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Um Abstand von Job und Grossstadt zu bekommen, reist Jessie kurzentschlossen in die Berge. Doch ihre Urlaubspläne werden durch den äußerst attraktiven, aber mysteriösen Christopher durchkreuzt. Gegen besseren Wissens beginnt sie eine Romanze mit ihm. Alles scheint perfekt, bis sie eine Entdeckung macht, die sie erschüttert. Nun gibt es für Jessie nur noch ein Ziel: nichts wie weg... Aber ist dies die richtige Entscheidung, um die wahre Liebe zu finden?
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Seitenzahl: 342
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Für Carmen
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
Geschafft! Endlich war sie nach drei quälend langen Autostunden angekommen. Mit einem gekonnten Kick drückte Jessie den Absatz ihrer Schuhe gegen die hölzerne Eingangstür, die laut krachend ins Schloss fiel. Die Zunge zwischen die Lippen gepresst, schleppte sie zwei große Einkaufstüten in die angrenzende Küche, wo sie beide mit einem heftigen Ruck auf die Küchenanrichte hievte. Das war knapp gewesen, denn ein Plastikträger hatte sich bereits gefährlich in die Länge gezogen. Das hätte ihr zu allem Unglück noch gefehlt! Sie strich sich zwei braune Haarsträhnen ihres schulterlangen Haares aus dem Gesicht und blickte sich in der hellen Küche um. Vier große Sprossenfenster gaben den Blick auf den Vorhof frei, der von den letzten Sonnenstrahlen in warmes Licht getaucht wurde. Wie lange war es her, dass sie zuletzt hier gewesen war? Zwei, drei Jahre? Ihr kam es wie eine Ewigkeit vor, dass sie voller Vorfreude auf schöne Urlaubstage das Ferienhaus ihrer Eltern betreten hatte. Resigniert schüttelte sie den Kopf. Wie anders es diesmal doch war. Ihr Berufsleben lag in Trümmern, ihr großer Lebenstraum war geplatzt, ausgebootet von dem größten Widerling und Seilschaftenknüpfer, den sie kannte. Allein schon bei dem Gedanken an Wolfgang Kettler gefror ihr das Blut in den Adern. Seit sie die Neuigkeit, natürlich streng vertraulich, von zwei Kollegen erfahren hatte, war sie nicht mehr sie selbst. Alles, wofür sie gearbeitet, ja sogar ihr Leben geopfert hatte, war futsch. Zerplatzt wie eine Seifenblase. Aus und vorbei. Jessie seufzte. Glücklicherweise hatte sie sich an diesen Ort erinnert, um zu sich zu kommen und ihre Zukunft neu zu ordnen. Kein anderer Platz auf der Welt konnte ihre Batterien so aufladen wie dieser. Sie schloss für einen kurzen Moment die Augen. Ja, sie war angekommen. Wie schön es doch war, alles genauso wiederzusehen, wie sie es in Erinnerung hatte. Das Anwesen grenzte direkt an einen Bergsee, zu dem nur eine schmale Bergstraße führte. Jessies Blick glitt über den Vorplatz zum großen, gusseisernen Tor, zu dessen Linken sich ein grüner Hang erstreckte. Er war von hohen Tannen gesäumt, die im Sommer herrlichen Schatten spendeten. Weiter oben stand eine kleine Aussichtsbank. Von dort aus besaß man unzweifelhaft den besten Ausblick über das gesamte Grundstück und den angrenzenden See, umrandet von den grauen Bergspitzen, die majestätisch in den Himmel ragten. Leicht unterhalb des Hügels plätscherte ein kleiner Teich, der den steileren Gartenteil mit dem sanften Wiesenstück am Seeufer verband. Gleich würde die Sonne untergehen und danach tiefe Dunkelheit das Grundstück überziehen. Flink drehte Jessie sich um. Wenigstens einen Blick wollte sie heute noch auf ihren geliebten Bergsee werfen. Voller Ungeduld eilte sie die neben dem Teich beginnenden Steinstufen hinunter zur Blumenwiese, die vollständig den unteren Gartenteil umfasste und friedlich in der Abenddämmerung vor ihr lag. Sie blieb einen Moment stehen und sog die typische Alpenluft ein. Würzige Kräuter mischten sich mit unzähligen Blumendüften. Als sie die weiße Alpen-Küchenschelle erkannte, deren Blüten beim Zusammendrücken laut knackten, beugte sie sich lächelnd vor. Das Zirpen der Grillen und das Summen der umherschwirrenden Schwebefliegen untermalt vom tiefen Geläut der Kuhglocken, das von den angrenzenden Bergwiesen herüberschallte, verdrängten die Stille. Etwas versteckt entdeckte Jessie den kurzstieligen Allermannsharnisch mit seinen dichten kugeligen Blüten. Ein wehmütiges Lächeln huschte über ihre Lippen. Früher hatte sie die Wurzelzwiebeln des Allermannsharnischs in ihren Hosentaschen mit sich herumgetragen, denn einer alten Sage nach war dies eine Zauberpflanze, die böse Geister fernhielt. Vielleicht sollte sie sich in diesem Urlaub auch einige Wurzelzwiebeln in die Hosentasche stecken? Seufzend wandte sie sich von der Wiese ab und schritt die letzten drei Stufen zum See hinunter. Keine zwei Meter von ihr entfernt schwappte das kristallklare Wasser sanft gegen die Uferböschung. Fasziniert blickte sie auf die Wasseroberfläche, in deren türkisblauer Farbe sich die Strahlen der untergehenden Sonne spiegelten. Ganz still lag der See vor ihr. Unschuldig und verträumt. Sie atmete tief ein. Ja, das war ihr Bergsee in seiner ganzen Schönheit, umgeben von den mächtigen Bergmassiven der Zugspitze und des Waxensteins, die ihn schützend umringten. Eine magische Stimmung umgab ihn und begann langsam auch durch ihre Adern zu strömen. Kein Mensch war außer ihr zu sehen. Kein Angler und kein Wanderer störten diese magische Ruhe. In diesem Moment gehörte der See nur ihr. Als Kind hatte sie hier oft gestanden und ihren Träumen freien Lauf gelassen. Wie oft hatte sie sich ausgemalt, dass sie eine erfolgreiche Karrierefrau sein würde. Resigniert schüttelte sie den Kopf. Wie naiv man doch als Kind war! Die Realität, zumindest ihre Realität, sah ganz anders aus. Zugegeben, sie hatte sich nach ihrem Studium durch jahrelange