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Der stumme Prophet ist ein Roman von Joseph Roth spielt Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Auszug: Friedrich wurde in Odessa geboren, im Hause seines Großvaters, des reichen Teehändlers Kargan. Er war ein unerwünschtes, weil uneheliches Kind, der Sohn eines österreichischen Klavierlehrers namens Zimmer, dem der reiche Teehändler seine Tochter verweigert hatte. Der Klavierlehrer verschwand aus Rußland, vergeblich ließ ihn der alte Kargan suchen, nachdem er von der Schwangerschaft seiner Tochter erfahren hatte.
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Seitenzahl: 251
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In der Silvesternacht von 1926 auf 1927 saß ich mit einigen Freunden und Bekannten in Moskau im Zimmer Numero neun des Hotels Bolschaja Moskowskaja. Für einige der Anwesenden war diese private Art, den Silvester zu feiern, die einzig mögliche. Ihre Gesinnung hätte ihnen zwar gestattet, eine festliche Stimmung in der Öffentlichkeit zu demonstrieren. Aber sie hatten Rücksichten zu nehmen und Rücksichten zu fürchten. Sie konnten sich weder unter die Ausländer mischen noch unter die einheimischen Bürger, und obwohl der und jener unter ihnen seiner Idee zuliebe schon oft und lange als Beobachter fungiert hatte, hütete er sich doch mit Recht, selbst der Gegenstand einer Beobachtung zu werden.
In meinem Zimmer schwebte der bekannte Zigarettendunst, den man aus den Romanen der russischen Literatur kennen dürfte. Ich öffnete abwechselnd die kleine Luke am Fenster – das ganze zu öffnen, hätten mir meine Gäste verwehrt – und bald die Tür, die in den Korridor führte und durch die Geräusche von Musik, Stimmen, Gläsern, Schritten, Gesang hereinkamen.
»Wißt ihr«, sagte Grodzki, ein ukrainischer Pole, der für die Tscheka lange in Tokio gearbeitet hatte und der mir menschlich nahegekommen war, als er mit dem Auftrag anrückte, Berichte über mich zu verfassen, und ich ihm sofort sagte, daß ich mich seiner Tätigkeit in Japan noch erinnere, »wißt ihr«, fragte Grodzki, »wer vor drei Jahren in diesem Zimmer hier, Numero neun, gewohnt hat?« Ein paar blickten ihn fragend an. Er kostete ein paar Sekunden die Stille aus. Er hatte, wie viele Menschen, die im Geheimdienst verwendet werden, den Ehrgeiz, nicht nur etwas zu wissen, sondern auch etwas länger zu wissen als die andern. »Kargan«, sagte er nach einer Weile. »Ah, der!« rief der Journalist B., dessen orthodoxe Gesinnung bekannt war. »Warum so verächtlich?« sagte Grodzki. »Weil wir wahrscheinlich schon mehrere seinesgleichen in diesem Zimmer Numero neun beherbergt haben dürften«, erwiderte B. mit einem Blick auf mich.
Die andern mischten sich ein. Fast jeder glaubte, Kargan gekannt zu haben, und fast jeder äußerte über ihn ein mehr oder weniger abfälliges Urteil. Man kennt die Bezeichnungen, die eine orthodoxe Theorie für Revolutionäre mit intellektueller Vergangenheit geschaffen hat, und ich erspare es mir, die Meinungen der einzelnen in ihrem Wortlaut wiederzugeben. »Anarchist«, rief der eine, »sentimentaler Rebell«, der andere, »intellektueller Individualist«, der dritte.
Es ist möglich, daß ich damals den Anlaß, Kargan zu verteidigen, überschätzt habe. Jedenfalls schien es mir, obwohl ich ihn um jene Zeit nicht ohne Grund in Paris vermutete, auf eine wirklich unerklärliche Weise, daß er mein Gast sei und daß ich die Pflicht hätte, ihn zu beschützen. Vielleicht hatte mich die Mitteilung Grodzkis, daß Kargan vor Jahren in diesem meinem Zimmer gewohnt hatte, zu einer langen Verteidigungsrede veranlaßt. Es war eigentlich keine Rede. Es war eine Geschichte. Es war der Versuch einer Biographie. Von allen Anwesenden kannte ich neben Grodzki, den der Beruf verpflichtete, alle zu kennen, den Angegriffenen am besten. Ich begann zu erzählen, von Grodzki unterstützt, und wir wurden beide in dieser Nacht nicht fertig. Ich erzählte noch die nächste Nacht und die drittnächste. Aber in der drittnächsten verschwanden alle Zuhörer bis auf zwei. Es waren die einzigen ohne Amt und ohne Angst, die Wahrheit zu hören.
Es erschien mir infolgedessen notwendig, meiner Erzählung ein weiteres Echo zu geben, als meine Stimme es vermochte. Ich entschloß mich aufzuschreiben, was ich erzählt hatte.
