Der Stümper - Patricia Highsmith - E-Book

Der Stümper E-Book

Patricia Highsmith

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Beschreibung

Der Buchhändler Kimmel hat seine untreue Frau Helen umgebracht, sich dabei aber ein so stichfestes Alibi besorgt, daß kein Verdacht auf ihn fällt. Auch Anwalt Stackhouse führt eine unglückliche Ehe. Seitdem er einen Zeitungsartikel über den unaufgeklärten Kimmel-Mord gelesen und den fröhlichen Witwer besucht hat, spielt er mit düsteren Gedanken. Doch seine Frau kommt ihm zuvor
Ein Roman über den feinen Grat zwischen Schuld und Unschuld, über Reue und die ewige Angst vor sich selber."

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Patricia Highsmith

Der Stümper

Roman

Aus dem Amerikanischen von Melanie Walz

Mit einem Nachwort von Paul Ingendaay

Herausgegeben von Paul Ingendaay und Anna von Planta

Diogenes

Der Stümper

Für L.

1

Der Mann in der dunkelblauen Hose und dem tannengrünen Sporthemd wartete ungeduldig in der Schlange.

Das Mädchen an der Kasse war dämlich, dachte er, hatte noch nie flink kassiert. Er legte seinen dicken Kahlkopf in den Nacken und las die Schriftzüge Neu im Kino: ›Eine Frau für gewisse Stunden‹ über dem Eingang, betrachtete desinteressiert das Plakat, auf dem eine halbnackte Frau ihren Oberschenkel zeigte, und blickte hinter sich, um zu sehen, ob er einen Bekannten in der Schlange ausfindig machen konnte. Nein. Aber er hätte keinen besseren Moment aussuchen können, dachte er. Gerade rechtzeitig für die 8-Uhr-Vorstellung. Er schob seinen Dollar durch die Öffnung des Kassenhäuschens.

»Tag«, sagte er lächelnd zu dem blonden Mädchen.

»Tag.« Ihre ausdruckslosen blauen Augen belebten sich. »Wie geht es Ihnen?«

Es war keine Frage. Und er gab keine Antwort.

Er trat in das Kino mit dem leicht muffigen Geruch und hörte die hektische Fanfare der Wochenschau, die gerade begann. Er ging an dem Stand mit Süßigkeiten und Popcorn vorbei, und als er das Kino durchquert hatte, drehte er sich – graziös trotz seiner Massigkeit – um und ließ seinen Blick schweifen. Tony Ricco war da. Er ging schneller und erreichte Tony, als sie beide den Mittelgang betraten.

»Hallo, Tony!« sagte der Mann in dem etwas herablassenden Ton, in dem er immer mit Tony sprach, wenn der ihn im Lebensmittelgeschäft seines Vaters bediente.

»Oh, Mr. Kimmel!« Tony lächelte. »Ganz allein heute abend?«

»Meine Frau ist vorhin nach Albany gefahren.« Er winkte Tony zu und bog in eine Sitzreihe ab.

Tony ging weiter, näher zur Leinwand.

Der Mann drückte sich an die Rückenlehnen und murmelte »Verzeihung« und »Danke«, während er sich weiterbewegte; alle mußten aufstehen oder sich halb erheben, um ihn durchzulassen. Er ging so lange weiter, bis er die Sitzreihe passiert hatte. Er ging zu der Tür mit der roten Aufschrift Ausgang, trat durch zwei Metalltüren und gelangte in die warme, stickige Luft auf dem Gehweg. Er ging in die dem Kinoeingang entgegengesetzte Richtung und überquerte die Straße. Er ging um die Ecke und stieg in seinen schwarzen zweitürigen Chevrolet.

Er fuhr bis auf einen Häuserblock an den Cardinal-Lines-Busbahnhof heran, wartete etwa zehn Minuten in seinem Wagen, bis ein Bus mit der Aufschrift Newark–New York–Albany den Bahnhof verließ, und folgte dem Bus.

Er folgte dem Bus durch den zähflüssigen Verkehr vor dem Holland-Tunnel und schlug in Manhattan den Weg nach Norden ein. Er hielt zwei Autos Abstand zu dem Bus, auch nachdem sie die Stadt verlassen hatten und der Verkehr flüssiger wurde. Der erste Halt, dachte er, würde auf der Höhe von Tarrytown sein, vielleicht schon früher. Wenn der Ort sich nicht eignete, würde er weiterfahren müssen. Und wenn es keinen zweiten Halt gab, dann eben in Albany, in irgendeiner Gasse. Seine breiten, fleischigen Lippen verzogen sich, während er sich auf das Fahren konzentrierte, doch der Blick seiner braunen Augen, die von den dicken Brillengläsern vergrößert wurden, veränderte sich nicht.

Der Bus hielt vor einer Ansammlung beleuchteter Lebensmittelläden und einem Café; er fuhr vorbei und hielt an, parkte so nahe am Straßenrand, daß die Zweige eines Baums die Wagentür berührten. Er stieg schnell aus, lief los und ging erst dann langsamer, als er den Lichtkegel an der Bushaltestelle erreichte, wo der Bus angehalten hatte.

Die Fahrgäste verließen den Bus. Er sah die Frau aussteigen, sah die linkischen, abrupten Bewegungen ihres untersetzten Körpers, als sie die wenigen Stufen herunterkam. Er war neben ihr, bevor sie ein paar Meter gegangen war.

»Du!« sagte sie.

Ihr grau und schwarz meliertes Haar war zerzaust, und ihre dummen braunen Augen starrten zu ihm hoch mit animalischer Überraschung, animalischer Furcht. Ihm war, als stritten sie noch immer in ihrer Küche in Newark. »Ich habe noch ein paar Dinge zu sagen, Helen. Laß uns da rübergehen.« Er nahm ihren Arm, führte sie zur Straße.

Sie riß sich los. »Der Bus hält hier nur zehn Minuten. Sag jetzt, was du zu sagen hast.«

»Er hält zwanzig Minuten. Ich habe mich erkundigt«, sagte er gelangweilt. »Laß uns hier entlanggehen, wo man uns nicht belauschen kann.«

Sie kam mit ihm. Er hatte bereits bemerkt, daß es rechts der Straße, wo sein Wagen stand, hohe Bäume und dichtes Gebüsch gab. Nur ein paar Meter weiter die Straße entlang –

»Wenn du denkst, ich würde mir die Sache mit Edward noch einmal überlegen«, sagte sie furchtsam und stolz, »dann hast du dich getäuscht. Ich bleibe dabei!«

Edward! Ganz die edle Dame in stolzer Liebe, dachte er angewidert. »Aber ich habe es mir überlegt«, sagte er leise in zerknirschtem Ton, während seine Finger sich unwillkürlich in ihren schlaffen Arm krallten. Er konnte es kaum abwarten. Er drehte sich auf der Straße zu ihr um.