harte Arbeit, unzählige Überstunden, lange Nächte im Büro und ständige Verfügbarkeit, die ein Privatleben unmöglich machten, Schritt für Schritt zu einer erfolgreichen Projektleiterin in einem angesehenen Unternehmen hochgearbeitet, doch der geglaubte Etappensieg bedeutete für sie nun bereits das Karriereende. Alles aus und vorbei. Trotz all der Aufopferung hatte der Vorstand einfach entschieden, die ausstehende Beförderung nicht ihr, sondern ihrem Kollegen Wolfgang Kettler zu geben, diesem schmierigen Wichtigtuer. Reichte es nicht, dass er für die gleiche Position mehr verdiente als sie? Musste die Ungerechtigkeit zusätzlich manifestiert werden? Irgendwann würden sie herausfinden, dass Wolfgang nur heiße Luft von sich gab, aber dann war es zu spät. Sie konnte und wollte es nicht ertragen, mit ihm weiter zusammenzuarbeiten oder schlimmer noch, ihm zuarbeiten zu müssen. Sie würde kündigen und das Unternehmen verlassen, das stand fest. Aber was dann? Wieder alles von vorne beginnen in einem anderen Unternehmen? Wieder alles geben, um am Ende erneut mit leeren Händen dazustehen und einem weiteren, vielleicht noch widerlicheren Wolfgang Kettler den Vortritt zu lassen? Oh nein, nicht mit ihr! Wütend ballte Jessie die Hände zur Faust, nur um sie einen Augenblick später müde herabhängen zu lassen. Nachdem sie diese Nachricht erhalten hatte, wollte sie nur noch weg. Weglaufen, sich verstecken und an einen Ort fahren, an dem sie sich geborgen fühlte. Darum war sie jetzt hier. Sie blickte auf die Berghänge, die durch die letzten Sonnenstrahlen sanft erglühten. Am See lebten noch drei Nachbarn. Ein alter Wiesenbauer zur Rechten, der aber seit einigen Jahren im Dorf wohnte und nur für wenige Stunden am Tag hinauf kam. Die einzigen Hauptbewohner auf seinem Grundstück waren die zahlreichen Kühe, deren Anwesenheit der rhythmische Klang ihrer Kuhglocken bezeugte. Das Haus zur Linken gehörte einer Familie, deren Kinder - angeblich zwei Jungen - sie jedoch nie gesehen hatte. Daher waren sie eher Fakt als Realität. Etwas weiter oben am Berg wohnte der dritte Nachbar, Thomas. Er war ungefähr so alt wie Jessie. Das Haus hatte er von seiner Großmutter geerbt und zu einem kleinen gemütlichen Restaurant mit Gartenwirtschaft umgebaut. Sie hatte Thomas’ Großmutter oft besucht, eine liebenswerte alte Dame, die immer diesen leckeren, saftigen Apfelkuchen gebacken hatte. Mit Thomas, der bei seiner Mutter in München aufgewachsen war und während der gesamten Ferien bei seiner Großmutter wohnte, hatte Jessie zusammen mit ihren Geschwistern in den Ferien häufig gespielt. Und wenn es dabei einmal Streit gegeben hatte, war sofort seine Großmutter mit ihrem Apfelkuchen erschienen, von dem sich jedes Kind gierig ein Stück gegriffen hatte. Das hatte selbst die Wildesten unter ihnen besänftigt. Mit ihren weißen langen Haaren, stets zu einem dicken Knoten im Nacken zusammengebunden, und ihren blauen Augen war sie eine imposante Erscheinung gewesen. Thomas hatte zweifelsfrei die Kochkünste seiner Großmutter geerbt. Laut ihrer Mutter galt sein Restaurant sogar als regionaler Geheimtipp. Während sie ihren Gedanken nachhing, wurden die Berggipfel in tiefes Rot getaucht. Gleich würde es dunkel werden. Besser sie holte jetzt ihren Koffer aus dem Auto, denn durch die fehlende Beleuchtung waren die Abende am See meist rabenschwarz.
Die ersten Sonnenstrahlen erhellten bereits ihr Schlafzimmer, als Jessie am nächsten Morgen erwachte. Verschlafen rieb sie sich die Augen, streckte sich glücklich und warf die Bettdecke gut gelaunt zurück. Neugierig trat sie hinaus auf den Balkon. Ein tiefblauer Himmel begrüßte sie. Nur vereinzelte kleine Wolken waren wie weiße Farbkleckse auf den azurblauen Hintergrund gemalt. Sie konnte sich glücklich schätzen, dass der intrigante Kettler ihr den Job im Hochsommer und nicht im nebligen November weggeschnappt hatte. Nichts da, ermahnte sie sich. Sie würde ihren ersten Urlaubstag nicht mit Gedanken an diesen Blödmann beginnen und sich womöglich noch den ganzen Tag dadurch verderben. Energisch schüttelte sie den Kopf. Oh nein, dieser Tag gehörte ihr, ihr ganz allein. Ihr Blick glitt über den grünen Berghang und blieb am braunen Dachgiebel des Nachbarhauses hängen. Ob wohl jemand dort war? Neugierig stellte Jessie sich auf die Zehenspitzen, um einen besseren Blick zu erhaschen. Die hohen Bäume ließen jedoch kaum Sicht auf das Haus selbst zu. Lediglich durch ein winziges Loch zwischen zwei hohen Tannen erkannte sie einen Teil des Holzbalkons, der an der gesamten zur See gewandten Hausseite verlief. Verwaist und dunkel wartete er auf die ersten Sonnenstrahlen. Sie zuckte gleichgültig mit den Schultern. So lange sie sich erinnern konnte, hatte sie nie jemanden dort gesehen, warum sollte es ausgerechnet heute anders sein? Entschieden verließ sie den Balkon, griff nach ihrem knielangen, seidenen Morgenmantel und stieg die Wendeltreppe hinunter, um sich eine frische Tasse Kaffee zu kochen. Während sie die Kaffeemaschine anstellte, entdeckte sie, den kleinen Leinenbeutel am Eingangstor. Das war auch so eine der Traditionen, die diesen Platz zu einem wahren Paradies machten. Man brauchte gar nicht erst den langen Weg ins Dorf auf sich zu nehmen, denn Georg, der mit seiner Schwester eine kleine Pension auf Halbhöhe des Berges betrieb, brachte während ihres Aufenthaltes jeden Morgen eine kleine Tüte mit der Tageszeitung, ein paar Brötchen und anderen Leckereien vorbei. Beschwingt durch die Aussicht auf ein leckeres Frühstück, schloss Jessie die Haustür auf und schlenderte gut gelaunt über den Vorplatz zum Tor. Die Luft war herrlich erfrischend. Genüsslich sog sie die klare