Kargans Leben steht hier in der gleichen Reihenfolge niedergeschrieben, wie es damals erzählt worden ist. Die Zwischenrufe der Zuhörer, ihre Bewegungen, ihre Scherze, ihre Fragen sind ausgelassen. Unterblieben sind ferner jene Ereignisse, mit Absicht verschwiegen sind einige Merkmale, die zu einer Identifizierung Kargans führen könnten und dem natürlichen Trieb des Lesers, in der geschilderten Person eine bestimmte, existierende historische Persönlichkeit wiederzuerkennen, zu Hilfe kommen würden. Die Lebensgeschichte Kargans hatte ebensowenig eine aktuelle Tendenz wie irgendeine andere. Sie ist nicht ein illustrierendes Beispiel für eine politische Anschauung – und höchstens eines für die alte und ewige Wahrheit, daß der einzelne immer unterliegt.
Ob Friedrich Kargan endgültig der Vergessenheit anheimzufallen bestimmt ist?
Nachrichten zufolge, die einige seiner Freunde auf sicheren Umwegen vor einigen Wochen von ihm erhalten haben wollen, soll er entschlossen sein, den zivilisierten Teil der Welt nicht mehr freiwillig aufzusuchen. Und also ist es möglich, daß er einmal in der leeren Einsamkeit versinken wird, unbemerkt und spurlos, wie ein sterbender Stern in einer schweigsamen und verhüllten Nacht. Dann würde sein Ende unbekannt bleiben, wie es bis jetzt seine ersten Anfänge waren.
Friedrich wurde in Odessa geboren, im Hause seines Großvaters, des reichen Teehändlers Kargan. Er war ein unerwünschtes, weil uneheliches Kind, der Sohn eines österreichischen Klavierlehrers namens Zimmer, dem der reiche Teehändler seine Tochter verweigert hatte. Der Klavierlehrer verschwand aus Rußland, vergeblich ließ ihn der alte Kargan suchen, nachdem er von der Schwangerschaft seiner Tochter erfahren hatte.
Ein halbes Jahr später schickte er sie und den Neugeborenen zu seinem Bruder, der ein wohlhabender Kaufmann in Triest war. In dessen Hause verbrachte Friedrich seine Kindheit. Sie verlief nicht ganz unglücklich, obwohl er in die Hände eines Wohltäters gefallen war.
Erst als seine Mutter starb – in jungen Jahren und an einer Krankheit, die man nie mit einem genauen Namen bezeichnete –, wurde Friedrich in einem Dienstbotenzimmer einquartiert. An Feiertagen und bei besonderen Gelegenheiten durfte er an einem gemeinsamen Tisch mit den Kindern des Hauses essen. Er zog die Gesellschaft der Dienstboten vor, von denen er die Freuden der Liebe lernte und das Mißtrauen gegen die Herrschaften.
In der Volksschule erwies er sich weit begabter als die Kinder seines Brotgebers. Deshalb ließ ihn dieser nicht weiter lernen, sondern als Lehrling in eine Schiffsagentur eintreten, wo Friedrich Aussicht hatte, es nach einigen Jahren zu einem tüchtigen Beamten mit hundertzwanzig Kronen monatlichen Gehalts zu bringen.
Um jene Zeit mehrte sich die Zahl der Deserteure, Emigranten und Pogromflüchtlinge, die aus Rußland über die österreichischen Grenzen kamen. Die Schiffsgesellschaften begannen deshalb, in den Grenzstädten der Monarchie Filialen anzulegen, die Auswanderer abzufangen und sie nach Brasilien, Kanada und den Vereinigten Staaten zu befördern.
Diese Filialen erfreuten sich des Wohlwollens staatlicher Behörden. Offenbar wollte die Regierung die armen, arbeitslosen und nicht ungefährlichen Flüchtlinge möglichst schnell aus Österreich entfernen; aber auch die Meinung entstehen lassen, daß die russischen Deserteure mit Schiffskarten und Empfehlungen nach den Überseeländern versorgt würden – dermaßen, daß die Lust, die Armee zu verlassen, immer mehr Unzufriedene in Rußland ergreifen sollte. Die Behörden bekamen wahrscheinlich den Wink, den Überseeagenten nicht auf die Finger zu schauen.
Es war aber nicht leicht, zuverlässige und geschickte Beamte für die Grenzfilialen zu finden. Die älteren Angestellten wollten ihre Heimat, ihre Häuser, ihre Familien nicht verlassen. Außerdem kannten sie die Sprachen, Sitten und Menschen der Grenzgebiete nicht. Schließlich fürchteten sie auch eine halb gefährliche Tätigkeit.
In dem Büro, in dem Friedrich arbeitete, hielt man ihn für begabt und fleißig. Er beherrschte einige Sprachen, unter ihnen die russische. Er war ein bedächtiger Junge. Man wußte nicht, daß seine stille und immer wache Höflichkeit eine kluge und schweigsame Arroganz verdeckte. Man hielt seinen wortkargen Hochmut für Bescheidenheit. Indessen haßte er seine Vorgesetzten, seine Lehrer, seinen Wohltäter und jede Art von Autorität. Er war feige, körperlichen Spielen mit Altersgenossen abgeneigt, er teilte keine Prügel aus und bekam keine, ging jeder Gefahr aus dem Weg, und seine Angst war immer noch größer als seine Neugierde. Er bereitete sich vor, Rache an der Welt zu nehmen, von der er glaubte, sie behandelte ihn als einen Menschen zweiter Klasse. Es tat seinem Ehrgeiz weh, daß er nicht wie seine Altersgenossen und seine Vettern das Gymnasium besuchen durfte. Er nahm sich vor, es eines Tages dennoch zu absolvieren, die Hochschule zu beziehn und Staatsmann, Politiker, Diplomat – jedenfalls ein Mächtiger zu werden.
