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Nora ist überhaupt nicht begeistert: Sie muss den Sommer bei ihrer Oma auf dem Land verbringen, obwohl sie sie kaum kennt. Doch dann lernt sie Abbas kennen, den Jungen mit den allergrünsten Augen, der ihren Magen kribbeln lässt wie Brausepulver. Aber warum hat Abbas Angst vor Dorrit aus dem Café? Warum gibt es Regeln, die für Abbas gelten, aber nicht für Nora? Und welches Geheimnis haben Noras Oma und Abbas' Vater? In diesen Ferien passiert einfach alles, und es wird der beste Sommer überhaupt! Eine warmherzige Erzählung über die erste Liebe und darüber, dass die Welt manchmal komplizierter ist, als gedacht.
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Seitenzahl: 165
Nora soll den Sommer bei ihrer Oma auf dem Land verbringen, obwohl sie sie kaum kennt. Darauf hat Nora wirklich gar keine Lust. Doch dann lernt sie Abbas kennen, den Jungen mit den allergrünsten Augen, der ihren Bauch kribbeln lässt wie Brausepulver. Aber warum hat Abbas Angst vor Dorrit aus dem Café? Warum gibt es Regeln, die für Abbas gelten, aber nicht für Nora? Und was für ein Geheimnis haben Noras Oma und Abbas’ Vater?
In diesen Sommer passiert einfach alles, und es wird der beste Sommer überhaupt!
»Nora?«
Mama steht draußen im Flur vor der geschlossenen Tür und spricht mit mir. Ich antworte nicht, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll. Mein Atem klingt wie leises Schluchzen, dabei weine ich nicht.
Ich höre, wie die Klinke nach unten gedrückt wird, und stürze zum Bett. Verberge mein Gesicht im Kissen, bevor Mama ganz ins Zimmer kommt. Sie setzt sich neben mich.
»Nora … mein Schatz, es geht ganz schnell vorbei.«
Ich schüttle den Kopf. Mama legt mir eine Hand auf den Rücken.
»Bevor du es richtig mitkriegst, bist du wieder daheim.«
»Ich will nicht zu Oma.«
Meine Stimme verschwindet im Kissen.
»Du kannst nicht den ganzen Sommer in der Stadt verbringen, Nora, das wäre zu schade.«
»Aber Thilo bleibt doch auch hier …«
»Thilo ist ein Jahr alt«, sagt Mama.
Sie seufzt resigniert.
»Ich muss fast jeden Tag arbeiten, Nora. Truls auch … du wirst dich zu Tode langweilen …«
»Nein«, sage ich, »bei Oma werde ich mich langweilen.«
Ich war noch nicht sehr oft bei Oma. Sie ist fast nie zu Hause, weil sie so viel verreist. Das liegt daran, dass sie Journalistin war und Norwegen nicht interessant genug fand, behauptet Mama. Jetzt ist sie im Ruhestand, reist aber immer noch viel, weil sie all die Menschen besuchen muss, die sie bei ihrer Arbeit als Journalistin kennengelernt hat.
Der zweite Grund, warum ich bisher nicht oft bei Oma war, ist, dass Mama und sie sich immer streiten, wenn wir dort sind, und wir daher noch vor dem Nachtisch wieder wegfahren. Oma wohnt weit draußen auf dem Land, mitten im Wald. Ihr Haus ist so weit weg von der Stadt, dass ich oft gedacht habe, sie muss zur Strafe dort wohnen. Sie muss irgendwas Schlimmes angestellt haben, weshalb sie bis an ihr Lebensende dort wohnen bleiben muss.
Und jetzt soll ich einen ganzen Sommer bei ihr verbringen?
»Ich kenne Oma ja gar nicht richtig!«
Mama wartet kurz mit ihrer Antwort. Ich drehe mich halb zu ihr um. Daraufhin streicht sie mir die Haare aus dem Gesicht.
