Der Seewolf - Jack London - E-Book + Hörbuch

Der Seewolf E-Book und Hörbuch

Jack London

4,8

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Beschreibung

Der Seewolf erzählt die Geschichte des Schöngeists Humphrey van Weyden, der bei einem Schiffsunglück auf dem Weg von Sausalito nach San Francisco über Bord geht und von dem Robbenschoner "Ghost" gerettet wird. Wolf Larsen, der Kapitän, ein Mann von großer physischer Stärke und Brutalität, terrorisiert die Mannschaft. Zugleich ist er aber auch hochintelligent und hat sich seine eigene Philosophie nach sozial-darwinistischen Grundsätzen geschaffen. Wolf Larsen spielt mit van Weyden, indem er ihn demütigt, als Küchenjungen arbeiten lässt und ihn später, ohne dass er seemännische Kenntnisse hätte, zum Steuermann macht. Van Weyden lernt, sich in dieser Welt zu behaupten und, wie Larsen feststellt, "endlich auf eigenen Füßen zu stehen." Im Laufe der Zeit gelingt es van Weyden, im Ansehen von Mannschaft und Kapitän aufzusteigen. In Letzterem findet er einen tiefgründigen Gesprächspartner, und auch wenn er seinen Argwohn gegenüber Larsen nie ganz ablegt, stellt sich so etwas wie ein Vertrauensverhältnis zwischen den beiden Männern ein. Ihre Beziehung wird auf die Probe gestellt, als die "Ghost" die schiffbrüchige Maud Brewster rettet. Schließlich verliebt sich van Weyden in Maud Brewster, und als Wolf Larsen sie eines Nachts sexuell bedrängt, sticht er mit einem Messer auf den Kapitän ein. Den beiden gelingt die Flucht in einem Rettungsboot, und nach wochenlanger Irrfahrt stranden sie auf einer unbewohnten Insel.

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Seitenzahl: 416

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Zeit:5 Std. 13 min

Sprecher:Thomas Gehringer
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Jack London

Der Seewolf

e-artnow, 2018 Kontakt: [email protected]
ISBN 978-80-268-8452-1

Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel

Erstes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

ich weiß kaum, wo beginnen, wenn ich zuweilen auch im Scherz Charley Furuseth alle Schuld gebe. Er besaß ein Sommerhaus in Mill Valley, bezog es aber nur, wenn er sich die Wintermonate vertreiben und Nietzsche und Schopenhauer lesen wollte. Kam der Sommer, so zog er ein heißes, staubiges Dasein in der Stadt mit unablässiger Arbeit vor. Wäre es nicht meine Gewohnheit gewesen, ihn allwöchentlich zum Wochenende zu besuchen, so hätte ich mich eben an jenem Montagmorgen im Januar nicht auf den Wassern der Bucht von San Franzisko befunden.

Das Schiff, auf dem ich mitfuhr, bot alle Sicherheit. Die Martinez war eine neue Dampffähre, die ihre vierte oder fünfte Fahrt auf der Route Sausalito-San Franzisko zurücklegte. Aber der dichte Nebel, der die Bucht wie mit einer Decke überzog, war gefahrdrohend. In der Tat erinnere ich mich noch der sanften Erregung, mit der ich meinen Platz auf dem Oberdeck gerade unterhalb des Lotsenhauses eingenommen hatte, während die Geheimnisse des Nebels meine Phantasie umspannten.

Ich dachte daran, wie bequem die Arbeitsteilung war, die mich der Mühe enthob, Nebel, Winde, Gezeiten und Schifffahrtskunde zu studieren, und mir doch erlaubte, meinen Freund jenseits der Bucht zu besuchen. Ich stellte Betrachtungen über den Vorteil der Spezialisierung des Menschen an. Das Sonderwissen eines Lotsen und eines Kapitäns genügte für viele Tausende, die ebensowenig von See und Schiffahrt verstanden wie ich. Und ich wiederum hatte es nicht nötig,meine Kräfte auf das Studium unzähliger Dinge zu verschwenden, sondern konnte mich auf einige wenige konzentrieren, wie augenblicklich auf eine Untersuchung der Stellung E. A. Poes zu der übrigen amerikanischen Literatur - worüber ich, nebenbei bemerkt, gerade einen Aufsatz in der Zeitschrift Atlantic geschrieben hatte.

Als ich an Bord gekommen war, hatte ich beim Durchschreiten der Kajüte einen beleibten Herrn mit den Augen verschlungen, der in die Atlantic und offenbar gerade in meinen Aufsatz vertieft war.

Ein Mann mit rotem Gesicht unterbrach meine Betrachtungen. Er warf geräuschvoll die Kajütentür hinter sich zu und stapfte schwerfällig aufs Deck. Der Rotgesichtige warf einen raschen Blick auf das Lotsenhaus, betrachtete den Nebel, stapfte hin und her (es sah aus, als hätte er Prothesen) und blieb endlich spreizbeinig und mit einem Ausdruck herber Freude im Gesicht neben mir stehen. Ich ging wohl nicht fehl in meiner Vermutung, daß er seine Tage auf dem Meere verbracht hatte.

„Scheußliches Wetter! Ein Wetter, das einem vorzeitig graue Haare verschafft!" rief er und nickte in die Richtung des Lotsenhauses.

„Ich hätte nicht geglaubt, daß hier besondere Kunst nötig sei!" antwortete ich. „Es sieht so einfach aus wie das Abc. Der Kompaß gibt die Richtung an. Entfernung und Fahrgeschwindigkeit sind bekannt. Man sollte meinen, daß alles mit mathematischer Genauigkeit zu berechnen wäre!"

„Kunst!" schnaubte er. „Einfach wie das Abc! Mathematische Genauigkeit!" Er schien sich zu recken, stemmte sich nach hinten gegen den Wind und starrte mich an: „Wie steht es zum Beispiel mit, Ebbe und Flut hier unter der Golden Gate?" fragte oder brüllte er vielmehr. „Welche Fahrt macht die Ebbe? Wie läuft die Strömung, he? Bitte, horchen Sie mal! Die Glocke einer Ankerboje. Wir sind gerade darüber! Merken Sie, wie wir den Kurs ändern?"

Aus dem Nebel erklang das klagende Stöhnen einer Schiffsglocke, und ich sah, wie der Lotse das Steuerrad mit großer Schnelligkeit drehte. Das Läuten, das eben noch vor uns zu tönen schien, kam jetzt von der Seite. Unsere eigene Schiffspfeife fauchte heiser, und eine schrille kleine Pfeife, die wie verrückt pfiff, war gerade vor uns und anscheinend sehr nahe. Auf der Martinez wurden Gongs angeschlagen.

Unsere Schaufelräder hielten an, ihr Pulsschlag starb, setzte dann wieder ein. Die schrille kleine Pfeife voraus klang wie das Zirpen einer Grille in dem Geschrei großer Tiere, schoß seitwärts durch den Nebel und wurde schnell schwach und immer schwächer.

„Den sticht der Hafer", sagte er. „Ich wünschte fast, wir hätten den kleinen Hammel in den Grund gebohrt!"

Sein unberechtigter Wutausbruch belustigte mich, und während er in seiner Empörung auf und ab stapfte, überließ ich mich wieder der Romantik des Nebels. Und wahrlich: Romantisch war dieser Nebel, wie der graue Schatten unendlicher Mysterien, die über diesem dahingleitenden Fleckchen Erde brüteten, während die Menschen, winzige Sonnenstäubchen und -fünkchen, zu krankhaftem Wohlgefallen an der Arbeit verdammt, ihre Holz- und Stahlmechanismen durch das Herz dieses Mysteriums zu jagen suchten, sich blindlings ihren Weg durchs Unsichtbare bahnten und sich Worte der Zuversicht zuschrien, obgleich ihnen das Herz vor Ungewißheit und Furcht zitterte. Das Lachen meines Gefährten brachte mich wieder zu mir. Auch ich hatte getastet und gezappelt, während ich mir einbildete, scharfsichtig das Geheimnis zu durchschauen.

„Hallo! Da kommt uns jemand ins Gehege!" sagte er. „Hören Sie? Er kommt schnell. Gerade voraus! Ich wette, er hört uns noch nicht. Es weht in der falschen Richtung."

