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er poetische Kinderbuchklassiker von E.B. White über den begnadet Jazztrompete spielenden Schwan Louis und seine ungewöhnliche Freundschaft zu Sam, dem kleinen Jungen, macht das Gesamtwerk von White bei Diogenes komplett.
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Seitenzahl: 187
E. B. White
Der Schwan mitder Trompete
Aus dem Amerikanischen vonJenny Merling
Titel der 1970 bei
HarperCollins Children’s Books, New York,
erschienenen Originalausgabe: ›The Trumpet of the Swan‹
Copyright © 1970 by E. B. White
Umschlagillustration unter Verwendung eines Fotos von
NPL/Arco Images/Flashmedia Bild
Alle deutschen Rechte vorbehalten
Copyright © 2014
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 01175 3 (1.Auflage)
ISBN E-Book 978 3 257 60450 4
Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.
[5] Kapitel 1
Sam
Sam stapfte nachdenklich durch den Sumpf zurück zur Hütte. Sollte er seinem Vater erzählen, was er gerade gesehen hatte?
»Morgen gehe ich auf jeden Fall noch einmal zurück zu dem See. Am besten allein. Wenn mein Vater erfährt, was ich dort entdeckt habe, will er bestimmt mitkommen. Also sage ich lieber nichts.«
Sam war elf Jahre alt und hieß mit Nachnamen Beaver. Für sein Alter war er ganz schön stark. Er hatte schwarze Haare und dunkle Indianeraugen. Sam konnte auch wie ein Indianer gehen, einen Fuß genau vor den anderen setzen und sich dabei fast lautlos bewegen. Der Sumpf war an dieser Stelle ziemlich urwüchsig, es gab keinen richtigen Pfad, und die Erde war schlammig, deshalb kam Sam nur mühsam voran. Alle paar Minuten holte er seinen Kompass aus der Tasche und überprüfte, ob er sich noch in westlicher Richtung bewegte. Kanada ist ein großes Land. Weite Teile davon sind unberührte Natur. Sich dort in den Wäldern und Sümpfen zu verlaufen, wäre wirklich kein Spaß.
Sam stapfte weiter. Seine Gedanken kreisten ununterbrochen um das wunderbare Schauspiel, das er eben erlebt hatte. Nur wenige Menschen haben schon einmal das Nest eines Trompeterschwans gesehen. Sam hatte an diesem Frühlingstag eines auf dem abgelegenen See entdeckt und die zwei prächtigen weißen Vögel mit den langen weißen Hälsen und den schwarzen Schnäbeln sogar eine Weile beobachten können. Das war ein Gefühl [6] gewesen, das sich nicht in Worte fassen ließ. So große Vögel hatte er noch nie gesehen. Das Nest war ebenfalls sehr groß, ein richtiger Hügel aus Zweigen und Gräsern. Das Weibchen saß auf den Eiern, während das Männchen wachsam im Wasser hin und her glitt.
Müde und ganz schön hungrig kam Sam schließlich zu Hause an. Sein Vater briet gerade Fische zum Mittag.
»Wo warst du denn bloß so lange?«
»Auf Erkundungstour. Ich bin zu einem kleinen See gewandert, etwa anderthalb Meilen von hier. Der, den wir vom Flugzeug aus gesehen haben. Ist aber nichts Besonderes, viel kleiner als unserer hier.«
»Und? Was gibt es da zu sehen?«
»Eigentlich nichts, ist eben ein schlammiger kleiner See, mit Schilf und Rohrkolben drum herum. Angeln kann man da wahrscheinlich nicht gut. Und der Weg dahin ist auch ziemlich anstrengend, man muss durch einen Sumpf.«
»Auch keine Tiere?«, fragte Sams Vater weiter.
»Ich hab eine Bisamratte gesehen und dann noch ein paar Rotschulterstärlinge.«
Mr.Beaver sah von dem gusseisernen Öfchen auf, auf dem die Fische in einer Pfanne brutzelten.
