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Drei Schwestern nennt man die Häuserzeile auf Blackberry Island, und spontan kauft die junge Kinderärztin Andi das letzte Häuschen. Nach einer schweren Enttäuschung braucht sie dringend ein Heim für Herz und Seele. Was sie nicht nur im Haus, sondern vor allem bei ihren beiden neuen Nachbarinnen Deanna und Boston findet. Die zwei Frauen zeigen Andi: Wenn die Straße des Lebens holprig ist, braucht man dringend Freundinnen! Besonders, wenn eine unerwartete Liebe alles durcheinander zu bringen droht … "Eine herzerwärmende Geschichte über tiefe Gefühle und die heilende Kraft von Frauenfreundschaften." Library Journal "Ein offener, ehrlicher Blick in Familienwirren, zu denen Tragödien und Krisen führen […] sollte auf jeder Leseliste unter den ersten zwanzig stehen." Fresh Fiction "Susan Mallery ist ein wunderbarer, niemals kitschiger Roman über Freundschaft, Familie und Verzeihen gelungen." Für Sie über "Wie zwei Inseln im Meer"
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Seitenzahl: 478
HarperCollins®
Copyright © 2017 by HarperCollins in der HarperCollins Germany GmbH
Titel der amerikanischen Originalausgabe: Three Sisters Copyright © 2013 by Susan Macias Redmond erschienen bei: Mira Books, Toronto
Published by arrangement with Harlequin Enterprises II B.V. / S. à r. l.
Covergestaltung: bürosüd, München Coverabbildung: living4media / Jalag / Taube, Franziska Redaktion: Carla Felgentreff
ISBN E-Book 9783959676465
www.harpercollins.de
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
Am Altar stehen gelassen zu werden, ist nichts für schwache Nerven. Abgesehen von Demütigung und Schmerz gibt es auch logistische Dinge zu bedenken. Wenn ein Mann einen vor dreihundert Freunden und Verwandten – ganz zu schweigen von beiden Müttern – alleine stehen lässt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er sich auch keine Gedanken um die Kleinigkeiten macht, etwa die Geschenke zurückzuschicken und den Partyservice zu bezahlen. Was erklärte, warum Andi Gordon drei Monate nach dieser Erfahrung ihre gesamten Ersparnisse in ein Haus steckte, das sie erst zweimal gesehen hatte – und das in einem Ort stand, den sie nur für zweiundsiebzig Stunden besucht hatte.
Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Andi hatte beschlossen, beides zu tun.
Nachdem sie die Papiere unterschrieben und die Schlüssel abgeholt hatte, fuhr sie den Hügel zum höchstgelegenen Punkt von Blackberry Island hinauf und betrachtete das Haus, das sie gerade gekauft hatte. Es gehörte zu den „Drei Schwestern“, drei wunderschönen Häusern im Queen-Anne-Stil, die zur Jahrhundertwende erbaut worden waren. Laut dem Makler war das linke Haus perfekt restauriert worden. Die Eiscremefarben spiegelten den Stil und die Mode des Baujahres wider. Selbst der Garten entsprach eher dem klassischen englischen Stil als der lockeren Art des Pazifischen Nordwestens. Ein Mädchenfahrrad lehnte an der Veranda und wirkte irgendwie modern und fehl am Platz.
Das rechte Haus war ebenfalls restauriert worden, doch mit weniger Beachtung der zur Bauzeit passenden Details. Die in Schiefergrau gestrichenen Rahmen umgaben Buntglasfenster, und im Vorgarten stand die Skulptur eines Vogels, der sich in die Lüfte erhob.
Im überwucherten Vorgarten des Hauses in der Mitte steckte immer noch das Zu-verkaufen-Schild. Abgesehen von Baustil und Größe hatte Andis Haus wenig mit seinen Schwestern gemein. Fehlende Schindeln auf dem Dach, abblätternde Farbe, herausgebrochene Fenster – alles an ihm zeugte von Vernachlässigung und Gleichgültigkeit. Wenn es sich nicht um ein historisches Gebäude gehandelt hätte, wäre es schon vor Jahren abgerissen worden.
Andi hatte die Offenlegung des Verkäufers gesehen, in der alle Makel des Hauses aufgelistet waren. Die Liste war seitenlang und führte alle großen Probleme auf – von der überholungsbedürftigen Elektrik bis zu den nicht funktionierenden Rohrleitungen. Der Bauinspektor, den Andi angeheuert hatte, um sich das Haus anzusehen, hatte auf halbem Weg aufgegeben und ihr das Geld zurückgegeben. Dann hatte der Makler versucht, ihr ein zauberhaftes Apartment mit Blick über den Jachthafen zu zeigen.
Doch Andi hatte sich geweigert. Sie hatte in der Sekunde, in der sie das alte Haus zum ersten Mal gesehen hatte, gewusst, dass es genau das war, wonach sie suchte. Es war einst voller Versprechen gewesen. Zeit und Umstände hatten zu seinem jetzigen Zustand geführt – ungeliebt und im Stich gelassen. Sie brauchte keinen Abschluss in Psychologie, um zu verstehen, dass sie sich selbst in diesem Haus sah. Sie wusste um ihren Irrglauben, dass, wenn sie das Haus in Ordnung brächte, sie auch sich und ihr Leben in Ordnung bringen würde. Aber etwas zu wissen und es zu tun – oder in ihrem Fall, es nicht zu tun – war nicht das Gleiche. Ihr Kopf mochte ihr aufzeigen, dass das hier ein riesengroßer Fehler war, aber ihr Herz hatte sich bereits verliebt.
Angesichts ihrer kürzlich in aller Öffentlichkeit zerbrochenen Verlobung kam es ihr wesentlich sicherer vor, sich in ein Haus zu verlieben als in einen Mann. Wenn das Haus sie vor dem Altar stehen ließe, könnte sie es wenigstens bis auf die Grundmauern niederbrennen.
Als sie jetzt vor der dreistöckigen Katastrophe parkte, lächelte sie. „Ich bin hier“, flüsterte sie und gab sich und dem Haus ein Versprechen. „Ich werde dich in neuem Glanz erstrahlen lassen.“
Die letzten drei Monate waren ein Albtraum aus Logistik und Schuldzuweisungen gewesen. Eines der Drei-Schwestern-Häuser zu kaufen hatte es ihr ermöglicht, an etwas anderes zu denken. Dokumente für ihren Kreditantrag zu mailen hatte mehr Spaß gemacht, als ihrer Großcousine zu erklären, dass Matt sie tatsächlich nach über zehn Jahren Beziehung am Altar hatte stehen lassen. Er hatte sogar gesagt, dass ihre Entscheidung zu heiraten so plötzlich gekommen sei und er mehr Zeit bräuchte. Und ja, er hatte zwei Wochen später in Las Vegas seine Sekretärin geheiratet. Sie weigerte sich, an die Unterhaltungen zu denken, die sie darüber mit ihrer Mutter geführt hatte.
Aber zu wissen, dass sie Seattle bald für Blackberry Island verlassen würde, hatte sie weitermachen lassen. Sie hatte sich auf ihre Flucht konzentriert. Dann hatte sie ihr Leben in der Stadt zusammengepackt und war nach Norden gefahren.
Andi schloss ihre Hand um die Schlüssel, die sie vom Makler bekommen hatte, und spürte, wie das Metall sich in ihre Haut grub. Der Schmerz brachte sie in die Gegenwart zurück, zu diesem Moment, der voller Möglichkeiten war.
Sie stieg aus dem Auto und starrte das heruntergekommene Haus an. Aber anstelle von vernagelten Fenstern und einer durchhängenden Veranda sah sie, wie es einmal sein würde. Neu. Strahlend. Ein Haus, das die Leute bewundern würden. Kein Verstoßener. Wenn das Haus erst renoviert würde, könnte Andi ihre Mutter anrufen und darüber reden. Das wäre eine wesentlich bessere Unterhaltung als ihr zuzuhören, wie sie alles auflistete, was Andi in ihrem Leben verbockt hatte. Zum Beispiel, dass sie sich nicht für Matt geändert hatte und wie dumm sie gewesen war, sich einen so guten Mann durch die Lappen gehen zu lassen.
Andi drehte sich um und bewunderte den Ausblick. An einem klaren Tag funkelte das Wasser im Puget Sound. Nun gut, klare Tage waren in diesem Teil des Landes eher selten, aber das war für sie okay. Sie mochte den Regen. Den grauen, nieseligen Himmel, das Quietschen ihrer Stiefel auf dem Bürgersteig. Die Düsterkeit sorgte dafür, dass sie die sonnigen Tage noch mehr zu schätzen wusste.
Sie schaute nach Westen, über den Puget Sound hinaus. Die Häuser gewährten einen perfekten Ausblick. Von Kapitänen erbaut, waren sie so ausgerichtet, dass man die Schiffe beobachten konnte, die in den Hafen segelten. Im späten 19. Jahrhundert war die Seefahrt für diese Gegend sehr wichtig gewesen und noch nicht von den Versprechungen der Holzindustrie verdrängt worden.
