Der Sohn des Wolfs - Jack London - E-Book
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Jack London

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Beschreibung

In 'Der Sohn des Wolfs' von Jack London wird die Geschichte von White Fang erzählt, einem Wolfshund, der zwischen der Wildnis und der Zivilisation gefangen ist. London nutzt seinen klaren und direkten Schreibstil, um die inneren Kämpfe und den Überlebensinstinkt von White Fang darzustellen. Das Buch ist bekannt für seine realistische Darstellung der harten Lebensbedingungen im Wilden Westen und beleuchtet Themen wie Freiheit, Zugehörigkeit und die Grausamkeit der Natur. Es wird oft als ein Meisterwerk des Abenteuerromans und der Tiergeschichte betrachtet. Jack London, selbst ein erfahrener Abenteurer und Naturforscher, lässt in diesem Buch sein umfassendes Wissen über die Tierwelt und menschliche Natur einfließen. Seine persönlichen Erfahrungen in der Wildnis und seine Begeisterung für das Abenteuer spiegeln sich deutlich in der packenden Erzählung von White Fang wider. 'Der Sohn des Wolfs' ist ein zeitloser Klassiker, der sowohl jungen als auch erwachsenen Lesern empfohlen wird, die ein fesselndes Abenteuer und tiefgründige Charakterstudien schätzen.

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Jack London

Der Sohn des Wolfs

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2018 OK Publishing
ISBN 978-80-272-4195-8

Inhaltsverzeichnis

Das weiße Schweigen
Der Sohn des Wolfs
Die Männer von Forty-Mile
In fernem Lande
Auf der Rast
Das Vorrecht des Priesters
Die Weisheit der Reise
Das Weib eines Königs
Eine Odyssee des Nordens
Der Seebauer

Das weiße Schweigen

Inhaltsverzeichnis

»Carmen hält keine zwei Tage mehr aus.« Mason spie einen Klumpen Eis aus und betrachtete besorgt das arme Tier, dann nahm er die Pfote der Hündin in den Mund und begann das Eis loszubeißen, das zwischen ihren Zehen saß und sie grausam quälte.

»Ich hab' auch noch nie einen Hund mit einem so hochtrabenden Namen gesehen, der etwas taugte«, sagte er, spie das letzte Eisstück aus und schob den Hund fort. »Die schwinden einem direkt unter den Fingern weg. Habt ihr je gesehen, daß ein Hund mit einem ordentlichen Namen wie Cassiar, Siwash oder Husky zu Schaden gekommen wäre? Seht nur Shookum, das ist –«

Haps! Die magere Bestie fuhr hoch und hätte Mason um ein Haar an der Kehle gepackt.

»Was!« Ein gewandter Schlag hinters Ohr mit der Hundepeitsche streckte das Tier in den Schnee, wo es zitternd liegenblieb, während ihm gelblicher Schaum aus dem Fang tropfte.

»Was ich sagen wollte: Seht mal Shookum an – der hat's in sich. Wetten, daß er Carmen gefressen hat, ehe die Woche um ist!«

»Ich schlage eine andere Wette vor«, entgegnete Malemute Kid und wendete das gefrorene Brot, das zum Auftauen vor das Feuer gestellt war. »Wir werden Shookum fressen, ehe die Reise zu Ende ist. Was meinst du, Ruth?«

Die Indianerin, die dabei war, Eis aufzutauen, um Kaffee zu machen, blickte von Malemute Kid auf ihren Mann und dann auf die Hunde, ließ sich aber zu keiner Antwort herbei. Die Wahrheit dessen, was der Mann gesagt hatte, war so offenkundig, daß jede Antwort überflüssig war. Eine ununterbrochene Reise von zweihundert Meilen vor sich und kaum für sechs Tage Proviant für Menschen und Hunde – es gab keine Wahl. Die Frau und die beiden Männer setzten sich um das Feuer und machten sich an ihre karge Mahlzeit. Die Hunde lagen angeschirrt da, denn es war nur Mittagsruhe, und beobachteten neidisch jeden Bissen.

»Von heute ab gibt es kein Frühstück mehr«, sagte Malemute Kid. »Und wir müssen ein Auge auf die Hunde haben – sie fangen an, bösartig zu werden. Wenn sich die Gelegenheit bietet, fallen sie ohne weiteres über uns her.«

»Und dabei bin ich Geschworener und Sonntagsschullehrer gewesen.« Nachdem Mason sein Herz durch diesen etwas merkwürdigen Ausspruch erleichtert hatte, versank er in träumerische Betrachtung seiner dampfenden Mokassins, wurde aber aus seinen Betrachtungen durch Ruth geweckt, die ihm die Tasse füllte. »Gott sei Dank haben wir ja noch eine Menge Tee! Ich hab' ihn selbst wachsen sehen in Tennessee. Was würde ich jetzt für ein Stück Kuchen geben! Na, mach' dir nichts draus, Ruth; denn es dauert gar nicht mehr lange, dann brauchst du nicht mehr hungrig in Mokassins herumzulaufen.«

Als die Frau diese Worte hörte, schüttelte sie die Niedergeschlagenheit ab, und eine große Liebe zu ihrem weißen Herrn und Gebieter leuchtete in ihren Augen auf. Er war der erste Weiße, den sie je gesehen – der erste Mann, den sie je ein Weib besser als ein Lasttier hatte behandeln sehen.