Die frische Brise kam uns gerade entgegen, und ich hörte deutlich die Schiffspfeife ein wenig'seitwärts und dabei dicht vor uns.

„Fähre?" fragte ich.

Er nickte und fügte dann hinzu: „Würde sonst nicht so wie nach der Richtschnur laufen!" Er lachte unterdrückt. „Da oben werden sie unruhig."

Ich blickte hinauf. Der Kapitän hatte Kopf und Schultern zum Lotsenhaus herausgestreckt und starrte gespannt in den Nebel, als könnte er ihn durch bloße Willensanstrengung durchdringen. Sein Gesicht war besorgt wie jetzt auch das meines Gefährten, der an die Reling gestapft war und ebenso gespannt in die Richtung starrte, aus der er die unmittelbare Gefahr vermutete.

Dann kam es. Es geschah mit unfaßbarer Schnelligkeit. Der Nebel wich, wie von einem Keil gespalten. Der Bug eines Dampfschiffes tauchte auf, zu beiden Seiten Nebelfetzen mitziehend wie Seegras auf der Schnauze des Leviathans. Ich konnte das Lotsenhaus sehen und bemerkte einen weißbärtigen Mann, der sich, auf die Ellbogen gestützt, weit hinauslehnte. Er trug eine blaue Uniform, und ich entsinne mich noch, wie sauber und freundlich er aussah. Seine Ruhe wirkte unter diesen Umständen furchtbar. Er beugte sich dem Schicksal, marschierte Schulter an Schulter mit ihm und berechnete kühl den Schlag. Wie er so dalehnte, warf er uns einen ruhigen und nachdenklichen Blick zu, als berechne er genau den Punkt des Zusammenstoßes, und nahm nicht die geringste Notiz von unserm Lotsen, der, blaß vor Wut, schrie: „Nun habt ihr's fertiggebracht!"

Als ich mich umsah, nahm ich wahr, daß die Bemerkung zu einleuchtend war, um noch einer Erläuterung zu bedürfen.

„Halten Sie sich an irgend etwas fest", sagte der Mann mit dem roten Gesicht zu mir. Er polterte nicht mehr. Es schien, als wäre er von der übernatürlichen Ruhe des andern angesteckt.

Ehe ich noch seinen Rat befolgen konnte, war der Zusammenstoß schon erfolgt. Wir mußten wohl gerade mittschiffs getroffen worden sein. Ich sah nichts, und der fremde Dampfer war schon aus meinem Gesichtskreis geglitten.

Die Martinez krängte stark, das Holzwerk krachte und splitterte. Ich wurde auf das feuchte Deck geschleudert, und bevor ich mich aufrichten konnte, hörte ich auch schon das Kreischen der Frauen. Es waren die unbeschreiblichsten, haarsträubendsten Töne, die ich je gehört, mich packte ein panischer Schrecken. Mir fiel ein, daß in der Kajüte ein Haufen Rettungsgürtel lag, ich wurde aber von der wildstürmenden Menge Männer und Frauen an der Tür aufgehalten und zurückgedrängt. Ich weiß nicht mehr, was in den nächsten Minuten geschah, wenn ich auch die deutliche Vorstellung habe, daß ich von den Gestellen an Deck Rettungsgürtel herunterriß, die der Mann mit dem roten Gesicht den hysterischen Frauen umlegte. Dieses Bild ist meinem Gedächtnis so scharf und deutlich eingeprägt wie ein wirkliches Bild. Es ist ein Gemälde, das ich immer noch vor mir sehe: die zackigen Ränder des Loches in der Kajütenwand, durch das der graue Nebel hereinwirbelte und kreiste - die leeren Sitze, auf denen alles herumlag, was den Eindruck plötzlicher wilder Flucht erweckte: Pakete, Handtäschchen, Schirme, Überzieher; der beleibte Herr, der meinen Aufsatz studiert hatte und jetzt, in Kork und Segelleinen eingeschlossen, die Zeitschrift noch in der Hand hielt und mich mit eintöniger Dringlichkeit fragte, ob ich an eine Gefahr glaube; der Mann mit dem roten Gesicht, der schwerfällig auf seinen Prothesen stapfte und tapfer einer Frau nach der andern den Rettungsgürtel umschnallte, und schließlich das Tollhaus kreischender Weiber.

Das Entsetzen trieb mich an Deck hinaus. Ich fühlte mich krank, elend und voller Ekel. Ich setzte mich auf eine Bank. Schemenhaft sah und hörte ich, wie Männer umherliefen und versuchten, die Boote hinabzulassen. Die Szene war genauso, wie ich sie aus Beschreibungen in Büchern kannte. Das Tauwerk klemmte sich fest. Nichts klappte. Ein Boot mit Frauen und Kindern wurde an den Davits hinuntergefiert. Es füllte sich mit Wasser und kenterte. Ein anderes hing noch mit einem Ende oben, während das andere schon unten war, und so blieb es hängen. Der fremde Dampfer, der unser Unglück verschuldet hatte, ließ nichts von sich hören, obwohl man meinte, daß er uns zweifellos Boote zu Hilfe schicken würde.

Ich stieg zum unteren Deck hinunter. Anscheinend sank die Maitinez sehr schnell, denn ich sah das Wasser jetzt dicht unter mir. Viele Passagiere sprangen über Bord. Die im Wasser waren, schrien, man solle sie wieder an Bord holen. Aber kein Mensch kümmerte sich um sie. Ein Schrei ertönte: „Wir sinken!" Ich wurde von der jetzt eintretenden Panik angesteckt und stürzte mich in einer Flut von Körpern über Bord.

Wie ich ins Wasser kam, weiß ich nicht mehr, was ich aber sofort begriff, war, warum alle, die drinnen schwammen, sich so sehnsüchtig auf den Dampfer zurückwünschten. Das Wasser war kalt - so kalt, daß es schmerzte. Als ich hineinsprang, hatte ich ein Gefühl, als wäre ich in Feuer geraten. Die Kälte drang bis ins Mark, sie war wie der Griff des Todes. Vor Angst und Schrecken schnappte ich nach Luft, versuchte zu atmen, bevor mich noch der Rettungsgürtel an die Oberfläche getrieben hatte. Der Salzgeschmack brannte mir im Munde, und ich erstickte fast an der beißenden Lauge, die mir Kehle und Lungen füllte. Aber das furchtbarste war die Kälte. Ich fühlte, daß ich nur wenige Minuten aushalten konnte. Rings um mich im Wasser rangen und zappelten Menschen. Ich hörte, wie sie sich gegenseitig anriefen. Daneben hörte ich das Plätschern von Riemen; offenbar hatte der fremde Dampfer seine Rettungsboote herabgelassen. Die Sekunden flogen, und ich wunderte mich, daß ich immer noch lebte. Meine unteren Gliedmaßen waren ganz empfindungslos, eine eisige Starre krallte sich mir ums Herz und durchdrang es. Kleine Wellen brachen unausgesetzt mit boshaft schäumenden Kronen über meinen Kopf hinweg und in meinen Mund und drohten mich immer wieder zu ersticken.

Der Lärm wurde undeutlich. Das letzte, was ich noch hörte, war ein Chor von verzweifelten Schreien in der Ferne, der mir sagte, daß die Martinez untergegangen war. Dann - wieviel Zeit verstrichen war, weiß ich nicht - kam ich in einem plötzlichen Anfall überwältigender Angst zu mir. Ich war allein. Ich hörte weder rufen noch schreien - nur das Plätschern der Wellen, das gespensterhaft von der Nebelwand widerhallte. Eine allgemeine Massenpanik ist nicht so furchtbar wie die, die einen einzelnen Menschen packen kann, und die Beute einer solchen Panik war ich. Wo trieb ich hin? Der Mann mit dem roten Gesicht hatte gesagt, daß die Ebbe unter der Golden Gate hinausströmte! Dann wurde ich also auf die hohe See hinausgetrieben! Und der Rettungsgürtel, der mich trug, konnte er nicht jeden Augenblick in Stücke gehen? Ich hatte gehört, daß diese Dinge oft aus Papier und Binsen gemacht waren, die sich schnell vollsogen und alle Tragfähigkeit verloren. Und dabei hatte ich nicht die geringste Ahnung vom Schwimmen! Ganz allein trieb ich, offenbar mit der Strömung, in die graue, chaotische Unendlichkeit hinaus.