»Sam, ich weiß, wie gern du auf Erkundungstour gehst. Aber die Wälder hier sind anders als zu Hause in Montana, vergiss das nicht. Pass gut auf, dass du dich nicht verläufst, wenn du noch mal zu dem See gehst. Dass du da ganz allein im Sumpf unterwegs bist, gefällt mir, ehrlich gesagt, gar nicht. Das kann gefährlich sein. Nicht, dass du noch irgendwo einsinkst. Da kann dir dann keiner mehr helfen!«
»Ich pass schon auf«, gab Sam zurück. Er würde auf jeden Fall wieder zu dem See mit den Schwänen gehen, das stand fest. [7] Und er würde sich bestimmt nicht verlaufen. Er war froh, dass er seinem Vater nichts von den Vögeln erzählt hatte, aber er fühlte sich auch ein bisschen komisch dabei. Sam war eigentlich offen und freundlich. Aber wie jeder kleine Junge mochte er natürlich auch Geheimnisse. Außerdem war er gern allein, besonders in der Natur. Das Leben auf der Ranch seines Vaters in Sweet Grass County in Montana machte ihm großen Spaß. Er hatte seine Mutter sehr lieb und sein Pony Duke auch. Er ritt gern die Weiden ab und mochte die vielen Gäste, die den Sommer bei ihnen auf der Beaver Ranch verbrachten.
Aber am allerliebsten war er mit seinem Vater hier oben in Kanada in ihrer Blockhütte. Mrs.Beaver machte sich nicht viel aus der freien Natur, deshalb war sie nur selten mit von der Partie. Meistens waren Sam und sein Vater allein hier. Sie fuhren mit dem Auto über die kanadische Grenze, und von dort flog sie dann ein Buschpilot zu ihrer Hütte am See. Ein paar Tage lang einfach nur angeln, faulenzen und durch die Wälder streifen. Mr.Beaver übernahm das Angeln und das Faulenzen, Sam war meistens auf Entdeckungstour. Irgendwann kam Shorty, der Pilot, dann zurück und holte sie wieder ab. Sobald sie den Motor der Maschine hörten, liefen sie zum Ufer, winkten Shorty und sahen ihm dabei zu, wie er sanft auf dem Wasser aufsetzte und das Flugzeug zur Anlegestelle manövrierte. Das waren für Sam immer die schönsten Tage, dort in den Wäldern, weit, weit weg von allem – keine Autos, keine Straßen, keine Menschen, kein Lärm, keine Schule, keine Hausaufgaben, keine Sorgen außer der Möglichkeit, sich zu verlaufen. Und natürlich der Frage, was er mal werden wollte. Aber das Problem hat ja jeder Junge.
An diesem Abend saßen Sam und sein Vater nach dem Abendbrot noch eine Weile draußen auf der Veranda. Sam las in einem Buch über Vögel.
[8] »Papa, meinst du, wir sind in einem Monat wieder hier, so in fünfunddreißig Tagen etwa?«
»Können wir gern machen«, antwortete Mr.Beaver. »Wieso denn genau in fünfunddreißig Tagen? Gibt’s einen besonderen Grund?«
»Ach nö. Ich dachte nur gerade, ist bestimmt schön hier draußen in fünfunddreißig Tagen.«
»Aber hier ist es doch immer schön!«
Sam ging ins Haus. Mit Tieren kannte er sich gut aus. Er wusste, dass Schwäne etwa fünfunddreißig Tage lang brüten. Er würde den Jungen so gern dabei zusehen, wie sie aus den Eiern schlüpften.