»Ja, Ruth«, sagte ihr Gatte in dem Kauderwelsch, in dem sie sich allein verständlich machen konnten. »Warte nur, bis wir aus dem Dreck heraus sind. Wir werden das Kanu des weißen Mannes nehmen und nach dem Salzwasser fahren. Ja, schlimmes Wasser, rings Wasser – große Berge, die immer auf und nieder tanzen. Und so groß, so weit, weit fort – du reisen zehn Schlaf, zwanzig Schlaf, vierzig Schlaf« (er zählte die Tage an den Fingern ab), »immer Wasser, schlimmes Wasser. Dann du kommen nach großem Dorf, viele Menschen, gerade wie Moskitos nächsten Sommer. Wigwams, oh, so hoch – zehn, zwanzig Kiefern. Hi–yu Shookum!« Er hielt inne, sandte Malemute Kid einen flehentlichen Blick und stellte dann mühselig mittels Zeichensprache die zwanzig Kiefern aufeinander. Malemute Kid lächelte ironisch, aber Ruths Augen standen weit offen vor Verwunderung und Freude; denn sie wußte nicht recht, ob er nicht scherzte, und eine solche Herablassung erfreute ihr armes Frauenherz.

»Und dann gehen hinein in ein – einen Kasten und puff! du fahren hoch.« Er warf seine leere Tasse zur Illustration in die Luft, fing sie gewandt auf und rief: »Und piff! du kommen runter. Oh! Große Medizinmänner! Du gehen Fort Yukon, ich gehen Arctic City, fünfundzwanzig Schlaf, lange Leine ganzer Weg – ich fangen eine Leine – ich sagen ›Hallo, Ruth! Wie geht's?‹ – und du sagen ›Das ist mein lieber Mann?‹ und ich sagen ›Ja‹. Und du sagen ›Ich nicht können backen gutes Brot, kein Soda mehr‹, dann ich sagen ›Sieh nach in der Speisekammer unterm Mehl; auf Wiedersehen‹. Du sehen nach und finden viel Soda. Die ganze Zeit du Fort Yukon mich Arctic City. Hi–yu Medizinmann!«

Ruth lächelte so freimütig über das Märchen, daß beide Männer in Lachen ausbrachen. Ein Lärm unter den Hunden machte den Herrlichkeiten des Wunderlandes ein schnelles Ende, und als die knurrenden Gegner getrennt waren, hatte die Frau die Schlitten angeschirrt, und alles war zum Aufbruch bereit. –

»Los! Baldy! He! Los!« Mason gebrauchte tüchtig die Peitsche, und als die Hunde sich heulend ins Geschirr warfen, brach er mit der Steuerstange den Schlitten los. Ruth folgte mit dem nächsten Gespann, und Malemute Kid, der ihr beim Aufbruch geholfen hatte, bildete den Nachtrab. Dieser starke, rauhe Mann, der imstande war, einen Ochsen mit einem Schlag zu fällen, brachte es nicht übers Herz, die armen Tiere zu schlagen, sondern war freundlich zu ihnen, wie ein Hundetreiber selten ist – ja, er weinte fast über ihr Elend.

»So, los jetzt, ihr armen, wundfüßigen Viecher!« murmelte er nach mehreren vergeblichen Versuchen, den Schlitten in Gang zu bringen; aber schließlich wurde seine Geduld belohnt, und sie hasteten ihren Genossen nach.

Es wurde nicht mehr gesprochen; die Mühen der Reise erlaubten eine solche Kraftverschwendung nicht. Und von allen tötenden Mühen ist die Nordlandsfahrt die schlimmste. Glücklich der Mann, der sich einen Tagesmarsch durch Schweigen erkaufen kann, und das selbst auf gebahnten Wegen.