Wie lange das dauerte, weiß ich nicht. Ich wurde ohnmächtig, und als ich erwachte, erblickte ich, fast über meinem Kopfe, den Bug eines Fahrzeuges, das langsam aus dem Nebel auftauchte, und darüber, dicht hintereinander, drei dreieckige, prall vom Wind geblähte Segel. Wo der Bug das Wasser durchschnitt, schäumte und gurgelte es heftig, es schien geradewegs auf mich loszukommen. Plötzlich tauchte der Bug nieder und überschüttete mich klatschend mit einem mächtigen Wasserschwall. Dann glitt die lange schwarze Schiffswand so nahe vorbei, daß ich sie mit den Händen hätte greifen können. Ich versuchte es, mit einem wahnsinnigen Entschluß, meine Nägel ins Holz zu krallen, aber meine Arme waren schwer und leblos. Wieder wollte ich rufen, brachte aber keinen Ton heraus. Das Heck des Schiffes schoß vorbei, sank in ein Wellental. Ich sah flüchtig den Mann am Ruder und einen anderen, der nichts zu tun schien, als eine Zigarre zu rauchen. Ich sah den Rauch, der sich von seinen Lippen löste, als er langsam den Kopf wandte und in meiner Richtung über das Wasser blickte. Es war ein gleichgültiges, unüberlegtes Schauen, etwas ganz Zufälliges, Zielloses.

Für mich aber bedeutete dieser Blick Leben oder Tod. Ich sah, wie das Schiff vom Nebel verschlungen wurde, ich sah den Rücken des Rudergastes und sah, wie der Kopf des andern Mannes sich wandte, sich ganz langsam wandte, wie sein Blick das Wasser traf und zu mir hinschweifte. Er schien in tiefe Gedanken versunken, und mich packte die Furcht, daß seine Augen mich, selbst wenn sie mich träfen, nicht sehen würden. Aber sie sahen mich, blickten gerade in die meinen! Er sprang ans Ruder, schob den andern beiseite und drehte fieberhaft das Rad, während er gleichzeitig irgendwelche Befehle schrie. Doch das Schiff schien seinen Kurs fortzusetzen und war fast im selben Augenblick im Nebel verschwunden.

Ich fühlte, wie ich in eine Ohnmacht glitt, und versuchte mit aller Willenskraft gegen die erstickende Leere und Dunkelheit, die mich zu überwältigen drohten, anzukämpfen. Kurz darauf hörte ich Ruderschläge, die immer näher kamen, und die Stimme eines Mannes. Als er ganz nahe war, hörte ich ihn ärgerlich sagen: „Zum Donnerwetter, warum antwortest du nicht?" Er meinte mich. Mit diesem Gedanken versank ich in Leere und Finsternis.

Ich schien in einem mächtigen Rhythmus durch ungeheure Räume zu schwingen. Flimmernde Funken sprühten und schossen an meinen Augen vorbei. Ich wußte, es waren Sterne und schimmernde Kometen, die mich auf meinem Fluge von Sonne zu Sonne umgaben. Als ich die äußerste Grenze meines Schwunges erreicht hatte und gerade zurückschwingen wollte, ertönte donnernd ein Riesengong. In einer unermeßlichen Zeitspanne hatte ich, eingelullt von dem Säuseln sanfter Jahrhunderte, ein Gefühl großer Freude und überdachte meinen ungeheuren Flug.

Aber mein Traum wandelte sich, denn daß es ein Traum war, sagte ich mir selbst. Der Rhythmus meines Fluges wurde immer kürzer. Schwung und Rückschwung wechselten mit verwirrender Hast. Kaum konnte ich Atem schöpfen, so ungestüm wurde ich durch den Himmelsraum geschleudert. Immer häufiger und schrecklicher donnerte der Gong, auf dessen Klang ich jedesmal mit namenlosem Entsetzen wartete.

Dann war mir, als würde ich über rauhe Sandflächen geschleift, die weiß in der Sonne glühten. Ein unerträgliches Angstgefühl packte mich. Meine Haut wurde ausgedörrt in der Pein des Feuers. Der Gong dröhnte und toste. Die flimmernden Lichtpunkte schossen in unendlichem Strom an meinen Augen vorbei, als ergösse sich das ganze Sternensystem in den leeren Raum. Ich rang nach Luft, atmete schmerzhaft und öffnete die Augen. Zwei Männer knieten neben mir und beschäftigten sich mit mir. Der mächtige Rhythmus, den ich empfunden hatte, war das Rollen des Schiffes im Seegang. Der entsetzliche Gong war eine Bratpfanne, die bei jeder Bewegung des Schiffes klirrte und rasselte. Der scheuernde, sengende Sand waren harte Männerhände, die meine bloße Brust rieben. Meine Brust war rot und wund, und ich konnte winzige Blutstropfen aus der zerrissenen, entzündeten Haut hervorquellen sehen.

„Jetzt ist's genug, Yonson", sagte der eine der Männer. „Kannst du nicht sehen, wir schrubben ihm ja die ganze Haut ab!"

Der Angeredete, ein Mann von schwerem skandinavischem Typ, hörte auf, mich zu reiben, und erhob sich verlegen. Der Mann, der gesprochen hatte, war offenbar ein „Cockney" (geborener Londoner), zartgliedrig und mit glatten, fast weiblichen Zügen, der sicher das Glockengeläut Londons mit der Muttermilch eingesogen hatte. Eine schmutzige Leinenmütze und ein ebenso schmutziger Leinenschurz um die Hüften verrieten, daß er der Koch des Schiffes war, auf dem ich mich befand.

„Na, wie fühlen Sie sich jetzt, Herr?" fragte er mit der gezierten Untertänigkeit, die auf Generationen trinkgeldbeflissener Ahnen schließen ließ.

Als Antwort versuchte ich mich zu erheben. Yonson half mir auf die Füße. Das Rasseln und Klirren der Bratpfanne zerrte entsetzlich an meinen Nerven. Ich konnte meine Gedanken nicht sammeln und griff über den heißen Küchenherd hinweg nach dem scheußlichen Gegenstand, holte ihn vom Nagel herunter und verkeilte ihn sicher im Kohlenkasten.

Der Koch lächelte über meine Nervosität und drückte mir mit den Worten „Das wird Ihnen gut tun" einen dampfenden Becher in die Hand. Es war ein widerliches Gesöff - Schiffskaffee - aber die Wärme belebte mich doch. Während ich langsam das Getränk schlürfte, warf ich hin und wieder einen Blick auf meine wundgeriebene, blutende Brust. Dann wandte ich mich an den Skandinavier.

„Vielen Dank, Herr Yonson."

„Ich heiße Johnson, nicht Yonson", sagte er in ausgezeichnetem, wenn auch etwas langsamem und eine Spur fremdländischem Englisch. In seinen blaßblauen Augen erschien ein milder Protest, aber dazu eine schüchterne Offenheit und Männlichkeit, die mich ganz für ihn einnahmen.

„Vielen Dank, Herr Johnson", verbesserte ich mich und streckte ihm meine Hand hin.

Scheu und schüchtern zögerte er, trat von einem Bein auf das andere, faßte schließlich linkisch meine Hand und schüttelte sie herzlich.

„Haben Sie etwas trockenes Zeug für mich?" fragte ich den Koch.

„Ja, Herr", erwiderte er diensteifrig. „Ich werde in meinem Vorrat nachsehen, wenn Sie nichts dagegen haben, Herr, meine Sachen anzuziehen."

Er schlüpfte oder glitt vielmehr zur Küchentür hinaus mit einer Schnelligkeit und Geschmeidigkeit, die mir weniger katzenartig als ölig erschienen. In der Tat, diese Schlüpfrigkeit war, wie ich später erfahren sollte, wahrscheinlich seine hervorstechendste Eigenschaft.

„Und wo bin ich?" fragte ich Johnson, den ich mit Recht für einen von den Matrosen hielt. „Was für ein Fahrzeug ist dies, und wo geht es hin?"