Sam besaß ein Tagebuch, ein kleines Notizbuch, das immer neben seinem Bett lag. In das Buch schrieb er jeden Abend vor dem Schlafengehen hinein, was tagsüber so passiert war. Was er unternommen oder Interessantes gesehen hatte, seine Gedanken. Manchmal malte er auch ein Bild hinein. Zum Schluss stellte er sich selbst immer eine Frage, über die er dann beim Einschlafen nachdachte. An dem Tag, als Sam das Schwanennest entdeckt hatte, schrieb er in sein Tagebuch:
Heute habe ich auf einem kleinen See östlich von der Hütte ein Trompeterschwanenpaar entdeckt. Das Weibchen sitzt auf einem Nest mit Eiern. Ich habe drei Stück gesehen, aber in das Bild hier male ich vier. Ich glaube nämlich, sie war gerade dabei, noch eins zu legen. Das ist die tollste Entdeckung, die ich jemals in meinem ganzen Leben gemacht habe. Ich hab Papa nichts davon erzählt. In meinem Vogelbuch steht, dass die Babys Jungschwäne heißen. Morgen sehe ich mir die großen Schwäne noch mal an. Ich habe heute auch einen Fuchs bellen gehört. Wieso bellen Füchse? Machen sie [9] das, weil sie böse sind oder vielleicht Angst haben, oder haben sie einfach Hunger? Oder erzählen sie sich untereinander damit etwas? Wieso bellen Füchse?
[10] Kapitel 2
Der See
An dem See, den Sam an jenem Frühlingsmorgen entdeckt hatte, kamen selten Leute vorbei. Den ganzen Winter über war er von einer Eisschicht bedeckt gewesen. Kalt und still und weiß lag er da. Kein Laut war zu hören. Die Frösche schliefen. Die Streifenhörnchen schliefen. Ab und zu krächzte ein Blauhäher. Manchmal bellten nachts die Füchse, ein hohes, heiseres Bellen. Der Winter schien für immer bleiben zu wollen.
Dann tat sich endlich etwas im Wald und am See. Ein sanfter Windhauch wehte, ganz warm und freundlich. Das Eis hatte schon langsam zu tauen begonnen, nun schmolz es richtig, und überall entstanden plötzlich Löcher in der Eisdecke. Die Tiere am See und im Wald waren dankbar für die milden Temperaturen. Sie spürten, dass der Frühling nahte, und waren voller Leben und Hoffnung. Ein angenehmer, frischer Geruch lag in der Luft, der Duft der Erde, die aus einem langen Schlaf erwacht. Die Frösche, die sich im Schlamm auf dem Grund des Sees eingegraben hatten, spürten: Der Frühling ist da. Die Meisen spürten es ebenfalls und freuten sich sehr (Meisen freuen sich allerdings auch über fast alles). Die Füchsin, die noch ganz verschlafen in ihrem Bau lag, spürte, dass sie bald Nachwuchs haben würde. Alle Tiere wussten, dass eine neue, bessere Zeit mit wärmeren Tagen und milderen Nächten angebrochen war. Die Bäume streckten erste grüne Knospen in den Himmel. Die Zugvögel kehrten aus dem Süden zurück. Ein Stockentenpaar war schon [11] da. Ein Rotschulterstärling kreiste über dem See und sah sich nach einem Nistplatz um. Ein kleiner Spatz mit weißer Kehle zwitscherte: »Ich lieb Kanada, Kanada, Kanada!«
Und jemand, der an diesem ersten warmen Frühlingstag dort am See vorbeigekommen wäre, hätte am späten Nachmittag plötzlich einen durchdringenden Ton gehört, der hoch oben am Himmel erklang, ein Ton wie ein Trompetenstoß.
»Ko-roh, ko-roh!«
Und wenn dieser Jemand in dem Moment aufgesehen hätte, hätte er dort oben zwei große weiße Vögel entdeckt. Sie flogen pfeilschnell, die Beine nach hinten von sich gestreckt, den langen weißen Hals vorgereckt, und schlugen rhythmisch mit den kräftigen Flügeln. »Ko-roh, ko-roh, ko-roh!« Ein mitreißender Ton, das Trompeten dieser Schwäne.
