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Margarete Römer ist nach dem Tod ihres Vaters gezwungen, die letzten Familienwertstücke zum Pfandleihhaus zu tragen. Was sie nicht weiß: Sie ist dabei vom jungen Chemiker Dr. Erich Dierssen beobachtet worden, der sich sofort in die hübsche junge Frau vernarrt hat. Er macht ihr Avancen und sie werden von Margarete erwidert, die sich unsterblich in den jungen Mann verliebt; bald scheint eine dauerhafte Bindung in greifbarer Nähe. Doch Erich Dierssen arbeitet im Laboratorium des bedeutenden Professor Zander, und als sich ihm unvermittelt die Möglichkeit einer Verlobung mit dessen Tochter Freda ergibt, eröffnen sich ihm dadurch ungeahnte Aufstiegschancen, die er nicht um der Liebe willen in den Wind schlagen will. Dennoch verlässt er die mittellose Margarete nur schweren Herzens, die bald darauf an gebrochenem Herzen stirbt. Margaretes Schwester Martha, genannt Mara, dagegen erfährt an der Seite ihres Mannes Julius von Holleben einen ungeahnten gesellschaftlichen Aufstieg und wird zur reichen Frau. Als Erich Dierssen die angesehene Dame kennenlernt, glaubt er in ihr die verlorene Margarete wiederzuerkennen – die beiden Schwestern sehen sich sehr ähnlich und er hat von Margaretes Tod nie erfahren. Er bereut die Hochzeit mit Freda und will nun die begangenen Fehler der Vergangenheit wiedergutmachen. Doch Martha weiß, dass sich für Margarete nichts wiedergutmachen lässt. Als sie sich Erich Dierssen gegenüber als die verlorene Margarete ausgibt und sich scheinbar auf seine Annäherungsversuche einlässt, schmiedet sie bereits einen perfiden Plan der Rache ... Selten hat Anny von Panhuys so ein dramatisches, fast grimmiges und erschütterndes Werk geschrieben!-
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Seitenzahl: 214
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Anny von Panhuys
Roman
Saga
Der Schwester Rache
© 1925 Anny von Panhuys
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711570302
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com
Margarete Römer stieg am Dönhofsplatz von der Strassenbahn. Der herbe und dennoch schon von einer ganz leichten, kosigen Frühlingssüsse durchzitterte Märzenwind hob ihr lockiges Braunhaar in neckischem Spiel, und Dr. Erich Dierssen konnte das kleine feine Ohr so recht bewundern. Wie reizvoll war das klare schmale Mädchenantlitz, wie seidenflockig das Haar! Der junge Chemiker besann sich nicht mehr, er wollte dem schönen jungen Mädel nachgehen, Gelegenheit suchen, es anzusprechen.
„Heute ist heut!“ dachte er leichten Sinnes; der Zufall hatte ihm lange kein so liebliches, liebenswertes Mädel in den Weg geführt. Seinen Besuch bei Professor Zander konnte er morgen ebenfalls machen.
Margarete Römer ging quer über den Platz und bog dann in die belebte Seydelstrasse ein. Hohe alte Häuser mit Dutzenden von Bureaus drängten sich hier zusammen zu einer Kette, die der straffe Faden Arbeit aneinanderreihte. Vor einem der Häuser blieb Margarete stehen, ihre grossen blauen Augen hefteten sich auf ein Schild, und dann trieb die heilige Scham ein dunkles Rot über die blassen Mädchenwangen. Aus tiefem Herzensbronnen entsprangen Tränen und drängten empor.
Ein schwerer, zitternder Atemzug hob Margaretes Brust, dann betrat sie festen Schrittes das Haus. Wie in einer Art von Erstarrung stieg sie die Treppe empor, und während ihre Linke sich leicht auf das schwarze, abgegriffene Geländer stützte, fühlte sie in jedem Nerv die Härte dieses Ganges.
Das schwarze Geländer schien unter ihren Fingern zu beben.
Daheim lag der tote Vater, weinte in fassungslosem Schmerz die kinderjunge Schwester, und sie ging mit den letzten Familienwertstücken, die noch von der frühverstorbenen Mutter stammten und die der Vater wie einen Schatz behütet, ins „Preussische Leihhaus“, um Geld dafür zu schaffen, damit der Vater, der geliebte Vater gut und anständig zur letzten Ruhe kommen sollte, damit er nicht im Armensarg unter der Erde zu schlafen brauchte, er, der ein Künstler gewesen und ein Idealist, ein gütiger Mensch voll von Künstlerträumen und Lebensunklugheiten.