»Tja …«, sagt sie, »daran bin ich wohl schuld.«
Ich denke an die wenigen Male, die Oma uns in der Stadt besucht hat. Da waren wir im Museum oder im Café, weil Oma, wenn sie schon mal da ist, immer was sehen oder unternehmen will. Das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe, war kurz nach Thilos Geburt. Damals hat sie ein Kuscheltier mitgebracht, eine kleine, superharte Giraffe aus Simbabwe, die Mama, nachdem Oma gegangen war, ganz unten in die Spielzeugkiste geräumt hat.
Ich winde mich im Bett.
»Ich will nicht …«
Mama seufzt erneut. »Aber du musst.«
Was ich außerdem nicht verstehe, ist, warum Oma überhaupt will, dass ich sie besuche. Wo sie nicht mal Weihnachten mit uns feiern will, unsere Geburtstage vergisst und nie anruft.
Vielleicht bin ich es ja, die was Schlimmes angestellt hat und bestraft werden muss? So fühlt es sich an. Ohne dass ich weiß, was es sein könnte.
Eigentlich tue ich brav, was man von mir verlangt, und meistens bin ich sowieso allein.
Mama sieht mich an, ihr Blick ist sanft. Als wäre alles gut. Als hätte sie nicht alles kaputtgemacht. In mir brodelt es, ich würde am liebsten etwas ganz Gemeines zu ihr sagen, kriege aber kein Wort heraus. Ich kann nur noch flüstern:
»Geh weg!«
Mama blinzelt, als hätte sie etwas ins Auge bekommen, dann steht sie auf und geht.
Am liebsten würde ich ins Ferienlager fahren oder hätte einen Ferienjob, dann käme ich allein zurecht. Am allerliebsten hätte ich eine beste Freundin, mit der ich ganz selbstverständlich in ihr Sommerhaus fahren dürfte, wo ich lange bleiben könnte, den ganzen Sommer über, aber davon bin ich meilenweit entfernt.
Ich habe niemanden.
Zwei Tage später fährt unser Auto bei Oma auf den Hof. Alles ist genau so, wie ich es in Erinnerung habe, ein grüner Fleck, ringsum von Wald eingerahmt und mit nur einer Straße hinaus in die Welt. Es gibt dort zwei Häuser, ein großes rotes und ein kleines weißes, sowie einen alten Brunnen und einen Gemüsegarten.
Vor dem roten Haus steht Oma. Sie hat einen großen Strohhut auf dem Kopf, der ihr Gesicht fast ganz verdeckt, aber unter der Krempe kann ich eine große Brille mit viereckigen Gläsern erkennen. Ihre Haare sind lang und silbergrau. Sie liegen schwer auf ihrer Brust und gehen bis zum Bauch. Über einem gemusterten T-Shirt und einer beigen Hose trägt sie eine beige Weste mit mindestens sechs Taschen. Sie sieht aus wie immer.
Mama und Truls steigen zusammen mit Thilo aus. Ich bleibe sitzen.
Oma tätschelt Mama die Schulter und streckt Truls die Hand hin. Dann beschäftigt sie sich mit Thilo, beugt sich vor und kneift ihn in die Wange, zieht eine Grimasse, die bestimmt lieb gemeint ist, Thilo aber dazu bringt, sich ihr heftig zu entwinden.
Oma richtet sich auf und sieht sich um. Mama zeigt zum Auto und sagt etwas. Ich versinke in meinem Sitz. Oma winkt mir zu, aber ich winke nicht zurück. Dann kommt Mama zum Auto zurück, und ich verriegele rasch die Türen, bevor sie es erreicht. Sie bleibt stehen und zieht am Türgriff. Ich starre vor mich hin, ohne auch nur mit einem Muskel zu zucken. Am Ende gibt Mama auf und geht hinüber zu Truls und Oma.
Sie gehen ins Haus, während ich im Auto sitzen bleibe. Als ich endlich die Tür aufmache, geschieht es aus reiner Notwendigkeit. Das Auto hat sich in der Sonne mächtig aufgeheizt.