Bergluft ein. Dann warf sie einen Blick auf das steinige Bergmassiv, das gewaltig vor ihr in den Himmel ragte. Majestätisch schauten die hohen Gipfel auf sie herunter. Ihr fahles Grau stach erhaben von dem saftigen Grün der Wiesenhänge ab. Alles war so friedlich hier. Während sie das schwere Tor aufschloss, spielte der Wind mit ihrem seidenen Morgenmantel und hob ihn fröhlich bis zum Po. Schnell griff sie nach ihrem Mantelsaum. Wie gut, dass sie in völliger Abgeschiedenheit war, kicherte sie erleichtert, als ein heller Pfiff die Stille zerriss und Jessie augenblicklich zusammenzucken ließ. Erschrocken richtete sie sich auf. Geblendet von der Morgensonne, legte sie schützend die Hand über die Augen, um besser sehen zu können. Suchend glitt ihr Blick den Weg hinauf zum Nachbargrundstück. Ein Mann lehnte dort an einen roten Sportwagen, hielt lachend einen Daumen in die Höhe und grinste frech zu ihr herüber. Au man, wie peinlich, schoss es ihr durch den Kopf. Sie spürte, wie sich ihre Gesichtsfarbe in ein peinliches Rot verfärbte. Hektisch löste sie den Griff des Leinenbeutels. Als ob sie darauf gewartet hätte, fiel die Zeitung bei der Bewegung fröhlich auf den Boden. Genervt bückte sich Jessie, um nach ihr zu greifen. Dabei löste sich der Gürtel ihres Morgenmantels und rutschte ebenfalls zu Boden. Sofort bauschte sich ihr seidener Mantel im Morgenwind und gab den Blick auf ihr kurzes Spitzennachthemd frei. Das konnte doch jetzt nicht wahr sein! Fluchend fischte Jessie nach ihrem Gürtel, griff nach der Zeitung und drehte sich - ohne ihren Beobachter eines weiteren Blickes zu würdigen - um. So schnell sie konnte eilte sie über den Vorplatz ins Haus, gefolgt von schallendem Gelächter aus der Ferne.
Wer war das gewesen? War dies einer der beiden Nachbarssöhne? Soweit sie von dem kurzen Moment, den sie hinübergeschaut hatte, noch in Erinnerung hatte, war er groß und schlank gewesen mit kurzen, blonden Haaren und einem unmöglichen frechen Grinsen. Und zugegeben, ziemlich attraktiv. Was für eine peinliche Situation!
Es war schon später Vormittag, als Jessie in ihrem kurzen Strandkleid mit dem roten Klatschmohnmotiv die Steintreppe hinunter zum See schlenderte, um eine Runde Tretboot zu fahren. Eine wunderbare Gelegenheit, um endlich ihre neue Videokamera einzuweihen. Ein kleiner Film von hier würde ihr sicher gut tun, wenn sie wieder in ihrem hektischen Berufsalltag, wie auch immer der aussehen mochte, gefangen war. Voller Vorfreude setzte sie ihre Sonnenbrille auf und blickte prüfend auf den See. Er besaß noch genügend Wasser, da der Sommer gerade erst begann. Glitzernd und einladend lag er vor ihr. Sein klares Wasser zeigte an den tieferen Seestellen eine dunkelgrüne Färbung. Vielleicht würde sie später sogar schwimmen, doch zuerst wollte sie eine kleine Bootstour unternehmen. Flink löste sie das Tretboot von seiner Kette, sprang hinauf und steuerte es zu der kleinen Seerosenecke, hinter der sich die großen Bergwiesen des alten Nachbarn befanden. Seine Kühe grasten auf dem gesamten Areal im Sonnenschein. Das Geläut ihrer Glocken wehte wie eine sanfte Melodie über den See und hüllte sie ein. Glücklich genoss sie die Sicht auf das Bergpanorama, das sich lückenlos um den See herum vor azurblauem, wolkenlosem Himmel präsentierte. Sie vergewisserte sich, dass das Ruder des Bootes gen Seemitte zeigte und sie nicht in die flachen Seegebiete getrieben wurde, bevor sie genießerisch die Augen schloss.
Sie musste wohl eingenickt sein, denn als Jessie überrascht die Augen öffnete, lag direkt vor ihr das Nachbarhaus. Der blonde Mann vom Vormittag kniete neben dem Bootshaus und versuchte angestrengt, das dort vertäute blaue Ruderboot ins Wasser zu lassen. Gebannt beobachtete sie, wie er mit den Tauen rang. Seine Gesten wirkten leicht ungeschickt. In seiner weißen Leinenhose mit dem hellblauen Poloshirt sah er allerdings wieder sehr attraktiv aus. Plötzlich zog eine Bewegung aus den Augenwinkeln ihre Aufmerksamkeit auf sich. Ein dunkelhaariger Mann stand regungslos auf dem Balkon. Seine Arme hielt er vor der Brust verschränkt und starrte, wie aus Stein gemeißelt, in ihre Richtung. Unwillkürlich kniff sie die Augen hinter der Sonnenbrille zusammen, um ihn besser sehen zu können. Auch er war groß und schien sportlich zu sein, sein braunes Haar war zu einem kurzen Stufenschnitt geschnitten, das zu seinem länglichen Gesicht passte. Das Weiß seines Poloshirts unterstrich die Bräune seiner Arme und bildete den unschuldigen Kontrast zum dunkelbraunen Balkongeländer. Sein bloßer Anblick jagte ihr unerklärlicherweise einen Schauer über den Rücken. Irgendetwas an seiner Haltung verriet ihr, dass er nicht überrascht war, sie hier und heute Morgen auf dem See zu sehen, auch wenn sie nicht benennen konnte, was es war. Jessie fröstelte plötzlich, obwohl sie im gleißenden Sonnenlicht saß. Was für Irre diese Nachbarn doch waren! Der eine machte auf sich aufmerksam, auch wenn man ihn nicht sah, und der andere bewegte sich nicht, auch wenn er wusste, dass man ihn beobachtete. Sie war wirklich froh, dass sie diese Beiden früher nie gesehen hatte. Aber warum war sie überrascht? Das Nachbarhaus war ihr schon als Kind unheimlich vorgekommen. Anziehend, aber unheimlich, so wie seine Bewohner. Plötzlich beschlich sie ein mulmiges Gefühl. Die vorhin noch empfundene Lust auf eine Bootsfahrt war gänzlich vergangen. Mit einer abrupten Bewegung wendete sie das Boot und trat so schnell sie konnte in die Pedalen, weil sie das ungute Gefühl nicht los wurde, immer noch von dem Blick ihres dunkelhaarigen Nachbarn verfolgt zu werden. Erst als sie die Haustür von innen verriegelte, atmete sie tief durch.