Margarete ahnte nicht, dass ihr ein schlanker, vornehmer Herr bis ins Haus gefolgt war und ihr, als sie das kahle Geschäftszimmer des Leihhauses verlassen, weiter folgte.
In Dr. Erich Dierssen trieben mancherlei Gedanken ihr Spiel. Vor allem drängte es ihn, seine stumme Verfolgerrolle aufzugeben und das schöne junge Mädchen anzusprechen. Doch ihm, dem sonst so Kecken, gebrach es an Mut dazu; der traurige, völlig gegenwartsabwesende Gesichtsausdruck der Fremden lähmte sein Draufgängertum.
Sie war im Leihhaus gewesen: also war sie in irgend einer Notlage, brauchte Geld! Hmm — er hätte gern geholfen, aber er konnte doch nicht einfach auf sie zugehen und ihr seine Börse anbieten. So bestieg er hinter ihr wieder die Strassenbahn, blieb auf der Plattform, während sie im Innern des Wagens Platz nahm, und betrachtete heimlich das liebliche Gesicht, das den tauigen Schmelz wundersamer Mädchenreinheit trug. Unterwegs stieg die Fremde um, Erich Dierssen folgte ihr, und der Zauber, der von ihr ausging, war wie ein Netz, das sich immer dichter und dichter um ihn spann.
Draussen in Charlottenburg, in der lauten, grossstädtischlebhaften Wilmersdorfer Strasse war Margarete Römer daheim. Unfern ihrer Wohnung ging plötzlich ein hochgewachsener, schlanker Herr an ihrer Seite, ein scharfes bräunliches Männergesicht lächelte ihr entgegen und eine tiefe, werbende Stimme klang an ihr Ohr:
„Nun bin ich mit Ihnen zum Dönhofsplatz hin- und zurückgefahren, habe Sie also gewissermassen schutzengelhaft bewacht, jetzt erbitte ich mir dafür einen Blick und Ihr Versprechen, Sie wiedersehen zu dürfen.“
Lange dunkle Wimpern erhoben sich schwer und müde, tiefe dunkelblaue Augensterne blickten ihn ernst an. Ein weiches Organ, in dem ein Klang wie heimliches Weinen war, gab Antwort:
„Was wollen Sie von mir, und weshalb verfolgen Sie mich? Sie verlieren nur Zeit. Gehen Sie zu frohen Menschen! Ich bin traurig, denn gestern abend starb mein Vater, heute legt man ihn in den Sarg, morgen in die Erde.“
Ohne den unwillkürlich Stehenbleibenden weiter zu beachten, schritt Margarete vorwärts, ein grosses Haus nahm ihre Zierlichkeit auf — und Erich Dierssen starrte auf die Tür, die sie eingelassen, sann den Worten nach, die sie gesprochen und ging langsam zurück. Wie ein eiskalter Hauch aus duftenden Rosen hatten ihn die Worte aus dem Mund der schönen Fremden angeweht. Der Vater war ihr gestorben, Not hatte sie ins Leihhaus getrieben, Schmerz umhüllte die entzückende Mädchenblume und das hässliche Schleiergewebe stumpfgrauer Alltagssorge.
Armes junges Ding! dachte er mit schwacher Rührung. Er hob unternehmungslustig den Kopf. Nein, so schnell gab er das Spiel nicht verloren. Schliesslich war er ja nicht an das Heute gebunden. Die Zeit heilt Trauer und Gram, und es würden Tage kommen, wo die Augen der jungen, braunlockigen Schönen wieder heller und zuversichtlicher ins Leben blickten. Dann, ja dann — —
Erich Dierssen straffte seine Gestalt höher auf. Donnerwetter, er war doch wer, war ein hübscher forscher Kerl, gefiel den Frauen stets. Das süsse Mädel musste ihm gehören, ihr roter Mund sich dem seinen willig entgegenneigen, ihre Augen ihn anlächeln in jungem, strahlenden Liebesglück. —
Erich Dierssen kehrte noch einmal um, besah sich genau das Haus, in dem die liebliche Fremde verschwunden war, und merkte sich die Nummer. Er würde wiederkommen, bestimmt wiederkommen, zu gelegenerer Zeit. Er liebte zwar im allgemeinen das Warten nicht, aber in diesem Falle lohnte es sich, denn das schöne Mädchen hatte sein Verlangen mit brennender Sehnsucht aufgestachelt.