Als man ihm vorschlug, in eine der Grenzfilialen zu gehen, sagte er sofort zu, in der Hoffnung auf einen glücklichen Wechsel des Geschicks und eine Unterbrechung der normalen Laufbahn, die er am meisten fürchtete. Er nahm auf seine erste Reise seine Vorsicht, seine Schlauheit und die Fähigkeit, sich zu verstellen, mit, Eigenschaften, die er von der Natur bekommen hatte.
Bevor er in den Personenzug stieg, der nach dem Osten fuhr, warf er noch einen sehnsüchtigen und vorwurfsvollen Blick auf einen eleganten kaffeebraunen Schlafwagen der Internationalen, der mit der Bestimmung Paris von Triest abgehn sollte.
Ich werde einmal zu den Passagieren dieses Wagens gehören, dachte Friedrich.
Achtundvierzig Stunden später kam er in der kleinen Grenzstadt an, wo die Familie Parthagener die Filiale der Schiffsgesellschaft leitete. Der alte Parthagener besaß seit mehr als vierzig Jahren die Herberge »Zur Kugel am Bein«. Sie war das erste Haus auf der breiten Straße, die von der Grenze zur Stadt führte. Hier kehrten die Flüchtlinge und Deserteure ein und begegneten der reinen und stillen Heiterkeit des Alten mit dem silbernen Bart, der ein Beweis für den blinden Willen der Natur zu sein schien, alle Menschen ohne Rücksicht auf ihre Sünden oder Verdienste schließlich mit der weißen Farbe der Würde zu bekleiden. Eine blaue Brille trug der Herr Parthagener über seinen schwachen und sonnenscheuen Augen. Sie vertieften nur noch die Stille seines Angesichts und erinnerten an einen dunklen Vorhang über dem Fenster einer hellen und klaren Häuserfront. Die aufgeregten Flüchtlinge faßten zum Alten sofort Vertrauen und ließen ihm einen guten Teil ihrer mitgebrachten Habe.
Die drei Söhne Parthageners hatten dank ihrer weißen Marinemützen und meerblauen Armbinden einen amtlichen und seemännischen Charakter. Sie verteilten unter die Emigranten illustrierte Prospekte, in denen man dunkelgrüne Weiden, gescheckte Kühe, Hütten mit aufsteigendem blauem Rauch, grenzenlose Tabak- und Reisfelder betrachten konnte. Aus den Prospekten wehte ein satter und fetter Frieden. Die Flüchtlinge bekamen Heimweh nach Südamerika, und die Parthageners verkauften Schiffskarten.
Nicht alle Emigranten besaßen die notwendigen Papiere. Also wurden sie bei ihrer Ankunft in den fremden Ländern zurückgewiesen. Sie blieben in Massenbaracken liegen, erlitten eine Desinfizierung nach der anderen und traten endlich eine lange Wanderung durch die Polizeigefängnisse einiger Staaten an. Für jene aber, die zahlen konnten, gab es an der Grenze Legitimationsfabriken. Die Wohlhabenden und Vorsichtigen versorgte ein Mann namens Kapturak mit falschen Dokumenten.
Wer war Kapturak? Ein winziger Mann von grüngrauer Gesichtsfarbe, dürren Knochen, hurtigen Bewegungen, Bader und Winkelschreiber von Beruf, als Schmuggler berühmt und mit den Grenzbehörden vertraut. Sein Warenschmuggel war nur ein Vorwand für seinen Menschenhandel. Die mannigfachen Freiheitsstrafen, die er in verschiedenen Kerkern des Landes verbüßte, waren seine freiwilligen Konzessionen an das Gesetz. Jedes Jahr im Frühling tauchte er an der Grenze auf wie ein Zugvogel. Er kommt aus einem der vielen Gefängnisse im Innern des Landes. Der Schnee schmilzt. Es regnet warm und duftend in den verhängten Nächten. Und die Grenze schläft. Man kann sie lautlos und unsichtbar überschreiten.
In den Monaten Februar, März, April arbeitet er. Im Mai sitzt er mit einem Päckchen unverzollter Ware am hellichten Tag im Zug, täuscht bei der Revision einen Fluchtversuch vor und läßt sich einfangen. Manchmal gestattet er sich einen Urlaub und fährt nach Karlsbad seinen Magen kurieren.
Mit ihm arbeitet die Familie Parthagener. Am Morgen, eine Stunde nach Sonnenaufgang, bringt er seine Schutzbefohlenen in die Herberge »Zur Kugel am Bein«. Sie erlegen für drei Tage Kost und Quartier im voraus. Hierauf erscheint ein junger Parthagener mit Prospekten.
Von Zeit zu Zeit aber muß jemand von der Agentur eine Nacht vorher über die Grenze, eine sogenannte »Stichprobe« machen. Denn es ereignet sich manchmal, daß Kapturak seine Flüchtlinge über eine andere Stadt, zu anderen Parthageners, in andere Herbergen führt, anderen Filialen in die Arme. Man muß ihn also noch auf russischem Gebiet in der sogenannten »Grenzschenke« überraschen.