Und von allen unsäglichen Mühen ist das Wegebahnen die schlimmste. Bei jedem Schritt sinken die großen, breiten Schneeschuhe ein, daß der Schnee bis zum Knie reicht. Dann muß der Fuß gehoben, senkrecht gehoben werden, denn eine Abweichung von auch nur dem Bruchteil eines Zolls bedeutet sicheren Sturz, der Schneeschuh muß bis ganz über die Oberfläche gehoben werden; dann vorwärts und hinunter, worauf der andere Fuß ungefähr eine Elle senkrecht gehoben werden muß. Wer es zum erstenmal versucht, wird es, wenn er seine Schuhe glücklich auseinanderhalten kann, so daß er nicht über seine eigenen Beine fällt, nach hundert Ellen erschöpft aufgeben. Wer einen ganzen Tag vor den Hunden bleiben kann, darf mit gutem Gewissen und einem Stolz, der über alle Begriffe geht, in seinen Schlafsack kriechen. Und wer zwanzig Tagemärsche unterwegs bleibt, ist ein Mann, den die Götter selbst beneiden dürfen.

Es wurde Nachmittag, und unter der drückenden Benommenheit, die von dem weißen Schweigen erzeugt wird, machten die stummen Reisenden sich an ihre Arbeit. Die Natur hat viele Möglichkeiten, den Menschen von seiner Sterblichkeit zu überzeugen – der unendliche Wechsel der Gezeiten, das Wüten des Sturmes, die Schrecken des Erdbebens, der rollende Donner des Himmels –, aber am betäubendsten von allem ist die totengleiche Ruhe des weißen Schweigens. Jede Bewegung hört auf, der Himmel ist klar, das leiseste Flüstern wird eine Entweihung. Und der Mensch wird ängstlich, fürchtet sich vor dem Klang seiner eigenen Stimme. Ein winziges Atom von Leben, zieht er durch die geisterhaften Weiten einer toten Welt, zittert über seine eigene Verwegenheit und erkennt, daß er ein Wurm und nicht mehr ist. Seltsame Gedanken kommen ungerufen, und das große Geheimnis aller Dinge kämpft um Enthüllung. Und die Furcht vor dem Tode, vor Gott, vor dem All kommt über ihn – die Hoffnung auf Auferstehung und Leben, die Sehnsucht nach Unsterblichkeit, die gebundene Kraft seines Wesens, die sich vergebens müht, frei zu werden – ja, wenn je, so wandert der Mensch dann allein mit Gott.

So verging der Tag. Der Fluß machte einen großen Bogen, den Mason abschnitt, indem er sein Gespann quer über die schmale Landzunge steuerte. Aber die Hunde kamen nicht auf das andere Ufer hinauf. Immer wieder glitten sie zurück, obwohl Ruth und Malemute Kid den Schlitten schoben. Noch eine Anstrengung. Die elenden, vom Hunger ermatteten Tiere boten ihre letzten Kräfte auf. Hinauf – hinauf – der Schlitten schwankte auf dem äußersten Rande; aber der Leithund bog nach rechts ab und stolperte über Masons Schneeschuhe. Das Ergebnis war traurig. Mason verlor das Gleichgewicht; einer der Hunde stürzte im Geschirr, der Schlitten glitt zurück und riß sie alle wieder mit zum Fluß hinunter.

Klatsch! Die Peitsche fiel wild auf die Hunde und namentlich auf den gestürzten.

»Nicht, Mason,« bat Malemute Kid, »der arme Teufel pfeift auf dem letzten Loch. Warte, wir ziehen den Schlitten wieder hoch.«

Mason hielt ruhig die Peitsche zurück, bis das letzte Wort gefallen war, dann schoß die lange Schnur heraus und wand sich ganz um den Körper des schuldigen Tieres. Carmen – sie war es nämlich – kroch im Schnee zusammen, heulte jämmerlich und fiel auf die Seite.

Es war ein kritischer Augenblick, eine unheimliche Episode der Reise: ein sterbender Hund und zwei aufgebrachte Kameraden. Ruth blickte flehend von einem zum andern. Aber Malemute Kid beherrschte sich, obwohl eine Welt von Vorwürfen in seinen Blicken lag, als er sich über den Hund beugte und die Riemen zerschnitt. Kein Wort wurde gesprochen. Die andern Hunde wurden vorgespannt und die Schwierigkeit überwunden; die Schlitten kamen wieder in Gang, der sterbende Hund schleppte sich hinterher. Solange ein Hund auch nur kriechen kann, wird er nicht erschossen, man gibt ihm noch die letzte Chance: ins Lager zu kriechen, wenn er kann, und gerettet zu werden, falls man einen Elch erwischt.

Mason bereute schon seine Heftigkeit, war aber zu eigensinnig, um sich zu entschuldigen. Er arbeitete sich vor, bis er die Spitze des Zuges erreicht hatte, ohne die Gefahr zu ahnen, die drohte. Die Bäume standen schirmend dicht am Ufer, und zwischen ihnen hindurch mußten sie sich ihren Weg bahnen. Fünfzig Fuß oder weiter vom Wege ragte eine mächtige Kiefer empor. Seit Generationen stand sie da, und seit Generationen hatte das Schicksal seine Absicht mit ihr – und vielleicht mit Mason gehabt.