Jessie schwamm und schwamm. Zug um Zug durchquerte sie den See, dessen klares Wasser sie bei jeder Bewegung leicht umspielte. Gleich würde sie die Seemitte erreichen, wo sie beschleunigen musste, damit die Kälte des Wassers sie nicht einfing und ihr das Weiterschwimmen untersagte. Sie holte tief Luft und straffte den Rücken, sodass sie gerade wie ein Brett dicht unter der Wasseroberfläche trieb. Was für ein erhebendes Gefühl, so durch den See zu gleiten. Als das Wasser merklich kühler wurde, durchstach ein plötzlicher Schmerz ihren Fuß. »Bitte keinen Krampf, bitte nicht jetzt«, flehte sie und versuchte den Schmerz zu ignorieren. Doch sie kam nicht von der Stelle, stattdessen schloss sich das Wasser fester um ihren Körper, fast so wie Treibsand. Es zog sie tiefer und tiefer in den See hinab. Was sollte sie bloß tun? Der Schmerz schwoll rasant an. Er vernebelte ihren Blick. Hilfesuchend blickte sie sich um, aber sie war allein. Strauchelnd drehte sie sich um die eigene Achse, um vielleicht doch noch einen Touristen auszumachen. Und da sah sie ihn. Wie eine Statue stand er mit verschränkten Armen auf seinem Balkon und starrte sie unentwegt an. Sein weißes Shirt stach wie ein eindringliches Signal vor dem dunklen Hintergrund hervor.
»Hilfe«, schrie Jessie. »Hilfe, ich ertrinke, bitte retten Sie mich.« Sie versuchte dem Sog des Wassers zu widerstehen und ihm zuzuwinken. Sie schrie auf und schwamm verbissen Zug um Zug weiter. Der Krampf in ihrem Bein zog sich bereits von ihrer rechten Wade bis hinunter zu den Zehen. Zappelnd versuchte sie sich Meter um Meter vorwärts zu kämpfen, aber es gelang ihr mit jedem Zug schlechter. Das Wasser war mittlerweile eisig und zog sie unerbittlich in seine dunklen Tiefen. Nein, sie durfte jetzt nicht untergehen. Verzweifelt versuchte sie, den Bootssteg zu sehen, es war nicht mehr allzu weit, noch gute fünfzig Züge, dann war sie in Sicherheit. Doch ihre Kraft ließ nach, während sich gleichzeitig der Schmerz seinen Weg durch ihren Schenkel fraß. Ihr ganzes Bein brannte, als wenn es von tausend Nadeln durchstochen würde. Um sie herum wogte das nun unbarmherzige Seewasser. Sie tauchte häufiger unter, schluckte Wasser. Immer tiefer zog sie der See hinab. Es war zwecklos, sie besaß keine Kraft mehr, um weiter zu schwimmen. Das Ufer war noch zu weit entfernt. Plötzlich wurde es dunkel um sie herum. Nur das Rauschen des Wassers pochte in ihren Ohren. So sah also das Ende aus.
Ein harter Ruck durchbrach ihr dunkles Tauchen. Energisch wurde sie an den Schultern gen Licht gezogen. Starke Hände griffen unter ihre Arme und drückten sie rücklings an die Seeoberfläche. In rhythmischen Bewegungen bewegte sie sich nun durch den See. Nein, sie schwebte über die Wasseroberfläche, denn sie selbst bewegte sich ja gar nicht. Sie hatte sich den Tod viel erbarmungsloser vorgestellt. Dann hielt sie ruckartig inne und wurde aus dem Wasser gehoben. Die Luft strich wie eine kühle Begrüßung über ihre Haut, bevor sie weiches kühles Gras unter sich fühlte, seinen erdigen Duft roch. Vergeblich versuchte sie, die Augen zu öffnen, ihre Lider waren zu schwer. Sie gehorchten ihr nicht. Jemand strich ihr liebevoll über die Wangen, dann über ihre Arme und hinterließen eine Spur warmen Kribbelns auf der Haut.
»Jessie wach auf! Es ist alles gut. Ich bin jetzt bei dir. Oh Jessie, ich liebe dich so sehr!« Ein warmer, sanfter Mund senkte sich auf ihre Lippen und hauchte ihr zärtlich neue Energie ein. Sie durchströmte ihren Körper und erweckte die tauben Glieder. Benommen öffnete Jessie die Augen und schaute sich verwirrt um. Wo war sie? Wo war die Wiese? Eben hatte sie doch noch das kühle Gras unter sich gespürt. Sie blinzelte ein, zwei Mal, dann ließ sie sich enttäuscht zurück in ihre Kissen fallen. Ein Traum. Es war nur ein Traum gewesen! Kein schöner Traum, wahrlich nicht, aber was für ein unglaubliches Ende hatte er gehabt! Erneut schloss sie die Augen, in der Hoffnung, weiter zu träumen. Sie wollte zurück zu diesem Mann und zu seinem unglaublichen Kuss. Aber der Traum war vorbei. Wer war dieser Mann gewesen, der sie gerettet hatte? Seine Liebe war so deutlich in jedem seiner Worte zu spüren gewesen. Und dann dieser Kuss! Noch nie hatte sie jemand so innig und so voller Liebe, Verzweiflung, Verlangen und Hoffnung geküsst, sodass es sie von Kopf bis Fuß ergriff, wärmte und elektrisierte. Sehnsüchtig fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen, wo sie doch noch gerade eben diesen sanften Mund gespürt hatte. Wenn sie doch nur sein Gesicht hätte sehen können! Enttäuscht schüttelte sie den Kopf. Ihr Blick wanderte zum Fenster, durch dessen weißer Baumwollvorhang fahles Licht in ihr Schlafzimmer drang. Es musste bereits früher Morgen sein. Viel zu früh, um aufzustehen. Jessie drehte sich auf die andere Seite, um weiterzuschlafen, aber ihre Gedanken gaben keine Ruhe. Ergeben streckte sie langsam ein Bein nach dem anderen aus dem warmen Bett, durchquerte das angrenzende Schlafzimmer ihrer