„Von den Farallonen nach Südwest", erwiderte er langsam und planmäßig, als bemühte er sich, sein bestes Englisch zu sprechen. „Schoner Ghost auf Robbenfang nach Japan."

„Und wo ist der Kapitän? Ich muß ihn sprechen, sobald ich mich umgekleidet habe."

Johnson blickte verlegen und verwirrt drein. Zögernd suchte er in seinem Wortschatz nach einer treffenden Antwort.

„Der Käpt'n ist Wolf Larsen, wenigstens nennen die Leute ihn so. Ob er in Wirklichkeit anders heißt, weiß ich nicht. Aber es ist am besten, wenn Sie vorsichtig mit ihm reden. Er ist verrückt heut morgen. Der Steuermann..." Aber er vollendete den Satz nicht. Der Koch war wieder hereingeglitten.

„Es ist besser, du machst, daß du wegkommst, Yonson", sagte er. „Der Alte sucht dich an Deck, und heut ist es am besten, ihm nicht in die Quere zu kommen."

Über den Arm des Kochs hingen einige zerknüllte, häßliche Kleidungsstücke, die einen säuerlichen Geruch ausströmten.

„Sie sind feucht gewesen, Herr", erklärte er, „aber Sie werden sie schon tragen müssen, bis ich Ihre am Feuer getrocknet habe."

War er mir schon auf den ersten Blick unsympathisch gewesen, so wuchs mein Unbehagen noch, als er mir jetzt beim Ankleiden half. Seine Berührung allein war mir widerlich. Ich wich vor seiner Hand zurück, mein Fleisch widersetzte sich. Dazu kam der nicht gerade angenehme Duft aus den verschiedenen Kochtöpfen auf dem Herde, so daß ich mich beeilte, um an die frische Luft zu kommen. Überdies war es notwendig, daß ich mit dem Kapitän sprach, um zu hören, wie ich an Land kommen könnte.

Ein billiges Baumwollhemd mit ausgefranstem Kragen und verblichener Hemdbrust mit Flecken, die ich für Blutspritzer hielt, wurde mir unter einem Strom von Entschuldigungen übergezogen. Ein Paar schwerer Seestiefel umschloß meine Füße, und dazu wurde ich mit hellblauen, ausgewaschenen Überzughosen ausstaffiert, deren eines Bein deutlich kürzer war als das andere.

„Und wem habe ich für all diese Herrlichkeiten zu danken?" fragte ich, als ich voll ausstaffiert dastand, eine winzigeKnabenmütze auf dem Kopf und als Rock eine schmutzige gestreifte Baumwolljacke, die mir gerade bis ans Kreuz ging und deren Ärmel mir bis zu den Ellbogen reichten.

Der Koch richtete sich in seiner kriecherischen Art auf, und sein geziertes Lächeln schien um Entschuldigung zu bitten.

„Mugridge, Herr", sagte er kriecherisch, und über sein weibisches Gesicht legte sich ein fettiges Lächeln. „Thomas Mugridge, Herr, zu Diensten."

„Gut, Thomas", sagte ich. „Ich werde Sie nicht vergessen, wenn meine Kleider wieder trocken sind."

„Danke, Herr", sagte er wirklich sehr dankbar und demütig.

Genau wie eine Schiebetür glitt er beiseite, und ich trat aufs Deck. Ich war noch schwach von dem langen Aufenthalt im Wasser. Ein Windstoß packte mich, und ich wankte über das schlingernde Deck, einer Ecke der Kajüte zu, an der ich mich festhielt. Der Schoner krängte stark, hob und senkte sich in der langen Dünung des Ozeans.

Wenn der Schoner, wie Johnson gesagt hatte, nach Südwest segelte, mußte der Wind meiner Berechnung nach fast genau von Süden her kommen. Der Nebel hatte sich verzogen, und jetzt spielten die Sonnenstrahlen auf dem Meeresspiegel. Ich wandte mich nach Osten, wo, wie ich wußte, Kalifornien liegen mußte, konnte aber nichts sehen als niedrige Nebelbänke - es war dies zweifellos derselbe Nebel, der das Unglück der Martinez und meine jetzige Lage verschuldet hatte. Nach Norden, nicht weit fort, war eine Gruppe nackter Felsen über die See gestreut, und auf einem davon sah ich einen Leuchtturm. Nach Südwesten, fast genau in unserm Kurs, erblickte ich den pyramidenförmigen, noch dunklen Umriß eines Segels. Als ich meine Umschau am Horizont beendet hatte, wandte ich mich meiner näheren Umgebung zu. Mein erster Gedanke war, daß ein Mensch, der einen Schiffbruch überlebt und Auge in Auge mit dem Tode gestanden hatte, eigentlich mehr Aufmerksamkeit verdient hätte, als mir zuteil wurde. Außer einem Matrosen am Rad, der neugierig nach der Kajütendecke guckte, schenkte mir niemand irgendwelche Beachtung. Jedermann schien sich nur für das zu interessieren, was mittschiffs vorging. Dort lag ein großer Mann auf einem Lukendeckel. Er war ganz angekleidet, sein Hemd jedoch aufgerissen; seine Augen waren geschlossen. Er schien bewußtlos zu sein, aber der Mund stand weit offen, und die Brust keuchte, als ob er am Ersticken wäre und heftig nach Atem ränge. Ein Matrose, der daneben stand, hatte eine Segeltuchpütz an einer Leine festgemacht, ließ sie von Zeit zu Zeit ganz gewohnheitsmäßig ins Meer hinab, holte sie wieder herauf und goß den Inhalt über den Liegenden.

Auf und nieder an Deck schritt ein anderer Mann und kaute wütend auf seinem Zigarrenstummel. Es war der, dessen zufälliger Blick mich vor dem Ertrinken bewahrt hatte. Er mochte wohl ein Meter achtzig groß sein, aber mein erster Eindruck von ihm, oder vielmehr mein Gefühl, war nicht das der Größe, sondern der Stärke. Dabei konnte ich ihn jedoch, obgleich er gedrungen und breitschultrig war und eine mächtige Brust hatte, nicht ungewöhnlich schwer nennen. Er hatte etwas von der sehnigen, knorrigen Kraft drahtiger Menschen, sein Körperbau aber ließ mich an einen Gorilla denken.

Nicht daß er in seinem Aussehen etwas Gorillaartiges gehabt hätte. Was ich auszudrücken suche, ist die Stärke selbst als etwas für sich, ganz abgesehen von ihrer körperlichen Erscheinung. Es war eine Stärke, wie wir sie gewohnt sind, mit primitiven Dingen, mit wilden Tieren zu verbinden - die wilde, reißende, lebendige Stärke an sich, die letzte Urkraft des Lebens, die Gewalt der Bewegung, der Grundstoff selbst, aus dem die wilden Lebensformen gestaltet wurden.

Der Koch streckte den Kopf zur Kombüsentür heraus und grinste mir ermutigend zu, gleichzeitig wies er mit dem Daumen nach dem Manne, der an der Luke auf und nieder schritt. So gab er mir zu verstehen, daß dies der Kapitän war, die Persönlichkeit, die ich bemühen mußte, daß sie mich an Land setzte.

Ich war gerade im Begriff, zu ihm zu gehen, um gleich die sicher unangenehme Geschichte überstanden zu haben, als der Unglückliche, der auf dem Lukendeckel lag, einen noch stärkeren Erstickungsanfall bekam. Krampfartig verrenkte er sich. Das Kinn mit dem nassen schwarzen Bart streckte sich in die Luft, während die Rückenmuskeln steif wurden und die Brust mit einer instinktiven, unbewußten Anstrengung nach Luft rang.

