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Die besonderen Gelegenheiten sind Situationen in unserem Leben, bei denen wir uns entscheiden müssen, ob wir sie »beim Schopf packen« oder unwiederbringlich an uns vorüberziehen lassen. Die alten Griechen waren sich der Bedeutung dieser Situationen bewusst. Ihr Gott Kairos, ausgestattet mit einer mächtigen Stirnlocke auf einem ansonsten kahlen Kopf, erlaubte den Zugriff auf seinen Schopf nur in der unmittelbaren Konfrontation. Sobald Kairos vorbeigegangen war, verhinderte der kahle Hinterkopf ein verspätetes Zugreifen. Die Gelegenheit war vorüber.
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Seitenzahl: 175
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© 2023 Ludwig Pieger
Lektorat von: Jasmin Kraft
Coverdesign von: Jasmin Kraft unter Verwendung einer von ChatBox KI generierten Grafik
Satz & Layout von: Jasmin Kraft
ISBN E-Book: 978-3-384-00019-4
ISBN Softcover: 978-3-384-00018-7
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung »Impressumservice«, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Über den Autor
1. Das Ende der Vergangenheit
2. Angst
3. Das Fatschenkindl
4. Sem
5. Hilfe
6. Suchende
7. Der Spaziergang
8. Abspann
9. Wohin?
10. Morgen
11. Kairos
Ludwig Pieger, geb. 1953, entführt den Leser mit seinen Kurzgeschichten in die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die handelnden Menschen begreifen das Wandelbare im Leben und verlieren dabei nicht den Blick auf die eigenen Fehler. Die Geschichten erzählen von der Faszination, die uns diese Welt anbietet und über die Gefahr, dass wir diesen Zauber nicht erkennen und ihn zerstören.
Für den Weg von der Vergangenheit in die Zukunft die richtigen Worte zu finden, ist der Reiz dieser Erzählungen.
Die besonderen Gelegenheiten sind Situationen in unserem Leben, bei denen wir uns entscheiden müssen, ob wir sie »beim Schopf packen« oder unwiederbringlich an uns vorüberziehen lassen. Die alten Griechen waren sich der Bedeutung dieser Situationen bewusst. Ihr Gott Kairos, ausgestattet mit einer mächtigen Stirnlocke auf einem ansonsten kahlen Kopf, erlaubte den Zugriff auf seinen Schopf nur in der unmittelbaren Konfrontation. Sobald Kairos vorbeigegangen war, verhinderte der kahle Hinterkopf ein verspätetes Zugreifen. Die Gelegenheit war vorüber.
Der gute Mensch in seinem dunklen Drang ist sich des rechten Weges wohl bewusst.
JOHANN WOLFGANG VON GOETHE
Es ist ein plötzlicher Überfall, der sich wie eine Klette in meinen Gedanken festsetzt. Tagelang begleitet er den Alltag und übernimmt in den Ruhephasen die Orientierung. Die Sensibilität und die Vibration der Erregung gewinnen zunehmend an Kraft. Die Abscheu vor dem immer wieder auflebenden Bedürfnis kämpft gegen die unverständliche Lust. Es sind zermürbende Tage. Ich will mein glückliches ›Jetzt‹ nicht zerstören. Und trotzdem, plötzlich rufe ich ihn an. Die Gelegenheit ist nur in den nächsten Stunden gegeben. Hat er keine Zeit, habe ich den Überfall folgenlos überstanden. Ich entspanne mich und falle in meinen zufriedenen Alltag zurück. Lacht er am Telefon, fordert mich mit einer abfälligen Bemerkung auf, zu kommen, fahre ich sofort los.