Friedrich kam an einem sonnigen Märztag des Jahres 1908 zu den Parthageners. Es tropfte gleichmäßig und fröhlich von den Eiszapfen an der Dachrinne. Der Himmel war hellblau. Der alte Parthagener saß vor der Tür seiner Herberge. Eine dunkelgraue, schmutzige Kruste lag über den großen Schneehaufen zu beiden Seiten der Landstraße. Der Winter fing an zu verwesen.
Friedrich war jung genug, um alle Vorgänge der Natur zu vermerken und in eine Beziehung zu seinen Erlebnissen zu bringen. Er trank das besondere Licht des Tages. Es war stark wie der warme, junge Südwestwind, das Dunkel des schiefen Tors und die silberne Würde des Alten.
»Er kann nächste Woche gleich eine ›Partie‹ übernehmen!« sagte der Alte zu seinen Söhnen, die mit weißen, strahlenden Marinemützen am offenen Fenster standen.
»Treten Sie ein!« sagte er dann zu Friedrich, »und trinken Sie etwas!« Von nun an blieb Friedrich in der Herberge »Zur Kugel am Bein«.
Eine Woche später schickte man ihn in die »Grenzschenke«, eine »Partie« übernehmen. Der Zug war um elf Uhr nachts angekommen, die Grenze überschritt man erst um drei Uhr morgens. Vier Deserteure schliefen nebeneinander, eine liegende Doppelreihe, auf dem Fußboden, die Köpfe auf ihren Bündeln. Hinter der Theke saß der taubstumme Wirt. Er riß die Augen weit auf, weil sie ihm die Ohren ersetzten und er mit ihnen hören konnte. Aber jetzt gab es nichts zu hören. Kapturak war in einem Sessel eingenickt. An der Tür lehnte drohend und hager der schwarze Kaukasier Savelli. Er wollte sich nicht setzen, er fürchtete einzuschlafen. Er traute Kapturak nicht. Die Regierung wäre bereit gewesen, einen hohen Preis für Savelli zu zahlen. Wer weiß, ob Kapturak nicht die Absicht hatte, ihn auszuliefern.
Die Abenteuerlichkeit dieser nächtlichen Stunde genoß kein anderer außer Friedrich. Den Leuten, die sich seit Jahren mit dem Schmuggel befaßten, war sie gewohnt und gewöhnlich. Die Deserteure, die jetzt die Müdigkeit überwältigt hatte, erinnerten sich erst nach langen Jahren und in fernen Länden an die Unheimlichkeit dieses Orts zwischen dem Tod und der Freiheit und an die Stelle der kreisrunden Nacht, in deren Mitte nur diese eine Schenke beleuchtet war, der helle Kern einer großen Finsternis. Nur Friedrich lauschte dem regelmäßigen, langsamen Schlag einer Uhr, die ihre eigenen Sekunden zählte, als bestünde die Zeit aus den kostspieligen Tropfen eines edlen und seltenen Metalls. Er allein betrachtete die großen und trägen Fliegen an der breiten Petroleumlampe, deren Docht bis auf einen schmalen Saum herabgedreht war und deren breiter Schirm aus braunem Karton die obere Hälfte des Zimmers verdunkelte. Und er allein empfand den fernen Pfiff einer Lokomotive, der durch die Nacht erscholl, wie den ängstlichen Hilferuf eines Menschen.
Gegen zwei Uhr morgens ertönte ein anderer Pfiff, ein abgebrochener, furchtsam unterdrückter. Kapturak hörte ihn. Er sprang auf und weckte die Schlafenden. Jeder nahm sein Bündel auf den Rücken. Sie gingen hinaus. Die Nacht war trüb und feucht, der Boden naß. Man hörte die Schritte jedes einzelnen. Sie gingen durch einen Wald. Kapturak blieb stehen. »Niederlegen!« flüsterte er, und alle legten sich leise hin. Ein Zweig knackte.
Nach einer Weile sprang Kapturak auf und fing an zu laufen. »Mir nach!« schrie er. Hinter ihm sprangen alle über einen Graben. Sie liefen noch bis an den Rand des Waldes. Hinter ihnen knallte ein Schuß und verhallte mit langem Echo.
Sie waren außerhalb des Landes. Die Männer gingen langsam, schweigend, schwer. Man hörte den Atem eines jeden. Friedrich konnte sie nicht sehen, aber er erinnerte sich gut an ihre Gesichter, einfache, stumpfnasige Bauerngesichter, Augen unter winzigen Stirnen, massive Rümpfe und schwere Gliedmaßen.
Er liebte sie, denn er fühlte ihr Unglück. Er dachte an die unzähligen Grenzen des riesigen Reiches. In dieser Nacht wanderten Hunderttausende aus, sie gingen aus dem Unglück ins Unglück. Die unermeßliche, schweigende Nacht war von flüchtenden Menschen bevölkert, stumpfe, arme Gesichter, massive Rümpfe, schwere Gliedmaßen.
Im Osten begann es hell zu werden. Wie auf einen Befehl blieben plötzlich alle stehen und wandten sich in die Richtung, aus der sie gekommen waren, als wäre die Nacht, die sie verließen, ihre Heimat gewesen und der Morgen erst die Grenze. Sie blieben stehen und nahmen Abschied von der Heimat, von einem Hof, von einem Tier, einer Mutter, der von hundert Desjatinen und jener von einem einzigen Streifen Acker, vom Schlag einer bestimmten Glocke. Sie standen da, als handelten sie nach einem Ritus. Auf einmal stimmte Savelli mit einer harten, klaren Stimme ein Soldatenlied an. Alle fielen ein und sangen mit. Sie hatten noch eine gute Stunde bis zur Herberge Parthageners.