Die Vögel erreichten den See und kreisten eine Weile darüber. Schließlich ließen sie sich auf dem Wasser nieder, falteten die großen Flügel ordentlich auf dem Rücken und sahen sich aufmerksam in ihrer neuen Umgebung um. Es waren Trompeterschwäne, strahlend weiße Vögel mit schwarzen Schnäbeln. Der kleine See inmitten des Sumpfs hatte ihnen wohl gefallen, und nun wollten sie eine Weile hierbleiben und eine Familie gründen.
Die beiden Schwäne waren erschöpft von dem langen Flug und froh, angekommen zu sein. Sie schwammen ein wenig hin und her und machten sich dann auf Nahrungssuche, steckten immer wieder den Kopf in das seichte Wasser und rissen Wurzeln und Pflanzen vom Grund. Bis auf die schwarzen Schnäbel und Füße waren sie völlig weiß. Die Köpfe trugen sie stolz erhoben. Durch sie wirkte der See fast ein wenig verwandelt.
Über die nächsten Tage ruhten sich die Schwäne aus. Wenn sie Hunger hatten, aßen sie. Wenn sie Durst hatten, und das war [12] oft der Fall, tranken sie. Am zehnten Tag begann das Weibchen, sich nach einem passenden Ort für ein Nest umzusehen.
Für Vögel dreht sich im Frühling alles um den Nestbau. Das ist das Allerwichtigste. Das Weibchen muss den richtigen Platz dafür aussuchen, damit sie in Ruhe brüten und die Jungen aufziehen kann. Hat sie keinen guten Platz ausgewählt, gibt es vielleicht keinen Nachwuchs. Das Schwanenweibchen wusste das. Ihr war klar, dass sie eine sehr wichtige Entscheidung zu treffen hatte.
Erst sahen sich die beiden Schwäne am oberen Ende des Sees um, wo ein ruhiger Fluss mündete. Schön war es da, es gab dichtes Schilf und Rohrkolben, das sumpfige Ufer ging in den Wald über. Doch dort bauten sich bereits Rotschulterstärlinge ein Nest, und ein Stockentenerpel umwarb ein Weibchen. Die Schwäne schwammen zum unteren Ende des Sees, wo sich Wiese ans Ufer anschloss. Eine kleine Sandbank ragte ins Wasser. Einen knappen Meter davor lag eine winzige Insel, kaum größer als ein Tisch. Die Insel war mit Farnen und Gräsern bewachsen. In der Mitte stand ein einzelner, kleiner Baum.
»Was hältst du hiervon?«, fragte die Schwänin und drehte einige Runden um die Insel.
»Ko-roh!«, antwortete ihr Mann. Er mochte es, wenn man ihn um seine Meinung bat.
Vorsichtig trat die Schwänin an Land. Das Fleckchen schien wie für sie gemacht, ein perfekter Nistplatz. Der Schwanenmann schwamm aufmerksam um die Insel herum und passte auf. Währenddessen wandte sich seine Frau hierhin und dorthin, bis sie schließlich eine gute Stelle auf dem Boden gefunden hatte. Dort setzte sie sich hin, um zu schauen, wie sich die Stelle anfühlte. Sie hatte genau die richtige Größe für ihren Körper. Die Lage war [13] ebenfalls ausgezeichnet, nur wenige Schritte vom Wasser entfernt. Sehr praktisch. Sie sah zu ihrem Mann.
»Was meinst du?«
»Könnte nicht besser sein!«, rief er. »Ein perfekter Platz! Ich kann dir auch genau erklären, warum«, fuhr er gewichtig fort. »Falls sich jemals ein Feind nähern sollte, der etwas im Schilde führt, egal, ob Fuchs, Waschbär, Kojote oder Stinktier, dann müsste derjenige durchs Wasser und würde dabei einen nassen Pelz riskieren. Davor müsste er auch erst noch die ganze Sandbank entlanglaufen. Das heißt, wir würden ihn auf jeden Fall kommen hören oder sehen, und ich könnte mich sofort auf ihn stürzen.«
Das Männchen breitete die Flügel aus, die von einer Spitze zur anderen fast zweieinhalb Meter maßen, und schlug damit auf das Wasser, um seine Kraft zu demonstrieren. Dadurch fühlte er sich gleich noch mal stärker. Wenn ein Trompeterschwan seinem Gegenüber eins mit dem Flügel verpasst, ist das wie ein Hieb mit einem Baseballschläger. Im Tierreich haben viele männliche Tiere übrigens einen besonderen Namen: Eine männliche Gans ist ein Ganter, ein männliches Rind ist ein Bulle, ein männliches Schaf ist ein Hammel, ein männliches Huhn ist ein Hahn und so weiter. Männliche Schwäne haben jedoch keinen eigenen Namen. Warum, das weiß niemand. Es ist einfach so.