Ich war ihr Erster. Klar, davon kommt sie nicht mehr los. Das bleibt an einem hängen. Wenn es gute Nummern waren, bleiben die im Gedächtnis haften. Auch die Spielchen neben der Routine haben wir gemeinsam entdeckt. Da kommt der Neue nicht mehr mit, da kann er sich noch so abrackern. So richtig die Luft rauslassen geht nur mit mir. Ich war während unserer gemeinsamen Zeit ein bisschen zu viel in der Nachbarschaft unterwegs. Hat ihr nicht gefallen! Dann kam dieser Neue, auch nicht ihr erster Ausrutscher, und plötzlich war sie weg. Es hat mich anfänglich nicht besonders gestört, aber als sie später angerufen hat, war sofort wieder diese Vertrautheit da. Und plötzlich stand sie vor der Tür. »Eine Stunde, nicht mehr.« Als sie nicht gleich ins Bett wollte, habe ich ihr eine geknallt; natürlich gefühlvoll. War wie eine Explosion! Dann war sie auch schon wieder weg. Komme damit nicht so richtig klar. Sie ist jetzt wieder verheiratet, aber sie ruft trotzdem an. Alle zwei oder drei Monate ruft sie an. Verrückt! Wenn ich Zeit habe, steht sie Minuten später vor der Tür.
Meine Geduld wurde belohnt. Zur Toleranz bin ich trotzdem nicht fähig, aber muss man immer alles wissen? Unsere gemeinsame Vergangenheit ist ein Geheimnis. In diesen Jahren der kurzzeitigen Nähe und der langen Unterbrechungen bin ich zerbrochen. Als sie endlich eine Entscheidung getroffen hatte, fügte sie die Einzelteile nach ihren Bedingungen wieder zusammen. Ich hatte keine weiteren Ansprüche mehr als den Wunsch nach ihrer dauernden Nähe. Ihre Erwartung nach gegenseitigem Vertrauen prallte, für sie unbemerkt, gegen mein Misstrauen und meine Eifersucht. Schließlich hatte sie ohne mich auch glückliche Phasen erlebt. Ich dagegen war in dieser Zeit ein Getriebener.
Ich kann diese Erregung in den Situationen der gefahrlosen Unterdrückung nicht erklären. Das Spiel mit der Angst, die vermeintliche Hilflosigkeit, die Nacktheit und die massiven Berührungen zerbrechen alle Hemmungen. Wenn ich danach die Augen öffne, ihn erkenne, ergreife ich sofort die Flucht.
Ich weiß auch nicht, warum ich mich nicht gewehrt habe, als sie einfach abgehauen ist. Für mich war immer jemand da, manchmal jünger, manchmal extrem, manchmal exotisch. Aber jetzt fehlt mir etwas, seitdem sie weg ist: die Sicherheit meiner Macht und ihre bittende Hilflosigkeit. Ich war mir so sicher, dass sie wieder zurückkommt.
Ich schäme mich für mein Misstrauen, aber auch ich unterliege inneren Zwängen. Es gibt Momente in größeren Abständen, in denen sie mich konzentriert betrachtet und in meinem Gesicht sucht. Nach einigen Tagen verschwindet diese plötzliche Distanz und ihr Verhalten ist wieder verbindend, nicht mehr ungewöhnlich. Ein ständig zweifelnder Glaube zermürbt. Am Ende sollte es für die Wahrheit keine Ausrede mehr geben.
Der Mann wartete in einer Hauseinfahrt. Er zündete sich erneut eine Zigarette an. Seine Aufmerksamkeit war auf den gegenüberliegenden Häuserblock gerichtet. Der blaue Wagen seiner Frau parkte auf dem großen Parkplatz vor dem Wohnhaus. Vor diesem Moment hatte er große Angst gehabt. Die Klarheit über die Bestätigung seines Verdachts trieb ihm die Tränen in die Augen. Zu dieser Wahrheit gab es keine Ausrede. Er ging zu seinem Auto, das er in einer Nebenstraße abgestellt hatte, und fuhr nach Hause. Alles, was er in der Wohnung berührte, fühlte sich eisig an, die Türklinken, die Wasserflasche, der Kleiderbügel. Die sommerlichen Temperaturen waren kein Äquivalent zu seiner inneren Kälte. Er überlegte, welche Dinge er für die nächsten Tage unbedingt benötigte, warf den leeren Koffer auf das Bett und klappte ihn auf. Als er das Öffnen der Wohnungstür hörte, setzte er sich auf das Bett und wartete auf sie.