Das hier ist richtig, dachte sie glücklich. Hier gehörte sie her. Oder würde es zumindest mit der Zeit tun. Wenn die Renovierungen anfingen, sie zu ermüden, würde sie einfach die Aussicht betrachten. Der Tanz des Wassers und die Halbinsel dahinter waren etwas ganz anderes als die Hochhäuser in Seattles Innenstadt. Die Stadt mochte nur wenige Stunden entfernt liegen, aber verglichen mit Blackberry Island war sie ein anderer Planet.
„Hallo! Sind Sie die neue Besitzerin?“
Andi drehte sich um und sah eine Frau auf sich zukommen. Sie war mittelgroß und hatte lange, dunkelrote Haare, die ihr über den Rücken fielen. Sie trug Jeans und Clogs und einen elfenbeinfarbenen Strickpulli, der ihr gerade bis zu den Hüften reichte. Ihr Gesicht ist eher interessant als hübsch, dachte Andi, als die Frau näher kam. Sie hatte hohe Wangenknochen und große grüne Augen, ihre blasse Haut war vermutlich eine Mischung aus Genen und Mangel an Sonnenlicht.
„Hi. Ja, das bin ich.“
Die Frau lächelte. „Endlich. Das arme Haus. Es war so einsam. Oh, ich bin übrigens Boston. Boston King.“ Sie zeigte auf das Haus mit der Vogelskulptur im Vorgarten. „Ich wohne dort.“
„Andi Gordon.“
Sie schüttelten einander die Hand. Schwaches Sonnenlicht brach durch die Wolken und brachte die violetten Strähnen in Bostons Haaren zum Leuchten.
Andi befühlte ihre eigenen dunklen Haare und fragte sich, ob sie auch etwas so Dramatisches tun sollte. Bisher hatte sie sich höchstens zum Spitzenschneiden durchringen können.
„Sind Sie irgendwie mit Zeke King verwandt?“, fragte sie. „Er ist der Bauunternehmer, mit dem ich wegen des Hauses gemailt habe.“
Bostons Miene hellte sich auf. „Das ist mein Mann. Ihm und seinem Bruder gehört eine Firma hier auf der Insel. Er hat erwähnt, dass er mit der neuen Besitzerin des Hauses in Kontakt steht.“ Sie neigte den Kopf. „Aber er hat mir sonst nichts über Sie verraten, und ich sterbe vor Neugier. Haben Sie ein paar Minuten Zeit? Ich habe gerade eine frische Kanne Kaffee aufgesetzt.“
Andi dachte an die Putzsachen im Kofferraum ihres SUV. Der Umzugswagen würde am nächsten Morgen kommen, und sie musste das Haus noch vorbereiten. Aber in der kleinen Sackgasse standen nur drei Häuser, und eine ihrer neuen Nachbarinnen kennenzulernen erschien ihr genauso wichtig.
„Eine Tasse Kaffee wäre toll“, sagte sie.
Boston ging über den verwilderten Rasen voraus zu ihrem Grundstück und dann die paar Stufen zu ihrer Haustür hinauf. Andi fiel auf, dass sich auf den dunkelblau gestrichenen Dielen des Verandabodens Sterne und Planeten tummelten. Die Haustür war aus dunklem Holz mit Buntglasscheiben.
Die bunte Mischung aus traditionellem Dekor und künstlerischem Chaos setzte sich im Eingangsbereich fort. Neben einem Garderobenständer stand eine Bank im Shaker-Stil. An der Wand hing ein Spiegel, der von silbernen Eichhörnchen und Vögeln umrahmt war. Das Wohnzimmer zur Linken war mit bequemen Sofas und Sesseln eingerichtet, über dem offenen Kamin hing das Gemälde einer nackten Fee.
Boston führte sie durch einen schmalen Flur mit blutroten Wänden in eine helle, offene Küche. Hier gab es kobaltblaue Schranktüren, Edelstahlarmaturen und eine Arbeitsplatte aus blaugrauem Marmor. Der Geruch nach Kaffee vermischte sich mit Zimt- und Apfelduft.
„Setzen Sie sich“, sagte Boston und zeigte auf die Hocker am Frühstückstresen. „Ich habe gerade ein paar Scones aufgebacken. Dazu gibt es Apfelmus mit Zimt aus dem letzten Herbst.“
Andi dachte an den Müsliriegel und den Becher Kaffee, die ihr Frühstück gewesen waren, und ihr Magen fing an zu knurren. „Das klingt super. Danke.“
Sie nahm Platz. Boston holte ein Backblech mit zwei großen Scones aus dem Ofen und reichte Andi einen Teller, dann schenkte sie Kaffee ein.
„Für mich bitte einfach schwarz“, sagte Andi.
„Ah, eine echte Kaffeetrinkerin. Ich muss mein Koffein in Haselnuss- und Vanillearoma ertränken.“
Andi schaute sich um. Über der Spüle war ein großes Fenster und ein weiteres in der Essecke. Eine Wand wurde fast vollständig von einem großen Vorratsschrank eingenommen. Nur die Hintertür war noch original, die übrige Küche war komplett modernisiert.
„Ich liebe Ihr Haus“, sagte Andi. „Ich bin nicht sicher, ob meine Küche in den letzten sechzig Jahren auch nur einmal gestrichen wurde.“
Boston nahm zwei Messer aus einer Schublade und drehte sich zu Andi um. „Wollen wir uns jetzt, wo wir Nachbarn sind, nicht duzen?“, fragte sie und reichte Andi eines der Messer. Dabei klimperten die silbernen Anhänger an ihrem Armband.
„Gerne.“ Andi bestrich ihr Scone mit Apfelmus.
„Wir haben dein Haus bei der Besichtigung gesehen. Die Küche ist ziemlich Fünfzigerjahre“, sagte Boston.
„Ach, der Retrolook macht mir nichts“, sagte Andi. „Aber dass nichts funktioniert … Ich mag es irgendwie, den Wasserhahn aufzudrehen und heißes Wasser zu haben. Und ich mag auch Kühlschränke, die die Lebensmittel kühl halten.“
Boston grinste. „Ah, du bist also eine von den Anspruchsvollen.“
„Offensichtlich.“
„Ich weiß, dass Zeke Pläne gezeichnet hat. Ich habe sie nicht alle gesehen, aber er und sein Bruder leisten wundervolle Arbeit.“
Andi schaute sich in der Küche um. „Hat er auch euer Haus renoviert?“
„Ja. Vor ungefähr sechs Jahren.“ Boston nahm ihren Kaffeebecher in die Hand. „Wo hast du vorher gewohnt?“
Die Insel war so klein, dass Bostons Annahme, sie sei nicht von hier, Andi nicht überraschte. „In Seattle.“
„Oh, in der großen Stadt. Dann wird das hier eine ganz schöne Veränderung für dich.“
„Ich bin bereit für eine Veränderung.“
„Hast du Familie?“
Andi wusste, dass sie damit nicht Eltern oder Geschwister meinte. „Nein.“
Boston wirkte überrascht. „Das ist ein ziemlich großes Haus.“
„Ich bin Ärztin. Kinderärztin. Das Erdgeschoss will ich zu meiner Praxis umbauen und oben wohnen.“
Bostons Schultern schienen sich zu verspannen. „Oh, das ist clever. So ersparst du dir den Arbeitsweg.“ Sie schaute aus dem Fenster über der Spüle zu Andis Haus. „Es gibt genug Parkplätze, und ich kann mir vorstellen, dass der Umbau nicht sonderlich schwierig wird.“
„Die größte Aufgabe wird sein, die Küche nach oben zu verlegen. Ich wollte das Haus aber sowieso entkernen, also wird das den Preis für die Bauarbeiten nicht sonderlich in die Höhe treiben.“ Sie griff nach ihrem Scone. „Wie lange wohnst du schon auf der Insel?“
„Ich bin hier aufgewachsen“, erklärte Boston. „Sogar in diesem Haus. Ich habe nie irgendwo anders gelebt. Als Zeke und ich anfingen, miteinander auszugehen, habe ich ihn gewarnt, dass ich mit knapp dreihundert Quadratmetern Gepäck komme.“ Ihr Lächeln verblasste ein wenig. „Er hat gesagt, das würde ihm an mir gefallen.“
Andi biss in ihr Scone und genoss die Mischung aus saurem Apfel und Zimt. „Arbeitest du außerhalb?“
Boston schüttelte den Kopf. „Ich bin Künstlerin. Hauptsächlich im Bereich Textilien, in letzter Zeit hingegen …“ Ihre Stimme verebbte und etwas Dunkles trat in ihre Augen. „Manchmal fertige ich Porträts an. Ich bin für die meisten seltsamen Sachen, die du hier siehst, verantwortlich.“
„Ich liebe die Veranda.“
„Wirklich? Deanna hasst sie.“ Boston zog die Nase kraus. „Das würde sie natürlich nie laut sagen, aber ich höre sie jedes Mal seufzen, wenn sie einen Fuß daraufsetzt.“
„Deanna?“
„Unsere andere Nachbarin.“
„Ihr Haus ist wunderschön.“
„Ja, oder? Du solltest es mal von innen sehen. Ich bin sicher, dass sie dich einladen wird. Die vorderen Räume sind alle originalgetreu eingerichtet. Die Historische Gesellschaft liebt sie.“ Boston schaute wieder aus dem Fenster. „Sie hat fünf Töchter. Oh, das sind dann ja Kunden für dich.“ Sie runzelte die Stirn. „Oder heißt es Klienten?“
„Patienten.“
Boston nickte. „Richtig. Die Mädchen sind sehr süß.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Und das war es auch schon mit der Nachbarschaft. Nur wir drei. Ich bin so froh, dass jemand ins mittlere Haus einzieht. Es steht schon seit Jahren leer, und ein verlassenes Haus kann sehr traurig sein.“
Obwohl Bostons Ton gleich geblieben war, spürte Andi eine Veränderung in der Energie der anderen Frau. Sie sagte sich, dass sie mal wieder „verrückter als normal“ war, wie ihre Mutter es nannte, aber trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los, dass ihre neue Nachbarin froh wäre, wenn sie jetzt ginge.