»Das ist wahrscheinlich sein Lobgesang«, sagte Kapturak ziemlich laut zu Friedrich. Savelli hörte es, obwohl alle sangen, und antwortete: »Von uns beiden sind Sie es, Kapturak, der einen Lobgesang zu singen hätte! Danken Sie Gott, daß Sie mich nicht ausgeliefert haben. Ich hätte Sie getötet.«
»Ich weiß«, sagte Kapturak, »und ich wäre nicht der erste und nicht der letzte gewesen. Ist es wahr, daß Sie Kalaschwili umgebracht haben?«
»Ich war dabei«, erwiderte Savelli. Es klang rätselhaft. Savelli sah aber nicht so aus, als wäre ihm daran gelegen, etwas zu verheimlichen.
»Ich habe ihn«, fuhr er fort, »sterben gesehn. Ich dachte nicht einen Augenblick, daß er auch ein privates Leben hatte, außer seinem polizeilichen. Er hätte ohnedies nicht mehr ruhig gelebt. Ich glaube nicht an die Ruhe eines Verräters.«
»Sie haben ihn sicherlich gehaßt?« wagte Friedrich zu sagen.
»Nein!« erwiderte Savelli. »Ich habe keinen Haß gefühlt. Man kann, glaube ich, nur hassen, wenn man von einem ein persönliches Leid erfahren hat. Aber dazu bin ich nicht imstande. Ich bin ein Werkzeug. Man bedient sich meines Kopfes, meiner Hände, meines Temperaments. Mein Leben gehört mir nicht. Ich gehöre mir nicht mehr. Ich müßte die Rechte überschreiten, die einem Werkzeug zugemessen sind, wenn ich ihn hassen wollte. Oder auch lieben!«
»Aber sie lieben doch?«
»Was?«
»Ich meine«, antwortete Friedrich langsam, denn er schämte sich, ein großes Wort zu gebrauchen, »die Idee, die Revolution.«
»Ich arbeite seit acht Jahren für sie«, sagte Savelli leise, »und kann nicht aufrichtig sagen, ob ich sie liebe. Kann ich denn etwas lieben, was um so viel größer ist als ich?
Ich verstehe nicht, wie die gläubigen Menschen Gott lieben können! Die Liebe, stelle ich mir vor, ist eine Kraft, die ihren Gegenstand ergreifen und halten kann.
Nein! Ich glaube nicht, daß ich die Revolution liebe – in diesem Sinn.«
»Gott kann man lieben«, erklärte Kapturak dezidiert.
»Ein Gläubiger sieht ihn vielleicht«, meinte Savelli. »Vielleicht müßte ich die Revolution sehn – –«
»Wenn Sie fliehen«, sagte Kapturak, »wer soll sie denn machen?«
»Wer soll sie machen«, rief Savelli. »Sie kommt. Ihre Kinder werden sie sehn!«
»Gott bewahre meine Kinder!« sagte Kapturak.
Friedrich wußte, wer Savelli war. Unter dem Namen Tomyschkin figurierte er in den Berichten der Zeitungen. Er hatte die berühmt gewordenen Überfälle auf die Banken und Geldtransporte im Kaukasus und im südlichen Rußland ausgeführt. Seit Jahren suchte ihn die Polizei vergebens.
»Er hätte«, meinte Kapturak, »noch lange bleiben können. Er scherte sich nicht um die Polizei. Aber man bedürfe seiner jetzt im Ausland.« Savelli blieb ein paar Tage in der Herberge. »Sind Sie mit Parthagener verwandt?« fragte er einmal Friedrich. Und als Friedrich verneinte – »Was machen Sie in der Gesellschaft dieser Banditen?«
»Ich will Geld sparen, um zu lernen«, sagte Friedrich. »Ich werde bald nach Wien fahren.«
»Dann kommen Sie gelegentlich zu mir!« sagte Savelli. Und er gab ihm seine Adresse in Wien, Zürich und London.
Friedrich empfand für den berühmten Mann jene Art peinlicher Dankbarkeit, die ein Patient seinem Arzt entgegenbringt, der mit schonender Güte den langwierigen Verlauf der Krankheit ankündigt. Fremd, hart, finster war Savelli. Verhaßt war Friedrich das Opfer, die Anonymität des Opfers, die freiwillige Nachbarschaft, die der Kaukasier mit dem Tode pflegte.
Ungeheuer weit, unberechenbar reich an Jahren und an Abenteuern dehnte sich vor Friedrichs Jugend das Leben. Wenn er das Wort »Welt« vor sich hinsagte, sah er Freuden, Frauen, Ruhm und Reichtum.
Er begleitete Savelli zur Bahn. In einer einzigen, kurzen Sekunde, Savelli stand schon auf dem Trittbrett, glaubte Friedrich zu fühlen, daß sich der Fremde seiner Jugend bemächtigt hatte, seines Lebens, seiner Zukunft. Er wollte ihm die Adresse zurückgeben und sagen: Ich werde Sie nie aufsuchen. Aber jetzt streckte ihm Savelli die Hand entgegen. Er nahm sie. Savelli lächelte. Er schlug die Waggontür zu. Friedrich wartete noch. Savelli kam nicht mehr zum Fenster.