Und während Erich Dierssen vorwärts schritt durch die lauten Strassen, immer noch erfüllt von dem Bilde des lieblichen Mädchens, trat Margarete Römer in ein einfaches Zimmer, darin auf einer Lagerstatt ein toter Mann ruhte. Ein Mann mit feinem Gesicht und einem über den Tod hinaus festgehaltenen Lächeln der Menschenliebe.
Ein Mädchen zwischen vierzehn und fünfzehn Jahren mit rotverweinten Augen, das vor dem Toten gekniet, sprang auf und flog auf Margarete zu. Zitternde Arme streckten sich der Eintretenden entgegen, und scheu rang sich die Frage von den Kinderlippen:
„Bringst du Geld, Margarete? Brauchen wir keine fremde Hilfe, den guten Vater zu beerdigen?“
Margarete zwang ein mattes Lächeln um ihren Mund.
„Gottlob, Martha, ja, ich bringe Geld, ich erhielt für Mutters Schmuck mehr als ich erhofft. Vater soll gut schlafen gehen, gut wie ein Wohlhabender.“
„Wie schön das ist, Margarete, dass der Vater nicht wie ein armer Mann aus der Welt zu ziehen braucht! Er liebte die Schönheit ja so sehr.“
Margarete drückte die junge Schwester innig an sich, und durch ihren Sinn ging es: Vater liebte die Schönheit fast zu sehr! Die Tränen Marthas liessen ihren Schmerz neu hervorbrechen. Sich umschlungen haltend, traten beide zu dem Lager des toten Vaters und sahen nieder auf ihn, der das Leben überwunden, dieses Leben, das noch so gross und gewaltig und zukunftsunsicher vor ihnen beiden lag, gleich einem dunklen, riesigen Meer voll Untiefen und Gefahren.
Ueber Margaretes Körper ging ein Erschauern, und ihre bange Seele horchte hinaus in eine fremde, endlose Weite, ob ihr kein ermutigender Zuruf entgegenkäme. Eine seltsame, halb beängstigende, halb hoffnungsvolle Spannung benahm ihr beinahe den Atem. Zukunft, Zukunft, was wirst du den Töchtern Wolfgang Römers bringen? Zukunft, lüfte ein wenig den Vorhang, hinter dem du thronst in deiner hohen Unerforschlichlichkeit.
Durch das offene Fenster wehte herbe Märzluft, brachte Frühlingshoffnung mit auf Sonnenschein und grüne Bäume, und Blumenduft und Vogelgezwitscher.
Plötzlich war es Margarete, als sähe sie einen hohen, vornehmen Herrn neben sich mit dunklem, heissen Blick. Dieser dunkle, heisse Blick, er hatte sie nicht losgelassen, hatte sie verfolgt bis in das stille Sterbegemach. Erschrocken barg sie das Antlitz in den Händen. Soviel Macht hätte sie den kecken Männeraugen nicht einräumen dürfen, dass sie ihr wie zudringliche Verfolger nachliefen in die Heiligkeit dieses Raumes.
Sie liess die Arme lässig sinken, und ihre Tränen strömten stärker und fielen nieder auf das Gesicht des Vaters, dessen bleicher Mund noch immer das Lächeln der Menschenliebe festhielt und es mitnahm in die Ewigkeit hinüber. —
Vierzehn Tage lang vermied es Erich Dierssen, den Weg nach der Wilmersdorfer Strasse anzutreten, trotzdem ihn seine Sehnsucht fortwährend in lockendem Spiel mit einem entzückenden, von flimmerndem Braunhaar umbauschten Mädchenkopf umgaukelte, darin zwei blaue Augen tief leuchteten. Endlich aber vermochte er seinem Verlangen nicht mehr zu widerstehen, und an einem sonnenklaren Aprilnachmittag stand er vor dem Hause, das ihn anzog, seit er wusste, welche Schönheit unter diesem Dache lebte. Er las die Schilder neben dem Eingang, doch keines liess natürlich die Deutung zu, der darauf verzeichnete Name könnte irgendwie mit den jungen Mädchen in Verbindung stehen.