Eltern und öffnete dort die Balkontür, die zum See hinaus zeigte. Verträumt trat sie an das hölzerne Geländer. Vor ihr lag der See. Er wirkte im Morgengrauen immer so verwunschen schön. Der kühle Wind prickelte sanft auf ihrer Haut. Sie sollte wohl besser den Bademantel anziehen, aber sie genoss es zu sehr, den Wind auf ihrer nackten Haut zu spüren. Sie liebte diesen Platz, besonders wenn es regnete und sie im Schutz des überdachten Balkons beobachten konnte, wie leise die Regentropfen die Wasseroberfläche berührten und zunächst kleine, dann immer größere Kreise zogen. Es war immer ein besonderes Erlebnis als heimlicher Beobachter Teil dieses Naturschauspiels zu sein. Doch jetzt, so früh am Morgen stand sie in der Mitte des Balkons und blickte fasziniert auf den See. Leichte Schwaden stiegen auf. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, sodass die hohen Bergspitzen sich noch nicht in der türkisblauen Wasseroberfläche spiegelten. Grau ragten sie in den noch dämmrigen Morgenhimmel, an dem nur ein leichter Wolkenschleier zu sehen war. Die grünen Berghänge auf der anderen Seeseite warteten noch geduldig auf die ersten wärmenden Sonnenstrahlen. Im sanften Takt wehte gedämpftes Kuhglockengeläut zu ihr herüber. Perfekt. Einfach perfekt. Das war der ideale Start für einen wundervollen Urlaubstag. Plötzlich nahm sie eine leichte Bewegung der Wasseroberfläche wahr. Gebannt starrte sie auf die zunächst großen, dann immer kleiner werdenden Kreise, die entweder einen Schwimmer oder ein Boot ankündigten. Wahrscheinlich war schon der erste Fischer unterwegs. Wer sonst würde um diese Uhrzeit auf dem See unterwegs sein? Und tatsächlich nahm sie durch das Laub der Bäume eine Bootsspitze wahr, die langsam über den See glitt. Fasziniert hielt Jessie inne, bevor ihr plötzlich der Atem stockte und ein kalter Schauer ihr über den Rücken lief. Alle Fischerboote auf dem See waren grün, das war vom Fischerverein festgelegt worden. Dieses Boot aber war blau. Impulsiv trat sie einen Schritt zurück und versteckte sich hinter dem Balkonpfeiler, um das Boot besser beobachten zu können. Lautlos glitt es langsam über den See. Ein Mann saß regungslos darin, aber soweit sie sehen konnte, hatte er keine Angel ausgeworfen. Was zum Teufel machte er da? Sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Oh Gott! Er starrte gebannt zu ihrem Haus. Jessies Herz schlug heftig. Am liebsten wäre sie so schnell sie konnte ins Haus gerannt, aber ihre Muskeln waren wie gelähmt. Der Mann trug eine dunkle Hose, einen dunklen Pullover und hatte dunkles kurzes Haar! Jessies Knie wurden weich. Genau wie am Vortag starrte er in ihre Richtung. Und genau wie am Vortag hatte sie das ungute Gefühl, dass er ein bestimmtes Interesse verfolgte. Hier draußen konnte sie unmöglich bleiben. Bevor sie einen weiteren Gedanken fassen konnte, drehte sie sich ruckartig um, rannte ins Zimmer, schloss die Balkontür und zog energisch den Vorhang davor. Nun konnte sie auf keinen Fall mehr schlafen. Mit zitternden Händen hüllte sie sich in ihren flauschigen Bademantel und wankte auf wackligen Beinen hinunter in die Küche, wo sie sich einen starken Kaffee kochte. Das beruhigende Glucksen des heißen Wassers, das durch den Kaffeefilter tropfte, beruhigte sie. Stirnrunzelnd starrte Jessie auf die an den Vorplatz grenzende Blumenwiese vor den Küchenfenstern, die friedlich in der Morgensonne lag. Vereinzelte Tautropfen hingen träge an den Blütenblättern und spiegelten sich im Sonnenlicht. Wie trügerisch diese Idylle doch war. Warum beobachtete ihr Nachbar sie? Was hatte er heute Morgen so früh auf dem See gewollt? Und vor allem, was hatte er zu dieser Uhrzeit beobachtet? Er musste doch davon ausgehen, dass sie noch schlief. Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Es ergab alles einfach keinen Sinn. Ob ihre Eltern wussten, was für irre Nachbarn nebenan wohnten? Vielleicht sollte sie einfach ihre Mutter anrufen und sie fragen. Aber wenn sie das täte, dann würde ihre Mutter sofort wieder Bedenken haben, dass sie hier mutterseelenallein ihren Urlaub verbrachte und wahrscheinlich sofort selbst herkommen. Sie brauchte aber einfach eine Auszeit, um sich einmal nur mit sich selbst zu beschäftigen. Also schied die Option, ihre Eltern nach Informationen zu fragen, aus. Sie könnte auch Georg anrufen, aber die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Eltern von ihrem plötzlichen Interesse an den Personen im Nachbarhaus erfuhren, war relativ hoch. Also war auch das keine gute Idee. Gedankenverloren biss sie sich auf die Unterlippe. Plötzlich hellte sich ihre Miene auf. Sie konnte Thomas fragen. Es war ohnehin schon eine Ewigkeit her, dass sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, und ein unverfänglicher Freundschaftsbesuch wäre doch die ideale Möglichkeit, mehr über ihren mysteriösen Nachbarn zur Rechten herauszufinden. Sie würde Thomas ein kleines Gastgeschenk im Ort kaufen und konnte sich damit auch gleich ablenken.
