nur einfach so zur Türe starrten, weil sie ob ihres Alters ohnehin nichts mehr sehen konnten – und weil es hier drinnen dunkel war wie in einem nächtlichen Pumakäfig. Nebenbei roch es auch so. Als sie sich auf die Bar zubewegte, bewegten die alten Herren allerdings die Köpfe. Der Test war also geglückt, sie sahen doch etwas. Ein Hoch aufs zypriotische Gesundheitssystem. Offenbar hatte Sofia das Tavli-Spiel unterbrochen, das an mehreren Tischen gespielt wurde, denn die Backgammon-Bretter lagen geöffnet vor den Herren. Sie hatten die Steine wohl schon fallen lassen, bevor sie die junge Frau erblickt hatten. Sofia hatte Tavli nie verstanden. Irgendwie war es wie Backgammon. Ihr Vater hatte es ihr als Kind nicht beibringen wollen. Er hatte immer wieder erklärt, in ihren Kreisen spiele man nicht an einem Tisch in einem Kafenion, sondern im familieneigenen Salon. Später als Jugendliche wollte sie mit anderen Dingen spielen als mit Brettern auf Tischen.

Sofia beschloss, sich der Hauptrolle in dem Kaurismäki-Drehbuch nicht hinzugeben. Sie nahm die letzten Meter bis zur Bar mit festem Schritt und stolz erhobenem Kopf – mit Würde sozusagen.

Der Raum war riesig. An der Wand lief ein Fernseher, der auf RIK1 eingestellt war. Die Nachrichten begannen gerade. Der Sender lief lautlos, weil parallel ein Radio eine zypriotische Volksweise dudelte. Hinter der Bar stand ein junger Mann, der eben noch an der Kaffeemaschine hantiert hatte und nun aufsah. Er war … Nun ja, er war dick. Er war sogar sehr dick. Dicker als so mancher Engländer, den Sofia bei Pubcrawl-Touren in Manchester gesehen hatte. Er hoffte wohl, dass der Tresen seine Ausmaße verdeckte, aber sie konnte selbst über die Bar hinweg sehen, wie seine Gestalt nach unten hin auseinanderquoll wie ein riesiger Muffin. Sein Gesicht war gar nicht hässlich, er versuchte sogar ein Lächeln. Es war vielmehr ein recht hübsches Gesicht. Das half nur nicht, da der Rest gezeichnet war von zu viel Keo-Bier und jahrelangem Souvlaki-Konsum. Oder er hatte was mit der Schilddrüse. Konnte ja sein.

»Kalispera«, begann Sofia zaghaft, ihr frischer Mut war irgendwo auf dem Weg durchs Lokal wieder verlorengegangen.

»Kalispera, mia kopela«, antwortete er, womit er höflicher war, als sie es erwartet hatte. Junge Frau. In London war ihr überwiegend nachgepfiffen worden.

»Möchten Sie etwas trinken? Haben Sie sich verfahren?« Er wirkte ehrlich besorgt. Offensichtlich verirrte sich nie jemand hierher.

»Nein, keine Sorge«, antwortete sie. »Ich bin für einige Wochen hier als Hilfspolizistin eingesetzt, drüben im Revier. Ich brauche einen Schlafplatz.«

Sie hatte wohl etwas zu laut gesprochen, denn im selben Moment wurde es unglaublich still im Raum. Die Männer, die ihr Spiel wieder aufgenommen hatten, ließen die Steine diesmal buchstäblich fallen. Und der junge Mann hinter der Bar schaute auf einmal verdattert, gluckste dann zweimal und fing an zu lachen, so wie Kostas vorhin gelacht hatte – nur dass Adonis’ Körper bebte wie die griechische Halbinsel einmal im Jahr.

»Bei Kostas?« Er kriegte sich gar nicht wieder ein. Mann, das war ja ein fröhliches Örtchen.