Als ich den Wagen auf dem Parkplatz abgestellt hatte, blieb ich noch einen Augenblick sitzen. Mich überfiel ein starkes Gefühl der Unsicherheit. Hatte ich nicht eben seinen Wagen am Straßenrand gesehen? Ich zog die Handbremse an und sah durch die Windschutzscheibe auf die andere Straßenseite. Eine Person verschwand in der Hauseinfahrt. War er das? Langsam öffnete ich die Fahrertür. Auf dem Weg zur Haustür warf ich immer wieder einen Blick zur Einfahrt, ohne jemanden zu sehen. Im Hausflur rannte ich die Treppenstufen bis in den ersten Stock. Am Fenster blieb ich stehen und sah ihn aus der Hauseinfahrt herauskommen. Ich setzte mich auf die Treppenstufen. Die Blase war zerplatzt. Die Wirklichkeit meiner zerbrechenden Existenz fiel mir auf die Füße. Ich hörte ein ungeduldiges Rufen aus dem oberen Stockwerk: »Komm endlich rauf!«
Ohne die schützende Blase empfand ich Ekel.
Die Frau betrat zögernd das Schlafzimmer. Sie sah den geöffneten aber noch leeren Koffer.
»Das war aber ein kurzer Besuch«, stellte er müde lächelnd fest.
»Habe ich noch so viel Zeit, dass du mir zuhörst, bevor du den Koffer packst?«, fragte sie.
»Aber lüge mich nicht mehr an«, forderte er sie auf.
Sie nickte.
»Vom Treppenhausfenster aus habe ich dich gesehen. Du hattest dich in der Hauseinfahrt versteckt. Ich bin dir sofort hinterhergefahren. Wenn du mich verlässt, kann ich das verstehen, aber ich bitte dich, zu bleiben. Meine Vergangenheit ist ein Bestandteil von mir, sie hat mich geprägt, auch in meinem Verhalten dir gegenüber. Gemeinschaft hatte ich vor dir nicht als ein schützenswertes Reservat erlebt. Sie war ein Deckmantel für Freiräume. Vertrauen bestand in dem gegenseitigen Eingeständnis des Betrugs bis an den Rand der Zerstörung. Ein derartiges Leben ist nur ohne Liebe möglich. Mit dir wollte ich diesem Leben entkommen, und ich will es immer noch. Aber so einfach ist es nicht. Nicht jede Narbe aus einem früheren Leben schmerzt oder löst sich auf. Aber ich lerne damit umzugehen.« Nach einer längeren Pause fügte sie hinzu: »Ein besserer Mensch zu werden ist nicht einfach.«
Sie nahm den Koffer und schob ihn unter das Bett. Er stand auf und starrte rat- und hilflos aus dem Fenster.
Er tänzelte die schmale Straße entlang. Sidestep links, die linke Faust – Jab – nach oben gerissen und die rechte Faust, als Cross Punch geschlagen, zentral zum Kinn. Alle Bewegungen deutete er nur an, ein unverständlich zuckender Körper für den Betrachter. Es war sein Kampf in der hereinbrechenden Dunkelheit gegen die Angst vor den nächsten Stunden. Die menschenleere Straße führte ihn zu dem Hintereingang einer alten Fabrikhalle.