Eine einfache Frau trat aus der Tür; wahrscheinlich die Hausmannsfrau.
Er grüsste und fragte.
Die Frau lachte mit breitgezogenem Mund.
„Jawoll, ich bin die Portjehfrau, heisse Kerkow und kenne die Leute in das Haus alle aus’m FF.“
Er lächelte liebenswürdig.
„Dann können Sie mir vielleicht sagen, verehrte Frau Kerkow, wer hier in dem Haus vor ungefähr zwei Wochen gestorben ist, es handelt sich um eine wichtige Angelegenheit für mich und“ — er fingerte vielsagend mit einem Geldschein umher, den er aus der Westentasche gezogen hatte.
Die Frau nickte. „Natürlich kann ich Ihn’ Auskunft jeben. Vor vierzehn Tagen is hinten ins Jartenhaus drei Treppen der Ilasmaler Wolfgang Römer gestorben.“
„Hat er Kinder hinterlassen?“ fragte Erich Dierssen schnell.
„Woll’n Sie erben?“ kam die überlegene Gegenfrage. Und dann redete die Frau gleich weiter. „Wenn Sie sich vielleicht einbilden, dass der Ilasmaler was zu erben hat, denn irren Sie sich feste, höchstens Schulden, un seine beiden Mächens haben nichts zu nagen und zu beissen. Hübsche Mächens, das muss beide der Neid lassen, aber arme Luders, janz arme Luders. Doch zum Ilück haben sie einen juten Vormund erwischt, ’nen früheren Freund von ihrem Vater, der wird schon sorjen, dass nichts Schlimmes an sie heran kann, sonst is es ja man faul mit so ’ne hübsche Mächens in der Irossstadt; bei arme Mächens denken die Herren meistens nich so rasch ans Heiraten.“
Erich Dierssen dachte ein bisschen unbehaglich: „Schwätzerin,“ laut sagte er: „Sie haben vollkommen recht, Frau Kerkow. Aber nun möchte ich von Ihnen wissen, wann ich die Töchter des Verstorbenen am besten sprechen kann, ich habe den Damen eine dringende Mitteilung zu machen.“
Die Frau wiegte den Kopf bedächtig hin und her.
„Dann werden Sie sich wohl ein Stück weiter bemühen müssen, vorjestern sind die Schwestern ausjezogen, nach ’m Norden, Scharnhorststrasse, wo’s die vielen Kasernen und die viele Soldaten jibt. Sie wohnen bei ihr’m Vormund, Bäckermeister Overmann. Das Alleinwohnen is ja auch nichts für so junge Dinger. Die jrosse, die ins Kontor jeht, is neunzehn, die kleine Schwester noch nich janz fünfzehn, und keine Mutter!“ Sie machte eine mitleidige Bewegung: „Jott, wenn ich denke, meine Mächens hätten keine Mutter!“
Erich Dierssen schob ihr den Geldschein zu.
„Vielen Dank für freundliche Auskunft,“ und weg war er. Die Frau blickte ihm etwas verdutzt nach, sah noch, wie er drüben, jenseits der Strasse auf die Elektrische sprang, die den Buchstaben W trug und nach der Scharnhorststrasse fuhr, an welcher der W-Wagen vorbeikam.
Erich Dierssen war es gleich, was die redelustige Frau von ihm dachte, er sann eifrig darüber nach, wie er nun wohl am schnellsten die kurze Bekanntschaft mit dem schönen Mädchen auffrischen konnte. Der Vormund störte entschieden, mit einer Mutter wäre das Spiel leichter gewesen. Spiel? Ach nein, ein Spiel wollte er ja nicht treiben, aber ernsthafte Absichten hatte er natürlich auch nicht. Eine arme Frau konnte er nicht brauchen, zum Heiraten war Professor Zanders Freda die rechte, aber fürs Herz, da suchte man sich doch lieber so etwas Zartes, unsagbar Süsses, wie das braunlockige Mädel! In einem Kontor war sie also beschäftigt, diese Zarte, Süsse? Da ergab sich sicher Gelegenheit, ihr aufzulauern.
Der Schaffner rief mit heiserer Stimme: „Scharnhorststrasse.“
Erich Dierssen wanderte am Invalidenpark vorbei, er wollte die Strasse hinunter gehen und unterwegs acht geben auf den Laden des Bäckermeisters Overmann. Vielleicht sah er sie selbst oder begegnete ihr, wenn sie aus dem Kontor kam.