Der Kapitän oder Wolf Larsen, wie die Leute ihn nannten, hielt auf seinem Wege inne und blickte auf den Sterbenden hinab. So furchtbar war dieser letzte Kampf, daß der Matrose die Segeltuchpütz sinken ließ und den Inhalt auf das Deck verschüttete. Der Sterbende trommelte mit den Fersen auf dem Lukendeckel, streckte die Beine aus, erstarrte in einer einzigen mächtigen Anstrengung und rollte den Kopf von einer Seite zur andern. Dann wurden die Muskeln schlaff, der Kopf still, und ein Seufzer, ein Seufzer tiefster Erleichterung entfloh seinen Lippen. Das Kinn fiel herab, die Oberlippe hob sich, und zwei Reihen tabakgebräunter Zähne wurden sichtbar. Seine Züge schienen in einem teuflischen Grinsen über die Welt, die er verlassen und überlistet hatte, erstarrt zu sein. Und dann geschah etwas ganz Überraschendes: Wie ein Donnerschlag fuhr der Kapitän über den Toten her. Flüche prasselten in unaufhaltsamem Strom von seinen Lippen, und es waren nicht etwa gewöhnliche Flüche oder unziemliche Redensarten. Jedes seiner Worte war eine Gotteslästerung, und der Worte waren viele. Sie knisterten und krachten wie elektrische Funken. Nie im Leben habe ich ähnliches gehört oder auch nur für möglich gehalten. Bei meinen literarischen Neigungen und meinem Ohr für kräftige Bilder genoß ich, das muß ich gestehen, wie kein anderer Zuhörer die prachtvolle Lebendigkeit und Kraft seiner gotteslästerlichen Ergüsse. Ihre Ursache war, wenn ich recht verstand, daß der Mann, der der Steuermann war, vor der Abreise aus San Franzisko an einem Gelage teilgenommen und dann die Rücksichtslosigkeit besessen hatte, gleich zu Beginn der Reise zu sterben und Wolf Larsen kurzerhand zu verlassen. Ich brauche - meinen Freunden wenigstens - nicht zu sagen, daß ich empört war. Fluchen und Schimpfen hatten mich stets abgestoßen. Ich fühlte Mattigkeit, Schwäche oder eher Schwindel. Für mich war immer etwas Feierliches, Würdevolles mit dem Tode verbunden gewesen, etwas Friedvolles, Heiliges. In dieser schrecklichen Gestalt war ich ihm noch nie begegnet. Wie gesagt: Während ich die Kraft der erschreckenden Entladung aus Wolf Larsens Munde genoß, war ich gleichzeitig unsagbar angewidert. Der versengende Strom hätte genügen müssen, das Antlitz der Leiche welken zu lassen. Ich wäre nicht überrascht gewesen, wenn der schwarze Bart sich gekräuselt hätte und in hellen Flammen aufgegangen wäre. Aber der Tote blieb unangefochten. Er grinste weiter sein höhnisches Lächeln, zynisch und verächtlich. Er war Herr der Lage.

Zweites Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Ebenso plötzlich, wie er begonnen hatte, hörte Wolf Larsen auf zu fluchen. Er zündete sich wieder seine Zigarre an und sah sich um. Seine Augen fielen auf den Koch. „Na, Köchlein?" fragte er mit einer merkwürdigen, kalten und stählernen Leutseligkeit.

„Jawohl, Herr", entgegnete der Koch beflissen und entschuldigend.

„Meinst du nicht, daß du jetzt lange genug den Kopf herausgestreckt hast? Das ist nicht gesund. Der Steuermann ist tot, und dich kann ich nicht auch noch entbehren. Du mußt sehr vorsichtig mit deiner Gesundheit umgehen, Köchlein. Verstanden?" Das letzte Wort traf im Gegensatz zu der früheren Freundlichkeit wie ein Peitschenhieb, und der Koch erzitterte. „Jawohl, Herr", antwortete er schüchtern, und der beanstandete Kopf verschwand.

Nach dieser Abfuhr schien die Mannschaft das Interesse an den Vorgängen an Deck verloren zu haben und machte sich wieder an die Arbeit. Mehrere Leute jedoch, die zwischen der Kajüte und der Kombüse herumlungerten - sie schienen keine Seeleute zu sein -, sprachen leise weiter miteinander. Wie ich später erfuhr, waren es die Robbenjäger, die sich hoch erhaben über die gewöhnlichen Matrosen fühlten.

„Johansen!" rief Wolf Larsen. Ein Matrose trat gehorsam vor. „Hol dir Nadel und Garn und näh den Schuft ein. Altes Leinen findest du in der Schiffstruhe. Los!"

„Was sollen wir ihm an die Füße hängen?" fragte der Mann nach dem üblichen „Jawohl, Herr!"

„Wird sich schon finden", sagte Wolf Larsen. Dann hob er die Stimme und rief: „Köchlein!"

Thomas Mugridge sprang wie ein Stehaufmännchen aus seiner Kombüse.

„Geh nach unten und füll einen Sack mit Kohlen."

„Hat einer von euch eine Bibel oder ein Gebetbuch, Leute?" lautete die nächste Frage, die der Kapitän diesmal an die bei der Luke herumlungernden Jäger richtete.

Sie schüttelten die Köpfe, und einer von ihnen machte einen Witz, den ich nicht verstand, der aber allgemeines Gelächter hervorrief.

Wolf Larsen stellte die gleiche Frage an die Matrosen. Bibeln und Gebetbücher schienen ein seltener Artikel an Bord zu sein. Keines von beiden war vorhanden. Der Kapitän zuckte die Achseln. „Dann lassen wir ihn ohne Geschwätz verschwinden, wenn unser schiffbrüchiger Pastor nicht den Begräbnisgottesdienst auf See auswendig weiß." Bei diesen Worten wandte er sich um und sah mich an. „Sie sind doch Pastor, nicht wahr?" fragte er.

Die Jäger drehten sich wie ein Mann um und betrachteten mich. Ich hatte das peinliche Gefühl, einer Vogelscheuche zu gleichen. Mein Aussehen verursachte ein schallendes Gelächter, das der Anblick des Toten, der grinsend an Deck ausgestreckt lag, in keiner Weise dämpfte, ein Gelächter, so rauh und barsch wie das Meer selbst, aus der Kehle von Männern, die weder Schliff noch Zartgefühl kannten.

Wolf Larsen lachte nicht, wenn seine grauen Augen auch leicht aufleuchteten. Ich war dicht an ihn herangetreten, und jetzt erhielt ich, abgesehen von seiner äußeren Erscheinung und seinem Strom von Flüchen, den ersten Eindruck von dem Manne. Die markanten festen Züge verliehen seinem Gesicht trotz der Vierschrötigkeit gute Formen. Bei näherer Betrachtung gewann man unweigerlich die Überzeugung, daß in der Tiefe seines Wesens eine ungeheure, entsetzliche Kraft schlummerte. Mund, Kinn, die hohe Stirn, die sich schwer über den Augen wölbte, alles dies, jedes für sich schon ungewöhnliche Stärke verratend, zeugte zusammen von einer unbeugsamen Männlichkeit.

Eine solche Seele ließ sich nicht ausloten, nicht ermessen; sie duldete keinen Vergleich.

Die Augen - sie betrachtete ich besonders eingehend - waren groß und ausdrucksvoll und von dichten schwarzen Brauen überwölbt. Sie waren von jenem veränderlichen Grau, das nie gleichbleibt, das wie Seide in der Sonne spielt und zahllose Schattierungen annimmt, die dunkel- und hellgrau und graugrün und manchmal azurblau wie die Tiefsee sein können. Es waren Augen, die die Seele hinter tausend Verkleidungen bargen und die sich nur selten öffneten, um sie unverschleiert auf wunderbare Abenteuer in die Welt fahren zu lassen - Augen, die mit der hoffnungslosen Düsterkeit eines bleiernen Himmels brüten und dann wieder Feuerfunken wie von einem geschwungenen Schwert sprühen, die frostig wie eine arktische Landschaft werden, aber auch sanft wärmen konnten, und die, intensiv und männlich - lockend und bittend - in feuriger Liebe blitzend, Frauen bezaubern und zugleich beherrschen mochten, daß sie sich in einem Schauer von Freude und Erleichterung hingaben.

Doch zurück zu meinem Bericht: Ich erklärte, daß ich kein Geistlicher sei, also den Gottesdienst bei dem Begräbnis leider nicht übernehmen könne.

„Was für einen Beruf haben Sie denn?"

Ich gestehe, daß man noch nie eine solche Frage an mich gerichtet und daß auch ich selbst noch nie darüber nachgedacht hatte. Ich war wie vor den Kopf geschlagen, und ehe ich mich besonnen hatte, stotterte ich: „Ich - bin ein Gentleman."