In einer fluktuierenden Zeit war die Halle mit viel Optimismus auf dem Industriegebiet in unmittelbarer Nähe des Hafens errichtet worden. Aber die Zukunft rauschte vorbei, und plötzlich hatte keine der ansässigen Firmen noch eine Verwendung für die Halle, bis John M. sie in Besitz nahm. Seine Geschäfte und Veranstaltungen verlangten nach einem Ort in der Diaspora. Bei Einbruch der Dunkelheit fuhren nur noch Trucks durch die menschenleeren Straßen. Sie belieferten die verbliebenen Firmen und sicherten die tägliche Produktion. Ansonsten gab es keine Veranlassung, sich auf den bedrohlich wirkenden, einsamen Straßen aufzuhalten. Nur die Besucher von John M.’s Veranstaltungen und seine besonderen Gäste kamen mit ihren Autos vorgefahren, stellten sich auf den eingezäunten Parkplatz und betraten durch einen dezent beleuchteten Haupteingang die Halle. Die Polizei störte John M. bei seinem unseriösen und teilweise illegalen Treiben nicht. Sie observierte, identifizierte und akzeptierte. Die Halle war auch ein Anziehungspunkt für die bedeutenden und unbedeutenden Mitglieder der Schattenwelt. Ein von der Polizei für notwendig erachteter Zugriff erfolgte jedoch immer erst außerhalb des Industriegebietes. Diese Symbiose des Guten mit dem Bösen machte die Halle zu einem nahezu rechtsfreien Raum. Und John M. wusste, dass er die großzügige Grenze nicht überschreiten durfte.
Karl klopfte an die Tür des Hintereingangs. Das Sichtfenster wurde geöffnet.
»Hi, Karl, was machst du denn hier? Du stehst für heute Abend nicht auf der Liste.« Der Mann hatte eine brüchige Stimme. »Geh nach Hause oder nimm den Haupteingang. Ich will keinen Ärger mit dem Chef.«
Der glatt rasierte Schädel verschwand, das Sichtfenster wurde geschlossen.
Karl klopfte noch einmal.
»Was ist?« Die Frage wurde mit einem leicht aggressiven Unterton gestellt, als sich das Sichtfenster erneut öffnete. »Du kommst bei den Abendkämpfen noch nicht in die Kugel.«
»Joby, komm schon«, beruhigte ihn Karl, »frag den Glatten, er setzt mich auf die Bank. Habe ich mit ihm so abgesprochen.«
»Du brauchst Geld, das ist alles. Aber gut, ich frage ihn. Sollte er einverstanden sein und sie dich aufrufen, bekomme ich 20 Bucks. Klar?«
Joby hatte sich wieder beruhigt. Die Aussicht auf zusätzliche Einnahmen ermunterten ihn. Wieder stand Karl vor der geschlossenen Tür und wartete. Seine Behauptung, dass er sein Kommen mit dem Glatten abgesprochen hatte, entsprach der Wahrheit. Er sollte sich die Abendkämpfe einmal von der Bank aus ansehen und die Atmosphäre erfahren. Für Joby würde es keine zusätzlichen Einkünfte geben.
Karl betrachtete seine Umgebung. Die Dunkelheit der Nacht setzte sich fest. Die anliegenden Gebäude bildeten eine schemenhafte Mauer. Nur die mit Leuchtfarben gesprühten oder gemalten Graffitis widerstanden der Dunkelheit. Der Motorlärm der Trucks von den breiten Zufahrtsstraßen auf der vorderen Seite der Fabrikhalle nahmen dem lichtlosen Hinterhof seine innere Ruhe.
Plötzlich öffnete sich die Tür.
»Der Glatte ist einverstanden. Du kannst dich auf die Bank setzen. Du sollst aber die zwei Mexikaner in Ruhe lassen.« Joby lachte gequält. Seinen leptosomen Körper hatte er in einem übergroßen schwarzen T-Shirt mit dem Aufdruck ›Fuck The Audience‹ versteckt.
»Komm rein und geh gleich durch. Der Glatte sagt, du sollst dich nicht umziehen.«
Karl betrat erleichtert den Vorraum. Zu beiden Seiten befanden sich die Garagen. John M. hatte dort seinen exklusiven Fuhrpark untergebracht und gesichert. Auch Gäste, deren Luxuskarossen auf dem öffentlichen Parkplatz besondere Objekte der Begierde waren, durften die Garagen benutzen. Karl ging an der Treppe vorbei, die zu John M.’s Büroräumen und zu den Zimmern mit den Spieltischen führten, durchquerte die Umkleiden und Duschen und drehte sich noch einmal um. Der Durchgang war gesäumt von Mitarbeitern des Sicherheitspersonals, die an die Wand gelehnt die Pause vor dem nächsten Einsatz für eine Zigarette oder ein Bier nutzten. Ihre Uniformen bestanden aus weißen T-Shirts mit der Applikation einer bedrohlich wirkenden schwarzen Faust.