»Ja, bei Chief Inspector Karamanlis.«

»Waren Sie etwa schon bei ihm?«

»Ich komme gerade von drüben.«

Er sah aus dem Fenster, als wollte er nachprüfen, ob der Polizeicontainer noch an seinem Platz stand. Dann sah er sie wieder an.

»Und geht es Ihnen gut?«

»Na, geht so. Ich brauche einen Schlafplatz. Und Kostas meint, es gebe hier Betten.«

»Oh, natürlich.« Er hörte auf zu lachen und betrachtete sie nun endlich als Kundin statt als witzige kleine Anekdote. Mit seinem Kopf wies er in Richtung der alten Männer.

»Weiterspielen«, sagte er leiser, aber bestimmt, und die Herren hörten offenbar noch einigermaßen gut, denn sie folgten seinen Worten. Sofort hob das Gemurmel im Raum wieder an. Er kam um den Tresen herum.

»Willkommen in Kato Koutrafas«, sagte er. »Mein Name ist Adonis.« Er wartete einen Augenblick, als wollte er den Namen sogleich wieder zurücknehmen oder als erwartete er, dass sie es täte.

Das konnte doch wirklich nur ein Witz sein. Aber es passierte nichts. Also musste Sofia reagieren. Sie hielt ihm ihre kleine, fein manikürte Hand hin, die in seiner ausladenden Schaufel fast versank.

»Sofia Perikles. Innenministerium in Nikosia.« Sie konnte nicht mit Gewissheit sagen, ob diese Bezeichnung jemals gestimmt hatte oder jemals stimmen würde. Aber sie würde im Leben nicht sagen: Sofia Perikles, Polizei von Kato Koutrafas. Im Leben nicht. Ihn schien aber nicht zu interessieren, welche hohe Behörde sie hierhergeschickt hatte. Vielmehr interessierte sich dieser fleischgewordene Anti-Adonis stattdessen für Sofia als Person. Oder als Frau. So schien es ihr jedenfalls, als sein Blick an ihr herunterwanderte, nachdem er den Tresen umrundet hatte.

»Haben Sie Gepäck? Dann zeige ich Ihnen das Zimmer. Kostet zwölf Euro die Nacht. Wenn Sie länger bleiben, so einen Monat, reduzieren wir auf zehn Euro pro Nacht. Wäre das o.k.?«

»Kann ich mit Karte zahlen?«

Es sollte ein Witz sein, aber er schaute sie an, als käme sie vom Mond. »Natürlich. CYTA hat uns einen ganz neuen Internetanschluss hierhergebastelt. Das WLAN ist rasend schnell. Funknetz gibt es aber leider nicht, das haben Sie bestimmt schon gemerkt, oder? Sie können also mit Karte zahlen, für uns wäre es aber natürlich besser, Sie würden bar …«

Er beendete den Satz nicht, als erinnerte er sich, dass Sofia gesagt hatte, sie käme von einem Ministerium. Vielleicht überlegte er gerade, ob sie Finanzministerium gesagt hatte. Wie auch immer. Selbst wenn sie künftig zur Schwarzarbeitsbekämpfung eingesetzt werden sollte – die verdammten Kommunisten in der Regierung würden von ihr nicht einen Euro Steuergeld bekommen.

»Dann gehe ich zum Auto und hole meine Koffer.«

»Ich helfe Ihnen.«

Er war schon hinter ihr.

»Sie sind schwer, die Koffer, sehr schwer. Und es sind viele.«

»Kein Problem. Kommen Sie, ich helfe Ihnen.«

Und dann rief er lauter: »Giorgios, komm bitte mit, wir müssen der Dame helfen.«

Irgendwie erwartete Sofia für den Bruchteil einer Sekunde, dass aus einem Nebenraum ein junger athletischer Mann kommen würde, der als Kofferträger angestellt war. Stattdessen stand einer der alten Männer auf, murmelte etwas zu seinen Freunden und griff sich mit der Hand vielsagend an den Kopf, dann schlurfte er ihnen entgegen. Er sah aus wie junggebliebene hundert.