Entspannt schlenderte Jessie durch die Dorfstraße, in der sich neben einer Bäckerei, einem Metzger, einem Friseur und etlichen Andenkenläden auch zwei Cafés befanden. Das Ende der kleinen Hauptstraße bildete die Dorfkirche, deren Zwiebeltürme stolz in den wolkenlosen Himmel ragten. Mit ihren Lüftlmalereien gaben sie vor dem tiefblauen Sommerhimmel ein farbenfrohes Bild ab. Gegenüber der Kirche befand sich das Café Paradies. Auch wenn die Touristen noch nicht das Dorfzentrum bevölkerten, luden die ausgefahrenen, leuchtend orangefarbenen Markisen jeden Vorübergehenden ein, eine kurze Pause einzulegen. Spontan entschied Jessie, diese Einladung anzunehmen. Ihr Blick schweifte über die weitläufige Caféterrasse und blieb an einem schönen, schattigen Platz, der ihr einen freien Blick auf den Kirchplatz und die angrenzende kleine Fußgängerzone mit den bunten Häuserfassaden bot, hängen. Kurzentschlossen setzte sie sich und bestellte einen Cappuccino. Die Kirchturmuhr schlug elf. Der dumpfe Glockenklang hallte über den Kirchplatz. Mit einem jähen Klirren des Kaffeelöffels, der gefährlich gegen die schwungvoll abgestellte Cappuccinotasse schlug, unterbrach die herbeieilende Bedienung die heimelige Idylle. Erschrocken blickte Jessie sie an, doch die Serviererin hatte sich bereits dem nächsten Tisch zugewandt. Vorsichtig griff Jessie nach ihrer Tasse und trank langsam einen Schluck. Heiß floss der Cappuccino ihre Kehle hinunter. Wunderbar. Entspannt ließ sie ihren Blick über die anderen Cafégäste und die herannahenden Touristen in der Fußgängerzone schweifen. Plötzlich hielt sie inne und ihre Augen weiteten sich vor Staunen. Das war doch nicht möglich! Was machten ihre Nachbarn hier? Wurde sie verfolgt? Ein Schauer lief ihr über den Rücken und leichte Panik stieg in ihr auf. Sie umfasste die Cappuccinotasse so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Gebannt beobachtete sie, wie beide Männer die Straße entlang auf sie zu schlenderten. Während der Blonde eine Jeans mit einem gelben Poloshirt trug, hatte der Dunkelhaarige sich für eine dunkelblaue Stoffhose und ein enggeschnittenes hellblaues Hemd entschieden, dessen Ärmel er bis zu den Unterarmen aufgekrempelt hatte. Widerstrebend gab sie zu, dass ihm beides zu seinem dunklen Haar und der großen schlanken Statur ausgesprochen gut stand. Sein Gang drückte Entschiedenheit und Überlegenheit aus, ohne jedoch arrogant zu wirken. Der Blonde hingegen schien unbekümmerter auf die Welt zuzugehen. Unmerklich schüttelte Jessie den Kopf. Welch ein ungleiches Paar Brüder. Keine zehn Schritte trennten sie mehr. Sie betete inständig, dass sie unentdeckt bleiben möge. Vor Aufregung hielt sie den Atem an, als der Blonde plötzlich lachte und dem Dunkelhaarigen freundschaftlich auf die Schulter schlug. Ohne auch nur einen Blick in ihre Richtung zu werfen, verschwanden beide Männer um die Straßenbiegung. Erleichtert stellte Jessie ihre Tasse auf den Tisch. Wenn sie vor ihrer Fahrt ins Dorf noch Zweifel an dem Besuch bei Thomas gehabt hatte, so waren diese nun gänzlich verflogen. Es stand außer Frage, dass sie unbedingt mit ihm sprechen musste und zwar sofort. Bestimmt konnte er ihr weiterhelfen.
Vorsichtig erklomm Jessie den schmalen Bergweg, der zuerst eine leichte Rechtsbiegung machte, bevor er sich über den Hauptweg weitere fünfhundert Meter den Berg hinaufschlängelte. Der Wegesrand war mit bunten, satt blühenden Bergblumen gesäumt, deren grüne Blätter bis auf den Kiesweg reichten. Die Grillen zirpten lautstark um die Wette und einige Libellen flogen emsig zwischen den Blüten umher. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, denn ihre Schuhe mit den hohen Bastabsätzen passten zwar perfekt zu ihrem cremefarbigen Sommerkleid, das mit seinem geraden, engen Schnitt ihre schlanke Figur betonte, erwiesen sich jedoch für den Weg zu Thomas’ Restaurant als völlig ungeeignet. Aber sie wollte einen guten Eindruck bei ihm hinterlassen. Und für die kurze Wegstrecke wäre es wirklich zu albern gewesen, den Wagen zu benutzen. Sie sah schon die weißen Gardinenspitzen, die hinter den braunen Fensterrahmen leuchteten. Seitlich waren sie mit einer Schlaufe befestigt, wodurch jedes Fenster einladend und freundlich wirkte. Davor blühten prall die roten Geranien. Stolz reckten sie ihre Hälse der Sonne entgegen.
Vor dem Restaurant erstreckte sich ein kleiner Parkplatz. Vorsichtig schritt Jessie an dem liebevoll angelegten Kräutergarten vorbei zur Haustür, dessen geschwungenes Holz zu den braun getönten Glasfenstern passte. Die eine Hälfte der wuchtigen Flügeltür stand weit offen und lud sie ein, einfach einzutreten. Mit klopfendem Herzen folgte Jessie dieser stummen Einladung und blieb staunend im Innenraum stehen. Im Gegensatz zu dem dunklen Holz der Fensterrahmen strahlte das Weiß der getünchten Wände, an denen verschiedene Gemälde hingen, geradezu. Die weißen Schilder in der unteren Ecke des Rahmens verrieten den Künstlernamen und den jeweiligen Kaufpreis. Jessies Blick flog durch das Restaurant. Liebevoll arrangierte Wiesensträußchen schmückten die Fensternischen und verliehen dem Raum etwas Lebendiges. Thomas hatte wirklich ein gutes Auge fürs Detail. Die bereits festlich gedeckten Tische mit den dunklen Holzstühlen, auf denen weiße Spitzenkissen platziert waren, standen verwaist vor ihr. Bei dem herrlichen Sommerwetter zogen die Gäste es verständlicherweise vor, draußen auf der sonnigen Terrasse zu sitzen und das atemberaubende Bergpanorama zu genießen. Neugierig folgte sie dem fröhlichen Stimmengewirr und trat hinaus auf die kleine Panoramaterrasse.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Eine tiefe Männerstimme hinter ihr ließ sie herumwirbeln. Zwei blaue Augen, die von vielen kleinen Lachfältchen umgeben waren, schauten sie aus einem markanten, länglichen Gesicht zuerst fragend, dann überrascht an.
»Nein, Jessie! Das gibt es doch nicht. Bist du es wirklich?« Mit einem breiten Grinsen in seinem sonnengebräunten Gesicht beugte sich Thomas zu ihr hinunter und küsste sie zur Begrüßung auf die Wangen. Er überragte sie um Kopflänge. Wenn man ihn so mit seinem dunklen lockigen Haar, das ihm bis in den Nacken reichte, seiner geraden Nase und dem markanten Kinn sah, dachte man unverzüglich an einen italienischen Künstler und nicht an einen bayerischen Koch. Das lag war wahrscheinlich daran, dass sein Vater Italiener war.
»Hallo Thomas, schön dass du mich noch erkennst«, lachte sie. »Ich habe Hunger und dachte mir, dass es keinen besseren Ort gibt, um ihn zu stillen.«
»Dafür hast du dich aber prima rausgeputzt.« Er trat einen Schritt zurück und ließ seinen Blick anerkennend über sie gleiten.
»Ich hab sogar mein Leben für dich mit diesen Schuhen riskiert.« Dabei wies sie scherzend auf ihre Absätze.