Die Schwänin tat so, als würde sie gar nicht bemerken, dass ihr Mann gerade ein wenig angeben wollte. Aber insgeheim war sie stolz darauf, wie stark und mutig er war. Sie hatte es wirklich gut mit ihm getroffen.
Der Schwanenmann schaute zu seiner hübschen Frau hinüber, die immer noch auf der winzig kleinen Insel saß. Zufrieden sah er ihr dabei zu, wie sie sich langsam mehrmals um sich selbst drehte und dabei mit den Füßen eine kleine Mulde in die Erde [14] und das Gras unter sich trat. So ging der Nestbau vonstatten. Als Erstes setzte sie sich dort, wo das Nest stehen sollte, auf den Boden. Dann drehte sie sich mehrere Male um sich selbst und vertiefte dabei mit den breiten Schwimmhäuten an ihren Füßen die Kuhle. Dann begann sie, sich kleine Zweige und Grasbüschel unter die Flügel und den Schwanz zu stopfen. So entstand ein Nest, das genau ihre Körperform hatte.
Der Schwanenmann glitt näher und beobachtete seine Frau aufmerksam.
»Jetzt ein dickerer Zweig, mein Schatz«, riet er. Sie reckte ihren wunderschönen, eleganten weißen Hals so weit vor, wie es nur ging, schnappte sich einen Zweig vom Boden und legte ihn sich unter den Flügel.
»Jetzt wieder ein Grasbüschel«, sagte der Schwanenmann ernst.
Die Schwänin benutzte Grasbüschel, Moos, kleine Zweige, kurz: alles, was in der Nähe lag. Stück für Stück baute sie so mit größter Sorgfalt ein Nest, bis sie schließlich auf einem richtigen Hügel thronte. Sie arbeitete stundenlang daran. Dann hatte sie genug für diesen Tag und glitt zurück in den See, um etwas zu trinken und sich zu stärken.
»Das ist ein fantastischer Anfang!«, lobte der Schwanenmann beim Anblick des Nests. »Das wird ein ausgezeichnetes Heim. Wie du das nur geschafft hast!«
»Das liegt einfach in meiner Natur«, antwortete seine Frau. »Es ist ganz schön anstrengend, macht aber auch sehr viel Spaß.«
»Ja, und wenn man fertig ist, kann man stolz auf das Ergebnis sein – so ein Schwanennest ist schließlich fast zwei Meter breit. Das kann kein anderer Vogel von sich behaupten!«
»Na ja, ein Adler vielleicht schon.«
»Vielleicht, aber dann wäre es ja auch kein Schwanennest, [15] sondern ein Adlerhorst, und es würde hoch oben in einem Baum sein, nicht hier unten, so schön nah am Wasser.«
Da mussten sie beide lachen. Und dann trompeteten sie und planschten und tollten im Wasser herum, spritzten es sich auf den Rücken und waren vor Freude ganz ausgelassen.
»Ko-roh! Ko-roh! Ko-roh!«, riefen sie.
Das Trompeten war im Umkreis von anderthalb Meilen um den See zu hören, alle Tiere hörten es. Der Fuchs, der Waschbär, das Stinktier. Zwei Ohren waren auch darunter, die keinem Tier gehörten. Aber das wusste das Schwanenpaar nicht.