Schnell aß sie den Rest ihres Scones auf und lächelte dann. „Ich danke dir vielmals für den Koffeinkick und den Snack. Aber ich habe noch so viel zu tun.“
„Ja, ich habe gehört, dass Umzüge anstrengend sind. Ich kann mir nicht vorstellen, irgendwo anders zu leben als hier. Ich hoffe, du wirst in unserer kleinen Straße glücklich.“
„Da bin ich mir sicher.“ Andi stand auf. „Es war schön, dich kennenzulernen.“
„Finde ich auch“, sagte Boston und begleitete sie zur Haustür. „Komm gerne jederzeit vorbei, wenn du etwas brauchst. Das schließt eine heiße Dusche ein. Wir haben ein Gästebad, nur für den Fall, dass das Wasser abgestellt wird.“
„Das ist sehr nett von dir, aber wenn das Wasser abgestellt wird, ziehe ich in ein Hotel.“
„Das hat Stil.“
Andi winkte und trat auf die Veranda hinaus. Dort blieb sie eine Sekunde stehen und schaute sich ihr Haus aus der Perspektive ihrer Nachbarn an. Auf dieser Seite gab es mehrere gesprungene Fensterscheiben. Ein Teil der Hausverkleidung hing herunter und an einigen Stellen war die Farbe abgeplatzt. Der Garten war von Unkraut überwuchert.
„Schön ist wirklich etwas anderes“, murmelte sie und kehrte zu ihrem Wagen zurück.
Keine Sorge, sagte sie sich. Sie würde sich noch einmal die Pläne für den Umbau anschauen und sich gleich am Samstag mit Zeke treffen, um den Vertrag zu unterschreiben. Dann könnten die Arbeiten beginnen.
In der Zwischenzeit musste sie sich auf die Ankunft des Umzugsunternehmens vorbereiten. Sie hatte sich oben schon ein Zimmer ausgesucht, in dem sie ihre Möbel lagern würde. Während der Umbauarbeiten wollte sie in den beiden kleinen Zimmern im Dachgeschoss wohnen. Sie waren nicht schön, aber zweckmäßig. Das größere von beiden könnte als Wohnzimmer und Pseudo-Küche dienen. Sie würde einfach nur Sachen essen, die sie im Toaster oder in der Mikrowelle erwärmen konnte.
Das winzige Bad im Dachgeschoss hatte eine Dusche, die offensichtlich für Leute gemacht war, die nicht größer als eins fünfzig waren, und die Armaturen stammten aus den Vierzigerjahren, aber immerhin funktionierte alles. Zeke hatte versprochen, als Erstes einen Heißwasserboiler einzubauen.
Sie hatte, was sie brauchte, um die dreimonatige Renovierung zu überleben. Auch wenn sie Zeke gesagt hatte, dass alles Anfang Juli fertig sein sollte, hatte sie vor, ihre Praxis erst Anfang September zu eröffnen, sodass sie einen ausreichenden zeitlichen Puffer hatte. Sie hatte genug Renovierungssendungen im Fernsehen gesehen, um zu wissen, dass es oft zu zeitlichen Verzögerungen kam.
Andi nahm die Putzmittel aus dem Kofferraum ihres SUV. Sie musste das Zimmer putzen, das sie als Möbellager nutzen wollte, und dann das Badezimmer in Angriff nehmen. Danach würde sie sich mit einem Pulled-Pork-Sandwich von Arnie’s belohnen. Ihr Makler hatte ihr versichert, dass das Essen dort hervorragend sei.
Vorsichtig stieg sie die Treppe zur Haustür hinauf. Zwei der acht Stufen waren lose. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn herum. Dann betrat sie das Foyer.
Anders als in Bostons Haus gab es hier kein ausgewähltes Arrangement an charmanten Möbeln, keine Vorhänge und nichts, das auch nur im Entferntesten behaglich wirkte. Der Geruch nach Verfall und Schmutz vermischte sich mit dem Gestank von ehemaligen Bewohnern der Nagetiergattung. Die Tapete hing von wasserfleckigen Wänden, und mehrere der Wohnzimmerfenster waren mit Sperrholz vernagelt.
Andi stellte ihren mit Putzmitteln vollgepackten Eimer und die Tasche mit Putzlappen und Haushaltsrollen ab, streckte ihre Arme seitlich aus und drehte sich einmal im Kreis. Vor Vorfreude fing sie an zu kichern, als sie das dreidimensionale Desaster musterte, das ihr neues Zuhause war.
„Du wirst so glücklich werden“, flüsterte sie. „Ich werde dich zum Strahlen bringen.“ Sie grinste. „Tja, ich und die Bauarbeiter. Du wirst schon sehen. Wenn alles fertig ist, geht es uns beiden besser.“
Wenn das Haus fertig sein würde, würde sie sich hier auf der Insel eingelebt haben. Ihr Exverlobter wäre nicht mehr als eine abschreckende Geschichte, und sie würde anfangen, eine blühende Praxis aufzubauen. Sie wäre nicht länger die Versagerin der Familie oder die Frau, die dumm genug gewesen war, zehn Jahre ihres Lebens an einen Mann zu vergeuden, der versucht hatte, sie zu verändern, bevor er sie fallen ließ und zwei Wochen später eine andere heiratete. Sie würde sich keine Sorgen darüber machen müssen, gut genug zu sein.
„Wir werden nicht so perfekt sein wie das Haus zur Linken oder so künstlerisch wie das auf der anderen Seite, aber es wird uns gut gehen. Du wirst schon sehen.“
Die Worte waren wie ein Versprechen. Und sie war immer gut darin gewesen, ihre Versprechen zu halten.
Deanna Philips starrte das Foto an. Das Mädchen war hübsch – vielleicht fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig – und hatte dunkle Haare. Aufgrund der Pose konnte sie die Augenfarbe nicht erkennen. Die Frau hatte die Arme um einen Mann geschlungen, die Lippen an seine Wange gepresst. Er schaute zur Kamera, und das Mädchen sah ihn an.
Der Schnappschuss war in einem glücklichen Moment aufgenommen worden. Der Mann lächelte, die junge Frau lehnte sich zu ihm, das Knie gebeugt, ein Fuß erhoben. Alles an diesem Foto war charmant. Sogar bezaubernd. Nur leider war der fragliche Mann Deannas Ehemann.
Sie stand im Schlafzimmer und lauschte dem Geräusch der Dusche. Es war kurz nach sechs Uhr morgens, aber Colin war schon seit fünf Uhr auf. Erst war er laufen gegangen, dann hatte er gefrühstückt, und nun duschte er. Um halb sieben würde er aus der Tür sein. Er würde ins Büro fahren und sich von dort auf den Weg machen. Colin musste für seine Arbeit viel reisen, und sie würde ihn erst Ende der Woche wiedersehen.
Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Er hat mich betrogen. Er war so dumm, ein Bild auf seinem Handy zu behalten. Er hat mich betrogen. Wen hat es noch gegeben? Wie viele andere? Er hat mich betrogen. Ihr Magen zog sich zusammen und wogte wie ein Schiff im Sturm. Hätte sie etwas gegessen, würde sie sich jetzt übergeben. So jedoch erschauerte sie nur, und auf ihrem gesamten Körper bildete sich eine Gänsehaut. Ihre Beine zitterten.
„Reiß dich zusammen“, flüsterte sie. Sie hatte nicht viel Zeit. In weniger als einer halben Stunde würde sie die Mädchen wecken und für die Schule fertig machen müssen. Sie wurde heute Vormittag in der Schule der Zwillinge erwartet. Danach musste sie zur Arbeit. Es gab Dutzende Einzelheiten, Tausende Aufgaben und Jobs und Verantwortlichkeiten. Nichts davon verschwand, nur weil Colin sie auf die schlimmstmögliche Weise hintergangen hatte.