»Mel, ich will mich nicht so weit von den anderen –«

Er sprang sie an, warf sie tief in das Gebüsch am Straßenrand. Fast wäre er selbst gestürzt, doch mit der Linken hielt er ihr Handgelenk umklammert. Mit der Rechten schlug er ihr gegen den Kopf, fest genug, um ihr das Genick zu brechen, dachte er, doch ihr linkes Handgelenk hielt er weiter umklammert. Das war erst der Anfang. Sie lag auf dem Boden; seine linke Hand fand ihre Kehle, schloß sich um sie, würgte ihren Schrei ab. Mit der anderen Faust hieb er auf ihren Körper ein; er schlug mit der Handkante wie mit einem Hammer auf den harten Brustkorb zwischen den schwabbeligen, schützenden Brüsten. Dann schlug er sie mit den gleichen hammerartigen Schlägen auf die Stirn und auf das Ohr, und zuletzt schlug er ihr mit der Faust unter das Kinn, wie er es bei einem Mann getan hätte. Dann langte er in die Tasche, nahm sein Messer, klappte es auf und stieß damit zu – dreimal, viermal, fünfmal. Er konzentrierte sich auf ihren Kopf, weil er ihn zerstören wollte, traf immer wieder mit dem Rücken seiner geschlossenen Finger die Wange, bis seine Hand im Blut ausrutschte und ihre Kraft verlor, ohne daß er sich dessen gewahr wurde. Er empfand nichts als blanke Freude, ein glorreiches Gefühl der Gerechtigkeit, gerächter Kränkungen, Jahre der Beschimpfung und der Schande, der Langeweile, des Stumpfsinns, vor allem des Stumpfsinns, die er ihr heimzahlte.

Er hielt erst inne, als er keine Luft mehr bekam. Er merkte, daß er auf ihrem Oberschenkel kniete, und wich voller Ekel zurück. Sehen konnte er nur den hellen Umriß ihres Sommerkleids. Lauschend spähte er in die Dunkelheit. Er hörte nichts außer dem rhythmischen Surren der Insekten, dem schnellen Brummen eines Wagens, der auf der Straße vorbeifuhr. Er sah, daß er sich nur wenige Schritte von der Straße entfernt hatte. Er war sich ziemlich sicher, daß sie tot war. Ganz bestimmt. Plötzlich hätte er gern ihr Gesicht gesehen; seine Hand fuhr automatisch zu seiner Tasche mit der Taschenlampe, doch er wollte nicht riskieren, daß das Licht gesehen wurde.

Er beugte sich vorsichtig vor, streckte eine seiner großen Hände mit gespreizten Fingern aus, auf die Berührung gefaßt, und spürte, wie sein Abscheu wuchs, als seine Hand sich näherte. Sobald er mit den Fingerspitzen die glitschige Haut berührte, schnellte seine andere Faust vor, zielte auf die Stelle direkt unterhalb der Fingerspitzen. Dann richtete er sich auf, kurz heftig atmend und ohne nachzudenken, nur mit Lauschen beschäftigt. Dann begann er zur Straße zu gehen. Im gelben Licht der Straßenlaternen untersuchte er sich auf Blutspuren und fand keine bis auf das Blut an seinen Händen. Geistesabwesend rieb er im Gehen die Hände, die dadurch noch klebriger und ekelerregender wurden, und wünschte sich, er könne sie waschen. Es ärgerte ihn, daß er sein Lenkrad berühren mußte, bevor er sich die Hände waschen konnte, und mit pedantischer Sorgfalt malte er sich aus, wie er zu Hause den Lappen unter dem Wasserhahn naß machen und das ganze Lenkrad abwischen würde. Sogar scheuern würde er es.

Er sah, daß der Bus fort war. Er hatte keine Ahnung, wie lange er gebraucht hatte. Er stieg in seinen Wagen, wendete und fuhr nach Süden. Auf seiner Armbanduhr war es Viertel vor elf. Sein Hemdärmel war zerrissen; er dachte sich, daß er das Hemd verschwinden lassen mußte. Er nahm an, daß er kurz nach ein Uhr wieder in Newark sein würde.

2

Es begann zu regnen, während Walter im Wagen wartete.

Er blickte von seiner Zeitung auf und nahm den Arm aus dem Fenster. Dunkelblaue Regenflecken sprenkelten den blauen Leinenärmel seines Jacketts.

Die großen Sommerregentropfen trommelten lauter auf das Wagendach, und innerhalb von Sekunden glänzte der gewölbte Teer der Straße vor Nässe und spiegelte die Neonreklame des einen Häuserblock entfernten Drugstores als langgezogenen roten Streifen. Die Dämmerung brach herein, und der Regen hatte unversehens einen dunklen Schatten über die Stadt geworfen. Die adretten Häuser im Neuengland-Stil, die die Straße säumten, wirkten in dem grauen Licht noch weißer, und die niedrigen weißen Zäune der Raseneinfassungen zeichneten sich so gestochen scharf ab wie die Fäden eines Stickmusters.

Ideal, ideal, dachte Walter. Genau die Art Ortschaft, in der man ein gesundes und gutmütiges Mädchen heiratet, mit dem man in einem weißen Haus lebt, samstags angeln geht und die Söhne zum gleichen Lebensstil erzieht.

Grauenhaft, hatte Clara nachmittags gesagt und auf das Miniaturspinnrad neben dem Kamin des Gasthauses gedeutet. In ihren Augen war Waldo Point ein Touristenkaff. Walter hatte den Ort mit Vorbedacht und nach langem Überlegen ausgesucht, weil er die am wenigsten touristische unter einer langen Reihe von Städten auf Cape Cod war. Walter erinnerte sich, daß Clara sich in Provincetown sehr wohl gefühlt und sich nicht darüber beklagt hatte, daß der Ort touristisch sei. Aber das war im ersten Jahr ihrer Ehe gewesen; jetzt war es das vierte Jahr. Der Inhaber des Spinndrift Inn hatte Walter gestern erzählt, daß sein Großvater das Spinnrad für seine kleinen Töchter zum Üben gebaut hatte. Wenn Clara in der Lage wäre, sich nur für eine Minute an die Stelle –

Eine Bagatelle, weiter nichts, dachte Walter. So verhielt es sich mit all ihren Streitigkeiten. Gestern zum Beispiel – der Streit darüber, ob ein Mann und eine Frau unweigerlich nach zwei Jahren Ehe einander körperlich überdrüssig waren. Walter hielt das nicht für zwingend. Clara war der lebende Beweis, obwohl sie besonders zynisch und unschön behauptet hatte, daß es zwingend so sei. Walter hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als ihr zu sagen, daß er sie körperlich genausosehr liebte wie früher. Wußte sie es nicht sowieso? Und war das nicht der einzige Zweck ihrer Argumentation gewesen – ihn zu irritieren?

Walter setzte sich anders hin, fuhr sich mit den Fingern durch das dichte blonde Haar und versuchte, sich zu entspannen und sich auf die Zeitung zu konzentrieren. Mein Gott, dachte er, und das soll Urlaub sein.