Ich steuere auf das rote Haus zu. Von der Terrasse aus komme ich direkt in die Küche. Ich laufe weiter zur Treppe ganz hinten und schleiche mich nach oben. An der Tür neben dem Bad hängt ein Schild, auf dem mit etwas schiefen Buchstaben »NORA« steht. Oma hat sich nicht gerade ins Zeug gelegt, aber dass sie überhaupt ein Schild gemalt hat, überrascht mich. Ich mache die Tür auf und gehe hinein, lege mich aufs Bett und starre an die weiße Zimmerdecke.
Fast im selben Moment klopft es. Ich sage nicht »herein«, trotzdem macht jemand die Tür auf und schaut ins Zimmer. Es ist Oma.
»Hallo«, sagt sie.
Ich antworte nicht.
»Ich wollte dir nur sagen, dass ich im Bad Handtücher für dich bereitgelegt habe.«
»Danke.«
»Und einen Becher für deine Zahnbürste habe ich dir hingestellt.«
»Okay.«
»Und dass es jetzt Mittagessen gibt.«
Ich nicke nur knapp. Es sieht aus, als wollte sie noch etwas sagen, aber sie geht wieder und lässt die Tür einen Spaltbreit offen stehen, was mich ärgert.
Ich warte eine ganze Weile, bevor ich nach unten gehe. Dort sehe ich die anderen am Tisch auf der Terrasse sitzen. Sie sind fast fertig mit Essen, aber es ist noch etwas übrig, und ein Teller steht für mich bereit. Truls hält das Gespräch mit etwas völlig Uninteressantem am Laufen, für das nur er sich interessiert, Kryptokunst und Bitcoins.
»Das Geniale an Blockchains …«, sagt er, aber niemand hört ihm zu.
Ich konzentriere mich auf das Essen, Oma starrt hinüber zum Wald, und Mama bemüht sich, Essensreste aus Thilos Gesicht zu wischen.
Es ist nicht so, dass ich nicht hierbleiben will, weil wir im Sommer sonst so viele tolle Sachen unternehmen würden. Wir sind eigentlich die ganze Zeit in der Stadt, da Mama im Krankenhaus arbeiten muss. Wenn sie zwischen den Schichten freihat, gehen wir zum Strand oder machen Ausflüge in die nähere Umgebung. Einmal sind wir bis nach Kopenhagen gefahren. Aber diesen Sommer muss Mama plötzlich besonders viel arbeiten, fast jeden Tag. Rotierenden Schichtdienst nennt man das wohl. Und dieses Jahr hatte Mama einfach großes Pech.
Mama hat recht, wenn sie sagt, dass ich mich in der Stadt langweilen würde, aber sie liegt völlig daneben, wenn sie glaubt, dass ich mich hier weniger langweilen werde.
Oma geht ins Haus, um die Küche aufzuräumen, und Truls will eine Runde joggen gehen. Somit sind nur noch wir drei am Tisch, aber Thilo zählt nicht, eigentlich sitzen nur Mama und ich hier. Sie kümmert sich demonstrativ um Thilo, doch ich merke, dass sie zu mir herüberschielt.
»Ich will hier nicht bleiben«, flüstere ich.
Mama hört auf, mit Thilo zu schäkern.
»Spätzchen«, sagt sie, als wäre das eine Antwort.
»Ich will daheim sein«, insistiere ich.
»Nora …«
Mama setzt die Sonnenbrille ab.
»Das geht nicht. Jetzt bist du hier. Und das ist jetzt der Plan.«
»Aber …«
Mama unterbricht mich, indem sie laut Luft holt und tief in die Lungen atmet. Dort belässt sie die Luft eine gute Sekunde lang, bevor sie wieder ausatmet.
»Ich finde, du solltest es versuchen.«
»Aber hier gibt’s nichts zu tun.«
»Der Sommer wird ganz schnell vorbeigehen. Und vielleicht lernst du ja jemanden kennen?«
Mamas größter Wunsch ist, dass ich jemanden kennenlerne. Sie kann kaum verbergen, wie enttäuscht sie ist, wenn ich allein von der Schule nach Hause komme. Manchmal trödele ich besonders lange auf dem Heimweg, nur um zu erzählen, dass ich noch bei jemandem aus der Klasse zu Hause war oder mit den anderen auf den Bolzplatz gegangen bin. Aber ich weiß, dass sie weiß, dass ich keine Freunde habe.