Er beugte sich nieder, um den Riemen des einen Mokassins fester zu schnallen. Die Schlitten hielten, und die Hunde legten sich in den Schnee, ohne auch nur einen Laut von sich zu geben. Die Stille war unheimlich. Nicht ein Hauch regte sich in dem bereiften Wald; die Kälte und das Schweigen des Raumes hatten das Herz der Natur vereist und ihre zitternden Lippen zum Schweigen gebracht. Ein Seufzer zitterte in der Luft – sie hörten es weniger, als daß sie es fühlten. Es war wie der Vorbote einer Bewegung in diesem von jeder Bewegung verlassenen Urwald. Dann spielte dieser große Baum, der von der Wucht der Jahre und des Schnees beschwert war, seine letzte Rolle in der Tragödie des Lebens. Mason hörte das warnende Krachen und versuchte aufzuspringen, erhielt aber, fast schon stehend, den Schlag gegen die Schulter. Die plötzliche Gefahr, der schnelle Tod – wie oft hatte Malemute Kid ihnen ins Auge geblickt! Die Kiefernadeln zitterten noch, als er auch schon zusprang. Auch die Indianerin wurde weder ohnmächtig noch erhob sie ihre Stimme zu unnützen Klagen, wie viele ihrer Schwestern getan hätten. Auf seine Anordnung warf sie sich mit ihrem ganzen Gewicht auf eine schnell improvisierte Hebestange, erleichterte damit den Druck und lauschte auf das Stöhnen ihres Gatten, während Malemute Kid dem Baum mit der Axt zu Leibe ging. Der Stahl klang hell, als er in den gefrorenen Stamm biß, und jeder Schlag wurde von einem atemlosen »Hup! Hup!« des Fällers begleitet.

Endlich legte Kid das klägliche Etwas, das einmal ein Mann gewesen war, in den Schnee. Näher aber als die Qual seines Kameraden ging ihm die stumme Angst auf dem Gesicht der Frau, der aus hoffendem und hoffnungslosem Fragen gemischte Ausdruck. Es wurde nicht viel gesprochen. Im Nordland sieht man bald die Nutzlosigkeit der Worte und den unendlichen Wert der Taten ein. Bei einer Temperatur von 65 Grad Fahrenheit unter Null kann ein Mensch nicht lange im Schnee liegen, ohne zu sterben. So wurden denn die Zugleinen zerschnitten, der Leidende wurde in Pelze gehüllt und auf ein Lager von Zweigen gelegt. Vor ihm knisterte ein Feuer, genährt von dem Baum, der das Unglück verursacht hatte. Hinter und teilweise über ihm war ein primitiver Schirm aufgestellt – ein Stück Leinwand, das die Wärmestrahlen auffing und auf den Mann zurückwarf –, eine der Erfindungen, die Männer machen, wenn sie Physik an der Quelle studieren.

Und Männer, die ihr Bett mit dem Tode geteilt haben, wissen, wann der Ruf ertönt. Mason war schrecklich zugerichtet. Die oberflächlichste Untersuchung ergab das. Auf der rechten Seite waren ihm Arm, Bein und Rücken zerschmettert, die Glieder von der Hüfte an gelähmt, und aller Wahrscheinlichkeit nach hatte er auch innere Verletzungen erlitten. Ein gelegentliches Stöhnen war das einzige Lebenszeichen, das er gab.

Es gab keine Hoffnung; es war nichts zu tun. Die unbarmherzige Nacht verstrich langsam für Ruth, die in dem verzweifelten Stoizismus ihrer Rasse dasaß, und für Malemute Kid, in dessen Bronzegesicht sich neue Furchen zeigten. Mason litt in der Tat am wenigsten, denn er verbrachte die Zeit in den Bergen von Tennessee, wo er Szenen aus seiner Kindheit wieder erlebte. Und sein längst vergessener Südstaatendialekt ertönte mit einem seltsamen Pathos, wenn er in seinen Phantasien schwamm, Waschbären jagte und Wassermelonen stahl. Für Ruth war es Chinesisch, Kid aber verstand es – verstand es, wie nur der es kann, der jahrelang von aller Zivilisation abgeschlossen gewesen ist.

Der Morgen brachte den Sterbenden wieder zum Bewußtsein, und Malemute Kid beugte sich über ihn, um sein Flüstern zu verstehen.