Seine Augen überflogen eine Spalte über amerikanische Soldaten in Frankreich, doch seine Gedanken beschäftigten sich noch immer mit Clara. Er dachte an den Mittwochvormittag nach dem frühmorgendlichen Ausflug im Fischerboot (zumindest dieser Ausflug mit Manuel hatte ihr Vergnügen gemacht, weil sie dabei etwas gelernt hatte), als sie auf ihr Zimmer gegangen waren, um sich auszuruhen. Es war einer der seltenen Momente gewesen, in denen Clara blendender Laune war. Sie hatten über irgend etwas gelacht, und ihre Arme hatten sich enger um seinen Hals geschlossen …

Das war am Mittwoch vormittag gewesen, vorvorgestern, doch schon am nächsten Tag hatte ihre Stimme eisig geklungen – das ewiggleiche Muster des Abstrafens nach erwiesener Gunst.

Es war zehn Minuten nach acht. Walter blickte aus dem Wagenfenster zum Eingang des Gasthauses etwas weiter hinten. Noch nichts von ihr zu sehen. Er sah wieder auf die Zeitung und las: Frauenleiche bei Tarrytown, N.Y., aufgefunden.

Die Frau war brutal erstochen und zusammengeschlagen worden, aber nicht ausgeraubt. Die Polizei tappte im dunkeln. Sie war Fahrgast in einem Bus von Albany nach New York gewesen, war nach einer Rastpause nicht wiedergekommen, und der Bus hatte ohne sie weiterfahren müssen.

Walter überlegte, ob diese Geschichte Material für einen seiner Essays hergab, ob der Mörder in einer besonderen Beziehung zu der Frau gestanden haben mochte. Er erinnerte sich an einen anscheinend ohne Motiv begangenen Mord, von dem er gelesen hatte und der später durch die ungleiche Freundschaft zwischen Mörder und Opfer erklärt worden war, eine Freundschaft wie die zwischen Chad Overton und Mike Duveen. Die Geschichte des Mordes hatte Walter dazu verholfen, einzelne potentiell gefährliche Elemente der Freundschaft zwischen Chad und Mike herauszuarbeiten. Die kleine Meldung über die Frau aus Newark riß er am Rand der Zeitung ab und steckte sie in die Tasche. Ein paar Tage lang wollte er sie aufbewahren und abwarten, ob etwas über den Mörder herausgefunden werden würde.

Die Essays waren seit zwei Jahren Walters Hobby. Unter dem Titel Unwürdige Freundschaften sollten es insgesamt elf Texte werden. Fertig war erst einer, der über Chad und Mike; für mehrere andere hatte er Entwürfe geschrieben, und sie beruhten allesamt auf Beobachtungen an seinen eigenen Freunden und Bekannten. Seine These war die, daß die meisten Menschen mindestens eine Freundschaft zu einem Menschen unterhielten, dem sie überlegen waren und zwar aufgrund bestimmter Bedürfnisse und Mängel, die sie in dem minderwertigen Freund entweder gespiegelt oder komplementiert sahen. Chad und Mike beispielsweise: Beide entstammten wohlhabenden Familien und waren verwöhnt, doch Chad hatte sich aus freien Stücken für eine Tätigkeit entschieden, während Mike noch immer Playboy war, allerdings einer, den seine Familie an die kurze Leine gelegt hatte. Mike war ein Trinker und ein Tunichtgut und scheute sich nicht, seine Freunde auszunutzen. Allerdings war Chad inzwischen Walters einziger Freund. Chad war offenbar der Ansicht, in Mike das Schicksal verkörpert zu sehen, das ihm selbst erspart geblieben war, und er half Mike immer wieder aus der Patsche. Mike war als Freund nicht viel wert. Walter hatte nicht die Absicht, sein Buch einem Verlag vorzulegen. Die Essays verfaßte er nur zum eigenen Vergnügen, und es interessierte ihn nicht einmal, sie zu Ende zu schreiben.

Walter ließ sich in den Sitz zurücksinken und schloß die Augen. Er dachte an das 50000-Dollar-Grundstück in Oyster Bay, das Clara verkaufen wollte. Walter betete insgeheim, daß einer der zwei Interessenten es kaufen würde, um Claras willen und seinetwegen. Gestern hatte sie den Großteil des Nachmittags mit dem eingehenden Studium der Grundrisse von Haus und Garten verbracht. Ihren Schlachtplan für die nächste Woche vorbereiten, so hatte sie es genannt. Sie würde wie eine Furie in die Schlacht ziehen, das wußte er. Es war verblüffend, daß sie ihre Kunden nicht abschreckte, daß die Kunden ihr etwas abkauften. Aber so war es. Bei Knightsbridge Brokerage betrachtete man sie als Topimmobilienhändlerin.

Wenn er sie nur dazu bringen könnte, etwas entspannter zu sein. Ihr die richtige Art Sicherheit zu vermitteln, daran hatte er früher geglaubt. Gab er sich nicht genug Mühe? Liebe, Zuneigung und auch Geld. Aber es nützte alles nichts.

Er hörte ihre Schritte – die hohen Absätze klapperten beim Laufen –, setzte sich schnell auf und dachte: Verdammt, ich hätte bis zum Eingang zurückfahren sollen, weil es regnet. Er beugte sich über den Beifahrersitz und öffnete ihr die Tür.

»Warum hast du nicht vor der Tür gewartet?« fragte sie.

»Tut mir leid. Ist mir eben erst eingefallen.« Er wagte zu lächeln.

»Hast du etwa nicht mitbekommen, daß es regnet?« sagte sie und schüttelte fassungslos ihren kleinen Kopf. »Runter mit dir, Süßer, du bist naß!« Sie schubste ihren Foxterrier Jeff vom Sitz, doch er sprang wieder hinauf. »Jeff, Schluß jetzt!«

Jeff kläffte freudig, als wäre es ein Spiel, und zum drittenmal war er wieder oben wie ein Schachtelteufel. Clara ließ ihn gewähren und nahm ihn zärtlich in den Arm.

Walter fuhr zum Stadtzentrum. »Wie wäre es mit einem Drink im Melville, bevor wir essen gehen? Es ist unser letzter Abend.«

»Ich will keinen Drink, aber wenn du unbedingt einen haben mußt, gehe ich mit.«

»Okay.« Vielleicht konnte er sie zu einem Tom Collins überreden. Oder wenigstens zu einem süßen Vermouth mit Soda. Aber wahrscheinlich konnte er sie nicht überreden, und lohnte es sich, sie zu nötigen, ihm bei seinem Drink Gesellschaft zu leisten? Und meistens hatte er Lust auf einen zweiten Drink. Walter erlebte einen Augenblick der Ambivalenz, der Willensschwäche, und konnte sich nicht entscheiden, ob er einen Drink wollte oder nicht. Er fuhr an dem Hotel vorbei, ohne anzuhalten.

»Ich dachte, wir wollten ins Melville gehen«, sagte Clara.

»Ich habe es mir anders überlegt. Wenn du sowieso nichts trinken willst.« Walter legte seine Hand über ihre Hand und drückte sie. »Wir fahren zum Lobster Pot.«

Am Ende der Straße bog er nach links ab. Das Lobster Pot lag auf einem kleinen Felsvorsprung oberhalb des Strandes. Die Meeresluft strömte in den Wagen, kühl und salzig. Walter fand sich plötzlich in völliger Dunkelheit wieder. Er suchte mit dem Blick nach der Kette blauer Lichter, die zum Lobster Pot gehörte, konnte sie aber nirgends erkennen.