»Mein Urgroßvater«, erklärte Adonis, als wäre es das Logischste auf der Welt, dass man seinen Urgroßvater überhaupt irgendwo anders hinschleppte als in die Geriatrie.

Sie mussten ein herrliches Bild abgeben – zumindest für den Regisseur einer Komödie: eine junge zypriotisch-britische Lady auf Keilabsätzen, dahinter ein ausgemergelter Ultrasenior im Karohemd, der seinen fleischlich ausgedehnten Urenkel mittlerweile im Gehen überholt hatte. Der wiederum wild schnaufend hinterdrein. Sofia war sich sicher, dass dieser Szene ganz Kato Koutrafas beiwohnte.

Sie bat Giorgios während des Ausladens, nicht den schwersten Koffer allein zu tragen, doch er hörte nicht, antwortete nicht, trug einfach nur stur den 30-Kilo-Koffer – das genaue Gewicht kannte sie, weil die Frau am Aegean-Schalter missbilligend den Kopf geschüttelt hatte – in Richtung Gasthaus. Während sich Adonis mit den zwei kleineren Koffern abmühte und sie selbst ihre Handtasche trug.

Da ging die Tür des Kafenions auf und eine junge Frau kam heraus. Sie war nicht sehr hübsch, eher hatte sie diese zypriotische Strenge um die Augen, in Verbindung mit leichten Augenringen. Doch ihre Figur war top, das sah Sofia sofort.

»Ach, da ist Constantina«, sagte Adonis, »meine Frau.«

Das war Sofia eben auch klar geworden, als sie bemerkte, wie die Grazie einen Gang zulegte, als sie die Neuangekommene sah und ihr Blick alles andere ausstrahlte als heitere Gastfreundschaft.

»Adonis? Wer ist das?«

»Eine Kundin, Consti, eine Kundin. Und zudem die neue Hilfspolizistin im Ort.«

»Sie?« Ihre Stimme war schrill, und sie konnte es nicht unterlassen, mit dem Finger auf Sofia zu zeigen. Die beiden Koffer indes ließ sie ihn weiter allein tragen.

Der Urgroßvater war mittlerweile im Haus angekommen. Mann, ist der schnell, dachte Sofia. Wie ein Rennpferd.

»Woher kommen Sie denn ursprünglich?«, fragte Adonis, um die Unterhaltung von seiner Frau weg und wieder in normale Bahnen zu lenken.

»Aus Limassol«, antwortete sie, »aber wir haben lange im Ausland gewohnt. Mein Vater ist Botschafter. Wir waren zusammen in Afrika, dann in Prag, Rom, Berlin, und jetzt war ich ewig in London.«

»Sie sind ja rumgekommen«, sagte er, immer noch schwer schnaufend, und seine Frau fügte bissig hinzu: »Na, das wär’ mir ja nichts. Ich bin lieber hier. Schön ruhig. So viel rumreisen … nein, nein, nein …«, und sie plapperte noch weiter, bis zur Tür.

Merkwürdig war das, eine durchaus attraktive Frau, die ihren – zumindest äußerlich – recht unvorteilhaften Mann derart argwöhnisch betrachtete.

»Und Sie führen den Betrieb zusammen?«

»Ja«, sagte er, und der Stolz belegte seine Stimme, »es ist ein echter Familienbetrieb. Meine Frau und ich. Unsere Eltern und Großeltern. Mein Urgroßvater. Und mein Zwillingsbruder.«

Gab es etwa noch einen Adonis? Auf dessen Ausmaße war Sofia gespannt.

Sie betraten das Kafenion wieder. Die Aufregung war vorüber. Die alten Herren beachteten sie gar nicht mehr, spielten ihr Tavli ungerührt weiter.

»Könntest du hinter die Bar gehen, während ich die Koffer hochtrage, Consti-Schatz?«, fragte Adonis seine Frau.

»Na, das könnte dir so …« Sie sprach nicht weiter, ließ aber auch nicht ab von den beiden, sondern folgte ihnen ins obere Stockwerk.