»Welch eine Ehre, welch eine Ehre«, grinste er, bevor er kopfschüttelnd ihre Schuhe betrachtete. »Euch Frauen soll einer verstehen. Magst du dich hier draußen hinsetzen?«
Als sie zustimmend nickte, führte er sie zu einem kleinen Tisch, der sich im hinteren Teil der Terrasse befand. Von dort aus konnte sie sowohl den Bergsee, als auch die in der Ferne liegende Zugspitze bewundern. Die unteren Berghänge durchbrachen das kahle Grau der Felswände mit dem satten Grün ihrer Wiesen. Obwohl ihr Haus keinen Kilometer entfernt war, konnte sie es nur erahnen, denn die gesamte Sicht war von hohen, dunklen Tannen und Bäumen verdeckt. Sehr gut. Hier oben konnte ihr mysteriöser Nachbar sie wenigstens nicht beobachten. Thomas’ Worte rissen sie zurück in die Gegenwart.
»Leider muss ich zurück in die Küche, daher bestell dir doch schon mal etwas Leckeres. Ich leiste dir zum Nachtisch Gesellschaft. Mein Dreierlei an Crème Brûlée ist der Hit.« Dabei zwinkerte er ihr verschwörerisch zu.
»Das hört sich verlockend an. Dann überlass ich dir am besten auch direkt die Wahl für meinen Hauptgang.«
»Ich werde dich nicht enttäuschen.« Er grinste sie selbstbewusst an. Fasziniert blickte sie ihm nach, wie er mit zielstrebigen ausholenden Schritten über die Terrasse eilte. Dabei nickte er den Gästen an den verschiedenen Tischen freundlich zu, während er gleichzeitig zwei Servicekräften per Handbewegung Anweisungen gab. Er beherrschte die Szenerie mit einer beindruckenden Leichtigkeit. Vielleicht lag das auch daran, dass er mit seiner sportlichen Statur, den breiten Schultern und den dunklen Locken in dem weißen Kochhemd ziemlich männlich wirkte. Wie wohl seine Freundin aussah? Laut ihrer Mutter war er vor einiger Zeit mit ihr zusammengezogen. Jessie legte den Kopf leicht schief und kniff gedankenverloren die Augen zusammen. Ja, sie konnte sich gut vorstellen, dass Thomas im Dorf so manches Frauenherz höher schlagen ließ. Unmerklich schüttelte sie den Kopf über ihre absurden Gedanken und wandte ihre Aufmerksamkeit den anderen Tischen zu, die ausnahmslos belegt waren, teils von hungrigen Wanderern, die hier eine Rast nahmen, teils von Leuten, die wohl extra zum Mittagessen heraufgefahren waren, denn ihre Kleidung hätte den Bergweg zu Fuß sicher nicht unbeschadet überstanden. Entspannt lauschte sie dem Geläut der Kuhglocken und streckte der warmen Mittagssonne ihr Gesicht entgegen. Direkt neben dem Zaun, der die Terrasse begrenzte, befand sich eine riesige Wiese mit Bergblumen. Unzählige Libellen bewegten sich im Schutz der bunten Blütenpracht. Ein kleiner Salamander lag unweit ihres Tisches träge in der Sonne und schien zu schlafen.
»Hier ist Ihr Hauptgang, meine Dame.« Thomas’ Stimme unterbrach Jessies Gedanken, als er galant einen großen Porzellanteller vor sie auf den Tisch stellte. »Gegrillte Scampi auf Mango Chutney mit süßer Chiliessenz, dazu einen frischen Bergsalat«. Er beugte sich zu ihr hinunter. »Lass es dir schmecken und sei nicht zu hart mit deinem Urteil«, raunte er ihr leise ins Ohr.
Doch bevor sie etwas erwidern konnte, war er schon wieder im Restaurant verschwunden. Der süßscharfe Duft der Chilisauce, die sich mit dem Aroma des Mango Chutneys vermischte, stieg ihr in die Nase. Genießerisch sog sie ihn ein, bevor sie sich neugierig einen ersten Bissen in den Mund schob. Himmlisch. Das milde Chutney verschmolz harmonisch mit der scharfen Chiliessenz. Es bildete das perfekte Gegenstück zum eher neutralen Fleisch der Scampi. Jessie begann zu verstehen, warum Thomas’ Restaurant als wahrer Geheimtipp galt.
Als sie den ersten Löffel der Crème Brûlée probierte, gesellte sich Thomas zu ihr. Erleichtert sank er auf den gegenüberstehenden Stuhl und streckte entspannt seine langen Beine von sich. Seine Zeigefinger hingen lässig in den Hosentaschen. Langsam lehnte er sich zurück, wobei er Jessie neugierig anschaute. In seinen Augen blitzte es vergnügt. »Und?«
»Einfach köstlich. Du bist ein wahres Genie.« Sie nickte anerkennend.
»Prima. Dann kann ich ja weiterkochen«, grinste er.
Jessie legte ihren Löffel zur Seite. »Ich bin echt beeindruckt. Und das nicht nur wegen des traumhaften Essens, sondern auch wegen all dem hier.« Dabei ließ sie ihren Blick kurz über das Restaurant und die Terrasse schweifen. »Du hast wirklich etwas Wunderschönes geschaffen.«
»Schön, dass es dir gefällt. Ich wollte halt kein typisches Restaurantfeeling, sondern einen Ort, an dem man das Gefühl hat, bei Freunden zu sein.«
»Das ist dir wirklich gelungen. Es ist traumhaft.« Sie strahlte ihn begeistert an. Seine blauen Augen schauten sie gelassen, aber nicht weniger aufmerksam an. Sie erschienen ihr viel ausdrucksstärker als bei ihrem letzten Treffen. Vielleicht lag das aber auch nur daran, dass sie aus seinem sonnengebräunten Gesicht hervorstachen. Plötzlich fühlte Jessie sich unter diesem Blick ein wenig nervös. »Ich hätte dir gar nicht so viel Liebe zum Detail zugetraut. Wenn ich da so an früher denke.« Neckend legte sie den Kopf leicht schief, was ihn jedoch nur dazu veranlasste, eine Augenbraue fragend hochzuziehen. Um seine Mundwinkel spielte ein amüsiertes Lächeln. »So?« fragte er lediglich.
Aus unerfindlichen Gründen errötete sie. Was war nur mit ihr los? Entschlossen, die Kontrolle über die Situation zu behalten, grinste sie vielsagend und schob sich einen erneuten Löffel der Nachspeise in den Mund.