»Am besten fahre ich zur Hauptstraße zurück und orientiere mich an der Tankstelle, wie ich es sonst immer tue«, sagte Walter.

Clara lachte. »Du warst ja auch erst höchstens fünfmal hier, wenn nicht öfter!«

»Na und?« sagte Walter mit bemühter Indifferenz. »Wir sind schließlich nicht in Eile, oder?«

»Nein, aber es ist schwachsinnig, Zeit und Energie zu verschwenden, wenn du mit ein bißchen Grips von Anfang an den richtigen Weg hättest nehmen können!«

Walter verzichtete darauf, ihr zu sagen, daß sie mehr Energie verschwendete als er. Die angespannte Haltung ihres Körpers, das verbissen zur Windschutzscheibe gereckte Gesicht schmerzten ihn, weckten in ihm den Eindruck, daß die ganze Woche Urlaub vergebens gewesen war, so vergebens wie der herrliche Vormittag nach dem Angeln. Schon am nächsten Tag vergessen wie die anderen herrlichen Nächte, Vormittage, die er im vergangenen Jahr an den Fingern abzählen konnte, kleine verstreute Oasen. Er versuchte sich etwas Nettes einfallen zu lassen, das er zu ihr sagen konnte, bevor sie ausstiegen.

»Mit diesem Schal gefällst du mir«, sagte er und lächelte. Sie trug den Schal lose um die nackten Schultern und über die Unterarme geworfen. Er hatte ihren Geschmack bei der Auswahl und bei der Zusammenstellung ihrer Garderobe immer geschätzt.

»Es ist eine Stola«, sagte sie.

»Eine Stola. Ich liebe dich, Schatz.« Er neigte den Kopf, um sie zu küssen, und sie hielt ihm die Lippen hin. Er küßte sie behutsam, um ihren Lippenstift nicht zu verschmieren.

Clara bestellte kalten Hummer mit Mayonnaise, ein Gericht, das sie liebte, und Walter bestellte gegrillten Fisch und eine Flasche Riesling.

»Ich hatte gehofft, du würdest heute abend Fleisch bestellen, Walter. Wenn du schon wieder Fisch ißt, bekommt Jeff heute gar nichts!«

»Schon gut«, sagte Walter. »Ich nehme ein Steak. Dann kann Jeff sich satt essen.«

»In was für einem Märtyrerton du das sagst!«

Die Steaks im Lobster Pot waren nicht bemerkenswert. Walter hatte erst kürzlich wegen Jeff Steak bestellt. Jeff fraß keinen Fisch. »Es macht mir nichts aus, Clara. Laß uns am letzten Abend keinen Streit anfangen.«

»Wer fängt denn damit an? Du suchst doch schon wieder Streit!«

Aber das Steak war bestellt worden. Clara hatte sich durchgesetzt; sie seufzte und ließ den Blick schweifen, offenbar mit den Gedanken woanders. Eigenartig, dachte Walter, daß Claras Sparsamkeit auch Jeffs Futter betraf, obwohl Jeff in jeder anderen Hinsicht nach Strich und Faden verwöhnt wurde. Wie kam das? Welcher Umstand in Claras Herkunft hatte sie zu jemandem werden lassen, der jeden Pfennig umdrehte? Ihre Familie war weder arm noch reich. Ein weiteres Rätsel, das Clara ihm aufgab und das er wohl nie lösen würde.

»Kits«, sagte er liebevoll. Es war sein Kosename für sie, den er selten benutzte, damit er kostbar blieb. »Heute abend wollen wir es uns gutgehen lassen. Es wird sicher eine ganze Weile dauern, bis wir wieder Zeit für einen gemeinsamen Urlaub haben. Wie wäre es mit einem Tänzchen im Melville nach dem Essen?«

»Von mir aus«, sagte Clara. »Aber vergiß nicht, daß wir morgen um sieben rausmüssen.«

»Ich vergesse es nicht.« Die Fahrt nach Hause dauerte nur sechs Stunden, doch Clara wollte nachmittags zeitig zurück sein, um sich zum Tee mit den Philpotts zu treffen, ihren Chefs bei Knightsbridge Brokerage. Walter legte behutsam seine Hand über ihre, die auf dem Tisch lag. Er liebte ihre Hände. Sie waren klein, aber nicht zu klein, wohlgeformt und ziemlich kräftig. Ihre Hand paßte genau in seine Hand.

Clara sah ihn nicht an. Sie blickte ins Leere, nicht verträumt, sondern konzentriert. Sie hatte ein kleines, hübsches Gesicht, obwohl ihre Miene kühl und geistesabwesend war und ihr Mund traurig wirkte. Es war ein Gesicht mit unauffälligem Mienenspiel, an das man sich schlecht erinnern konnte.

Walter warf einen Blick hinter sich, um nach Jeff zu sehen. Clara hatte ihn von der Leine gelassen, und er trottete durch den großen Raum, schnüffelte an den Füßen der Leute und ließ sich von ihnen füttern. Von den Tellern anderer Leute frißt er Fisch, dachte Walter. Es war Walter peinlich, denn der Kellner hatte sie erst kürzlich gebeten, den Hund anzuleinen.

»Der Hund stört niemanden«, kam Clara ihm zuvor.

Walter probierte den Wein und bedeutete dem Kellner mit einem Nicken, daß er in Ordnung sei. Er wartete, bis Claras Glas gefüllt war, bevor er seines hob. »Auf glückliche Sommertage und einen guten Oyster-Bay-Abschluß«, sagte er, und er sah, daß ihre braunen Augen bei der Erwähnung von Oyster Bay aufleuchteten. Als Clara einen Schluck Wein getrunken hatte, sagte er: »Wärest du einverstanden, wenn wir einen Termin für die Party festlegen?«

»Was für eine Party?«

»Die Party, über die wir vor unserer Abreise aus Benedict gesprochen hatten. Du sagtest, Ende August sei dir recht.«

»Schon gut«, sagte Clara leise und widerwillig, als habe sie einen Wettkampf verloren und müsse nun wohl oder übel ein Zugeständnis machen. »Vielleicht Samstag, den achtundzwanzigsten.«

Sie begannen die Gästeliste zusammenzustellen. Es gab keinen besonderen Grund für die Party, nur den, daß sie seit ihrem Silvesterbuffet keine richtige Einladung mehr gegeben hatten und mittlerweile zu einem Dutzend gegangen waren. Ihre Freunde in und um Benedict gaben häufig Parties, und obwohl Clara und Walter nicht immer eingeladen wurden, waren sie es doch oft genug, um sich nicht übergangen zu fühlen. Die Iretons mußten selbstverständlich eingeladen werden, die McClintocks, die Jensens, die Philpotts, Jon Carr und Chad Overton.

»Chad?« sagte Clara.