[16] Kapitel 3
Der Besucher
Eines Tages, es war etwa eine Woche später, setzte sich die Schwänin still in ihr Nest und legte ein Ei. Sie versuchte, jeden Tag ein Ei zu legen. Manchmal gelang es ihr, manchmal nicht. Mittlerweile befanden sich drei Eier im Nest, und heute wollte sie ein viertes legen.
Während sie dort saß und ihr Mann elegant auf dem Wasser dahinglitt, immer in ihrer Nähe, hatte sie plötzlich das Gefühl, sie würde beobachtet. Es machte sie ganz nervös. Vögel mögen es nicht, wenn man sie beobachtet. Schon gar nicht, während sie in ihrem Nest sitzen. Die Schwänin spähte nach allen Seiten. Ihr Blick blieb an der kleinen Sandbank hängen, die in der Nähe des Nests ins Wasser ragte. Mit ihren scharfen Augen suchte sie das Ufer nach einer möglichen Bedrohung ab und fuhr erschrocken zusammen. Dort drüben saß ein kleiner Junge auf einem Baumstamm. Er hatte kein Gewehr dabei, saß nur ganz still da.
»Schau mal!«, flüsterte die Schwänin ihrem Mann zu.
»Was denn?«
»Na, dort drüben. Auf dem Baumstamm. Da sitzt ein Junge! Was machen wir denn jetzt bloß?«
»Was macht der denn hier?«, flüsterte der Schwan zurück. »So tief in den kanadischen Wäldern gibt’s doch eigentlich weit und breit keine Menschen.«
»Dachte ich bis eben auch. Aber da drüben sitzt nun mal einer, so wahr ich zur Gattung der Cygnini gehöre.«
[17] Der Schwanenmann wurde böse. »Ich bin ja wohl nicht den ganzen Weg bis in den Norden Kanadas geflogen, nur um hier auf einen kleinen Jungen zu treffen! Wir haben uns doch dieses idyllische, abgelegene Fleckchen Erde extra ausgesucht, um unsere Ruhe zu haben!«
»Na ja, ich bin auch nicht gerade begeistert«, entgegnete die Schwänin, »aber schließlich tut er uns nichts. Er hat uns zwar entdeckt, aber er wirft nicht mit Steinen oder Stöcken nach uns. Er macht nichts kaputt. Er sieht uns einfach nur zu.«
»Ich möchte aber nicht, dass er uns zusieht. Ich habe doch nicht den weiten Weg auf mich genommen, damit mich jemand beobachtet. Und dich erst recht nicht. Du legst gerade ein Ei, das hoffe ich zumindest, und dabei steht dir ja wohl ein bisschen Privatsphäre zu. Bis jetzt hat noch jeder kleine Junge irgendwann mit Steinen und Stöcken nach uns geworfen. So sind sie einfach. Ich geh jetzt da rüber und verpass ihm eins mit dem Flügel. Der wird denken, ihn hat ein Gummiknüppel getroffen! Den schlag ich k. o.!«
»Jetzt warte mal!«, sagte die Schwänin. »Du musst doch nicht gleich Streit anfangen. Der Junge tut uns doch wirklich nichts, mir jedenfalls nicht. Und dir auch nicht.«
»Aber wie hat er denn bloß hierhergefunden?« Der Schwanenmann flüsterte jetzt nicht mehr, sondern wurde langsam laut. »Wie ist er hierhergekommen? Jungs können nicht fliegen, und hier gibt es doch keine Straßen. Der nächste Highway ist fünfzig Meilen entfernt.«
»Vielleicht hat er sich verlaufen«, überlegte die Schwänin. »Vielleicht ist er kurz vorm Verhungern und will unser Nest räubern und die Eier essen. Aber eigentlich glaube ich das nicht, sonderlich ausgehungert sieht er nämlich nicht aus. Aber das ist ja auch alles ganz egal. Ich habe dieses Nest gebaut, habe schon [18] drei wunderschöne Eier hineingelegt, und im Moment stört uns der Junge nicht. Also werde ich einfach weiter an meinem vierten Ei arbeiten.«
»Das machst du richtig, mein Schatz! Ich bleibe so lange bei dir und werde dich beschützen. Leg du nur!«
Eine Stunde verging. Der Schwanenmann drehte wachsam Runde um Runde um die winzig kleine Insel. Sam saß währenddessen regungslos auf dem Baumstamm. Er war vom Anblick der zwei Schwäne völlig fasziniert. Noch nie hatte er so große Wasservögel gesehen. Er hatte ihr Trompeten gehört und war dann so lange durch die Wälder und Sümpfe gestreift, bis er schließlich den kleinen See mit dem Nest gefunden hatte. Sam kannte sich mit Vögeln gut aus und wusste gleich, dass dies Trompeterschwäne waren. Mitten in der Wildnis, unter den Tieren, war er immer am glücklichsten.