»Weißt du noch, wie wir uns auf dem Tanana trafen? Im nächsten Frühling sind es vier Jahre her. Ich machte mir damals nicht soviel aus ihr. Gewiß, sie war hübsch, und irgend etwas an ihr reizte mich, glaube ich. Aber seitdem habe ich sie sehr liebgewonnen. Sie ist mir eine gute Frau gewesen, immer Schulter an Schulter mit mir, wenn ich in der Klemme war. Und beim Handel, das weißt du, hat sie nicht ihresgleichen. Weißt du noch, wie sie die Moosehornschnellen hinabfuhr, um dich und mich vom Felsen herunterzuholen, während die Kugeln das Wasser wie Hagelschlossen peitschten? Und damals bei der Hungersnot in Nuklukyeto? – oder als sie mit dem Eisbruch um die Wette lief, um mir die Nachricht zu bringen? Ja, sie ist mir eine gute Frau gewesen, besser als die andre. Das wußtest du vielleicht nicht? Ich hab' es dir nie erzählt, was? Ja, ich hab' es schon einmal in den Staaten versucht. Darum bin ich ja hier. Wir waren zusammen aufgewachsen. Ich ging fort, um ihr Gelegenheit zu geben, sich von mir scheiden zu lassen. Und die nahm sie wahr.

»Aber das hat nichts mit Ruth zu tun. Ich habe gedacht, im nächsten Jahre reinen Tisch zu machen und wegzugehen – mit ihr – aber jetzt ist es zu spät. Schick' sie nicht zu ihrem Volk zurück, Kid. Es ist verflucht schwer für eine Frau, wenn sie wieder zurückgehen soll. Denk' nur – fast vier Jahre hat sie unsere Kost gegessen: Schinken und Bohnen und Mehl und Dörrobst, und da sollte sie wieder zu ihren Fischen und ihrem Renntierfleisch zurück. Es wäre nicht gut für sie, unser Leben versucht und gemerkt zu haben, daß es besser als das ihres eigenen Volkes ist, um dann zu ihnen zurückzukehren. Nimm dich ihrer an, Kid – warum willst du nicht selbst – aber nein, du hast ja immer Angst vor ihnen gehabt – und du hast mir auch nie erzählt, warum du ins Land gekommen bist. Sei gut zu ihr und schicke sie nach den Staaten, sobald du kannst. Aber mach' es so, daß sie wiederkehren kann – sie bekommt so leicht Heimweh.

»Und das Kleine – das hat uns noch näher aneinander geknüpft, Kid. Ich hoffe nur, daß es ein Junge wird! Denk' daran! – Fleisch von meinem Fleisch, Kid. Er darf nicht hier im Lande bleiben. Und wenn es ein Mädchen wird, wie könnte es! Verkauf meine Felle. Sie werden mindestens viertausend einbringen, und ebensoviel habe ich bei der ›Kompanie‹ zugute. Sorg' dafür, daß er eine gute Erziehung erhält, und, Kid, vor allem, laß ihn nicht hierher zurückkommen. Dies Land ist nicht für weiße Männer geschaffen.

»Mit mir ist es vorbei, Kid. Drei oder vier Tage höchstens. Ihr sollt weiter. Ihr müßt! Denk' daran, daß es meine Frau, daß es mein Junge ist – mein Gott! Ich hoffe, es ist ein Junge! Ihr könnt nicht bei mir bleiben – und ich befehle euch, ich, ein Sterbender, daß ihr weiterzieht.«

»Laß mir drei Tage,« bat Malemute Kid, »es könnte dir besser gehen; vielleicht geschieht etwas.«

»Nein.«

»Nur drei Tage.«

»Ihr müßt weiter.«

»Zwei Tage.«

»Es gilt meine Frau und meinen Jungen, Kid. Du darfst mich nicht bitten.«

»Einen Tag.«

»Nein, nein, ich verlange –«

»Nur einen einzigen Tag. Wir könnten an den Rationen sparen, und vielleicht schieße ich einen Elch.«

»Nein – nun, schön; einen Tag, aber nicht eine Minute länger. Und, Kid, laß mich nicht allein dabei. Nur einen Schuß, den Finger auf den Drücker. Du verstehst. Denk' daran! Denk' daran! Fleisch von meinem Fleisch, und ich werde ihn nie sehen!

Schick' mir Ruth her. Ich will ihr Lebewohl sagen und sie bitten, an den Jungen zu denken und nicht zu warten, bis ich tot bin. Sonst weigert sie sich vielleicht, mit dir zu gehen. Leb' wohl, Alter, Leb' wohl!