»Ja. Warum nicht? Ich finde, das sind wir ihm schuldig, findest du nicht auch?«

»Er ist uns etwas schuldig – ein Entschuldigung, wenn du mich fragst!«

Walter nahm sich eine Zigarette. Chad war eines Abends zufällig vorbeigekommen, auf dem Rückweg von Montauk, und irgendwie – Walter wußte nicht mehr, wie es gekommen war – hatte er so viele Martinis getrunken, daß er auf ihrem Sofa in tiefen Schlaf gefallen war. Alle Erklärungen, daß Chad von der langen Fahrt in der Hitze erschöpft gewesen war, hatten nichts genützt. Chad war auf der schwarzen Liste. Und dabei hatten sie mehrmals in Chads Wohnung übernachtet, wenn sie in New York ins Theater gegangen waren, und Chad hatte die Nacht bei einem Freund verbracht, damit sie die Wohnung für sich allein hatten.

»Kannst du das nicht endlich vergessen?« sagte Walter. »Er ist ein guter Freund, Clara, und außerdem ein intelligenter Bursche.«

»Ich bin mir sicher, daß er sich wieder hemmungslos betrinkt, wenn er eine Flasche in die Hände bekommt.«

Es war sinnlos, Clara zu erklären, daß Chad weder vor noch nach diesem Zwischenfall jemals die Kontrolle über sich verloren hatte. Oder sie daran zu erinnern, daß Walter seine derzeitige Stelle zufällig Chad verdankte. Walter hatte nach dem Jurastudium in der Anwaltskanzlei Adams, Adams & Branower als Chads Assistent gearbeitet. Er hatte die Firma verlassen und war nach San Francisco gezogen, wo er eine eigene Kanzlei eröffnen wollte, doch dann hatte er Clara kennengelernt und geheiratet, und Clara sah ihn lieber wieder in New York und als Syndikus, was mehr Geld einbrachte. Chad hatte ihn einer Rechtsberatungsfirma namens Cross, Martinson & Buchman in höheren Tönen angepriesen, als er verdient hatte. Chad war mit Martinson gut befreundet. Die Firma zahlte Walter das Gehalt eines erfahrenen Topanwalts, obwohl er erst dreißig war. Ohne Chad, dachte Walter, säßen sie jetzt nicht im Lobster Pot und tränken importierten Riesling. Walter dachte sich, daß er Chad in nächster Zeit in Manhattan zum Lunch einladen würde. Oder Clara belügen und einen Abend mit ihm verbringen. Oder ihr lieber nichts vorlügen, sondern ankündigen, was er vorhatte. Walter zog an seiner Zigarette.

»Mußt du beim Essen rauchen?«

Das Essen wurde serviert. Walter drückte seine Zigarette betont gelassen im Aschenbecher aus.

»Findest du etwa nicht, daß er uns etwas schuldet? Wenigstens einen Blumenstrauß?«

»Schon gut, Clara, ist schon – gut.«

»Warum dieser übellaunige Ton?«

»Weil Chad mein Freund ist, und wenn wir ihn weiterhin so vergraulen, wird er uns fallenlassen. So wie wir die Whitneys vergrault haben.«

»Wir haben die Whitneys nicht vergrault. Du scheinst in dem Glauben zu leben, du müßtest anderen Leuten die Stiefel lecken und dir alles von ihnen gefallen lassen, um mit ihnen befreundet zu bleiben. Ich kenne niemanden, der sich mehr zu Herzen nimmt, was Krethi und Plethi von ihm denkt!«

»Laß uns nicht streiten, Schatz.« Walter hielt sich die Hände vor das Gesicht, ließ sie jedoch sofort wieder sinken. Es war eine alte Gewohnheit, die er sich nur zu Hause, ohne Zuschauer, erlaubte. Er konnte es nicht ertragen, seinen Urlaub damit enden zu lassen. Er drehte sich um und hielt Ausschau nach Jeff. Jeff war am anderen Ende des Raums und versuchte, den Fuß einer Frau zu bespringen. Die Frau begriff nicht, was er tat, und tätschelte ihm den Kopf. »Ich glaube, ich gehe ihn besser holen«, sagte Walter.

»Er tut niemandem was. Beruhige dich.« Clara zerlegte ihren Hummer geschickt und aß schnell, wie sie es immer tat.

Doch im nächsten Augenblick trat ein Kellner an den Tisch und sagte lächelnd: »Wären Sie so freundlich, Ihren Hund an die Leine zu nehmen, Sir?«

Walter stand auf und ging durch den Raum zu Jeff; in seiner weißen Hose und dem blauen Jackett kam er sich entsetzlich auffällig vor. Jeff mühte sich noch immer mit dem Fuß der Frau ab, sein schwarzgetupftes Gesicht mit gebleckten Zähnen abgewandt, als mache er nur Spaß, doch es fiel Walter nicht leicht, die strammen kleinen Hundebeine von dem Knöchel der Frau zu lösen. »Es tut mir sehr leid«, sagte Walter zu ihr.

»Ach, ich finde ihn süß!« sagte die Frau.

Walter unterdrückte den Impuls, den Hund zu zerdrücken. Er trug ihn so zurück, wie es ihm eingeschärft worden war, eine Hand unter dem heißen, zuckenden kleinen Brustkorb, die andere stabilisierend auf dem Rücken, setzte ihn äußerst behutsam neben Clara auf den Boden und legte ihm die Leine an.

»Du haßt den Hund, stimmt’s?« sagte Clara.

»Ich finde, daß er verzogen ist, weiter nichts.« Walter beobachtete Claras Miene, als sie Jeff auf den Schoß nahm. Wenn sie den Hund streichelte, wurde ihr Gesicht schön, weich und liebevoll, als liebkoste sie ein Kind, ihr eigenes Kind. Claras Gesicht zu betrachten, wenn sie Jeff verwöhnte, war das größte Vergnügen, das Walter dem Hund abgewinnen konnte. Er haßte ihn, weiß Gott. Er haßte seine freche, selbstsüchtige Art, seinen dümmlichen Gesichtsausdruck, der Walter zu signalisieren schien: »Ich lebe wie ein Fürst, und du?« Er haßte den Hund, weil der Hund in Claras Augen nichts falsch machen konnte und er, Walter, nichts richtig.

»Findest du wirklich, daß ich ihn verziehe?« fragte Clara, die mit einem schwarzen Schlappohr des Hundes spielte. »Ich hatte den Eindruck, daß er heute morgen am Strand ganz brav gehorcht hat.«

»Ich wollte nur sagen, daß du dich für einen Foxterrier entschieden hast, weil sie als besonders intelligent gelten, und daß du dir nicht die Mühe machst, ihm die einfachsten Manieren beizubringen.«

»Darf ich fragen, ob du damit auf das anspielst, was er eben dort drüben angestellt hat?«

»Das auch, ja. Er ist inzwischen fast zwei Jahre alt, und solange er sich so aufführt, können wir ihn nicht mehr in Restaurants herumlaufen lassen. Es ist kein besonders angenehmer Anblick.«

Clara hob die Augenbrauen. »Er hat sich nur amüsiert und niemandem etwas getan. Du redest, als würdest du ihm das mißgönnen. Diese Haltung wundert mich – bei dir«, sagte sie kühl und spöttisch.

Walter lächelte nicht.

Am Nachmittag darauf kamen sie nach Hause. Clara erfuhr, daß der Oyster-Bay-Verkauf sich noch einen Monat lang hinziehen konnte, und in ihrem angespannten Zustand kam eine Party nicht in Frage, bis der Handel abgeschlossen oder gescheitert war.