Wie er dort auf dem Baumstamm saß und den Schwänen zusah, da ging es ihm wie anderen Menschen vielleicht in der Kirche.
Nach etwa einer Stunde stand Sam auf. Ganz langsam und so leise wie möglich ging er davon. Wie ein Indianer setzte er fast geräuschlos einen Fuß vor den anderen. Die Schwäne sahen ihm nach. Dann stieg die Schwänin vom Nest und sah hinein. Inmitten der weichen Federn auf dem Boden des Nests lag sicher und geborgen das vierte Ei. Der Schwanenmann kam an Land und watschelte herüber.
»Du hast dich wieder mal selbst übertroffen! Was für ein wunderschönes Ei. Welch perfekte Proportionen! Und es ist mindestens dreizehn Zentimeter lang!«
Seine Frau freute sich auch.
Nachdem sie noch ein fünftes Ei gelegt hatte, war es die Schwänin zufrieden und betrachtete stolz ihr Werk. Dann setzte sie [19] sich jedoch schnell wieder auf das Nest, denn die Eier mussten warm gehalten werden. Vorsichtig schob sie sie mit dem Schnabel unter sich so in Position, dass jedes Ei genug Körperwärme abbekam. Währenddessen kreiste der Schwanenmann wie immer in ihrer Nähe, um ihr Gesellschaft zu leisten und im Notfall zu Hilfe kommen zu können. Irgendwo in den Wäldern ringsum lebte ein Fuchs, den hatte er nachts nach erfolgreicher Jagd schon bellen gehört.
Der Junge tauchte nicht noch einmal auf, vielleicht würde er gar nicht mehr wiederkommen. Die Schwänin saß tagein, tagaus geduldig auf den fünf Eiern und wärmte sie. Unterdessen geschah in jedem Ei etwas, was man von außen nicht sehen konnte: Ein kleiner Schwan wuchs heran. Wochen vergingen. Die Tage wurden länger, die Nächte kürzer. Auch wenn es regnete, saß die Schwänin auf ihrem Nest und ließ den Regen einfach Regen sein.
»Mein Schatz«, sagte der Schwanenmann eines Nachmittags, »ist dir das nie lästig, wird es dir nie zu viel? Es kann dir doch keinen Spaß machen, die ganze Zeit auf einem Fleck zu sitzen, ohne dich ab und zu auch mal zu bewegen. Ohne Ablenkung, ohne jeden Spaß, ohne einfach mal herumtoben zu können. Wird dir denn nie langweilig?«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Ist es nicht unbequem, auf den Eiern zu sitzen?«
»Doch, das schon. Aber für unsere Schwanenjungen sitze ich gern ein bisschen unbequem.«
»Weißt du, wie lange du noch da sitzen bleiben musst?«
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Aber die Entenjungen vom anderen Ende des Sees sind schon geschlüpft, die Rotschulterstärlinge auch, und neulich Abend habe ich eine Stinktiermutter mit ihren vier Jungen am Ufer gesehen. Da wird es bei mir [20]