Die Uhr zeigte schon etwas über sechs, und die meisten Bureaus schlossen um fünf Uhr. Er warf einen Blick zur Rechten in den Park hinein. Soldaten spazierten darin umher und freuten sich an dem ersten knospenden Grün, das die braunen Zweige der Büsche krönte. Und da, er erschrak wirklich, mitten auf dem Wege schritt langsam ein zierliches, in stumpfes Schwarz gekleidetes Mädchen, unter dem zurückgeschlagenen, düsteren Trauerschleier sah ein bleiches, schönes Antlitz hervor mit dunklen Veilchenaugen. Und der Blick dieser Augen traf sich mit dem seinen, während eine lichte Röte über die schmalen Wangen hinfloss, wie ein mattfarbener Blutstrom.
Wie wunder-, wunderschön sie ist! freute sich Erich Dierssen. Gleich ging er dem in tiefe Trauer gekleideten Mädchen entgegen und zog den Hut.
„Mein gnädiges Fräulein, wie freue ich mich, Sie wiederzusehen, und wie dankbar bin ich dem Zufall, der uns heute zusammenführt, habe ich doch letzthin an nichts anderes gedacht, als an Sie, immer nur an Sie!“
Margarete Römer war unwillkürlich stehengeblieben, und ihr Herz tat einen so eigenen, glücklich-bangen Schlag! Die Worte, die der stolz und gebietend aussehende Mann gesprochen, waren wie ein Lautwerden ihres eigenen Denkens und Empfindens. Hatte doch auch sie oft, unendlich viel an ihn, der einmal flüchtig ihren Lebensweg gekreuzt, denken müssen, immer an ihn denken müssen, Tag und Nacht, im Kontor bei der Arbeit und daheim.
Sie fand keine Antwort, die herrischen Augen machten sie schwach.
Erich Dierssen benützte den Vorteil, der sich ihm bot.
„Nun wird ernstlich Frühling und man soll die schönen Stunden im Freien nützen! Kommen Sie, wandern wir noch ein wenig durch den Park und erzählen wir uns von einander.“
Margarete schüttelte den Kopf.
„Onkel und Tante erwarten mich, das heisst,“ unterbrach sie sich, „ich nenne meinen Vormund und seine Frau so, Verwandte habe ich keine.“
Er sah sie mitleidig an.
„Es tut mir leid für Sie, dass Sie den Vater verlieren mussten.“
Seine Stimme konnte unendlich weich klingen.
In die dunklen Veilchenaugen trat ein feuchter Glanz, klagend kam es über die jungen Lippen:
„Der arme, liebe Vater, das Leben ist so schwer ohne ihn!“
Er ergriff, wirklich ein wenig gerührt, die Rechte des jungen Mädchens und sprach sanft:
„Das Leben soll für Sie nicht schwer fein, wenn Sie mir gestatten, Ihnen hilfsbereit mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Ich möchte Ihr Bruder sein, Ihr Freund.“
Warm und bewegt schlugen die Worte an Margaretes Ohr und weckten leise ein Echo in ihrem Herzen. Ein schwaches Lächeln erblühte um ihren rosigen Mund, als sie antwortete:
„Sie sind mir doch ein Fremder, ich bin Ihnen eine Fremde, Sie wissen nichts von mir, ich nichts von Ihnen, wie könnten wir Freunde sein?“
Er wandte sich um. „Kommen Sie, gehen wir durch den Park, dann erzähle ich Ihnen dabei, wie ich es denke, Ihr Freund zu sein.“
Margarete schritt gehorsam neben ihm her. Seine Stimme schlug sie in Bann, seine Augen zwangen sie, zu tun, was er bat. —
So wanderten die beiden durch die Parkwege, über die der Vorfrühlingsabend leise und unmerklich seine abendlichen Schleier wand, und Margarete Römer lauschte andächtig auf die zärtlichen Huldigungen des Mannes, der wie ein Sieger in ihr kleines, bisher so eng begrenztes Leben getreten war.