Die nächsten vierzehn Tage über wurde Chad brüskiert, wenn er anrief und vorbeikommen wollte; Clara wimmelte ihn einfach ab oder legte den Hörer auf, bevor Walter das Telefon erreichte. Jon Carr, Walters bester Freund, wurde am Samstag vormittag vor Walters Augen und Ohren am Telefon abgefertigt. Clara erklärte Walter, Jon habe sie beide zu einem Abendessen in der kommenden Woche einladen wollen, doch sie sei der Ansicht, daß es sich nicht lohne, deshalb eigens nach Manhattan zu fahren.

Manchmal träumte Walter, einer oder mehrere oder alle seiner Freunde hätten ihn fallenlassen. Es waren trostlose, herzzerreißende Träume, von denen er jedesmal mit einem beklemmenden Gefühl in der Brust erwachte.

Fünf Freunde hatte er bereits verloren – schlicht und einfach deshalb, weil Clara sie nicht im Haus haben wollte, obwohl Walter ihnen noch immer schrieb und sich mit ihnen traf, wenn er es bewerkstelligen konnte. Zwei von ihnen lebten in Pennsylvania, Walters Heimatstaat. Ein weiterer wohnte in Chicago, die beiden anderen lebten in New York. Und wenn er ehrlich war, mußte Walter sich eingestehen, daß Howard Graz in Chicago und Donald Miller in New York ihm so böse waren, daß er sich gar nicht mehr traute, ihnen zu schreiben. Oder sie hatten keine Lust mehr, ihm zu schreiben.

Walter erinnerte sich an Claras Lächeln, ein unverhüllt triumphierendes Lächeln, als er von einer Party hörte, die Don in New York gegeben hatte, ohne ihn, Walter, einzuladen. Obendrein war es ein reiner Männerabend gewesen. Clara war überzeugt gewesen, daß sie ihn und Don auseinandergebracht hatte, und das hatte sie genossen.

Damals, vor etwa zwei Jahren, hatte Walter zum erstenmal begriffen, daß er mit einer Neurotikerin verheiratet war, mit einer Frau, die in gewissen Belangen tatsächlich geisteskrank war, und daß er diese Neurotikerin auch noch liebte. Er erinnerte sich immer wieder an das wunderbare erste Jahr mit ihr, daran, wie stolz er auf sie gewesen war, weil sie intelligenter war als die meisten (inzwischen verabscheute er das bloße Wort, weil Clara die Intelligenz zu einem Fetisch erhoben hatte), wieviel sie gelacht hatten, wieviel Spaß es ihnen gemacht hatte, das Haus in Benedict einzurichten, und noch immer hoffte er, daß die Clara jener Zeit wie durch ein Wunder wiederkommen werde. Schließlich war sie dieselbe Person, derselbe Körper. Den Körper liebte er noch immer.

Als Clara vor acht Monaten die Stelle bei Knightsbridge antrat, hatte Walter gehofft, die Arbeit werde ein Ventil für ihre Ellbogenmentalität sein, für die Eifersucht, die sie sogar ihm gegenüber zutage legte, weil seine Karriere als erfolgreich angesehen wurde. Doch ihre Arbeit hatte sie in ihrem Ehrgeiz und der unerklärlichen Unzufriedenheit mit sich selbst nur bestärkt, als hätte die neuaufgenommene Tätigkeit einen Vulkan zum Ausbruch gebracht, der vorher nur geschwelt hatte. Walter hatte ihr sogar vorgeschlagen, wieder aufzuhören. Davon wollte Clara nichts hören. Die naheliegendste Beschäftigung für sie wären Kinder gewesen, und Walter wünschte sich Kinder, aber Clara nicht, und er hatte sie nur halbherzig zu überzeugen versucht. Clara hatte kein Verständnis für kleine Kinder, und Walter bezweifelte, daß eigene Kinder eine Ausnahme gewesen wären. Und schon mit sechsundzwanzig, als sie heirateten, hatte Clara damit kokettiert, zu alt für Kinder zu sein. Clara vergaß nie, daß sie zwei Monate älter als Walter war, und er mußte immer wieder beteuern, daß sie viel jünger aussehe als er. Jetzt war sie dreißig; Walter wußte, daß das Thema Kinder ein für allemal erledigt war.

Es kam vor, daß Walter mit einem zweiten Highball in der Hand auf dem Rasen irgendwelcher Freunde in Benedict stand und sich fragte, was er eigentlich unter diesen netten, selbstzufriedenen, wohlhabenden und letzten Endes langweiligen Leuten zu suchen hatte, was er aus seinem Leben gemacht hatte. Ständig beschäftigte ihn der Wunsch, bei Cross, Martinson & Buchman aufzuhören; er beabsichtigte, zusammen mit seinem engsten Arbeitskollegen Dick Jensen eine eigene Kanzlei zu eröffnen, und Dick wünschte es sich nicht weniger inbrünstig als er. Sie hatten sich eines Abends und eine ganze Nacht hindurch über die Idee unterhalten, in Manhattan ein kleines Büro zu eröffnen, auf Fälle spezialisiert, mit denen die großen Kanzleien sich nicht abgaben. Die Honorare würden niedrig sein, aber zahlreich. In Dicks Junggesellenwohnung voller Bücher hatten sie Blackstones Commentaries und Wigmores Legal Systems hervorgezogen und über Blackstone gesprochen, seinen beinahe religiösen Glauben an Gesetze als Mittel zum Erschaffen einer idealen Gesellschaft. Für Walter war es eine Zeitreise zurück zum Enthusiasmus seiner Studienzeit gewesen, als er sich innerlich noch als junger Ritter sah, der auszog, den Schwachen zu helfen und den Gerechten beizustehen, und als die Rechtsprechung noch ein unbeflecktes Instrument war, das er zu benutzen lernte. In jener Nacht hatten er und Dick beschlossen, bei Cross, Martinson & Buchman am Ersten des Jahres auszuscheiden. Irgendwo in Midtown Manhattan wollten sie ein Büro mieten. Walter hatte mit Clara darüber gesprochen; obwohl sie nicht begeistert gewesen war, hatte sie wenigstens nicht versucht, es ihm auszureden. Das Geld war kein Problem, denn es sah ganz danach aus, daß Clara mindestens fünftausend Dollar im Jahr verdiente. Das Haus war bezahlt: ein Hochzeitsgeschenk von Claras Mutter.