Seine Lippen kräuselten sich zu einem verächtlichen Lächeln.

„Ich habe gearbeitet, ich arbeite wirklich!" rief ich eifrig, als wäre er mein Richter, der Rechenschaft von mir forderte, während ich mir gleichzeitig ganz klar darüber wurde, wie dumm ich war, überhaupt auf die Frage einzugehen.

„Leben Sie davon?"

So herrisch und gebieterisch wirkte er, daß ich wie ein zitterndes Kind vor dem gestrengen Lehrer dastand.

„Wer unterhält Sie?" lautete seine nächste Frage.

„Ich bin vermögend", antwortete ich keck und hätte mir im nächsten Augenblick die Zunge abbeißen mögen. „Aber das hat doch alles nichts mit der Angelegenheit zu tun, über die ich mit Ihnen zu sprechen habe."

„Wer hat das Vermögen verdient? Nun? Dacht ich's doch. Ihr Vater. Sie stehen auf den Füßen eines toten Mannes. Sie selbst haben nie etwas gehabt. Sie wären nicht imstande, Ihrem hungrigen Magen von einem Sonnenaufgang zum andern drei Mahlzeiten zu verschaffen. Zeigen Sie mal Ihre Hände!"

Seine entsetzliche schlummernde Kraft muß sich in diesem Augenblick geregt oder ich muß geschlafen haben, denn ehe ich es wußte, war er zwei Schritte vorgetreten, hatte meine rechte Hand gepackt und untersuchte sie. Ich wollte sie zurückziehen, aber seine Finger umschlossen sie ohne sichtbare Anstrengung so fest, daß ich glaubte, er zermalme sie. Unter solchen Umständen ist es schwer, Würde zu bewahren. Ich konnte doch nicht wie ein Schuljunge mich winden und zappeln. Und ich konnte auch ein Geschöpf nicht angreifen, das meine Hand mit einem einzigen Druck zu zerbrechen imstande war. So blieb mir nichts übrig, als stillzuhalten und die Schmach hinzunehmen. Ich hatte Zeit zu beobachten, daß die Taschen des Toten entleert und sein Körper und sein Grinsen dem Blick durch ein Stück Segeltuch entzogen worden waren, dessen Falten Johansen, der Matrose, mit grobem Bindfaden zusammennähte, indem er die Nadel mit einem in seiner Handfläche befestigten Lederwerkzeug durchtrieb.

Wolf Larsen schleuderte meine Hand verächtlich von sich: „Die Hände eines Toten haben die Ihren weich erhalten. Zu nichts nütze als zum Aufwaschen und Küchenjungendienst."

„Ich wünsche, an Land gesetzt zu werden", sagte ich fest, denn ich hatte mich wieder in der Gewalt. „Ich werde Ihnen zahlen, was Sie für Ihre Verspätung und Ihre Mühe verlangen." Er sah mich mit einem seltsamen Blick an. Seine Augen leuchteten spöttisch.

„Ich habe Ihnen einen Gegenvorschlag zu machen. Mein Steuermann ist tot, und es sind daher einige Beförderungen vorzunehmen. Ein Matrose wird den Platz des Steuermanns einnehmen, der Kajütsjunge wird Matrose, und Sie rücken an seine Stelle, unterschreiben einen Kontrakt für die Fahrt und bekommen zwanzig Dollar monatlich und freie Verpflegung. Was meinen Sie dazu? Denken Sie daran, daß es zu Ihrem eigenen Besten ist. Es wird etwas aus Ihnen. Sie lernen vielleicht, auf eigenen Füßen zu stehen und sogar ein bißchen auf ihnen zu laufen."

Aber ich achtete nicht auf seine Worte. Die Segel des Schiffes, das ich in Südwest gesehen hatte, waren immer größer und deutlicher geworden. Es war ein schöner Anblick, wie es jetzt mit ausgebreiteten Flügeln auf uns zuflog und augenscheinlich seinen Kurs ganz dicht an uns vorbei nahm. Der Wind hatte plötzlich zugenommen.

Wir fuhren schneller und krängten stärker. Eine Bö tauchte die Reling ganz unter Wasser, so daß es das Deck überspülte und ein paar von den Jägern veranlaßte, schnell die Beine hochzuziehen.

„Das Schiff fährt bald an uns vorbei", sagte ich nach einer kleinen Pause. „Da es uns entgegenkommt, ist anzunehmen, daß es nach San Franzisko will."

„Sehr wahrscheinlich", lautete Wolf Larsens Antwort. Dann wandte er sich halb um und rief: „Köchlein, he, Köchlein!"

Der Koch fuhr aus der Kombüse.

„Wo ist der Junge? Sag ihm, daß ich ihn brauche."

„Jawohl, Herr", und Thomas Mugridge eilte nach achtern und verschwand über eine Treppe in der Nähe des Rades. Gleich darauf tauchte er wieder auf, gefolgt von einem kräftigen, finster blickenden Burschen von achtzehn bis neunzehn Jahren. Aber Wolf Larsen ignorierte den Ehrenmann und wandte sich sofort an den Kajütsjungen: „Wie heißt du, Junge?"

„George Leach, Herr", lautete die verdrossene Antwort, und die Haltung des Kajütsjungen verriet deutlich, daß er wußte, warum er herbefohlen war.

„Das ist kein irischer Name", schnappte der Kapitän scharf. „O'Toole oder McCarthy würde besser zu deiner Visage passen. Jedenfalls hat ein Ire bei deiner Mutter im Bett gelegen."

Ich sah, wie sich die Hände des Burschen bei dieser Beleidigung ballten und das Blut ihm zu Kopfe stieg.

„Aber lassen wir das!" fuhr Wolf Larsen fort. „Du wirst wohl deine Gründe haben, deinen Namen zu vergessen, und deshalb können wir doch Freunde bleiben, solange du deine Pflicht tust. Du stammst natürlich aus Telegraph Hill. Das verrät deine Fratze auf zehn Meilen. Richtige Raufbolde! Ich kenne die Sorte. Na, das wollen wir dir schon austreiben. Verstanden? Wer hat dich geheuert?"

„McCready und Swanson."

„Herr!" donnerte Wolf Larsen.

„McCready und Swanson, Herr", verbesserte sich der Junge, und seine Augen schossen Blitze.

„Wer hat den Vorschuß gekriegt?"

„Die Leute, Herr."

„Hab ich mir gedacht. Und du hast dich verflucht gefreut darüber. Konntest gar nicht schnell genug machen, denn es waren wohl verschiedene Herren hinter dir her."

Jetzt verlor der Junge die Beherrschung. Sein Körper krümmte sich wie zum Sprunge, und sein Gesicht glich dem eines knurrenden wilden Tieres. „Das ist -"

„Was?" fragte Wolf Larsen mit merkwürdig sanfter Stimme, als wäre er ungeheuer neugierig auf das nicht ausgesprochene Wort. Der Junge schwieg und beherrschte sich. „Nichts, Herr, ich nehme es zurück."

„Ich wußte ja, daß ich recht hatte!" Dies mit belustigtem Lächeln. „Wie alt bist du?"

„Sechzehn, Herr."„Du lügst. Du bist wenigstens achtzehn und noch dazu groß für dein Alter. Muskeln wie ein Pferd. Pack dein Zeug zusammen, und geh nach vorn in die Back. Du bist zum Ruderer befördert. Verstanden?"

Ohne eine Antwort des Jungen abzuwarten, wandte sich der Kapitän zu dem Matrosen, der gerade die schauerliche Aufgabe, die Leiche einzunähen, beendet hatte. „Johansen, verstehst du was von Navigation?"

„Nein, Herr."

„Na, schadet nichts, du bist zum Steuermann befördert. Bring deine Siebensachen nach achtern in die Steuermannskabine."

„Jawohl, Herr", lautete die frohe Antwort, und Johansen ging. Der Junge hatte sich unterdessen nicht vom Fleck gerührt.

„Worauf wartest du noch?" fragte Wolf Larsen.

„Ich hab mich nicht als Ruderer eintragen lassen, Herr", lautete die Antwort. „Ich bin als Kajütsjunge geheuert und wünsche keine andere Beschäftigung."