Von nun an trafen sich Erich Dierssen und Margarete Römer öfter, und die Liebe verschönte Margarete noch mehr. Fast unirdisch schritt sie durch die arbeitsvollen Grossstadttage und es ging wie ein Glanz von ihr aus, wie von einer jener wundersamen Madonnen, die, von gebenedeiter Künstlerhand geschaffen, in stillen alten katholischen Kirchen stehen. —
Ein Schweben war Margaretes Gang in diesen Frühlingstagen und das Leuchten ihrer Augen wie heilige Kerzen, so dass man fast vor der herzbeseligenden Anmut und Schönheit der jungen, liebenden Margarete Römer erschrak. —
Die mollige Frau Overmann deckte den Abendbrottisch sauber und gefällig. Am Fenster, ein Buch in den Händen, sass Martha Römer und lernte halblaut französische Vokabeln.
Mine Overmann stellte eine Schüssel leckeren Heringssalat mitten auf den Tisch, dann sah sie kopfschüttelnd auf Martha.
„Was quälst du dich nun man wieder, Kind, das kauderwelsche Zeugs in dein Gehirn reinzustopfen. Ich kann nicht ein einziges fremdes Wort und bin bis jetzt auch ganz gut durch die Welt gekommen. Ich meine, du hättest Ostern ruhig von der Schule abgehen können und häusliche Sachen lernen sollen, ein junges Mädchen braucht doch keine Gelehrte zu werden. Das sind so Neuerungen, mit denen ich mich nicht so recht befreunden kann. Heutzutage ist man ja nicht zufrieden, wenn nicht jeder Dreikäsehoch von Mädchen ’ne bunte Gymnasiastenmütze auf den Kopf stülpen kann.“
Martha Römer lachte, ihre weissen Zähne blitzten.
„Ach, Tantchen, du hast ja recht, wenn — nun also, wenn jedes Mädchen den passenden Mann findet! So aber ist’s besser man lernt, damit man sich später auch ohne den männlichen Beschützer durchzuschlagen vermag.“
Frau Mine riss die Augen auf und stemmte die Arme in die Seiten.
„Marteken, wie du bloss so was sagen kannst! Das hört sich so an, als ob du bald eine alte Schachtel wärst, un bist doch erst fünfzehn. Kiekindiewelt, als ich so jung war, wie du jetzt, da hab’ ich noch nicht weiter gedacht, als meine Nase lang ist!“
Martha sah belustigt auf die kleine Stulpnase Frau Mines, die lebhaft fortfuhr:
„Damals war mein höchster Gedanke, ob mir Mutter wohl erlauben würde, Sonntags den Kalbsbraten ganz allein zu machen, oder ob mir der Pflaumenkuchen auch gut geraten würde, ob das Kleid von Nachbars Lene keinen Volant mehr hatte als meines und ob der Vater brummen würde, wenn er bemerkte, dass ich ab und zu mit der Tollschere in meinen Haaren herumkniffte. Weisste Kind, anderes dachte ich damals noch nicht, und ich dächte, mehr brauchst du auch nicht zu denken.“
Martha Römers weisses Gesichtchen, das dem Margaretens auffallend ähnlich sah, wurde ernst. Ein fester, wenn man bei ihrer Jugend davon sprechen konnte, fast harter Zug legte sich um ihren Mund.
„Liebe Tante Mine, du und Onkel Karl, ihr seid herzensgut zu Margarete und mir, aber dass wir zwei arme Mädchen sind, davon beisst doch keine Maus ein Fädchen ab, und arme Mädchen dürfen nicht so unbekümmert und sorglos der Zukunft entgegensehen wie wohlhabende, von Elternliebe behütete Haustöchterchen mit Sparkassenbüchern.“
Frau Mines Gesicht ward rot.
„Marteken, das hört sich beinahe wie ein Vorwurf an. Mein Mann und ich wollen doch eure Eltern sein, und wenn uns der liebe Gott noch ’ne Weile leben lässt, dann können wir eure Kinder noch aus der Taufe heben.“ —
Nun lachte Martha wieder, ein junges, erquickendes Lachen.
„Tante, du bist drollig. Aber vielleicht hast du recht, ich denke zu viel und zu weit voraus. Aber trotzdem, was nur halbwegs in meinen Kopf hineingeht, das will ich lernen. Wissen ist ja schliesslich der einzige Schatz, der uns nicht gestohlen werden kann.“ Sie sprang auf und umarmte die kleine, dicke Frau ungestüm. „Tantchen, ich habe dich lieb, wirklich schrecklich, furchtbar, grässlich, nein schauderhaft lieb, und auf den Heringssalat freue ich mich ganz unbändig, solchen Heringssalat wie du, kann doch kein Mensch auf der ganzen Welt zustande bringen.“
Sie drehte Mine Overmann einmal feierlich und bedächtig im Kreise herum.