Der Zugang zur Arena war durch eine Stahltür gesichert. Getrennt durch die Stahltür regelten zwei Mitarbeiter des Sicherheitspersonals den Zutritt. Auf beiden Seiten war oberhalb der Tür eine Kamera mit einem Bildschirm angebracht. Die Türsummer mussten von jeder Seite gleichzeitig betätigt werden, nur dann öffnete sich der Durchgang.
»Hey, Karl, du warst doch erst am Wochenende im Einsatz«, wurde er begrüßt. »Du bist ja unverwüstlich! Viel Glück!«
Über ein Funkgerät verständigten sich die beiden Sicherheitsleute. Als Karl das surrende Geräusch hörte, konnte er die Tür öffnen und betrat den öffentlichen Bereich der Halle. Sofort überfiel ihn ein hoher Geräuschpegel und raubte ihm für einen Moment die Orientierung. Dieser Teil der Halle hatte die Größe eines Handballfeldes. An den Seiten zogen sich stufenartig die Stehplätze für die Zuschauer nach oben. Eine Bestuhlung gab es nicht. Es gab nur eine Bank, die für die Kämpfer reserviert war. Die zentrale Mitte bildete ein tiefer gelegter Ring mit einem Durchmesser von etwa zehn Metern. Der Rand war bis auf die Höhe des Hallenbodens schräg nach oben gezogen. Ein Maschendrahtzaun begrenzte den äußeren Bereich des Kampfringes und sicherte die Kämpfenden vor den Zuschauern. Eine Dachkonstruktion verhinderte, dass Wurfgegenstände über den Zaun in den Ring geworfen werden konnten. Es standen nur wenige Menschen auf den Stufen. Der überwiegende Teil der Zuschauer hatte sich in den Vorraum hinter dem Haupteingang zurückgezogen. Zwischen den Kämpfen wurde die Bar geöffnet, und die Zuschauer gaben Unmengen von Geld für Bier und Drinks aus.
Eine tiefe männliche Stimme verkündete über die Lautsprecheranlage das Ende der Pause. Schnell wurden an der Bar die Gläser geleert. Die Zuschauerränge füllten sich. Der Ringrichter, ausgestattet mit einem Mikrofon und Latexhandschuhen, stand mit dem auf der Programmtafel, die über der Bar aufgehängt war, angekündigten Herausforderer in der Mitte des Kampfringes. Der Herausforderer wurde in einem der vielen Fight Clubs der Stadt trainiert. Er war 90 Kilogramm schwer, 187 Zentimeter groß und hatte eine Bilanz von 7 gewonnenen und 5 verlorenen Kämpfen. Sein Club hatte ihn mit $2000 aufgeboten. Ein Gegner war im Vorfeld noch nicht angekündigt worden, namentlich auf der Programmtafel nicht dokumentiert.
John M. beschäftigte in seinem Team zwei Agenten, deren Aufgabe es war, die Inhaber anderer Fight Clubs der Stadt und der Umgebung mit Fantasie, Drohungen oder Geldzuwendungen zu motivieren, gut trainierte Kämpfer zu entsenden, die, mit einer akzeptablen Kampfsumme ausgestattet, einem Herausforderer entgegentraten. Es kam unter der Woche häufig vor, dass erst unmittelbar vor dem angesetzten Kampf ein Gegner für den Herausforderer gefunden wurde. Die kleineren Fight Clubs warteten mit dem Aufruf ihrer Kämpfer bis zum letzten Moment. Sie taktierten mit den Agenten um einen möglichst hohen Zuschuss zur Kampfsumme. Nur wenn sich kein Gegner für den Herausforderer meldete, kamen John M.’s eigene Leute zum Einsatz. Die routinierten und erfahrenen Kämpfer saßen auf einer Bank am Rande der ersten Stufe unmittelbar neben der verdrahteten Eingangstür zum Ring.