Ihre Augen brannten, doch sie weigerte sich, zu weinen. Tränen bedeuteten Schwäche. Immer noch das Handy umklammernd, überlegte sie, was sie tun sollte. Ihn zur Rede stellen? Das wäre die logische Entscheidung. Sie sollte etwas sagen. Nur wusste sie nicht, was. Sie war noch nicht bereit. War nicht –
Das Rauschen von Wasser verstummte, als Colin die Dusche abstellte. Deanna legte das Handy leise wieder zurück auf die Kommode neben die Brieftasche und die Schlüssel ihres Mannes. Sie hatte es nur genommen, um sich die Fotos vom letzten Softballspiel anzusehen. Mit den Bildern wollte sie die Facebook-Seite ihrer Familie auf den neuesten Stand bringen. Stattdessen hatte sie Verrat gefunden.
Ich brauche Zeit, erkannte sie. Zeit, um herauszufinden, was los war. Was das alles zu bedeuten hatte. Welches ihre nächsten Schritte sein würden. Gab es überhaupt nächste Schritte?
Sie nahm sich ihren Bademantel und zog ihn über. Dann eilte sie nach unten ins Büro und schaltete ihren Computer ein. Sie bemerkte, dass ihre Finger zitterten, als sie den Knopf auf ihrem Laptop drückte. Sie saß in dem großen Ledersessel und schlang die Arme um sich. Ihre Füße waren kalt, aber sie würde nicht ins Schlafzimmer zurückgehen, um sich ihre Hausschuhe zu holen. Sie konnte nicht. Ich würde auseinanderbrechen, dachte sie. Ihre Zähne klapperten. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie in eine Million Teile zerspringen.
Der Computer summte und zirpte, während er hochfuhr. Schließlich kam das Hintergrundfoto zum Vorschein. Es zeigte eine perfekte Familie – Vater, Mutter, Töchter. Alle blond, attraktiv, fröhlich. Sie waren am Strand, trugen alle elfenbeinfarbene Pullover und Jeans; ein Gewusel aus Armen und Beinen, die Zwillinge in der Hocke vorne, die älteren Mädchen hinter ihnen. Colin hat seine Arme um mich geschlungen, dachte Deanna. Sie lachten. Waren glücklich.
Was zum Teufel war schiefgegangen?
„Geht es dir gut?“
Sie schaute auf und sah ihren Mann im Türrahmen stehen. Er trug den dunkelblauen Anzug, den sie für ihn ausgewählt hatte. Der Mann hatte einen fürchterlichen Geschmack, was Kleidung anging. Die Krawatte gefiel ihr nicht, na und? War das heute wirklich wichtig?
Sie musterte ihn und fragte sich, wie andere Frauen ihn wohl sahen. Er war attraktiv, das wusste sie. Groß, mit breiten Schultern und blauen Augen. Er hielt sich fit. Sie war stolz darauf, dass ihr Mann in Jeans und T-Shirt immer noch gut aussah. Anders als viele andere Männer seines Alters hatte Colin sich keinen Bierbauch zugelegt. Er würde nächstes Jahr vierzig werden. Hatte die andere Frau damit zu tun? Hatte er eine Midlife-Crisis?
„Deanna?“
Sie merkte, dass er sie fragend anschaute. „Mir geht es gut.“ Sie war sich nicht sicher gewesen, ob sie in der Lage sein würde zu sprechen, aber irgendwie brachte sie die Worte heraus.
Er fuhr fort, sie zu mustern, als erwarte er mehr. Sie befeuchtete sich die Lippen, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Zeit, dachte sie verzweifelt. Sie brauchte wirklich mehr Zeit.
Sie schob ihre Hände unter den Tisch, damit er nicht sah, wie sie zitterten.
„Mein Magen macht mir heute Morgen etwas Probleme. Ich habe wohl etwas Falsches gegessen.“
„Kommst du klar?“
Sie wollte ihn anschreien, dass sie natürlich nicht klarkäme. Wie konnte er das nur fragen? Er hatte alles, was sie hatten, genommen und zerstört. Er hatte sie zerstört. Alles, wofür sie gearbeitet hatte, alles, was sie wollte, war weg. Sie würde ihn verlassen müssen. Würde eine dieser verzweifelten alleinerziehenden Mütter werden. Guter Gott, sie hatte fünf Kinder. Fünf Töchter. Das würde sie alleine nicht schaffen.
„Mir geht es gut“, sagte sie. Alles, damit er ging. Sie brauchte Zeit, um zu denken, zu atmen, zu verstehen. Sie brauchte einen Moment, um sich von dem Schock zu erholen.
„Ich bin am Donnerstag zurück“, sagte er. „Ich werde die Woche über in Portland sein.“
Solche Dinge erzählte er ihr immer. Einzelheiten. Sie hörte nie zu. Sie und die Mädchen hatten ihre eigene Routine. Sie waren es gewohnt, dass Colin unter der Woche nicht da war.
Und jetzt könnte er für immer gehen, erkannte sie. Und was dann? Sie hatte eine Teilzeitstelle in einem Handarbeitsladen. Sie gab Quilting- und Scrapbook-Kurse. Von ihrem Gehalt bezahlten sie Extras wie Ferien und Essengehen. Von dem, was sie verdiente, könnte sie nicht einmal ein Aquarium unterhalten, ganz zu schweigen von fünf Mädchen.
Panik breitete sich in ihr aus, wickelte sich um ihr Herz, bis sie glaubte, gleich hier zu sterben. Sie zwang sich, ihren Ehemann weiter anzusehen, sehnte sich verzweifelt danach, sich daran zu erinnern, was normal war.
„Ich hoffe, dort ist es warm“, sagte sie.
„Was?“
„In Oregon. Ich hoffe, ihr habt gutes Wetter.“
Er runzelte die Stirn. „Deanna, bist du sicher, dass es dir gut geht?“
Sie wusste, wenn sie versuchte zu lächeln, würde das in einer Katastrophe enden. „Es ist nur mein Magen. Ich glaube, ich verschwinde mal lieber ins Badezimmer. Fahr vorsichtig.“
Sie erhob sich. Zum Glück trat er zurück, als sie näher kam, so konnte sie an ihm vorbeischlüpfen, ohne ihn zu berühren. Sie eilte die Treppe hinauf und rannte ins Bad. Dort klammerte sie sich an dem marmornen Waschtisch fest und schloss die Augen vor dem blassen, fassungslosen Gesicht, das sie im Spiegel sah.
„Mom, du weißt, dass ich dieses Brot hasse. Warum backst du es trotzdem immer wieder?“
Deanna schaute nicht einmal auf. Sie legte einfach die Sandwiches, die sie am Vorabend zubereitet hatte, in die Lunchbox. Als Nächstes folgten Babymöhren, dann ein Apfel und die Kekse. Flachssamen, dachte sie, als sie den wiederverwendbaren Behälter mit den kleinen Keksen in die Hand nahm. Sie waren mit Flachssamen hergestellt. Nicht gerade die Lieblingskekse ihrer Mädchen, aber gesund.
„Mom!“ Madison stand vor ihr, die Hände in die Hüften gestemmt. Mit zwölf hatte sie bereits einen herablassenden Blick drauf, der auch die stärkste Seele auf der Stelle verkümmern lassen konnte.
Deanna kannte den Blick und auch seine Ursache – vor allem deshalb, weil sie ihrer Mutter gegenüber vor all den Jahren genauso empfunden hatte. Der einzige Unterschied war, dass ihre Mutter ein Albtraum gewesen war, während Deanna keine Ahnung hatte, was sie getan hatte, damit ihre Tochter sie so sehr hasste.
„Madison, dafür habe ich heute nicht die Nerven. Bitte. Nimm einfach dein Sandwich.“
Ihre Tochter funkelte sie weiter böse an, dann stapfte sie davon und murmelte etwas, das verdächtig klang wie: „Du bist so eine Bitch.“ Aber Deanna war sich nicht sicher, und an diesem Morgen war das eine Schlacht, in die sie nicht ziehen wollte.
Um acht Uhr hatten alle fünf Mädchen das Haus verlassen. In der Küche herrschte das übliche Chaos aus Schüsseln in der Spüle, Tellern auf dem Tresen und offenen Müslipackungen auf der Arbeitsplatte. Lucy hatte ihre Lunchbox neben dem Kühlschrank liegen lassen, was für Deanna später einen weiteren Zwischenstopp bedeutete. Und Madisons Mantel hing immer noch über dem Barhocker am Tresen.
Lucys Vergesslichkeit war nichts Neues und ganz sicher nichts Persönliches, was sich über Madison und den Mantel nicht sagen ließ. Keine achtundvierzig Stunden, nachdem ihre Älteste den wasserabweisenden roten Mantel als perfekt bezeichnet und betont hatte, dass sie ihn unbedingt haben musste, hatte sie ihn schon gehasst. Seit diesem Shoppingausflug Ende September stritten sie und Madison sich über das Kleidungsstück, wobei ihre Tochter darauf beharrte, dass ein neuer Mantel gekauft werden müsste, was Deanna verweigerte.
Irgendwann im Oktober hatte Colin gesagt, sie sollten ihr eine neue Jacke kaufen – es wäre die Streitigkeiten nicht wert. Lucy gefiel der rote Mantel, und bis zum Herbst würde er ihr vermutlich passen. Wenn Madison ihn das ganze Jahr über tragen würde, würde er zu abgenutzt sein, um ihn weiterzugeben.