Friedrich lernte, wie man log, Papiere fälschte, die Ohnmacht, die Dummheit und selbst noch die Brutalität der Beamten benützte. Andere in seinem Alter entrannen eben der Angst vor einem Klassenbuch und vor einem Sittenzeugnis. Er wußte bereits, daß es keinen unbestechlichen Menschen in der Welt gab; daß man mit Hilfe des Geldes alles machen konnte und beinahe alles mit Hilfe des Verstandes. Er begann zu sparen. In freien Stunden bereitete er sich für das Abiturium vor. Er war zu diesem Zweck mit einem Studenten der Rechte bekannt geworden, der aus irgendeinem verschwiegenen Grunde die Universität hatte verlassen müssen. Der Student lebte vorläufig hier als Schreiber bei einem Advokaten und erklärte, eine günstigere Zeit abwarten zu wollen. Er nannte sich einen »freien Revolutionär« und hielt noch bei den Idealen der Französischen Revolution. Er bedauerte die mißlungene von Achtundvierzig. Er sprach von den großen Tagen in Paris, von der Guillotine, von Metternich, vom Minister Latour wie von nahen und lebendigen Ereignissen. Er wollte einmal Politiker, oppositioneller Abgeordneter werden. Und er besaß auch schon die robuste, heitere, solide Angriffslust eines Parlamentariers, der einen zarten Minister des alten Regimes wohl aus der Fassung bringen konnte. Indessen beschränkte er seine politische Tätigkeit auf die Teilnahme an den Versammlungen, die zweimal in der Woche beim Schuster Chajkin stattfanden.
Chajkin gehörte zu jenen russischen Emigranten, denen die Armut verwehrt hatte, diese Grenzstadt zu verlassen. Obwohl er knapp für einen Tee, ein Stück Brot, einen Rettich verdiente, unterstützte er die Revolutionäre, die über die Grenze kamen. Den Ausbruch der Weltrevolution erwartete er jeden Monat. Er bildete sich ein, ihr wichtige Dienste zu leisten, und er wurde mit der Zeit das Haupt einer ohnmächtigen Verschwörung. Um ihn versammelten sich die Rebellierenden und Unzufriedenen. Denn es gab ihrer auch einige in dieser Stadt an der Peripherie der kapitalistischen Welt, in der die Gesetzbücher zwar nur noch eine abgeschwächte und profanierte Wirkung hatten, aber die ungeschriebenen Gesetze der Wirtschaft und der bürgerlichen Sitte ihre ganze Geltung bewahrten. Unter dem merkwürdigen und europafernen Lokalkolorit, in dem bizarren Tumult von Abenteuern, Sprachenwirrnis, halber Ländlichkeit schimmerte noch der faule Glanz einer patriarchalischen Unternehmergüte, wurden die Löhne der kleinen Handwerker und der wenigen Arbeiter gedrückt, die Armen in ihrer Untertänigkeit erhalten, die enthüllt in den Gassen lag neben den Gebresten der Bettler. Auch hier zeigten die Eingesessenen einen Haß gegen die Zugewanderten, jeden neu angekommenen Armen – und jede Woche kamen einige – empfing man ebenso feindselig, wie man selbst einmal empfangen worden war. Und sogar die Bettler, die von Almosen lebten, hatten Angst vor Konkurrenten wie die Ladenbesitzer. Von den Offizieren der Garnison ging ein metallener Glanz aus, dem die Töchter der kleinen Bürger erlagen. In Zeiten einer Abgeordnetenwahl rückten Soldaten und Gendarmen in die Stadt und verbreiteten Schrecken, und die Bürger waren genauso devot wie ihre Brüder in größeren europäischen Städten.
Die Empörer versammelten sich bei Chajkin. Der Theorie zuliebe nannte er die paar Gemeindewächter »Handlanger des Kapitalismus«, einen Kaufmann, der seinen Lehrling nicht bezahlte, »Ausbeuter und Unternehmer«, die Gemeinderäte »Nutznießer der Gesellschaft«, die Lehrlinge »Lastträger« und 120 Borstenarbeiter die »proletarische Masse«. Er veranstaltete Diskussionen. Er erläuterte das kleine und das große Programm. Er bereitete Demonstrationen bei verschiedenen Anlässen vor. Nichts hätte ihn seliger machen können als eine Verhaftung. Aber niemand hielt ihn für gefährlich.
An Chajkins Versammlungen nahm Friedrich regelmäßig teil. Er kam aus Neugier. Er blieb aus Ehrgeiz. Er lernte in der Diskussion, um jeden Preis recht zu behalten. Er entwickelte seine starke Begabung für falsche Formulierungen. Er liebte die Stille, die sofort eintrat, wenn er sich zu Wort meldete, und in der er seine Stimme schon zu vernehmen glaubte, noch ehe sie erklang. Er bereitete sich tagelang auf alle wahrscheinlichen Einwände vor. Er lernte, eine Schlagfertigkeit vorzutäuschen, die er in Wirklichkeit nicht besaß. Er sagte fremde Sätze aus Broschüren als seine eigenen auf. Er genoß Triumphe. Dennoch liebte er noch aufrichtig die Armen, die ihm zuhörten, und den roten Brand der Welt, den er entzünden wollte.