„Pack deine Sachen zusammen, und mach, daß du nach vorn kommst!" Diesmal war Wolf Larsens Befehl herrisch und durchdringend. Der Junge blickte finster vor sich hin, gehorchte aber nicht.

Da erfolgte wieder ein Ausbruch von Wolf Larsens entsetzlicher Kraft. Ganz unerwartet und von nicht zwei Sekunden Dauer. Er sprang volle zwei Meter weit über das Deck und jagte seine Faust dem andern in den Magen. Mir wurde übel, als wäre ich selbst in den Leib getroffen. Ich erwähne dies, um zu zeigen, in welchem Zustand sich meine Nerven damals befanden und wie ungewohnt derartig rohe Auftritte für mich waren. Der Kajütsjunge - er wog mindestens hundertfünfzig Pfund - klappte zusammen. Sein Körper wurde hochgehoben und fiel kopfüber neben der Leiche auf das Deck, wo er liegenblieb und sich in Schmerzen wand.

„Nun?" fragte Wolf Larsen mich. „Haben Sie sich's überlegt?"

Ich warf einen Blick nach dem sich nähernden Schoner, der jetzt, nur wenige hundert Meter entfernt, dicht vor uns war. Es war ein schmuckes kleines Fahrzeug. Auf einem der Segel konnte ich eine große schwarze Zahl erkennen, wie ich sie auf Bildern von Lotsenschiffen gesehen hatte.

„Was ist das für ein Schiff?" fragte ich.

„Lotsenschoner Lady Mine", erwiderte Wolf Larsen mit grausamem Lächeln. „Hat den Lotsen abgesetzt und geht jetzt nach San Franzisko. Wird bei diesem Wind in fünf bis sechs Stunden dort sein."

„Wollen Sie ihn bitte anrufen, daß er mich an Land bringt?"

„Tut mir leid, aber mein Signalbuch ist über Bord gefallen", meinte er, und die Jäger grinsten.

Ich blickte ihn scharf an, und die Gedanken wirbelten mir durch den Kopf. Ich hatte die schreckliche Behandlung des Kajütsjungen mit angesehen und wußte, daß mir höchstwahrscheinlich das gleiche, wenn nicht Schrecklicheres blühte. Wie gesagt: Die Gedanken wirbelten mir durch den Kopf, und dann tat ich, was ich heute noch für die tapferste Tat meines Lebens halte.

Ich lief an die Reling, schwenkte die Arme und schrie: „Lady Mine, ahoi! Bringt mich an Land! Tausend Dollar, wenn ihr mich an Land bringt!"

Ich wartete und beobachtete am Rad zwei Männer, von denen der eine steuerte. Der andere hob ein Sprachrohr an die Lippen. Ich wandte nicht den Kopf, obgleich ich jeden Augenblick den tödlichen Schlag von der menschlichen Bestie hinter mir erwartete.

Schließlich konnte ich die Spannung nicht länger ertragen. Ich sah mich um. Er hatte sich nicht vom Fleck gerührt. Er stand noch in derselben Stellung da, schwankte leicht im Rollen des Schiffes und zündete sich eine neue Zigarre an.

„Was gibt es? Ist etwas geschehen?" So rief der Mann auf der Lady Mine.

„Ja!" schrie ich mit der vollen Kraft meiner Lungen. „Es geht auf Leben oder Tod. Tausend Dollar, wenn ihr mich an Land bringt!"

„Die Gegend bekommt meiner Mannschaft nicht gut!" rief Wolf Larsen jetzt hinüber. „Der" - er wies mit dem Daumen auf mich - „glaubt überall Seeschlangen und Affen zu sehen." Der Mann auf der Lady Mine lachte durchs Megaphon. Das Lotsenschiff setzte seinen Kurs fort.

„Schickt ihn zum Teufel!" ertönte der letzte Ruf, und die beiden Männer winkten zum Abschied.

Verzweifelt lehnte ich mich über die Reling und starrte dem kleinen Schoner nach; die wogende Wüste wuchs rasch zwischen ihm und uns. Er war in sechs Stunden vermutlich in San Franzisko! Mir war, als sollte mir der Kopf zerspringen. Der Hals schnürte sich mir zusammen. Eine Sturzsee schlug über die Reling und besprühte mir die Lippen mit Salzwasser. Der Wind war aufgefrischt, und die Ghost krängte so stark, daß die Reling auf Lee ganz unter Wasser begraben war. Ich konnte hören, wie es über das Deck spülte.

Als ich mich kurz darauf umwandte, sah ich, wie der Junge schwankend wieder auf die Beine kam. Sein Gesicht war geisterhaft weiß und von unterdrücktem Schmerz verzerrt. Er sah sehr elend aus.

„Na, Leach, gehst du nun nach vorn?" fragte Wolf Larsen.

„Jawohl, Herr", antwortete die geduckte Seele.

„Und Sie?" fragte er mich.

„Ich gebe Ihnen tausend..."

Aber er unterbrach mich: „Lassen wir das. Wollen Sie den Posten des Kajütsjungen übernehmen? Oder soll ich Sie erst in die Mache nehmen?"

Was sollte ich tun? Wenn ich mich brutal prügeln, vielleicht totschlagen ließ, nützte es mir auch nichts. Ich starrte in die grausamen Augen. Sie hätten aus Granit sein können, so wenig Licht und Wärme einer menschlichen Seele leuchtete aus ihnen. In den Augen mancher Menschen kann man die Regungen ihrer Seele lesen, aber die seinen waren leer, kalt und grau wie das Meer selbst.„Nun?"

„Ja", sagte ich.

„Sagen Sie: Jawohl, Herr!"

„Jawohl, Herr!" verbesserte ich mich.

„Wie heißen Sie?"

„Van Weyden, Herr."

„Vorname?"

„Humphrey, Herr; Humphrey van Weyden, Herr."

„Alter?"

„Fünfunddreißig, Herr."

„Das genügt. Gehen Sie zum Koch, und lassen Sie sich in Ihren Pflichten unterweisen."

Und so geschah es, daß ich in ein unfreiwilliges Dienstverhältnis zu Wolf Larsen trat. Er war stärker als ich, das war alles. Aber ich habe es weder damals noch später je begriffen. Es wird mir immer als etwas Ungeheuerliches, Unverständliches, als ein furchtbarer Alp erscheinen.

„Halt, warten Sie noch!"

Folgsam blieb ich stehen.

„Johansen, rufen Sie die ganze Mannschaft zusammen. Jetzt ist alles im reinen, und da ist es am besten, wenn wir gleich die Bestattung vornehmen."

Während Johansen die Wache heraufrief, legten ein paar Matrosen die eingenähte Leiche nach Anweisung des Kapitäns auf einen Lukendeckel. Zu beiden Seiten des Decks hingen kleine Boote über die Reling. Einige Mann hoben den Lukendeckel mit seiner Last und trugen ihn nach Lee hinüber, wo sie die Leiche, die Beine außenbords, auf eines der Boote legten. Der Kohlensack, den der Koch geholt hatte, wurde ans Fußende gebunden.

Unter einer Bestattung auf See hatte ich mir immer etwas sehr Feierliches vorgestellt, aber bei dieser Bestattung schwanden meine Illusionen schnell und gründlich. Einer von den Jägern, ein kleiner, schwarzäugiger Mann, den seine Kameraden „Smoke" nannten, erzählte stark mit Flüchen und Zoten gespickte Geschichten, und jeden Augenblick brach die ganze Jägergruppe in ein Gelächter aus, das in meinen Ohren wie ein Chor von Wölfen oder das Gekläff der Höllenhunde klang. Die Matrosen versammelten sich geräuschvoll achtern, einige von der Mannschaft rieben sich den Schlaf aus den Augen und unterhielten sich leise. Auf ihren Zügen lag ein unheilverkündender, mürrischer Ausdruck. Es war deutlich zu sehen, daß die Aussicht auf eine Fahrt unter diesem Kapitän, die dazu noch unter so üblen Vorbedeutungen begonnen hatte, sie durchaus nicht lockte. Hin und wieder warfen sie verstohlene Blicke auf Wolf Larsen, und ich konnte merken, daß sie den Mann fürchteten.