Noch ein Moment, in dem Colin mich nicht unterstützt hat, dachte Deanna verbittert. Ein weiteres Beispiel dafür, dass ihr Ehemann sich mit ihren Töchtern gegen sie verbündete.
Deanna ging zur Spüle und stellte das Wasser an. Sie wartete, bis es die richtige Temperatur hatte, dann drückte sie genau drei Mal auf den Seifenspender und fing an, sich die Hände zu waschen. Wieder und wieder. Das vertraute Gefühl des warmen Wassers und der glitschigen Seife tröstete sie. Sie wusste, sie sollte das nicht zu lange tun. Dass sie, wenn sie nicht aufpasste, zu weit ging. Und deshalb spülte sie ihre Hände ab, lange bevor sie dazu bereit war, holte eines der Baumwollhandtücher aus der Schublade unter der Spüle und trocknete sie ab.
Sie verließ die Küche ohne einen Blick zurück. Um das Chaos würde sie sich später kümmern. Doch anstatt in ihr Schlafzimmer im ersten Stock hinaufzugehen, sank sie auf die unterste Treppenstufe und ließ den Kopf in die Hände fallen. Wut mischte sich mit Angst und dem beißenden Geschmack der Demütigung. Sie hatte ihr Bestes gegeben, um nicht so zu werden wie ihre Mutter, doch manche Lektionen bekam man nicht wieder aus dem Kopf. Die vertraute Frage „Was werden die Nachbarn denken?“ hatte sich in ihrem Gehirn festgesetzt und weigerte sich, zu verschwinden.
Alle würden reden. Alle würden sich fragen, wie lange die Affäre schon ging. Alle würden annehmen, er betrog sie schon seit Jahren. Immerhin war Colin für seinen Job viel auf Reisen. Auch wenn das Mitgefühl und die beflissene Aufmerksamkeit ihrer Freunde ihr gelten würde, würden die anderen Frauen einen Schritt zurücktreten. Sie würden ihre Zeit nicht mit einer geschiedenen Frau verbringen wollen. Die Ehemänner würden sie anschauen und sich fragen, wie sie Colin dazu gebracht hatte, sie zu betrügen. Dann würden sie Colin nach dem Wie und Wo fragen und sich beim Anhören seiner Abenteuer wieder lebendig fühlen.
Deanna wünschte, sie könnte ins Bett krabbeln und den Morgen noch mal von vorne beginnen. Wenn ich nur nicht nach den Fotos gesucht hätte, dachte sie. Dann wüsste sie es nicht. Aber die Zeit konnte man nicht zurückdrehen, und sie musste sich der Realität von Colins Verrat stellen.
Sie starrte auf den Ring an ihrer linken Hand. Selbst in dem schummrigen Licht glitzerte der große Stein. Sie achtete darauf, die Eheringe alle drei Monate reinigen und die Fassung überprüfen zu lassen, um sicherzugehen, dass sich nichts gelockert hatte. Sie achtete auf so viele Dinge. Sie war ein Dummkopf.
Deanna nahm den Ring vom Finger und warf ihn quer durch den Flur. Er prallte von der Wand ab und rollte in die Mitte des gebohnerten Holzfußbodens. Dann bedeckte sie ihr Gesicht mit den Händen und ließ den Tränen freien Lauf.
Boston King stellte die Vase auf den kleinen, handbemalten Tisch, den sie aus dem Gästezimmer geholt hatte. Die Tischplatte war weiß, die Beine blassgrün. Vor Jahren hatte sie ein Band aus Tulpen an den Rand gestempelt, ein perfektes Echo der Blumen, die sie nun arrangierte, bis sie den richtigen Eindruck von lässiger Unordnung machten.
Sie zupfte ein langes, dunkelgrünes Blatt zurück, schob die Blüte der gelben Tulpe etwas näher zu der pinkfarbenen. Als sie mit ihrem Werk zufrieden war, hob sie den kompletten Tisch an und trug ihn ein paar Schritte weiter, sodass er direkt in einem Strahl aus hellem Sonnenlicht stand. Dann setzte sie sich auf ihren Hocker, nahm ihren Block und den Stift in die Hand und fing an zu zeichnen.
Ihre Hand bewegte sich schnell und selbstbewusst. Ihr Kopf wurde immer klarer, als sie sich auf die Formen, Kontraste und Linien konzentrierte, bis sie nicht länger ein Objekt sah, sondern nur noch seine Teile. Teile des Ganzen, dachte sie mit einem Lächeln. Sie erinnerte sich an einen ihrer Lehrer, der immer gesagt hatte: „Wir sehen die Welt auf molekularer Ebene. Die einzelnen Steine, die das Gebäude bilden, nicht das Endresultat.“
Die erste Blume erblühte auf dem Papier. Aus einem Impuls heraus griff Boston nach einem Stück Kreide, weil sie hoffte, die Reinheit der gelben Blütenblätter einfangen zu können. Während sie die Kreide über das Papier führte, klimperte ihr Armband in der vertrauten Melodie. Ihre Augen fielen zu und gingen dann wieder auf.
Grau. Sie hatte das Grau genommen, nicht das Gelb. Den dunkleren ihrer Grautöne, beinahe schwarz. Das Stück war klein und abgenutzt, aber scharf. Sie hielt ihre Kreiden immer angespitzt. Dann bewegte sich ihre Hand wieder, schneller als zuvor. Die Linien hatte sie so verinnerlicht, dass ihre Bewegungen beinahe schon Gewohnheit waren.
Was eben noch eine Blume gewesen war, wurde nun etwas viel Schöneres, Wertvolleres. Ein paar weitere Striche, und sie betrachtete das Gesicht eines Babys. Liam, dachte sie und strich mit den Fingern über das Bild, verwischte und verblendete die harten Linien, bis sie genauso schläfrig waren wie der Junge.
Sie fügte ein paar Details im Hintergrund hinzu, dann musterte sie das Ergebnis. Ja, sie hatte ihn eingefangen, die Rundung seiner Wange, das Versprechen der Liebe in seinen halb geschlossenen Augen. Ihr geliebter Junge.
In die untere rechte Ecke des Papiers schrieb sie ihre Initialen und das Datum und riss es dann vom Block, um es auf die anderen zu legen, die sich bereits stapelten. Mit ihrem Tee in der Hand ging sie zum Fenster und schaute hinaus in den hinteren Garten.
Fichten säumten das hintere Ende ihres Grundstücks. Vor ihnen schwankten die Wachsmyrten in der nachmittäglichen Brise. Sie alle hatten den großen Sturm im letzten Winter überlebt. Die letzten ihrer Tulpen tanzten, sie hatten ihr Versprechen des nahenden Frühlings bereits gegeben. In der nächsten Woche würde sie den Rest ihres Gartens bepflanzen. Sie liebte es, frisches Gemüse zu haben, auch wenn sie nicht die beinahe fanatische Besessenheit ihrer Nachbarin Deanna teilte, wann immer möglich nur selbst gezogenes Gemüse zu essen.
Sie war sich der Stille bewusst und fühlte mehr den steten Schlag ihres Herzens, als dass sie ihn hörte. Das war es, woraus ihre Tage in letzter Zeit bestanden. Aus Stille. Nicht aus Ruhe. Ruhe hatte eine erholsame Energie. In der Ruhe könnte sie Frieden finden. In der Stille gab es nur die Abwesenheit von Geräuschen.
Sie drehte sich um und ging in den vorderen Teil des Hauses. Der große Umzugswagen auf Andis Auffahrt erwachte grollend zum Leben. Er stand seit dem frühen Morgen da. Zeke hatte ihr von Andis Plänen erzählt, den Großteil ihrer Möbel in einem Zimmer im ersten Stock zu lagern und während der Umbauphase im Dachgeschoss zu wohnen. Boston beneidete die Umzugsleute nicht darum, die schweren Möbel die enge Treppe hinaufschleppen zu müssen.
Als hätten ihre Gedanken ihn heraufbeschworen, fuhr ihr Mann mit seinem zerbeulten roten Pick-up um den zurücksetzenden Möbelwagen herum und zu ihrem Haus hinauf. Sie sah zu, wie er den Wagen abstellte, ausstieg und auf den Seiteneingang zukam.
Er bewegte sich noch so leicht und elegant wie damals, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Sie war erst fünfzehn gewesen – frisch auf der Highschool auf dem Festland. Es war die erste Unterrichtswoche, und sie klammerte sich an ihre Freundinnen wie ein mutterloses Äffchen, das im Dschungel verlassen worden war. Er war schon im Abschlussjahr. Sexy. Im Footballteam. Trotz der Hitze des Septembernachmittags hatte er stolz seine Teamjacke getragen.
Sie hatte einen Blick auf ihn geworfen und sich sofort verliebt. In dem Moment hatte sie gewusst, dass er der Eine war. Er zog sie gerne damit auf, dass er länger gebraucht hatte. Dass er sein Schicksal erst akzeptierte, nachdem er zehn Minuten mit ihr geredet hatte.