Der Welt! Welch ein Wort! Er hörte sie mit jungen Ohren. Sie strömte eine große Schönheit aus, und sie barg eine große Ungerechtigkeit. Zweimal in der Woche hielt er es für nötig, sie zu vernichten, und in den anderen Tagen bereitete er sich vor, sie zu erobern.
Zu diesem Zweck lernte er so eifrig, daß ihm eines Tages sein Freund, der Student, sagen konnte:
»Ich glaube, Sie können in zwei Monaten steigen. Trachten Sie, noch im Herbst zurechtzukommen.«
Friedrich zählte sein erspartes Geld. Es reichte für ein halbes Jahr. Er ging zu Kapturak um Dokumente. Eine Genugtuung lag darin, vor den Behörden der kapitalistischen Welt mit illegalen Papieren aufzutreten. Er hatte keinen Vater und keine Heimat. Seine Geburt war nirgends zur Kenntnis genommen worden. Er nahm es als ein Zeichen und ging zu Kapturak.
»Auf welchen Namen?«
»Friedrich Zimmer.«
»Warum Zimmer?«
»So hat mein Vater geheißen.«
»Russe oder Österreicher?«
»Österreicher.«
»Ganz recht«, meinte Kapturak, »ein junger Mann darf nicht in unserem Dorf bleiben. Geh in die Welt und studiere Jus. Das ist praktisch. Du wirst noch einmal Bezirkshauptmann.«
Es war ein Tag im Juli, als Friedrich Abschied nahm. Die Sonne drückte auf die niedrigen Dächer der Hütten, zwischen denen der Weg zur Bahn führte, und trieb den Rauch aus den Schornsteinen vor die niedrigen Türen. In der Mitte der Straße, die zu beiden Seiten von hölzernen Gehsteigen gesäumt war, lärmten Kinder und Frauen, friedliches Geflügel und kriegerische Hunde. Alles war von einer würzigen, sommerlichen Kraft erfüllt, und über den Rauch der Schornsteine siegte ein ferner Duft von Heu und der Stämme des Fichtenwaldes, der hinter dem Bahnhof lag.
Einer Art überlieferter Rührung war Friedrich zu widerstehen entschlossen. Die Furcht vor einer Wehmut verlieh ihm die falsche Festigkeit, auf die junge Menschen so unnötig stolz sind und die sie für Männlichkeit halten. Er übertrieb die Wichtigkeit dieser Stunde. Er hatte schon zuviel gelesen. Hundert Schilderungen vom Abschiednehmen erlebte er auf einmal wieder. Aber als der Zug zu rollen begann, vergaß er die Stadt, die er verließ, und dachte nur noch an die Welt, in die er fuhr.
Um die Mittagsstunde eines klaren Tages im August trat er, ein Zeugnis in der Tasche, aus dem großen, braunen Tor eines Wiener Gymnasiums. Er ging langsam durch die stille Hitze nach Haus. Die Straßen waren leer. Sie enthielten nur Schatten, Sonne und Steine.
Er begegnete einem Wagen. Die lautlosen Gummiräder rollten über das Pflaster dahin wie über einen glatten Tisch. Nur ein aufmunternder, feudaler Aufschlag der Pferdehufe war hörbar. Im Wagen saß, unter einem hellen Sonnenschirm, wie man ihn damals trug, eine junge Frau. Sie hatte im Vorüberfahren Zeit genug, Friedrich mit der langsamen und beleidigenden Gleichgültigkeit zu betrachten, mit der man einen Baum, ein Pferd und einen Laternenpfahl sieht. Er glitt an ihren Augen vorbei wie an Spiegeln.
Sie weiß nicht, wer ich bin, dachte er. Mein Anzug ist schlecht, kein Wunder, der jüngste Parthagener hat ihn mir billig verkauft. Er hat eine schäbige, falsche Helligkeit. Die Taschen sind zu tief, die Hosen zu breit. Er ist wie eine trügende Sonne im Februar. Ich trage einen Hut aus schwerem Stroh, er drückt wie ein dichtes Drahtgeflecht und spiegelt eine muntere Sommerlichkeit vor. Schöne Frauen sehen gleichgültig an mir vorbei.
Es war eine schöne Frau. Eine schmale Nase mit zarten Flügeln, braune Wangen, ein schmaler, etwas zu gerader Mund. Der Hals, schlank und wahrscheinlich braun, verlor sich im Kragen des geschlossenen Kleides. Ein Fuß in einem taubengrauen Schuh saß wie ein Vogel auf dem rot gepolsterten Sitz aus Samt dem Gesicht gegenüber. Das Sonnenlicht überfloß den Körper, das cremefarbene Kleid, gefiltert durch den Schirm, der wie ein winziger Himmel seine eigene kleine Welt überspannte.
Der Kutscher in einer aschgrauen Livree hielt die Zügel straff. Parallel über seinen Knien schwebten seine Unterarme. Das schimmernde, beinahe goldene Schwarz der Pferde hatte eine feierliche Heiterkeit. Ihre gestutzten Schweife verrieten eine kokette Kraft. Sie hoben und senkten sich nach den geheimen Gesetzen eines Rhythmus, der Fußgängern unergründlich blieb.