Eben tat sich die Tür auf. Mit langsamer Würde, wie es seine Art war, trat Karl Overmann ein. Verwundert blickte er auf Frau und Mündel.
„Na nu, Ihr beide wollt wohl tanzen? Kannste das überhaupt noch, Mine? Ich glaube vor zwanzig Jahren gings besser.“ Seine Augen durchsuchten das Zimmer. „Ist Margarete noch nicht hier? Es wird jeden Abend später.“ Er brummte etwas vor sich hin, aus dem sich nur die Worte: „Verstehe ich nicht“ hervorhoben.
Frau Mines schmale Grauaugen vergrösserten sich vor Neugier.
„Was verstehst du nicht, Karl?“
Er wehrte ab. „Nichts, ich meine bloss so, dass es jetzt abends so schwer ist, mit der Elektrischen mitzukommen.“ Er wandte sich an Martha. „Bitte, hole mir doch mal sechs Zigarren meiner Sorte von Benekes an der Ecke, sonst habe ich nach dem Essen nicht eine.“
Er gab ihr Geld, und Martha ging gleich, doch hatte sie das Gefühl, fortgeschickt zu werden, weil Onkel Karl irgend etwas über Margarete und ihr langes Ausbleiben zu sagen beabsichtigte, was sie nicht hören sollte.
Auch ihr war es schon aufgefallen, dass Margarete in letzter Zeit stets so lange des Abends ausblieb, aber bisher hatte sie an die überfüllte Elektrische und die plötzlich notwendige Ueberstunde im Kontor geglaubt. Jetzt mit einem Male war ein Zweifel da, ein Zweifel, der ihr wehe tat, weil die Schwester bisher für sie das Wahrste und Glaubwürdigste auf der Welt gewesen. Doch schämte sie sich sofort ihres Zweifels und klagte sich an, schlecht und klein zu sein.
Sie ging langsam die Scharnhorststrasse hinunter, nach der Invalidenstrasse zu. Wozu eilen, Onkel Karl brauchte die Zigarren nicht so rasch. Er hatte sie ja nur weggeschickt, um ungestört über Margarete zu reden.
Ganz langsam und tief in ihre Gedanken eingesponnen, vergass sie für Augenblicke, weshalb sie sich eigentlich auf der Strasse befand, und ging an dem Zigarrenladen, wo Karl Overmann seinen Bedarf an Rauchwaren zu decken pflegte, vorüber. Erst an der Invalidenstrasse fiel ihr der Auftrag wieder ein. Da sah sie Margarete eben herankommen. Sie wollte ihr mit einem frohen Zuruf über den Fahrdamm entgegeneilen, als sie erkannte, dass sich die Schwester nicht allein befand. Ein hochgewachsener, vornehmer Herr schritt an ihrer Seite und neigte sich, eifrig auf sie einsprechend, zu ihr nieder.
Wie gejagt lief Martha zurück. Sie wusste mit einem Male, weshalb Margarete letzthin immer so spät nach Hause gekommen!
Wie ein von fest zupackender Hand zerstörtes Spinnenwebenetz erschienen ihr jetzt die Ausreden, die Margarete oft ersonnen, um ihr spätes Heimkommen in ein glaubwürdiges Licht zu rücken.
Margarete log! O Gott, wie schrecklich war das! Margarete, die reine, die vorbildliche, die schöne, angebetete Schwester log um eines fremden Mannes willen! Wie der Gedanke schmerzte!
Unwillkürlich, ohne recht zu wissen, was sie tat und weshalb sie es tat, trat Martha in einen offenstehenden Hausflur hinter die Tür, deren einer Flügel geschlossen war. Sie mochte nicht vor der Schwester zu Hause sein, sie musste sich erst sammeln, ehe sie ihr halbwegs ruhig entgegentreten konnte. — Und dann dachte sie, dass sie Margarete möglicherweise doch unrecht tat. Sie hatte den Herrn vielleicht erst heute in der Strassenbahn kennengelernt, und er hatte ihr irgendeinen Dienst erwiesen, oder es war ein Herr vom Kontor, der zufällig denselben Weg hatte.