Seitdem waren sie zusammen. Sie hatten geheiratet, als sie zwanzig war und er zweiundzwanzig. Ihre Liebe hatte nie geschwankt, und sie waren so glücklich miteinander gewesen, dass sie die Familienplanung zurückgestellt hatten. Sie wollte sich eine Karriere aufbauen, und er war mit seiner Firma beschäftigt. Es gab eine ganze Welt zu entdecken. Ihr Leben war perfekt gewesen.
„Hey, Babe“, rief Zeke, als er durch die Küchentür trat. „Unsere Nachbarin ist eingezogen.“
„Ich hab’s gesehen.“
Er kam aus der Küche und auf sie zu. In seinen Augen schimmerte wie immer Zuneigung, aber auch Sorge. Denn in den letzten sechs Monaten schienen sie mehr zu stolpern, als es richtig hinzubekommen.
Es läuft alles auf Schuld hinaus, dachte sie und umklammerte ihre Teetasse fester. Vom Kopf her wussten sie, dass keiner von ihnen schuld war, aber in ihren Herzen … Nun, sie konnte nichts über sein Herz sagen, ihres jedenfalls hatte sich in eine gähnende Leere verwandelt. In letzter Zeit fragte sie sich immer öfter, ob die Liebe in einem schwarzen Loch überhaupt überleben konnte.
„Ihre Renovierung wird einen starken Effekt auf unser diesjähriges Geschäftsergebnis haben“, sagte Zeke. „Du wirst nett zu ihr sein, okay?“
Sie lächelte. „Ich bin immer nett.“
„Ich meine ja nur, vielleicht solltest du dich so lange zurückhalten, über die Kräfte zu reden, die aus der Erde fließen, bis wir die Schecks eingelöst haben.“
Boston verdrehte die Augen. „Ich habe nur ein einziges Mal die Sommersonnenwende gefeiert, und das war, um nett zu meiner Freundin aus dem Kunstkurs zu sein, den ich gegeben habe.“
„Du kannst auch ganz schön seltsam sein, ohne dass andere Leute daran schuld sind.“
„Blödmann.“
„Spinnerin.“ Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Ich hole nur schnell mein Zeug rein.“
Er ging wieder hinaus zu seinem Truck. Boston schaute auf die Uhr und sah, dass es noch zu früh war, um mit den Vorbereitungen fürs Abendessen zu beginnen. Bei diesem schönen Wetter überlegte sie, einfach Hamburger zu grillen. Die ersten der Saison. Am vorigen Wochenende hatte Zeke das Hightech-Grill-Monster aus Edelstahl herausgeholt und konnte es kaum erwarten, es anzufeuern.
Ich könnte einen Salat machen, dachte sie. Vielleicht Andi einladen. Sie musste nach dem langen Umzugstag erschöpft sein, und Boston wusste, dass es in ihrem Haus keine auch nur ansatzfähig funktionierende Küche gab.
Zeke kehrte mit einem Arm voller Pläne und Verträge zurück. In der einen Hand hielt er seine Lunchbox, in der anderen eine kleine Schachtel.
Sie lächelte. „Ist das für mich?“
„Ich weiß nicht. Ich habe es für das schönste Mädchen der Welt gekauft. Bist du das?“
Was auch immer sonst schiefläuft, Zeke ist stets bemüht, dachte sie. Er war ein aufmerksamer Mann, der ihr regelmäßig kleine Geschenke mitbrachte.
Die Geschenke waren nie teuer. Ein neuer Pinsel, eine einzelne Blume, eine antike Spange für ihr Haar. In all den Jahren ihrer Ehe hatte er sich immer große Mühe gegeben, sie wissen zu lassen, dass er an sie dachte. Dass sie ihm wichtig war. Das war Teil des Kitts, der ihre Ehe zusammenhielt.
Sie griff nach dem Schächtelchen, doch er drehte sich weg und hielt es außer Reichweite. „Nicht so schnell, junge Dame.“
Er legte seine Papiere ab und streckte dann langsam die Hand mit der Schachtel aus. Sie nahm sie und ließ die Vorfreude wachsen.
„Diamanten?“, fragte sie, wohl wissend, dass sie beide keinerlei Interesse daran hatten.
„Verdammt. Du wolltest Diamanten? Es ist ein neuer Truck.“
Trotz der Neckerei klang etwas in seiner Stimme anders. Als sie aufschaute, sah sie Unsicherheit in seinen Augen. Langsam öffnete Boston die Schachtel. Ihr Blick fiel auf ein paar winzige, rosafarbene Babyschuhe.
Sie waren aus feinstem Garn gestrickt und hatten eine kleine Spitzenborte und zarte Schnürbänder. Sie waren bezaubernd und mädchenhaft. Bei ihrem Anblick zog sich ihre Brust zusammen. Sie konnte nicht atmen. Ihr wurde eiskalt, und die Schachtel mit den Schuhen rutschte ihr aus den Händen.
„Wie konntest du nur?“, flüsterte sie kaum hörbar. Schmerz schoss durch sie hindurch wie ein scharfes Messer. Sie drehte sich weg, entschlossen, das Monster des Schmerzes in seinem Käfig zu lassen.
Zeke packte ihren Arm. „Boston, schließ mich nicht aus. Wende dich nicht ab. Gib mir etwas, Honey. Wir müssen darüber reden. Es ist sechs Monate her. Wir können immer noch eine Familie haben. Ein weiteres Baby.“
Sie riss sich von ihm los und funkelte ihn an. „Unser Sohn ist gestorben.“
„Glaubst du, das weiß ich nicht?“
„Du benimmst dich nicht so. Du sagst sechs Monate, als wäre das ein Leben. Nun, das ist es nicht. Es ist nichts. Ich werde nie über ihn hinwegkommen, hörst du? Niemals.“
Sie sah, wie die Zuneigung aus den Augen ihres Mannes schwand und von etwas Finsterem ersetzt wurde. „Du tust das ständig“, sagte er. „Du schließt mich aus. Wir müssen den nächsten Schritt machen.“
„Dann mach ihn doch“, gab sie zurück, während sich die vertraute Taubheit über sie legte. „Ich bleibe genau da, wo ich bin.“
Resignation setzte sich in seinen Mundwinkeln fest. „Wie immer“, sagte er. „Na gut. Du willst mehr vom Üblichen? Sollst du haben. Ich gehe. Ich weiß nicht, wann ich zurück sein werde.“
Er zögerte, bevor er sich umdrehte, als wartete er darauf, dass sie ihn bäte, nicht zu gehen. Sie presste die Lippen fest zusammen und wollte, nein, musste allein sein. Er würde losziehen und sich betrinken, und das war für sie in Ordnung. Sie verlor sich in ihren Bildern und er sich in der Flasche. So bekämpften sie ihren jeweiligen Schmerz.
Er schüttelte den Kopf und stapfte nach draußen. Ein paar Sekunden später hörte sie, wie sein Truck ansprang.
Sie wartete, bis das Geräusch des Motors verklang, dann ging sie zurück in ihr Atelier. Als sie eintrat, sah sie nicht das Licht, das durch die hohen Fenster fiel, die Regale, die sorgfältig für ihre Bedürfnisse angefertigt worden waren, die Staffeleien und die leeren Leinwände, die auf ihr Schicksal warteten. Nein, ihr Blick fiel auf die Bilder von Liam. Ihrem Sohn.
Winzige Skizzen und lebensgroße Porträts. Bleistiftzeichnungen und Aquarellfarben. Sie hatte jedes Material benutzt, jedes Medium. Sie hatte Hunderte von Bildern erschaffen, vielleicht sogar Tausende. Seitdem sie ihn beerdigt hatten, war er alles, was sie malen konnte. Alles, was sie erschaffen wollte.
Mit immer noch kaltem Körper und klopfendem Herzen nahm sie ihren Skizzenblock und einen Stift in die Hand. Dann setzte sie sich auf ihren Lieblingshocker und fing an zu zeichnen.
Deanna saß in ihrem Auto auf dem Parkplatz. Der Frühling hatte den Pazifischen Nordwesten erreicht. Neue Blätter reflektierten das Sonnenlicht, und Knospen überzogen die Büsche. Im Park wuchs weiches, grünes Gras, das noch nicht von den Füßen der Kinder zertrampelt worden war, die bald kommen würden, um hier zu spielen.
Sie griff nach ihrem Pappbecher und merkte, dass sie zu sehr zitterte, um ihn zu halten, geschweige denn, ihn an die Lippen zu führen. Sie hatte die letzten zwei Tage zitternd verbracht. Zitternd und nichts essend und in dem Versuch, herauszufinden, wie sie die zerbrochenen Überreste ihres einst perfekten Lebens retten könnte. Sie hatte abwechselnd sich die Schuld gegeben und den Wunsch verspürt, Colin umzubringen. Sie hatte geweint und geschrien, und wenn die Kinder da waren, so getan, als wäre alles in Ordnung. Dann hatte sie einen Plan gefasst.