Diese Begegnung mit einer schönen Frau war wie das erste Zusammentreffen mit einem Feind. Friedrich prüfte seine Stellung. Er zählte seine Kräfte. Er sammelte sie und überlegte, ob er eine Schlacht wagen könne. Er hatte soeben eine Barriere genommen. Er war durch eine lächerliche Prüfung gesellschaftsfähig geworden. Er konnte alles werden: ein Verteidiger der Menschen, aber auch ihr Unterdrücker; ein General und ein Minister; ein Kardinal, ein Politiker, ein Volkstribun. Nichts – abgesehen von seinem Anzug – hinderte ihn, noch weit über den Stand hinaus zu gelangen, den die junge Frau einnehmen mochte; von ihr und ihresgleichen angebetet zu werden; und sie nicht zu erhören. Natürlich – sie nicht zu erhören.
Welch ein weiter Weg für einen, der arm und allein ist! Für einen, der nicht einmal einen Namen und ein Dokument hat! Alle andern wurzeln in einem Haus. Alle anderen sind festgefügt wie Ziegel in einer Mauer. Sie haben die köstliche Gewißheit, daß ihr eigener Untergang auch das Ende der anderen ist. Die Gassen sind still und erfüllt von friedlichem Sonnenlicht. Verschlossene Fenster. Herabgelassene Jalousien. Lauter Glück und Liebe wohnten hinter den gelben und grünen Vorhängen.
Söhne verehren ihre Väter, Mütter verstehen ihre Kinder, Frauen herzen ihre Männer, Brüder umarmen einander.
Er konnte sich nicht von diesem stillen, wohlhabenden, glücklichen Bezirk trennen, in den er geraten war. Er machte Umwege, als könnte es plötzlich durch ein Wunder geschehen, daß er vor seinem Hause steht, ohne die lärmenden, schmutzigen Straßen überquert zu haben, die zu seiner Wohnung führen. Die Schornsteine der Fabriken tauchten gleich hinter den Dächern auf. Die Menschen haben in Massenquartieren geschlafen, können ihre Balance nicht halten und sehen aus wie betrunken. Die Hast der Armut ist erschreckt und lautlos und erzeugt dennoch einen vagen Lärm.
Er wohnt bei einem Schneider, in einem finsteren Kabinett. Das Fenster hat matte Scheiben und führt in den Flur. Es verwehrt dem Tag den Zutritt und den Nachbarn den Einblick. Im Schlafzimmer des Wirtes rasseln die Nähmaschinen. Über dem Bett liegt das Bügelbrett, an der Tür lehnt die Probierpuppe, in der Küche nimmt man einem Kunden Maß, und die Frau, zum Herd gewandt, das Angesicht gerötet, bedroht die spielenden vier Kinder.
Wenn ich zuerst ins Gasthaus gehe, überlegt Friedrich, komme ich erst nach dem Essen der Familie heim. Dann wäscht man nur noch das Geschirr.
Er geht in ein kleines Gasthaus. Ein Mann setzt sich an seinen Tisch. Er hat auffallend große, dürre, wie aus gelbem Papier gemachte Ohren, der Kopf erinnert an eine Fledermaus.
»Ich glaube, Sie sind mein Nachbar«, sagte der Mann. »Wohnen Sie nicht auf sechsunddreißig drüben?«
»Ja!«
»Ich habe Sie schon vor einer Woche gesehn. Essen Sie immer hier?«
»Manchmal.«
»Sie sind wahrscheinlich Student.«
»Noch nicht! Ich will erst inskribieren.«
»Was? Wenn ich fragen darf?«
»Weiß noch nicht!«
»Ich bin Adressenschreiber«, sagte der Mann. »Ich heiße Grünhut. Ich habe auch einmal studiert. Aber ich habe Unglück gehabt.« Es war, als wollte er sagen: Sie werden diesem Schicksal auch nicht entgehen.
»Es geht Ihnen gut?« sagte Friedrich.
»Wie einem Adressenschreiber! Pro Kuvert drei Heller. Hundert im Tag, manchmal hundertzwanzig. Ich kann Ihnen auch welche verschaffen. Sehr gern! Ich bin gerne bereit. Haben Sie eine deutliche Schrift? Kommen Sie morgen!«
Sie gingen in das Magazin einer Leinenhandlung. Der Buchhalter übergab ihnen eine Liste und hundertfünfzig grüne Kuverts.
»Wo essen Sie am Abend?« fragte Grünhut. »Kommen Sie mit mir.«
Sie aßen in einem Keller. Man bekam Suppe aus Abfällen von Wurstwaren. Lange Tische. Hastige, scheppernde Löffel. Geschirr aus Metall. Geräusche von schnalzenden Lippen, kratzenden Löffeln, gurgelnden Kehlen.
»Gute Suppe!« sagte Grünhut. »Den Kaffee, das werde ich Ihnen auch zeigen, nehmen wir drüben beim Grüner. Sie werden es eh bald nicht mehr nötig haben! In der Mensa academica werden Sie essen. Habe auch einmal dort gespeist.«
»Ich kann auch in die Lage kommen«, meinte Friedrich.
»Wie? Nicht wahr? Welche Lage? Meine Lage natürlich! Glauben Sie! Ja. Es ist gut, daß ich Ihnen alle diese Lokale zeige. Ich habe sie selbst suchen müssen.«
»Ich danke Ihnen!«