Nach dem offiziellen Aufruf durch den Ringrichter meldete sich ein Gegner für den Herausforderer und übergab einen Zettel mit seinen Daten. Er war nur mit einer Kampfsumme von $1500 ausgestattet. Der Ringrichter versuchte unter den Besuchern und Buchmachern die fehlende Summe aufzubringen und las die Qualitäten des Gegners vor. Er nannte sich Dark Wulf, hatte erst zwei offene Kämpfe in der eigenen Kampfschule bestritten, aber beide Kämpfe durch Abbruch gewonnen. Auch sein Kampfgewicht betrug 90 Kilogramm und seine Größe 190 Zentimeter. Der Kampf würde nur bei ausgeglichenem Einsatz aufgerufen werden, die der Sieger des Kampfes erhielt. Endlich hatte der Ringrichter zwei Zuschauer gefunden, die bereit waren, Dark Wulf mit $250 zu unterstützen. Der Ringrichter trat aus dem Kampfring und warf den beiden jeweils einen aufgeschlitzten, blau gefärbten Tennisball zu. Die Bälle wurden mit jeweils $250 gefüllt und zurückgeworfen. Der Ringrichter entnahm das Geld und bestätigte den Betrag mit einem Wettschein. Wieder flog der bunte Ball hin und her. Sollte Dark Wulf den Kampf gewinnen, würden die beiden Zuschauer auf die Wettscheine jeweils $500 erhalten.
Als der Ringrichter verkündete, dass der Kampf stattfinden würde, kam der Auftritt der Buchmacher. Ausgerüstet mit farbigen Tennisbällen verteilten sie sich mit ihren Assistenten um den Kampfring und nahmen die Wetten der Zuschauer an, deren Mindesteinsatz $100 betragen musste. Aufrechte Finger zeigten den Einsatz in hundert Einheiten an. Zeigten die Finger in seitliche Richtung, wurde ein vierstelliger Betrag angeboten. Wurden die Finger nach unten gehalten, nahm einer der Assistenten der Buchmacher persönlich Kontakt mit dem Wetter auf und betrat die Zuschauerebene. Wetten unter $100 schlossen die Zuschauer untereinander ab, was gelegentlich zu intensiven körperlichen Auseinandersetzungen außerhalb der Arena führte.
Die Quote betrug zu Beginn eines Kampfes immer 2:1. Eine Ausnahme bildeten die Meisterschaftskämpfe ohne Kampfsumme. Bei diesen Auseinandersetzungen legten die Buchmacher die Quoten in Absprache mit John M. nach freier Einschätzung der Gewinnchancen fest.
Sobald die Tennisballkommunikation zwischen den Zuschauern und den Buchmachern ihr Ende gefunden hatte, wurde das Licht in der Arena heruntergedimmt und der Kampfring taghell ausgeleuchtet. Der Ringrichter trat in die Mitte des Ringes. Er rief die beiden Kämpfer zu sich, die wieder bei ihren Betreuern standen.
Die Kämpfer betrachteten sich interessiert, fast neugierig. Bei den Amateurkämpfen innerhalb der Woche war aufgesetzte Aggressivität selten. Eher erkannte man Unsicherheit, Angst vor einer Mutprobe, Hoffnung auf einen glimpflichen Ausgang des Kampfes, der Auseinandersetzung.