Die einzige positive Antwort auf die Frage, was aus Walters Leben werden sollte, war die Anwaltskanzlei, die er mit Dick eröffnen wollte. Er stellte sich eine blühende Kanzlei vor, aus der zufriedene Mandanten strömten. Doch er stellte sich die bange Frage, was wäre, wenn die Kanzlei seine Erwartungen nicht erfüllte, wenn Dick die Begeisterung verlöre? Walter wußte, daß hundertprozentige Erfüllung selten eintrat. Menschen machten Gesetze, setzten sich Ziele und scheiterten. Seine Ehe war nicht geworden, was er sich erhofft hatte; Clara war es nicht, und vielleicht hatte er umgekehrt ebenso ihre Erwartungen enttäuscht. Aber er hatte sich bemüht und bemühte sich noch immer. Eine der wenigen unumstößlichen Gewißheiten, die er hatte, war die, daß er Clara liebte und daß es ihn glücklich stimmte, es ihr recht zu machen. Und er besaß Clara und hatte es ihr recht gemacht, indem er diese Stelle angetreten hatte und inmitten dieser netten und langweiligen Leute lebte. Und wenn Clara ihr Leben auch weniger genoß, als sie sich erhofft hatte, wollte sie dennoch nicht irgendwo anders hinziehen und irgend etwas anderes tun als das, was sie tat. Walter hatte sie gefragt. Mit dreißig war Walter zu dem Schluß gelangt, daß Enttäuschung etwas Normales sei. Er nahm an, daß das Leben für die meisten ein knappes Scheitern an einem Ideal nach dem anderen bedeutete, was dadurch wettgemacht wurde, daß man mit jemandem zusammen war, den man liebte. Doch er konnte den Gedanken nicht verdrängen, daß Clara, wenn sie so weitermachte, Gefahr lief, seine letzten Hoffnungen in sie zu töten.

Vor einem halben Jahr, im Frühjahr, hatten er und Clara zum erstenmal eine Scheidung in Erwägung gezogen und hatten sich später mehr schlecht als recht versöhnt.

3

Am Abend des achtzehnten September waren etwa fünfzehn Wagen nebeneinander an einer Seite der Marlborough Road aufgereiht, und einige weitere hatten auf dem Rasen des Ehepaars Stackhouse geparkt. Clara konnte es nicht leiden, wenn Leute auf dem Rasen parkten: Er war eben erst einer Stärkungskur mit Nitrophosphat, Kaliumoxid und an die fünfzig Pfund Torf unterzogen worden, die inklusive Arbeitslohn fast zweihundert Dollar gekostet hatte. Clara verlangte, daß Walter die Leute aufforderte, woanders zu parken.

»Ich würde es selber tun, aber ich finde, so etwas ist Männersache«, sagte sie.

»Wenn wir sie wegschicken, werden später andere dort parken«, sagte Walter. »Sie parken am Haus, weil die Frauen in ihren Stöckelschuhen nicht so weit auf der Straße gehen wollen. Das ist doch verständlich.«

»Ich verstehe nur, daß du dich nicht traust, sie darum zu bitten!« gab Clara zurück.

Walter hoffte, daß sie nicht von den Leuten verlangte, ihre Wagen wegzufahren. In Benedict parkten alle auf dem Rasen.

Alle Gäste, sogar die Philpotts, das älteste und konservativste Paar, waren in ausgelassener Stimmung. Mr. Philpott trug ein weißes Smokingjackett mit schwarzer Hose und Lackschuhe, aus Gewohnheit, wie Walter annahm, denn Clara hatte unmißverständlich zu verstehen gegeben, daß von den männlichen Gästen keine Abendkleidung erwartet werde und den weiblichen Gästen die Wahl der Garderobe freigestellt sei. Frauen wollten sich immer elegant anziehen, Männer nie. Mrs. Philpott hatte eine große Schachtel Pralinen für Clara mitgebracht. Walter sah, daß sie ihr die Pralinen mit einem Kompliment überreichte, das Claras Gesicht vor Stolz erröten ließ. Clara hatte das Oyster-Bay-Grundstück vor zehn Tagen an einen Kunden verkauft.

Walter trat zu Jon Carr, der allein vor dem Kamin stand, in dem Zweige aufgeschichtet waren. Jons Miene nahm allmählich den unerschütterlich gutgelaunten Ausdruck an, der mit dem vierten oder fünften Drink einherging. Jon hatte Walter erklärt, daß er gerade von einer Cocktailparty in Manhattan gekommen war und noch nichts gegessen hatte. »Wie wäre es mit einem Sandwich?« fragte ihn Walter. »In der Küche gibt es Berge davon.«

»Kein Sandwich«, sagte Jon entschieden. »Muß auf meine Linie achten, und den zusätzlichen Umfang würde ich lieber deinem Scotch verdanken.«

»Was gibt es Neues im Büro?« fragte Walter.

Jon erzählte Walter von der neuen Nummer seiner Zeitschrift, die sich ausschließlich mit Glas und Baumaterial aus Glas befaßte. Jon Carr war Herausgeber von Skyline, einer vor sechs Jahren von ihm allein gegründeten Architekturzeitschrift, die es inzwischen auf dem Markt mit jedem Magazin aus einer Verlagsgruppe aufnehmen konnte. Für Walter repräsentierte Jon den seltenen Typus Amerikaner, der wohlerzogen und gebildet war und sich nicht scheute, wie ein Galeerensklave zu schuften, um an sein Ziel zu gelangen. Jons Eltern hatten nicht genug Geld gehabt, um ihn bei seiner Karriere zu unterstützen, und Jon hatte während der letzten Semester seines Studiums arbeiten müssen. Walter bewunderte ihn grenzenlos und war grenzenlos geschmeichelt, daß Jon ihn mochte. Es ging sogar so weit, daß er sich dieser Freundschaft als »unwürdig« empfand.

Jon fragte Walter, ob er am kommenden Sonntag Zeit habe, mit ihm und Chad im Segelboot von Montauk Point aus angeln zu fahren. »Wenn Clara mitkommen will, haben wir nichts dagegen«, sagte Jon. »Chad hat eine neue Freundin, und ich dachte mir, Clara könnte mit ihr am Strand bleiben, während wir Männer angeln gehen. Sie heißt Millie. Ein aufgewecktes Mädchen, Clara könnte sich vielleicht mit ihr anfreunden. Clara ist doch gern am Strand, oder? – Apropos, wo ist eigentlich Chad?«

Walter lächelte unsicher. »Ich fürchte, Chad ist zur Zeit persona non grata.«

Jon machte eine begütigende Geste, als wollte er sagen: Schon gut.

Walter nahm von dem Tablett, das Claudia herumreichte, einen frischen Highball, den er Mrs. Philpott brachte. Sie wollte ihn nicht annehmen, und Walter drängte ihn ihr förmlich auf. Walter ließ nicht locker. Während er mit ihr am Kamin plauderte, unterbrach er unauffällig mit dem Fuß Jeffs Avancen an ein Frauenbein. Jeff lief zur Haustür, um Neuankömmlinge zu begrüßen. Der Hund liebte Parties. Er streifte durch Wohnzimmer, Terrasse und Garten und wurde von jedermann gestreichelt und mit Kanapees gefüttert.

»Ihre Frau ist die großartigste Mitarbeiterin, die wir je hatten, Mr. Stackhouse«, sagte Mrs. Philpott. »Ich glaube, es gibt nichts, was sie nicht kaufen oder verkaufen könnte, wenn sie es sich einmal in den Kopf gesetzt hat.«

»Ich werde es ihr ausrichten.«

»Oh, ich glaube, das weiß sie schon!« sagte Mrs. Philpott und zwinkerte ihm zu.