»Kid, grabe nach, wo wir den Hund verscharrt haben, neben der Schlittenbahn. Ich habe auf meiner Schaufel Gold gehabt.«

»Und, Kid!« Der beugte sich tiefer herab, um die letzten schwachen Worte zu hören, in denen der Sterbende seinen Stolz aufgab. »Es tut mir leid – wegen – du weißt – Carmen.«

Malemute Kid verließ die Frau, die leise um ihren Mann weinte, zog seine Parka und seine Schneeschuhe an, nahm die Büchse unter den Arm und schritt in den Wald. Es war nicht das erstemal, daß er dem finsteren Grauen des Nordlands gegenüberstand. Aber noch nie hatte es ihn vor eine so schwere Aufgabe gestellt. Bei nüchterner Betrachtung wäre es ein einfaches Rechenexempel gewesen – drei Lebende gegen einen zum Tode Verurteilten. Aber dennoch zögerte er. Fünf Jahre hatten sie Seite an Seite auf Flüssen und Schneeöden, in Lagern und Minen, immer den Tod vor Augen, die Bande ihrer Kameradschaft geknüpft. So fest waren die Bande gewesen, daß er, seit Ruth zu ihnen gekommen war, oft eine unbestimmte Eifersucht bei ihr gespürt hatte. Und jetzt sollte er diese Bande mit eigener Hand zerschneiden.

Obwohl er betete, daß ein Elch, nur ein einziger Elch kommen möchte, war alles wie ausgestorben, und bei Einbruch der Nacht schleppte sich der ermattete Mann mit leeren Händen und schwerem Herzen zum Lager zurück. Lärm unter den Hunden und gellende Schreie Ruths ließen ihn seine Schritte beschleunigen.

Als er das Lager erreichte, sah er Ruth mitten unter den knurrenden Hunden stehen und mit einer Axt um sich schlagen. Die Hunde hatten das eiserne Gesetz ihrer Herren übertreten und waren an den Proviant gegangen. Mit erhobenem Kolben sprang er zwischen sie, und der uralte Kampf ums Dasein wurde mit all der Brutalität seiner ursprünglichen Umgebung ausgekämpft. Büchse und Axt fuhren auf und nieder, trafen oder fehlten mit monotoner Regelmäßigkeit. Geschmeidige Körper flogen hoch mit wilden Augen und schäumendem Rachen, Menschen und Tiere stritten wild um die Übermacht. Dann krochen die geschlagenen Bestien ans Feuer, leckten ihre Wunden und heulten ihr Elend den Sternen zu.

Den ganzen Vorrat an getrocknetem Lachs hatten sie gefressen, und kaum fünf Pfund Mehl waren übrig, um sie zweihundert Meilen weit durch die Wüste zu bringen. Ruth kehrte zu ihrem Manne zurück, während Malemute Kid einen der Hunde, dem die Axt den Kopf zerschmettert hatte, abzog. Alles wurde sorgfältig beiseitegelegt, nur die Haut und die Eingeweide wurden den andern Hunden vorgeworfen.

Der Morgen brachte neue Schwierigkeiten. Die Tiere kehrten sich gegeneinander. Carmen, die nur noch mit einem schwachen Faden am Leben hing, wurde von der Koppel angegriffen. Sie kümmerten sich nicht um die Peitsche. Sie krochen heulend unter den Schlägen zusammen, ließen sich aber nicht auseinandertreiben, ehe der letzte elende Bissen verschwunden war – Knochen, Haut, Haare, alles.

Malemute Kid ging an seine Arbeit, während er den wilden Reden Masons lauschte, der wieder mit den Kameraden anderer Zeiten in Tennessee war.

Er wählte einige Kiefern in der Nähe und arbeitete schnell. Ruth beobachtete ihn, wie er einen Steinhaufen errichtete, so wie die Jäger zuweilen tun, um ihr Fleisch gegen Wölfe und Hunde zu schützen. Er bog die Wipfel von zwei kleinen Kiefern gegeneinander und fast bis zum Boden herab und band sie mit Riemen aus Elchshaut aneinander. Dann schlug er die Hunde, bis sie zahm wurden, und spannte sie vor zwei von den Schlitten, auf die er alles lud mit Ausnahme der Felle, in die Mason gehüllt war. Die wickelte er dicht um ihn und schnallte sie mit Riemen fest, deren Enden er an den herabgezogenen Kiefern befestigte. Ein einziger Schnitt mit dem Messer mußte die Bäume befreien und den Körper des Mannes hoch in die Luft schnellen lassen.