Sie streicht mir über den Arm.
»Wir treffen jetzt eine Abmachung«, sagt sie und beugt sich noch mehr zu mir herüber. »Können wir nicht einfach sagen, dass du es probierst? Und wenn es absolut gar nicht geht … wenn du auf gar keinen Fall hierbleiben kannst … dann hole ich dich ab?«
Ich durchschaue, worauf sie hinauswill. Sie will, dass ich Ja sage. Ich merke, wie die Wut in mir hochsteigt. Ich sollte schreien, dass sie nicht wegfahren und mich allein zurücklassen darf, aber stattdessen stehe ich auf und stürme die Treppe hinauf in mein Zimmer. Dieses Mal denke ich daran, es abzuschließen, damit niemand den Kopf hereinstrecken und mir sagen kann, wo die Handtücher liegen.
»Nora?«
Mama drückt die Klinke herunter. Sie wartet darauf, dass ich antworte, aber ich sage nichts.
»Nora!«
Ihre Stimme klingt jetzt genervt, aber ich rühre mich nicht. Am Ende lässt sie die Türklinke los und geht. Noch fünf Mal kommt sie, rüttelt an der Tür und sagt meinen Namen, aber ich antworte kein einziges Mal. Erst als ich sicher bin, dass die anderen zu Bett gegangen sind, schleiche ich mich aus dem Zimmer, um zu pinkeln.
Zurück im Zimmer, liege ich hellwach im Bett und starre an die Decke. Ich finde, dass Mama sich verändert hat. Mama, die darauf besteht, mich ins Schwimmbad zu begleiten, die immer darauf achtet, dass die Bettdecke um meine Füße geschlagen ist, wenn ich im Bett liege, die zweimal nachschaut, ob mein Pausenbrot im Rucksack steckt und alle Hausaufgaben gemacht sind. Und jetzt will sie mich einen ganzen Sommer lang allein mit einer Oma auf dem Land zurücklassen, die ich eigentlich nicht kenne?
Okay. Wenn sie es so haben will, soll sie es so haben.
Ich nehme mein Handy in die Hand und schreibe Mama eine letzte Nachricht:
»Für Anita. Ich bleibe bestimmt ganz lange bei Oma. Du kannst mir meinen Pass und andere wichtige Dinge per Post zuschicken. Antworte nicht auf diese Nachricht. Mach’s gut. Gruß Nora.«
Ich werde von Geräuschen aus der Küche geweckt. Die anderen frühstücken. Irgendwann kommt jemand die Treppe hoch, kurz darauf klopft es an der Tür.
»Nora?«
Es ist Mama. Ich antworte nicht. Die Tür ist abgeschlossen, aber Mama drückt die Klinke gar nicht erst runter. Stattdessen höre ich, wie etwas unter der Tür durchgeschoben wird, und als ich mich im Bett aufrichte, um genauer hinzuschauen, liegt dort ein kleiner Briefumschlag.
Ich bleibe im Bett und höre, wie Mama wieder nach unten geht.
Als sich die anderen zur Abfahrt bereit machen, stelle ich mich hinter den Vorhang am Fenster und schaue ihnen zu. Sie stehen mitten auf dem Hof. Truls umarmt Oma, bevor Mama es auch versucht, aber es wirkt etwas komisch, weil Oma sie auf der gleichen Seite umarmen will. Dann wechseln sie gleichzeitig zur anderen Seite, und die Situation wird noch komischer.
Plötzlich schaut Mama direkt hoch zu dem Fenster, an dem ich stehe. Ich lasse den Vorhang los und mache ein paar Schritte zurück, zähle bis fünf, bevor ich wieder hinausschaue. Jetzt sitzt Mama schon im Auto. Truls steigt auf der Fahrerseite ein, setzt zurück und wendet, dann gibt er Gas, und meine vermeintliche Familie fährt auf der Straße davon und verschwindet bald hinter hohen Fichten.