Martha drückte sich scheu in die Ecke, eben sah sie die Schwester daherkommen, neben ihr den Herrn, und nun klang eine tiefe, warme Stimme an ihr Ohr:
„Mein Lieb, du musst dir diesen Sonntag für mich freihalten, einen ganzen Frühlingstag lang musst du mir gehören. Sieh, wie du es möglich machen kannst, schliesslich wird sich doch eine Ausrede finden.“
Gerade vor der halboffenen Haustür war das Paar stehen geblieben. Margaretes Antwort blieb ihr unverständlich. Martha duckte sich tief, in der Furcht, gesehen zu werden. Nun erklang die Männerstimme noch einmal:
„Leb’ wohl, mein Lieb, auf Wiedersehen am Sonntag Morgen!“
Martha verhielt sich minutenlang ganz still, bis ein schwerer Schritt, der die Treppe herunterkam, sie aufscheuchte. Wie ein Dieb schlich sie sich da hinter der Tür hervor und erschrak, denn unfern dem Hause stand der Herr, der Margarete begleitet, und sah der Schwester nach, die schon ein gutes Stück entfernt war. —
Kein Blick des Mannes fiel auf das schmale Mädelchen in dem kurzen, schwarzen Kleide, seine volle Aufmerksamkeit galt der sich weiter und weiter entfernenden Margarete. Aber Martha betrachtete den Mann während ihres Vorbeihuschens mit Eindringlichkeit und prägte sich sein Bild so tief und fest ein, dass sie es, wenn sie Maltalent besessen, Zug um Zug hätte wiedergeben können: das scharfe, gradlinige Gesicht, die dunklen Augen und das kleine Bärtchen über dem genusssüchtigen Mund!
Und während Martha die Zigarren holte, und während sie dann schnell nach Hause eilte, wollte es ihr erscheinen, als könne sie der Schwester nicht ernsthaft zürnen, denn dieser stolz und vornehm aussehende Mann musste es wohl wert sein, dass eine Margarete Römer um seinetwillen zur Lüge griff. —
Als Martha mit den Zigarren nach Hause kam, war man eben im Begriff, sich zum Essen zu setzen. —
Wie schön die Schwester war! Martha wurde es fast ehrfürchtig zumute, und sie begrüsste die Aeltere mit einer Art verlegener Scheu. —
Karl Overmann füllte seinen Teller.
„Ich habe ehrlichen Hunger abends, denk daran, Margarete, und komm nicht immer so spät.“ Er drohte ihr gutmütig mit dem Finger. „Sonst glaube ich schliesslich, du hast dir einen Schatz zugelegt.“
Margarete wurde flammend rot, und ihre Augen sahen den gutmütig lächelnden Mann nicht an. Er wechselte einen Blick mit seiner Frau, der zu sagen schien: „Da stimmt wirklich nicht alles,“ aber er brach das Thema ab und langte tüchtig zu. —
Als man nach dem Essen noch ein Weilchen beisammen sass, meinte Margarete leichthin:
„Ich möchte mit zwei Kolleginnen, die mich einluden, am Sonntag einen Ausflug nach Potsdam machen und von dort nach Babelsberg. Ich hoffe, ihr habt nichts dagegen, Onkel und Tante?“
Martha fühlte ein heimliches Zittern über ihren Körper gehen. Ob auch Onkel und Tante jetzt ahnten, was sie bestimmt wusste, nämlich, dass Margarete die Unwahrheit sprach? Deutlich meinte Martha die dunkelgefärbte, weiche Männerstimme bitten zu hören: „Mein Lieb, du musst dir diesen Sonntag für mich freimachen, einen ganzen Frühlingstag lang musst du mir gehören. Sieh, wie du es möglich machst, schliesslich wird sich doch eine Ausrede finden!“
Der Ausflug nach Potsdam mit den Kolleginnen war die Ausrede! Mine Overmann stopfte an einem Wollstrumpf. —
„Was sollten wir dagegen haben, wenn du mal mit ein paar jungen Mädchen ausfliegen willst? Jugend gehört zu Jugend, und mit Vatern und mir Sonntags als höchsten Genuss bei Schultheiss zu sitzen, ist für dich ein bisschen eintönig. Aber vielleicht könntest du das Kind, die Martha, am Sonntag auch mitnehmen.“