Währenddessen erklärte der Ringrichter den Besuchern die Regeln. Stichschläge mit den Fingern in die Augen waren verboten, ebenso das Eindrücken der Augen und Stampftritte gegen den Kopf im Bodenkampf. Besonders geschützt war ansonsten nur noch der Kehlkopf und die Wirbelsäule. Ein Kampf war beendet bei Wehrlosigkeit des Gegners oder durch Aufgabe eines der beiden Kontrahenten. Ob einer der beiden Kämpfer durch die Einwirkung seines Gegners wehrlos geworden war, entschied der Ringrichter. Überhaupt waren die Anordnungen des Ringrichters zu beachten. Ihm oblag die Verantwortung, dass auch der Unterlegene mit nur geringen Verletzungen den Weg zu den Umkleidekabinen antreten konnte. Schwere körperliche Schäden würden staatliche Institutionen in die Halle führen. Daran war Niemandem gelegen. Die Kontrahenten trugen schwarze, gepolsterte, vier Unzen schwere Handschuhe mit Fingerlingen, die aber nur die Hälfte der Langfinger und deren Mittelgelenke schützten. Die Greiffähigkeit der Hände war durch die Handschuhe nicht wesentlich eingeschränkt. Unter kurzen, eng anliegenden Hosen aus elastischem Polyester und Spandex versteckte sich der wichtige Hodenschutz. Dem Programm konnte man entnehmen, dass sich der Herausforderer Dragon nannte.
Mit Dragon und Dark Wulf standen sich zwei körperlich gleichwertige Kämpfer gegenüber. Karl schätzte ihr Alter auf Mitte zwanzig. Ihre Zugehörigkeit zum Halbschwergewicht resultierte auch aus einem nicht zu übersehenden Ernährungsüberschuss. Dragon hatte die Haut seines Rückens und die der Arme mit martialischen Tätowierungen strapaziert. Die latinofarbene Haut von Dark Wulf war dagegen nicht individualisiert worden. Die beiden lösten die Blicke voneinander und starrten unsicher in die Zuschauermenge. Es waren aufmunternde Rufe zu hören, aber noch hielt sich die Menge zurück. Nachdem das Sicherheitspersonal den schmalen Durchgang zwischen den Zuschauern und dem Kampfring abgesichert hatte, gab der Ringrichter den Kampf frei. Das schlagartig einsetzende Gebrüll der Zuschauer raste gegen die Hallendecke und zerbrach mit seinen Schallwellen jedes verständliche Wort. Entweder wurde der Name des Kämpfers gerufen, auf dem die Hoffnungen und die Einsätze ruhten, oder der Gegner mit Schimpfworten beleidigt. Auf die beiden Kontrahenten wirkte die Akustik wie der Anlasser bei einem Kraftwagen. Sie rannten nahezu ohne Deckung aufeinander zu und attackierten sich mit Fäusten und Tritten. Karl erkannte sofort, dass Dragon nur das Boxen gelernt hatte. Seine Aktionen gegen die Schienbeine des Gegners waren Tritte und keine Schläge. Dagegen war Dark Wulf mit seinen Fäusten zurückhaltend und versuchte mit Sidekicks und Klammern Dragon aus dem Gleichgewicht zu bringen, um den Kampf am Boden fortzusetzen. Karl beachtete den Kampf nicht weiter. Er hatte sich auf die Bank neben die beiden Mexikaner gesetzt, die ihn keines Blickes würdigten.
Mit geschlossenen Augen dachte er über seine derzeitige Situation nach. Er hatte seine Reise angetreten, um durch fremde Menschen ein neues Leben zu finden, von dessen Existenz er nur eine Ahnung hatte, ein Wissen aus vielen Büchern. Er suchte die Rolle des Betrachters. Er wollte nicht mitspielen, nur mitlaufen. Die Erfahrungen sollten ihn positionieren, auch wenn ihn seine Suche in sein altes Leben zurückführen sollte.
Karl öffnete erschrocken die Augen, als einer der Buchmacher über seine ausgestreckten Beine stolperte und deshalb schimpfte und fluchte. Die erste Runde war zu Ende. Jetzt liefen die Buchmacher, ein Schild mit den Quoten hochhaltend, wieder um den Kampfring und boten neue Wetten an. Black Wulf wurde jetzt mit einer Quote von 3:1 angeboten. Augenscheinlich war sein Auftritt in der ersten Runde nicht überzeugend gewesen. Wetten auf Dragon wurden nur noch mit einer Quote von 3:2 angenommen.