Noch nie haben wir uns nicht voneinander verabschiedet. Noch nie uns nicht in den Arm genommen, wenn wir uns getrennt haben. Immer haben wir gesagt, dass wir uns lieb haben und uns gegenseitig vermissen werden. Und jetzt fährt Mama, ohne zu winken, zurück in die Stadt.
Erst in diesem Moment hebe ich den Umschlag auf und drehe ihn um. Es steht nichts darauf, und er ist auch nicht zugeklebt. Ich linse hinein und sehe einen zusammengefalteten Brief mit vielen Worten, die ich jetzt nicht lesen will. Ich gehe zum Nachttisch und lege den Umschlag unter ein dickes Buch, das dort herumliegt.
Dann gehe ich nach unten. Die Tür steht sperrangelweit offen und führt hinaus in den hellen Morgen. Drinnen ist es angenehm kühl, aber ich kann spüren, dass es ein heißer Tag wird.
Auf dem runden Küchentisch steht noch das Frühstück. Es ist für vier Leute gedeckt, und ein Teller ist nach wie vor unberührt. Ich habe einen Riesenhunger und greife gierig zu, hoffe, dass Oma nicht hereinkommt. Ich fühle mich wie Goldlöckchen, die im Haus der Bären von deren Essen isst und in deren Betten liegt. So als wäre ich hier eigentlich nicht willkommen.
Als ich nach dem Frühstück in den Garten gehe, habe ich Oma noch nicht gesehen. Nur Misse, ihre Katze, sitzt auf dem Hof und starrt mich an. Ich starre zurück. Schließlich dreht mir die Katze den Rücken zu und geht zu dem weißen Häuschen. Ich folge ihr.
Die Katze macht es sich auf der Treppe bequem, und ich drücke die Türklinke herunter. Die Tür ist nicht verschlossen. Ich komme in einen kleinen Flur, der das Haus in zwei Teile teilt. Es riecht muffig. Auf jeder Seite gibt es eine Tür. Zuerst schaue ich durch die Tür auf der rechten Seite in ein kleines Bad. Die linke Tür führt in ein Schlafzimmer. Kein typisches Schlafzimmer vielleicht, aber mittendrin steht zumindest ein Bett. Um das Bett herum stapeln sich Bücher, Ordner und Zeitungen. Lose Blätter und Notizbücher liegen überall verstreut. In einem Regal an der Wand stehen noch mehr Bücher und Ordner. An der Wand zum Gang hängen drei Masken, die afrikanisch aussehen oder auch südamerikanisch. Ich bin mir nicht sicher, aber ich weiß ja, dass Oma viel gereist ist und sicherlich an beiden Orten war.
Das Bett ist gemacht. Als ich auf die Decke schlage, steigt eine Staubwolke auf. Ich öffne das Fenster und entdecke Oma. Sie steht mitten auf dem Hof und schaut zu mir rüber.
»Wohnt hier jemand?«, rufe ich ihr zu.
Oma murmelt etwas und schüttelt den Kopf, bevor sie sich umdreht und in das rote Haus geht.
Ich setze mich auf das Bett und teste die Matratze, genau wie Goldlöckchen es getan hat. Ich ziehe einen Ordner aus dem Regal und schlage eine zufällige Seite auf. Ein Zeitungsartikel. Das Papier ist vergilbt und die Schrift ziemlich altmodisch. Die Überschrift lautet: »Taliban rücken erneut nach Kabul vor«.
Unter der Überschrift steht, wer den Artikel verfasst hat: »Wendy Andersson, Nahost-Korrespondentin«.
Das ist Oma. Der Artikel ist alt, von 1996. Das ist weit vor meiner Geburt, damals war Mama vielleicht so alt wie ich jetzt.
Ich blättere weiter. Noch ein Zeitungsartikel: »… Wendy Andersson berichtet aus dem kriegsgebeutelten Afghanistan. Zwischen den Häusern Kabuls laufen Straßenhunde frei herum … der Lärm der Maschinengewehre und Panzer ist verstummt, und nachdem sich der Staub gelegt hat, werden die Zerstörungen sichtbar …«
Unter dem Artikel ist ein Foto von einem völlig überladenen Auto mit Männern, die Gewehre in den Händen halten, und ein weiteres Foto von einem Mann, der zwei Kinder an sich drückt, als wollte er sie beschützen.