Ruth hatte den letzten Wunsch ihres Mannes erfahren und widersetzte sich nicht. Die Ärmste hatte die Kunst des Gehorchens zur Genüge gelernt. Von Kind an hatte sie sich wie alle Frauen, die sie kannte, vor dem Herrn der Schöpfung gebeugt, und es kam ihr gar nicht in den Sinn, daß Frauen ungehorsam sein konnten. Kid erlaubte ihr, sich ein einziges Mal ihrem Kummer hinzugeben, als sie ihren Mann küßte, ein Brauch, den ihr eigenes Volk nicht kannte. Er führte sie dann zu dem ersten Schlitten und half ihr in die Schneeschuhe. Blindlings, ganz instinktiv, ergriff sie Steuerstange und Peitsche und setzte die Hunde in Gang. Kid kehrte zu Mason zurück, der eingeschlummert war, und lange, nachdem sie verschwunden war, saß er noch am Feuer, wartete, hoffte und betete, daß sein Kamerad sterben möchte.

Es ist nicht gut, mit traurigen Gedanken allein im weißen Schweigen zu sein. Die Stille der Finsternis ist warmherzig, schützt uns und atmet tausend unfaßbare Sympathien; aber die helle weiße Stille, die klar und kalt unter stahlgrauen Wolken liegt, ist unbarmherzig.

Eine Stunde verging – zwei Stunden, aber der Mann wollte nicht sterben. Gegen Mittag warf die Sonne, ohne ihren Rand über den südlichen Horizont zu erheben, einen Lichtschein über den Himmel, um dann schnell wieder hinabzugleiten. Malemute Kid stand auf und schleppte sich zu seinem Kameraden. Er warf einen Blick um sich. Das weiße Schweigen schien ihn zu höhnen, und ein großer Schrecken überkam ihn. Ein scharfer Knall, Mason schwang in seinem luftigen Grabe, und Malemute Kid peitschte auf die Hunde los, daß sie in wildem Galopp über den Schnee jagten.

Der Sohn des Wolfs

Inhaltsverzeichnis

Männer schätzen ihre Frauen selten gebührend ein, wenigstens nicht, ehe sie sie verloren haben. Der Mann weiß nicht die wunderbare Atmosphäre zu schätzen, von der die Frau umgeben ist, solange er darin lebt; nimm sie ihm aber, und eine stets wachsende Leere beginnt sich in seinem Dasein zu offenbaren, und ihn überkommt eine Art Hunger, etwas so Unbestimmbares, daß er es nicht ausdrücken kann. Haben seine Kameraden nicht mehr Erfahrung als er selber, so werden sie verständnislos den Kopf schütteln und ihm schwere körperliche Arbeit auferlegen. Aber der Hunger wird zunehmen; der Mann wird das Interesse für die Begebenheiten des täglichen Lebens verlieren und kränkeln, bis er eines schönen Tages, wenn das Gefühl der Leere unerträglich geworden ist, eine Erleuchtung hat.

Geschieht das im Yukonland, so befrachtet der Mann, wenn es Sommer ist, gewöhnlich einen Prahm oder schirrt, wenn es Winter ist, seine Hunde an und steuert nach Süden. Einige Monate später kehrt er dann, wenn er überhaupt Vertrauen zu dem Lande gewonnen hat, mit einer Frau wieder, die dies Vertrauen oder – was auch vorkommt – die Gefahren und Enttäuschungen mit ihm teilen kann. Dies soll nur dazu dienen, den Egoismus des Mannes zu zeigen. Es bringt uns aber auch auf den Fall des »Grindigen« Mackenzie, der sich in alten Tagen ereignete, ehe das Land von einwandernden Chechaquas Neulinge. überschwemmt und verteilt war, und zwar zu einer Zeit, als Klondike einzig Anspruch darauf erhob, daß man von seiner Lachsfischerei Kenntnis nehme.

Dem Grindigen Mackenzie sah man es an, daß er unter der Mühsal des Grenzerlebens geboren war und gelebt hatte. Sein Gesicht war von fünfundzwanzigjährigem unaufhörlichen Kampf mit den wildesten Launen der Natur gezeichnet, und die wildesten und härtesten Jahre von allen, die beiden letzten, hatte er damit verbracht, nach dem Gold zu graben, das dort in der Finsternis der Eisregionen verborgen liegt. Als die Sehnsucht ihn überkam, war er nicht überrascht, denn er war ein praktischer Mann und hatte andere Männer in der gleichen Lage gesehen. Aber er verheimlichte nach Möglichkeit jedes Zeichen seiner Krankheit. Das einzige, was man merkte, war, daß er schwerer als je arbeitete. Den ganzen Sommer kämpfte er mit den Moskitos und wusch die steilen Sandbänke im Stuart River für doppelten Naturalienlohn aus. Dann flößte er Bauholz den Yukon abwärts nach Forty Mile und baute sich eine so bequeme Hütte, wie sich irgendein Lager ihrer nur rühmen konnte. Sie schien so gemütlich zu werden, daß mancher Mann mit Freuden sein Partner geworden wäre, nur um bei ihm zu wohnen. Aber er vernichtete jede Hoffnung mit derben Worten, die für ihre Barschheit und Bündigkeit bekannt waren, und kaufte sich doppelten Proviantvorrat.