Von einem langen dunklen Flur gingen vier Türen nach links ab. Schlüssel gab es offenbar keine, Adonis öffnete die Tür zum zweiten Zimmer einfach so und ließ Sofia eintreten.

»Zimmer 2. Unsere Suite. Unser schönster Raum. Sie können ihn dennoch für zehn Euro haben. Treten Sie ein.«

Sofia tat wie geheißen und atmete auf. Es gab vier Wände, zwei Fenster und sogar ein Bett und einen Schrank. Mehr, als zu erwarten gewesen war. Und es war einigermaßen sauber. Gut, Bett und Schrank waren aus billiger Spanplatte und die einzigen Möbel im Zimmer. Es gab keinen Schreibtisch, keinen Stuhl und keinen Fernseher. Aber es kostete nur zehn Euro pro Nacht. 38-mal weniger als ihre letzte Hotelübernachtung. Mit Carl in einem wunderschönen kleinen Boutique-Hotel bei Neapel. Doch sie ahnte, dass sie in Zukunft eventuell etwas sparsamer würde leben müssen. Noch war unklar, wie es weiterging mit den Kommunisten: Vielleicht froren sie die Löhne für die Beamten ein – und damit auch für Sofia. Oder ihr Vater, der sie bislang immer unterstützt hatte, würde künftig sein Geld für andere Dinge ausgeben als für seine von der Karriereleiter gefallene Tochter, die nun Dorfpolizistin war. Auch deshalb kam ihr diese Unterkunft ganz gelegen. Und sie war ja immer noch fest davon überzeugt, dass dieses Versehen irgendwann jemandem auffallen musste und es sich nur um eine Frage von Tagen oder Wochen handeln konnte. Die verdammte neue Regierung konnte doch nicht die Zukunft des Landes – die bestausgebildeten Studenten von internationalen Unis – in der Provinz verkommen lassen.

Sofias großer Koffer stand schon in der Ecke, und Urgroßvater Giorgios hatte sich unbemerkt aus dem Staub gemacht. Vielleicht war er einer dieser Hundertjährigen, die aus Fenstern springen. Adonis stellte die beiden kleineren Koffer ab, und seine Frau ließ ihn dabei nicht aus den Augen.

»Efaristo«, sagte Sofia und meinte es gar nicht so ironisch, wie es herauskam, »ich werde mich dann mal frisch machen. Ich komme danach wieder runter.«

»Natürlich. Kommen Sie erst mal an, Fräulein Perikles.«

Er war wirklich sehr freundlich. Vielleicht war Constantina deshalb so eifersüchtig. Weil sie wusste, wie viel sie an ihm hatte. Obwohl sich Sofia nicht vorstellen konnte, dass er zu ihr auch so liebenswürdig war. Sie hörte Constantina jedenfalls immer noch auf Adonis einreden, als ihre Zimmertür längst geschlossen war. Sie atmete tief durch und betrachtete ihre neue Wohnumgebung, verglich sie in Gedanken mit dem alten Apartment in London-Shoreditch. Den hohen Decken. Den alten Möbeln. Altehrwürdig, nicht altbacken.

»Bonjour tristesse«, murmelte sie.

Pénte – 5

Zwei dunkle Augen, eng zusammenliegend, darunter eine befellte Nase und ein Maul mit kleinen Zähnen. Das Maul öffnete sich stetig, doch es kam kein »Mäh« heraus. Dafür trug das Schaf eine Polizeiuniform, die ihm wie auf den Leib geschnitten war. Es stand mitten auf der Straße und rief immer wieder: »Kato Koutrafas«, »Kato Koutrafas«, »Kato Koutrafas«. Dabei lachte es wie Kostas. Oder doch wie Adonis?

Sofia schreckte hoch. So ein beschissener Traum. Sie musste eingeschlafen sein, dabei hatte sie sich vorhin nur kurz hinlegen wollen, um nicht vor Erschöpfung und Dehydrierung umzukippen. Was für ein Tag. Sofia stand auf und ging zum Spiegel. Der Anblick auf der Bordtoilette in der Aegean