Er schritt zum Lukendeckel, und alle Mützen wurden abgenommen. Ich ließ meinen Blick über sie schweifen - es waren zwanzig Mann, zweiundzwanzig mit dem Mann am Ruder und mir. Es ist wohl begreiflich, daß ich sie neugierig musterte, sollte es doch mein Schicksal sein, ihr Los, eingepfercht in diese schwimmende Miniaturwelt, wer weiß wie viele Wochen und Monate zu teilen. Die Matrosen bestanden hauptsächlich aus Engländern und Skandinaviern mit groben, ausdruckslosen Gesichtern. Die Jäger hingegen hatten scharfe, harte, von zügelloser Leidenschaft geprägte Züge. Merkwürdigerweise sah ich sofort, daß Wolf Larsens Gesicht nicht diesen Ausdruck von Verderbtheit hatte. Gewiß, es hatte auch scharfe Linien, aber nur Linien, die von Entschlossenheit und Festigkeit sprachen. Seine Miene war von einem Freimut und einer Offenheit, die durch seine Bartlosigkeit noch verstärkt wurden. Ich konnte - bis zum nächsten Zwischenfall - kaum glauben, daß dies derselbe Mann war, der den Kajütsjungen so behandelt hatte.

Er öffnete den Mund, um zu sprechen, aber in diesem Augenblick traf ein Windstoß nach dem andern den Schoner und preßte ihn auf die Seite. Der Wind heulte ein wildes Lied durch die Takelung. Einige von den Jägern warfen ängstliche Blicke nach oben. Die Reling auf Lee, wo der Tote lag, tauchte tief ins Wasser, und als der Schoner sich aufrichtete, wurden unsere Füße überspült. Ein Regenschauer ergoß sich über uns,und jeder Tropfen traf wie ein Hagelkorn. Als er vorüber war, begann Wolf Larsen zu sprechen, während die Leute im Takt des stampfenden Schiffes schwankten. „Ich erinnere mich nur an eine Stelle des Gottesdienstes", sagte er, „nämlich:, Und deine Leiche soll in die See geworfen werden.' Darum werft ihn hinein."

Er schwieg. Die Leute, die den Lukendeckel hielten, waren verdutzt, verwirrt durch die Kürze der Zeremonie. Wütend fuhr er auf sie los: „Hoch das Ende, zum Donnerwetter! Was ist in euch gefahren, zum Teufel?"

Sie hoben schleunigst den Lukendeckel am oberen Ende. Und wie ein über Bord geworfener Hund flog der Tote, die Füße voran, ins Meer. Der Kohlensack an seinen Füßen zog ihn hinunter. Er war fort.

„Johansen", sagte Wolf Larsen kurz zu dem neuen Steuermann, „lassen Sie alle Mann, da sie gerade hier sind, an Deck bleiben. Holen Sie die Toppsegel und den Klüver ein, aber ein bißchen schnell. Wir bekommen einen tüchtigen Südwest. Reffen Sie lieber auch das Großsegel, wenn Sie schon mal dabei sind."

In einem Augenblick war das ganze Deck in Bewegung. Johansen brüllte seine Befehle, und die Leute holten und fierten an allen möglichen Stricken und Tauen - für mich als Landratte natürlich ein wirres Chaos. Was mich aber besonders erschütterte, war die Herzlosigkeit, die in diesem Tun lag. Der Tote war vergessen. Er war mit einem Kohlensack an den Füßen versenkt worden, das Schiff setzte seine Reise fort, und die Arbeit ging ihren Gang. Keiner war auch nur im geringsten ergriffen. Die Jäger lachten über eine neue Geschichte, die Smoke erzählte, die Matrosen holten und fierten, und zwei von ihnen kletterten nach oben. Wolf Larsen musterte den sich überziehenden Himmel in Luv. Und der Tote, der so elend gestorben und so jämmerlich begraben war, sank tiefer und tiefer.

Da überwältigte mich die Grausamkeit des Meeres, seine Unbarmherzigkeit und Gewalt. Das Leben war billig, etwas Sinnloses und Tierisches, eine seelenlose Bewegung von Schlamm und Schleim. Ich stellte mich an die Reling in Luv, neben den Wanten, und starrte über die trostlosen, schäumenden Wogen hinweg auf die niedrigen Nebelbänke. Hin und wieder trieb eine Regenbö dazwischen und entzog den Nebel meinen Blicken. Und dieses seltsame Schiff zog mit seiner schrecklichen Besatzung unter vollen Segeln nach Südwest, über die großen und einsamen Weiten des Stillen Ozeans.

Drittes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Meine ersten Erlebnisse auf dem Robbenschoner Ghost in der Zeit, während der ich mich meiner neuen Umgebung anzupassen suchte, waren eine Kette von Demütigungen und Leiden. Der Koch, von der Besatzung „Doktor", von den Jägern „Tommy" und von Wolf Larsen „Köchlein" genannt, war wie ausgewechselt. Die Veränderung in meiner Stellung zog eine entsprechende Veränderung in seiner Art, mich zu behandeln, nach sich. So sklavisch und unterwürfig er vorher gewesen, so herrisch und streitsüchtig war er jetzt. War ich doch nicht mehr der feine Herr, sondern ein ganz gewöhnlicher und sehr unbrauchbarer Kajütsjunge.

In seiner Dummheit bestand er darauf, daß ich ihn Herr Mugridge nennen sollte, und als er mich in meinen Pflichten unterwies, waren sein Benehmen und sein ganzes Getue unerträglich.

Außer meiner Arbeit in der Kajüte mit den vier kleinen Kojen sollte ich ihm in der Kombüse helfen, und meine gänzliche Unwissenheit in bezug auf Kartoffelschälen und das Auswaschen fettiger Kochtöpfe bildete für ihn eine Quelle unaufhörlicher spöttischer Verwunderung. Er nahm nicht die geringste Rücksicht auf meine Lage oder vielmehr auf meine bisherigen Gewohnheiten. Ich gestehe, daß ich ihn, ehe der Tag zu Ende war, mehr haßte, als ich je im Leben einen Menschen gehaßt hatte.

Dieser erste Tag wurde mir noch dadurch erschwert, daß die Ghost unter gerefften Segeln durch einen „brüllenden Südost" stampfte, wie Herr Mugridge sich ausdrückte. Um halb fünf deckte ich unter seiner Anleitung den Tisch in der Kajüte. Ich befestigte das Schlingerbrett und holte dann Essen und Tee aus der Kombüse. Ich kann bei dieser Gelegenheit nicht umhin, mein erstes Abenteuer bei hohem Seegang zu berichten.

„Sieh dich vor, sonst kriegst du einen Guß ab", schärfte Herr Mugridge mir ein, als ich die Kombüse verließ, in der Hand einen ungeheuren Teekessel und unter dem andern Arm mehrere frischgebackene Brote. Einer der Jäger, ein großer, gelenkiger Bursche namens Henderson, kam gerade in diesem Augenblick aus dem „Zwischendeck" (mit diesem Namen bezeichneten die Jäger ihre mittschiffs gelegenen Schlafquartiere). Wolf Larsen stand auf dem Achterdeck und rauchte seine ewige Zigarre.

„Siehst du! Futsch ist er!" schrie der Koch.

Ich blieb stehen, denn ich wußte nicht, was geschah. Ich sah nur, wie die Kombüsentür mit einem Knall zuflog. Dann sah ich Henderson wie einen Verrückten zum Großmast springen und hoch über meinem Kopf in die Takelung klettern.

Ich sah auch noch eine riesige Woge, die schäumend hoch über der Reling stand. Ich befand mich direkt unter ihr. Meine Gedanken arbeiteten nur langsam; alles war so neu und fremd für mich. Ich wußte nichts, als daß Gefahr drohte. Bestürzt stand ich still. Da schrie Wolf Larsen vom Achterdeck: „Festhalten, Sie - Hump!"

Aber es war zu spät. Ehe ich mich an die Takelung angeklammert hatte, wurde ich von dem stürzenden Wasserschwall getroffen. Was dann geschah, weiß ich nicht recht. Ich befand mich unter Wasser, erstickte, ertrank. Die Füße glitten mir fort, ich wurde herumgewirbelt und Gott weiß wohin gefegt.