Wie schon erwähnt, war der Grindige Mackenzie ein praktischer Mann. Wenn er etwas haben wollte, bekam er es meistens, aber er bog nie weiter von seinem Wege ab, als streng notwendig war. Obwohl er Arbeit und Mühsal gewohnt war, scheute er doch eine Reise von sechshundert Meilen übers Eis, zweitausend Meilen übers Meer und noch ein drittes Tausend Meilen, ehe das Ziel erreicht war – alles nur, um sich eine Frau zu holen. Das Leben war zu kurz. Daher spannte er seine Hunde vor, verstaute eine merkwürdige Last auf seinem Schlitten und steuerte quer über die Wasserscheide, deren westliche Hänge von den Hauptzuflüssen des Tanana durchfurcht wurden.

Er war ein zäher Reisender, und seine Wolfshunde konnten bei weniger Nahrung schwerer arbeiten und länger laufen als irgendein Gespann in Yukon.

Drei Wochen später fuhr er dann in das Jagdlager am oberen Tanana ein. Die Indianer wunderten sich über seine Unbesonnenheit, denn sie hatten einen schlechten Ruf und waren bekannt dafür, daß sie weiße Männer um unbedeutender Dinge, wie einer geschliffenen Axt oder einer zerbrochenen Büchse, willen töteten. Aber er bewegte sich unbewaffnet, mit einer seltsamen Mischung von Demut, Vertraulichkeit, Kaltblütigkeit und Unverschämtheit unter ihnen. Eine flinke Hand und eine tiefe Kenntnis von der Mentalität der Wilden gehörte dazu, um mit Glück so verschiedene Waffen zu handhaben; aber er war ein Meister in dieser Kunst und wußte, wann er schmeicheln und wann er mit dem Donnerkeil seines Zornes drohen sollte.

Zuerst machte er dem Häuptling Thling-Tinneh seine Aufwartung und überreichte ihm ein paar Pfund schwarzen Tee und Tabak, wodurch er seine äußerste Gewogenheit gewann. Dann mischte er sich unter die Männer und Mädchen und gab ihnen am Abend einen Potlach. Der Schnee wurde festgestampft in einem Oval, das etwa hundert Fuß in der Länge und fünfundzwanzig Fuß in der Breite maß. In der Mitte wurde ein langes Feuer angezündet und der ganze Platz mit Zweigen bedeckt. Die Hütten standen verlassen, und die ungefähr hundert Mitglieder des Stammes sangen zu Ehren ihres Gastes. Der Grindige Mackenzie hatte sich ihren nicht sehr reichen Wortschatz angeeignet und wußte auch in ihren tiefen Kehllauten, ihrer fast japanischen Mundart, ihrem eigenartigen Satzbau und in all ihren ehrenden und schmückenden Ausdrücken zu reden. Er hielt also Reden in ihrem eigenen Stil und befriedigte ihre angeborene Liebe zur Poesie durch unförmliche Bilder. Nachdem Thling-Tinneh und der Schamane geantwortet hatten, schenkte er den Männern Kleinigkeiten, beteiligte sich an ihren Gesängen und erwies sich als ein Meister in ihrem »Zweiundfünfzig-Stöcke-Spiel«.

Und sie rauchten seinen Tabak und waren vergnügt. Die jüngeren Männer nahmen jedoch eine herausfordernde Haltung ein und zeigten eine gewisse prahlerische Zudringlichkeit, die dank den deutlichen Hinweisen der zahnlosen Squaws und dem Kichern der jungen Mädchen nicht zu verkennen war. Sie hatten nur wenige weiße Männer, »Söhne des Wolfs« gekannt, aber merkwürdige Dinge von ihnen gelernt.

Das entging auch der Aufmerksamkeit des Grindigen Mackenzie nicht, trotz seiner scheinbaren Sorglosigkeit. Als er sich in seinen Schlafsack gewickelt hatte, dachte er ernsthaft darüber nach und rauchte viele Pfeifen, während er seinen Kriegsplan schmiedete. Nur ein Mädchen hatte ihn gefesselt, und das war keine andere als Zarinska, die Tochter des Häuptlings. Ihre Züge, ihre Gestalt und Haltung entsprachen am meisten dem Schönheitstyp des weißen Mannes. Sie wirkte auch unter ihren Stammesschwestern beinahe auffallend. Sie wollte er besitzen, zu seiner Frau machen und sie – ja, er wollte sie Gertrud nennen! Nachdem er diesen Entschluß gefaßt hatte, drehte er sich auf die Seite und schlief ein als der echte Sohn seiner alles besiegenden Rasse.