Ich klappe den Ordner zu und lege ihn auf den Boden, dann ziehe ich einen neuen Ordner heraus. Auch er ist gefüllt mit alten Zeitungsartikeln, größtenteils über den Krieg. Ich überfliege sie, bevor ich den nächsten Ordner herausziehe, der voller alter Flugtickets und Quittungen ist, auf denen die Zahlen fast nicht mehr zu erkennen sind. Es stehen auch mehrere Notizbücher da, aber die Schrift ist so schwer zu entziffern, dass ich aufgebe.
Ganz am Ende des Regals steht ein kleinerer Ordner, und als ich ihn aufklappe, bin ich verwirrt. Zuerst glaube ich, ein Foto von mir selbst zu sehen. Aber dann geht mir auf, dass es Oma ist. Sie sieht jünger aus. Sie trägt ihre Haare offen, die Brillengläser sind viereckig. Die Farben sind verblasst, aber … ihre Haare sind rot, nicht grau. Ich bin bisher nie auf den Gedanken gekommen, dass Omas Haare je eine andere Farbe hatten als grau. Ich hatte jedenfalls keine Ahnung, dass sie einmal rot waren, wie meine.
Meine Haare sind feuerrot, als würde mein Kopf dauerbrennen. Darum vertrage ich auch fast keine Sonne, weil meine Haut so hell ist. Einmal habe ich im März einen Sonnenbrand bekommen. Und im Sommer kriege ich am ganzen Körper tausend Sommersprossen. Auch wenn ich meine Sommersprossen nicht mag, liebe ich die Sonne, darum bin ich manchmal leichtsinnig und lege mich in die Sonne, dann soll sie gern brennen, soviel sie will.
Ich schaue mich im Zimmer um, es wirkt alles gemütlicher als in dem roten Haus. Hier kann ich allein sein. Aber mir ist auch klar, dass ich erst einmal aufräumen muss, wenn ich hier wohnen will. Zuerst schiebe ich die Bücherstapel an die Wand und räume die Ordner und die herumliegenden Papierstapel ins Regal. Danach fege ich den Boden mit einem alten Besen, den ich ihm Flur finde, und wische die Oberflächen mit einem Lappen sauber. Das Aufräumen hilft mir, nicht an Mama zu denken und daran, wie wütend ich auf sie bin.
Nach einer Weile merke ich, dass ich großen Hunger habe. Essen ist das Problem. Ohne Essen kann ich nicht überleben, und ich kann es mir nicht selbst beschaffen. Ich bin gezwungen, mit Oma zu essen oder zumindest von ihren Vorräten zu essen. Vielleicht sollte ich auch ein bisschen mit ihr reden.
Als ich die Küche im roten Haus betrete, ist der Tisch zum Mittagessen gedeckt, und Oma sitzt da, ohne etwas angerührt zu haben, obwohl sie garantiert schon länger wartet. Sie schaut von der Zeitung auf.
»Willst du lieber draußen essen?«, fragt sie.
Ich nicke, und wir machen uns daran, alles von der Küche auf die Terrasse zu tragen. Leberpastete und Gewürzgurken, die ich liebe, und Kaviar und Eier, die ich hasse. Ein großer Sonnenschirm wirft Schatten auf Tisch und Stühle, und als ich mich setze, versinke ich in dem weichen Polster. Vom Aufräumen bin ich ganz müde geworden. Oma stellt ein Glas Saft vor mich hin. Ich nehme es in die Hand und trinke es in einem einzigen Zug leer.
»Du ziehst also in das weiße Haus?«, fragt Oma.
»Ja«, antworte ich.
Dann ist es eine Weile still, bevor Oma sagt:
»Du hast dich heute Morgen gar nicht verabschiedet.«
Ich sage nichts.