Auf dem Beifahrersitz neben ihr lagen mehrere Zettel. Notizen, die sie sich gemacht, Telefonnummern und Statistiken, die sie sich aufgeschrieben hatte. Sie hatte alle Papiere der Mädchen und Kopien von ihren und Colins Kontoauszügen dabei.
Ihre Optionen waren begrenzt. Tatsache war, dass sie keine Scheidung wollte. Verheiratet zu sein war Teil ihrer Identität, Teil dessen, was sie immer gewollt hatte, und das würde Colin ihr nicht auch noch nehmen. Also würde sie ihm erklären, dass sie ihm vielleicht vergeben würde, aber niemals vergessen. Dass er sich gehörig würde anstrengen müssen, falls er vorhatte, sie zurückzugewinnen.
Sie hatte verschiedene Waffen, die sie einsetzen würde. Zum einen natürlich die Mädchen. Dann sein Ruf in der Gemeinde. Colin liebte die Insel, aber wenn er sich nicht zusammenriss, würde er verbannt werden.
Eine kleine Stimme in ihrem Kopf flüsterte, dass er die andere Frau vielleicht gar nicht aufgeben wollte. Vielleicht hatte er kein Interesse mehr an seiner Familie. Und mit Familie meinte die Stimme sie, denn niemand konnte anzweifeln, dass Colin seine Mädchen liebte.
Sie ignorierte die Stimme, weil sie wusste, dass sie von einem schwächeren Teil von ihr stammte. Hier war jedoch Stärke gefordert. Und sie würde stark sein. Sie wusste, wie das ging. Sie hatte so viel Schlimmeres als das hier überlebt.
Sie atmete tief ein und beruhigte sich so weit, dass sie ihren Kaffee nehmen und einen Schluck trinken konnte. Sobald Colin zugestimmt hatte, die Affäre zu beenden, würde sie auf einer Paartherapie bestehen. Sie würde wie nebenbei erwähnen, dass sie die Namen einiger guter Anwälte kannte. Anwälte, die nicht sicher waren, dass ein untreuer Ehemann es verdient hatte, viel Zeit mit seinen Kindern zu verbringen.
Das Haus war zum Glück kein Thema. Es gehörte ihr, und das würde so bleiben, bis sie starb. Im Laufe der Jahre hatte sie ein paarmal darüber nachgedacht, auch Colin ins Grundbuch eintragen zu lassen, aber sie hatte es nie getan, wofür sie nun dankbar war.
Sie schaute auf die Uhr. Vor einer Stunde, kurz bevor er nach Hause kommen sollte, hatte sie Colin in einer SMS mitgeteilt, dass sie von der anderen Frau wusste, und ihn gebeten, sich hier mit ihr zu treffen. Die Unterhaltung musste unter vier Augen geführt werden, und mit fünf Mädchen im Haus war Privatsphäre ein seltenes Gut. Madison war bei einer Freundin, für die anderen vier hatte Deanna einen Babysitter engagiert.
Colins zerbeulte Limousine bog neben ihrem SUV ein. Deanna stellte den Kaffee ab und griff nach den Mappen. Als ihre Finger sich um den Türgriff schlossen, überkam sie die Wut. Kalte, dicke Wut, die in ihr den Wunsch weckte, um sich zu schlagen, zu verwunden. Wie konnte er es nur wagen? Sie hatte ihr Leben in den Dienst der Familie gestellt, und das war der Dank dafür?
Sie atmete tief ein, versuchte sich zu beruhigen. Sie musste klar im Kopf bleiben. Sie musste denken können. Sie musste die Kontrolle behalten.
Colin stieg aus dem Wagen und schaute sie über das Dach hinweg an. Er trug immer noch seinen blauen Anzug, allerdings mit einem anderen Hemd und einer anderen Krawatte. Bestärkt durch das Wissen, im Recht zu sein, öffnete sie ihre Tür.
„Hallo, Deanna.“
Hallo? Nicht „Es tut mir leid“? Sie presste die Lippen zusammen und nickte, dann ging sie vor zum Picknicktisch auf dem Rasen. Sie setzte sich auf die Bank, von der aus man einen Blick über den Puget Sound hatte. So hatte sie etwas zum Anschauen, während er um Gnade winselte.
Er setzte sich ihr gegenüber und sah sie an. Sie wartete. Sie war auf seine Erklärungen vorbereitet, auf seine Entschuldigungen. Sie hoffte, ein wenig Angst in seinen blauen Augen zu sehen. Nein, dachte sie grimmig. Sehr viel Angst.
Aber die war nicht da. Er sah aus wie immer. Müde von seiner Reise. Resigniert vielleicht. Er sah beinahe entschlossen aus, fand sie, aber das ergab keinen Sinn.
Er nickte in Richtung der Mappen, die sie in der Hand hielt. „Du hast dich vorbereitet.“
„Das habe ich.“
Er beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Tisch. „Ich habe keine Affäre. Und ich hatte nie eine Affäre.“
„Ich habe das Foto gesehen.“
„Du hast ein Foto gesehen.“
Sie richtete sich auf und straffte die Schultern. „Wenn du hier Haare spalten willst, ist diese Unterhaltung beendet.“
„Ich sage ja nur, dass du ein Foto von mir mit einer Kollegin gesehen hast. Die ganze Firma hat gefeiert. Val hatte sich gerade verlobt. Vor ein paar Wochen hat ihr Freund sich seltsam benommen. Sie dachte, er versuche, die Beziehung zu beenden, aber ich habe ihr geraten, nicht aufzugeben. Wie sich herausstellte, hat er ein romantisches Wochenende geplant, um ihr einen Antrag zu machen. Das Bild ist der Moment, in dem sie sich bei mir bedankt.“
„Mit einem Kuss?“
„Auf die Wange, Deanna. Sie ist noch ein Kind. Ich betrüge dich nicht.“
Sie sah die Wahrheit in seinen Augen. Colin war noch nie ein guter Lügner gewesen. Ein guter Charakterzug für einen Ehemann, dachte sie, als die Erleichterung ihre Angst verdrängte. Die Mappen, die sie in der Hand hielt, fühlten sich auf einmal schwer und übertrieben an.
„Du hättest etwas sagen können“, murmelte sie, weil sie sich bewusst war, dass sie ihm eine Entschuldigung schuldete.
„Du auch.“ Er richtete sich auf und betrachtete sie. „Es tut mir leid, dass du mich für einen Mann hältst, der dich betrügen würde.“
„Ich wusste nicht, was es sonst sein könnte“, gab sie zu. Es war ihr unangenehm, im Unrecht zu sein. „Deine Arbeit ist so abgetrennt von uns. Du hast eine andere Frau geküsst, und du bist ständig unterwegs.“
„Deine Fehlinterpretation ist nicht meine Schuld“, sagte er.
„Ich weiß.“
Ich bin eine Idiotin, dachte sie. Sie musste es erklären und ihren Fehler eingestehen. So liefen diese Dinge nun einmal. „Es ist nur …“ Die Worte blieben ihr in der Kehle stecken.
„Nein“, sagte Colin, als sie nicht fortfuhr. Er schaute sie an. „Nein, das reicht mir nicht.“
„Was?“
„Du entschuldigst dich schon wieder nicht.“
Sie versteifte sich. „Colin!“
„Ich bin es leid. Dich, uns. Ich bin in unserer Ehe nicht glücklich. Und zwar schon seit geraumer Zeit.“
Sie blinzelte. Seine Worte trafen sie direkt in die Brust. Ihr Mund öffnete sich, aber ihr fiel nichts ein, was sie sagen könnte.
Seine Miene verspannte sich. „Ich bin es leid, Deanna. Ich bin es leid, mich mit dir herumschlagen zu müssen. Dir liegt nichts an mir oder an unserer Beziehung. Ich bin nicht sicher, woran dir überhaupt etwas liegt, außer deinen Willen durchzusetzen und was die anderen Leute über uns sagen. Du scheinst mich definitiv nicht um dich haben zu wollen. Du willst meinen Gehaltsscheck, und dann willst du, dass ich dir aus dem Weg gehe.“
Hitze brannte auf ihren Wangen, während eiskalte Angst ihre Brust zusammenzog und es ihr unmöglich machte zu atmen.