»Wie ich höre, kletterst du in München Stufe um Stufe die Karriereleiter herauf.«
Sie warf ihm einen schnellen misstrauischen Blick zu, aber er schien sein Kompliment ernst zu meinen. »Danke«, antwortete sie so leichthin wie möglich. »Karriereleitern zu erklimmen ist eine ganz schön schweißtreibende Angelegenheit. Da braucht man manchmal einen richtigen Urlaub in den Bergen.« Sie versuchte, ihrer Stimme einen unbeschwerten Klang zu geben.
»Das kann ich mir denken. Hier bist du goldrichtig. Besser kann man sich nirgendwo erholen. Hier oben gibt es einfach alles, was das Herz begehrt. Na ja, fast alles«, fügte er nachdenklich hinzu.
Sie traute sich nicht, ihn anzuschauen. Hatte sie aus seinen letzten Worten einen unterschwelligen Ton herausgehört oder bildete sie sich das nur ein? Stimmte etwas nicht in seiner Beziehung? Aber das konnte sie ihn ja schlecht hier und jetzt bei ihrem ersten Wiedersehen fragen. Ihr Blick fiel auf das kleine Geschenk, das sie ihm mitgebracht hatte. Lächelnd schob sie ihm das Buch über den Tisch. »Damit dir auch weiterhin nichts in den Bergen entgeht, habe ich dir ein kleines Geschenk mitgebracht.«
»So?« Neugierig griff er nach dem eingewickelten Päckchen. »Jetzt bin ich aber neugierig, was du dir für mich ausgedacht hast.« Mit diesen Worten riss er auch schon das Geschenkpapier auf und zog neugierig das Buch heraus. Sein Blick wanderte über den Titel, dann zu Jessie: »Das ist echt eine coole Idee. So kann ich ganz offiziell der Konkurrenz auf die Finger schauen. Vielen Dank.« Interessiert blätterte er durch die Seiten.
Jessie fand, dass dies nun der ideale Zeitpunkt war, um mehr über ihren Nachbarn zu erfahren. »Hier Urlaub zu machen scheint ja derzeit im Trend zu sein. Wie ich gesehen habe, sind unsere Nachbarn auch hier.«
»Unsere Nachbarn?« Thomas sah auf und runzelte leicht die Stirn, dann verstand er. »Ach, du meinst Christopher.«
»Christopher?« echote Jessie fragend.
»Ja, Christopher. Jetzt tu nicht so. Das ist doch der jüngste Sohn unserer Nachbarn dort unten.« Er nickte in Richtung Tannen, unterhalb derer sich Christophers Haus befand. Leichthin fuhr er fort: »Christopher ist hier nicht im Urlaub. Er wohnt hier.«
»Er wohnt hier?« Jessies Stimme klang ungläubig. »Arbeitet er denn im Dorf? Seit wann wohnt er hier?«
Thomas zuckte gleichmütig mit den Schultern. »Keine Ahnung, ich habe da nicht so nachgefragt. Bis vor zwei Jahren war er wohl sehr erfolgreich als Architekt und, soweit ich weiß, verantwortlich für ein Architekturbüro in München. Dann tauchte er plötzlich hier auf, machte es sich wohnlich und blieb. Keine Ahnung warum. Er hat nie darüber reden wollen.«
»Sein Bruder ist jedenfalls auch hier.«
»Stefan ist hier? Ich dachte, der wohnt irgendwo in Mittelamerika und berät dort Unternehmen. Bist du sicher, dass es Stefan ist?«
»Wie soll ich sicher sein, wenn ich beide in meinem ganzen Leben noch nie gesehen habe? Der Mann, den ich gesehen habe, war groß, sportlich und blond.«
»Ach so. Das ist nicht Stefan, sondern Arno, Christophers bester Freund. Er lebt und arbeitet in München, kommt aber relativ häufig zu Besuch. Ein echt lustiger Typ.«
Das waren ja wirklich merkwürdige Neuigkeiten. »Und wie ist dieser Christopher so?« Arglos blickte sie Thomas an.
»Ein super patenter Bursche mit viel Humor. Vielleicht lernst du ihn ja kennen, solange du noch hier bist. Wir spielen manchmal abends Karten und zu viert macht das gleich viel mehr Spaß.«
»Mal sehen«, antwortete Jessie lahm. Sie verspürte nicht die geringste Lust, Christopher näher kennenzulernen. Gedankenverloren strich sie sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Warum hatte Christopher so plötzlich seine Zelte in München abgebrochen? Was war dort vorgefallen? Warum hatte er sich hier in die doch sehr einsame Gegend zurückgezogen, anstatt eine neue Möglichkeit in München zu suchen? Dort gab es doch viele Architekturbüros, sodass es für einen erfolgreichen Architekten, und das war er ja wohl gewesen, kein Problem sein durfte, einen neuen Job zu finden. Und warum kam sein Freund Arno so häufig hierher? Der war ja nun wirklich allem Anschein nach kein Kind von Traurigkeit. Was für eine seltsame Geschichte.
»Sei mir bitte nicht böse«, riss Thomas sie aus ihren Gedanken, »aber ich muss zurück zu meinen Jungs in die Küche, bevor sie mir das Dessert anbrennen. Ich rufe dich in den kommenden Tagen an. Vielleicht können wir uns auf ein Glas Wein treffen?« »Prima, mach das. Ich muss eh wieder los.« Schnell erhob sie sich und küsste ihn zum Abschied flüchtig auf die Wange.
Nachdem sie gezahlt hatte, schlenderte Jessie zum Tor. Sie war froh, dass fast alle Gäste schon vor ihr das Restaurant verlassen hatten, so beobachtete niemand, wie vorsichtig sie auf ihren Absätzen den Heimweg antrat. Aber die kurze Strecke würde sie ja schnell geschafft haben. Allerdings entpuppte sich der Rückweg als recht steil und die kleinen Kieselsteine auf dem Weg zwangen sie, sehr vorsichtig einen Fuß vor den anderen zu setzen. Endlich erreichte sie den Hauptweg, wo sie den Weg einschlug, der am Nachbargrundstück entlang zu ihrem Haus führte. Vor dem Haus mit seinen dunklen Schindeln standen zwei Männer mit Reisetaschen vor einem roten Sportwagen. Vor Überraschung, Christopher und Arno plötzlich so nahe zu sein, gab sie nicht Acht und rutschte ungeschickterweise auf einem Kiesel aus. Erst in letzter Sekunde sprang sie zur Seite und rettete sich mit einem kleinen Aufschrei vor einem Sturz. Mist, dachte sie gerade noch, als beide Männer sich überrascht zu ihr umdrehten.
»Alles in Ordnung? Können wir Ihnen helfen?« Arno war bereits einen Schritt in ihre Richtung geeilt.