„Glaubst du, mir fällt nicht auf, wie ungeduldig du mit mir bist, wenn ich versuche, etwas mit den Mädchen zu unternehmen? Du gibst uns allen das Gefühl, unwillkommene Gäste in unserem eigenen Haus zu sein. Für dich ist nichts gut genug. Und wir schon gar nicht. Du maßregelst die Mädchen ständig, und du kannst mich nie einfach machen lassen. Das Haus ist deine Domäne, und du machst verdammt deutlich, dass ich dort nicht willkommen bin.“
„Ich weiß nicht, wovon du redest“, flüsterte sie, erschüttert von seinem plötzlichen Angriff. „Nichts davon ist wahr.“
„Ach ja? Glaubst du das wirklich? Dann haben wir ein größeres Problem, als ich dachte.“ Er schwieg einen Moment. „Ich dachte, es würde besser werden. Dass du erkennen würdest, was du tust. Aber das hast du nicht und das wirst du nicht. Vielleicht hatte ich Angst vor den Konsequenzen. Ich weiß es nicht. Wie auch immer, ich habe keine Lust mehr zu warten.“
Er stand auf und sah auf sie herab. „Ich bin sicher, du hast alle möglichen Informationen in deinen Mappen, Deanna. Ich weiß nicht, ob du vorhattest, mir eine Heidenangst einzujagen, oder ob du mich rauswerfen wolltest. Mein Fazit wird vermutlich anders ausfallen als deines, aber ich sage es dir trotzdem: Ich will eine echte Ehe. Ich will mich in meinem eigenen Haus willkommen fühlen. Ich bin es leid, dass du ständig sagst, wie es zu laufen hat, und dass du unsere Töchter behandelst wie Hunde, die lernen müssen, stubenrein zu werden, anstatt wie Kinder, die umsorgt werden müssen. Ab sofort wird sich etwas bei uns ändern oder unsere Ehe ist vorbei.“
Er hatte vielleicht noch mehr gesagt, da war sie sich nicht sicher. Sie wusste nur, dass ihr kalt war und sie nicht atmen konnte und ihr Magen schmerzte. Sie versuchte aufzustehen, konnte es aber nicht. Die Mappen fielen zu Boden. Papiere verteilten sich überall.
Er irrte sich. Er irrte sich! Die Worte hallten wieder und wieder durch ihren Kopf. Er lag falsch und war gemein. Sie hasste ihn. Hasste das hier.
Sie drehte sich zu ihm um und wollte ihm das sagen, aber er war bereits weg. Sie sah nur noch seinen Wagen davonfahren. Sie sah ihm nach, bis er um eine Kurve verschwand, und dann war sie allein.
Boston vergrub ihre Hände in der kalten Erde und bewegte ihre Finger in dem losen Mutterboden. Neben sich hatte sie Setzlinge aufgereiht, zarte Bündel, die zu kräftigen Pflanzen heranwachsen würden. In einem Großteil des Gartens säte sie Samen aus, aber seit ein paar Jahren experimentierte sie auch mit Setzlingen. Zu diesem Zweck hatte Zeke ihr extra ein kleines Gewächshaus gebaut. Letztes Jahr hatte sie mit ihren Tomaten Erfolg gehabt. Dieses Jahr waren Brokkoli und Kohl dazugekommen.
Sie griff nach der ersten Pflanze und lehnte sich dann auf ihren Fersen zurück, als sie einen Truck in die Einfahrt einbiegen hörte. Das ist nicht mein Mann, dachte sie. Es war bestimmt ihr Schwager Wade. Der vermutlich hier war, um Zeke zu verteidigen. Einmal großer Bruder, immer großer Bruder. Wade konnte so wenig gegen sein Bedürfnis tun, sich einzumischen, wenn Zeke irgendwelche Schwierigkeiten hatte, wie er seine Größe oder Augenfarbe ändern konnte.
Sie setzte sich im Schneidersitz auf den Rasen und wartete. Ungefähr dreißig Sekunden später kam Wade um die Hausecke.
„Ich dachte mir schon, dass du im Garten bist“, sagte er im Näherkommen.
Boston schaute zu ihm auf. Die Brüder hatten ungefähr die gleiche Größe von knapp eins neunzig und dunkle Haare und Augen. Sie waren stark, umgänglich und unendlich loyal. Außerdem wurden sie von Dämonen getrieben, die keiner von ihnen sich je eingestehen würde, und teilten eine Leidenschaft für Sport, die sie nie verstanden hatte. Sie feierte jedes Jahr ein kleines privates Fest, wenn die Footballsaison endlich vorbei war.
Wade setzte sich neben sie und streckte die langen Beine von sich. Er trug Jeans und abgetragene Arbeitsschuhe, dazu ein kariertes Hemd. Keine Jacke. Die King-Brüder waren zäh und zogen sich erst dann etwas über, wenn die Temperaturen in Richtung Gefrierpunkt sanken.
Sie kannte Wade fast genauso lange wie seinen Bruder. Wenn sie sich recht erinnerte, hatte Zeke sie nach ihrem zweiten Date nach Hause mitgenommen, damit sie seine Familie kennenlernte. Bei Salat und Spaghetti hatte er verkündet, sie eines Tages zu heiraten. Sie musste seinen Eltern zugutehalten, dass sie bei dieser Bemerkung nicht einmal gezuckt hatten. Vermutlich, weil sie glaubten, eine so junge Liebe würde sowieso nicht lange halten.
„Er glaubt, dass du sauer auf ihn bist“, sagte Wade im Plauderton.
„Sollte nicht er diese Unterhaltung mit mir führen?“, fragte sie.
„Du weißt doch, dass Zeke Auseinandersetzungen hasst.“
„Und du nicht?“
Er grinste. „Du magst mich zu sehr, um mich anzuschreien. Außerdem bin ich nur ein unschuldiger Beobachter.“
„Ich liebe Zeke und habe keine Probleme damit, ihn anzuschreien.“
„Ich weiß. Deshalb bin ich ja auch an seiner Stelle hier. Er weiß nicht, wie er zu dir durchdringen soll. Er sagt, an einigen Tagen sei es, als seist du gar nicht da.“
Eine akkurate Einschätzung, dachte sie, wohl wissend, dass jede Ecke ihres Herzens mit Schmerz erfüllt war. Es war so viel, dass für nichts anderes Platz blieb. Und weil der Schmerz drohte, sie von innen heraus zu zerstören, hatte sie sich bewusst entschieden, gar nichts mehr zu fühlen.
Sie vermisste ihr Baby in perfekter Einsamkeit, in einem emotionalen Vakuum, wo ihr Junge immer lächelte und glücklich war und nur knapp außerhalb ihrer Reichweite.
Sie spielte mit der umgegrabenen Erde. „Das ist nicht dein Kampf, Wade.“
„Sag mir, dass er nach Hause kommen kann. Ich bin es leid, ihn auf meiner Couch schlafen zu lassen.“
„Er hätte gar nicht gehen müssen.“
Wade hob seine linke Augenbraue.
Sie seufzte. „Es ist nicht meine Schuld, dass er lieber wegläuft, anstatt zu kämpfen. Ich würde es mit ihm aufnehmen.“
„Wirklich? Er sagt, das Problem ist, dass du nicht kämpfst.“ Sorge verdunkelte seine Augen. „Ihr habt bereits Liam verloren. Verliert nicht auch noch einander.“
Boston schaffte es, bei der Erwähnung des Namens ihres Sohnes nicht zusammenzuzucken. „Ich kann nicht verloren werden“, sagte sie, darum bemüht, ihre Stimme ruhig zu halten, damit Wade die Wahrheit nicht ahnte. „Ich werde Zeke lieben, bis ich sterbe. Was den Rest angeht, hat er dir erzählt, was er gesagt hat?“
Wade schaute sie an. „Das ist nicht falsch, Boston. Ein weiteres Baby zu haben …“
Sie rappelte sich auf und schüttelte den Kopf. „Hör auf. So etwas darfst du nicht sagen. Du hast eine Tochter. Sie ist wunderschön und gesund, und du hast kein Recht, mir zu sagen, wann ich bereit sein sollte.“ Sie trat einen Schritt nach hinten, dann noch einen.
Wade hob abwehrend beide Hände. „Es tut mir leid. Du hast recht. Ich habe das nicht zu entscheiden. Ich hätte es nicht erwähnen sollen.“
Sie atmete tief ein. Wade stand auf und schlang seine Arme um sie. Sie ließ sich in den Trost sinken – eine schweigende Annahme seiner Entschuldigung. Ihr Schwager gab ihr einen Kuss auf den Scheitel.
„Sei nicht böse auf ihn. Er liebt dich. Ich liebe dich auch, nur, du weißt schon, nicht so.“
Das war ein alter Witz – ein vertrauter Witz. Behaglich. Sie schloss die Augen und nickte. „Ich liebe dich auch nicht so. Schick ihn nach Hause. Es ist gut.“
„Bist du sicher?“
„Wenn er hier ist, kann ich ihn besser foltern.“
„Das ist mein Mädchen.“ Er ließ sie los. „Ich übernehme den Gordon-Job.“
„Das Haus nebenan? Nicht Zeke?“
„Wir fanden, das wäre für das Projekt angemessener.“
Sie schaute Wade an und hob eine Augenbraue. „Natürlich fandet ihr das. Ich bin sicher, es war eine lange, gründliche Unterhaltung und hatte nichts mit der Tatsache zu tun, dass Andi Gordon hübsch und Single ist und einen tollen Hintern hat.“
„Meine Arbeit ist nicht leicht. Aber ich tue, was ich kann.“
„Du bist so ein Arbeitstier.“
„Nicht wirklich, aber ich will mir mal die neue Nachbarin ansehen.“ Er zwinkerte ihr zu. „Ich habe gleich morgen früh einen Termin mit ihr. Wünsch mir Glück.“
„Nein. Und jetzt schick meinen Mann nach Hause.“
Wade winkte zustimmend und ging zurück zu seinem Truck. Boston wandte sich wieder ihren Pflanzen zu.