Walter lächelte zurück und hatte den Eindruck, mit ihren blauen, faltigen Äuglein ein vertrauliches Geheimnis zu teilen. »Lassen Sie sie nicht zuviel arbeiten«, sagte er.

»Aber sie kann ja gar nicht anders! Ich glaube nicht, daß irgend jemand sie daran hindern kann.«

Walter nickte lächelnd. Mrs. Philpott hatte es in fröhlichem Ton gesagt, und aus ihrer Sicht war daran ja auch nichts auszusetzen. Er sah Clara im Eingang zur Diele und ging zu ihr.

»Alles klappt prima, nicht wahr?« sagte er.

»Ja. Wo ist Joan?«

»Joan hat angerufen und sich entschuldigt. Ihre Mutter ist krank, und sie kümmert sich um sie.« Joan war Walters Sekretärin, eine intelligente und attraktive junge Frau Mitte Zwanzig, und Walter schätzte sie sehr. Er war froh, daß Clara sich nie eifersüchtig auf Joan gezeigt hatte.

»Ihre Mutter muß schrecklich krank sein«, bemerkte Clara.

Clara mochte ihre eigene Mutter nicht. Walter war aufgefallen, daß sie kein Verständnis für Leute hatte, die sich mit ihrer eigenen Mutter vertrugen. »Clara, du siehst großartig aus, einfach großartig!«

Clara sah ihn an und schenkte ihm die Andeutung eines Lächelns. Sie nahm noch immer die Gäste in Augenschein. »Und dein anderer Mitarbeiter – wie heißt er noch? Peter. Er ist auch nicht da.«

»Pete Slotnikoff! Du hast recht.« Walter lächelte. »Wie aufmerksam, daß dir das auffällt! Du kennst ihn ja gar nicht.«

»Aber die Anwesenden kenne ich offenbar ausnahmslos.«

Auf Walters Uhr war es Viertel nach zehn. »Vielleicht kommt er noch. Vielleicht hat er den Weg nicht gefunden.«

»Kommt er mit dem Wagen?«

»Nein. Er hat keinen. Wahrscheinlich nimmt er den Zug.«

Walter hatte die Absicht, Pete das Sofa in seinem Arbeitszimmer anzubieten, falls ihn niemand zurück nach New York mitnehmen konnte, doch das wollte er Clara erst im allerletzten Moment sagen. »Ach, übrigens, Liebste, Jon hat mich gefragt, ob ich nächsten Sonntag mit ihm zum Angeln gehe. Draußen bei Montauk. Wenn du Lust hast, kommst du mit und bleibst am Strand, wenn du willst, weil eine Freundin von – von Jon auch mitkommt.«

»Seit wann hat Jon eine Freundin?«

»Nicht wie du meinst, nur eine gute Bekannte«, verbesserte sich Walter, denn seit seiner Scheidung ging Jon Frauen aus dem Weg.

Claras kleines Gesicht nahm einen verblüfften Ausdruck an, als sei sie ratlos, bis sie den Gedanken unter allen Aspekten untersucht und alle Vor- und Nachteile für sich selbst erwogen hatte. »Wer ist sie?«

»Ich weiß es gar nicht. Jon sagt, sie sei nett.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich Lust habe, einen ganzen Tag mit jemandem zu verbringen, der mir vielleicht auf die Nerven geht«, sagte Clara.

»Jon hat gesagt, sie –«

»Ich glaube, da kommt dein Freund gerade.«

Peter Slotnikoff kam zur Haustür herein. Walter setzte die freundlich-entspannte Miene eines guten Gastgebers auf und ging ihm entgegen.

Peter wirkte schüchtern und verwirrt und zugleich froh, Walter zu sehen. Er war Mitte Zwanzig, seriös und etwas untersetzt. Seine Eltern waren aus Weißrußland geflüchtet, und Peter hatte erst als Fünfzehnjähriger in Amerika Englisch gelernt, doch das Jurastudium an der University of Michigan hatte er mit Auszeichnung abgeschlossen, und Walters Anwaltskanzlei schätzte sich glücklich, ihn als Mitarbeiter zu haben.

»Ich habe eine Freundin mitgebracht«, sagte Peter, nachdem Walter ihn einigen Leuten in der Nähe vorgestellt hatte. Peter deutete auf ein Mädchen, das Walter nicht bemerkt hatte. »Ellie Briess. Walter Stackhouse. Ich meine, Miss Elspeth Briess«, verbesserte sich Peter.

Sie begrüßten einander, und Walter führte die beiden in das Wohnzimmer, um sie vorzustellen und ihnen etwas zu trinken anzubieten. Walter hätte nicht gedacht, daß Peter überhaupt eine Freundin hatte. Sie war sogar ziemlich hübsch. Walter nahm den dunkelsten Highball von Claudias Tablett und reichte ihn Peter.

»Wenn Sie niemanden sehen, mit dem Sie sich gern unterhalten würden, Pete, gibt es auf der Terrasse einen Fernseher«, sagte Walter. Er hatte den Fernseher nach draußen gestellt, damit diejenigen, die Lust darauf hatten, sich das Baseballspiel ansehen konnten.

Walter trat an den Barwagen und mixte für Clara einen Martini mit Soda, ihren Lieblingsdrink, den er ihr brachte. Sie unterhielt sich am Kamin mit Betty Ireton.

»Ich wollte, mein Mann wäre auch so fürsorglich«, sagte Betty.

»Ich hole dir noch etwas«, bot Walter an.

»Oh, so habe ich es nicht gemeint. Mein Glas ist noch fast voll.« Ihr schönes, schmales Gesicht lächelte ihn über den Glasrand hinweg an.

Betty Ireton flirtete gerne, aber völlig harmlos; sie sagte oft in Anwesenheit Claras zu Walter, er sei ihrer Ansicht nach der bestaussehende Mann in ganz Benedict. Und weil Clara um die Harmlosigkeit wußte, störte sie sich nicht daran.

»Ich wollte dich mit Peter bekannt machen«, sagte Walter zu Clara.

»Und ich will mal nach meinem Mann sehen«, sagte Betty. »Er hat sich in den Garten verdrückt.«

»Wie steht es mit Sonntag?« fragte Walter Clara. »Ich würde Jon gern heute noch Bescheid sagen.«

»Mußt du ausgerechnet den einzigen Tag, den wir für uns haben, aussuchen, um angeln zu gehen? Ich finde das mir gegenüber nicht sehr nett.«

»Komm schon, Clara. Es ist Monate her, daß ich zum letztenmal angeln war.«

»Und Chad kommt sicher auch mit, es wird getrunken, und du stinkst hinterher stundenlang nach Fusel.«

»Ich finde, du übertreibst ein bißchen.«

»Das finde ich überhaupt nicht.« Clara ging weg.

Walter biß die Zähne zusammen. Warum ging er nicht einfach ohne sie? Die Antwort lautete: Weil sie ihm hinterher die Hölle heiß machen würde. Mrs. Philpott beobachtete ihn vom Sofa aus. Walter setzte sofort eine gelassene Miene auf. Er fragte sich, ob Mrs. Philpott Bescheid wußte. Ihr Gesicht wirkte so alt und abgeklärt. So gut wie jeder der Anwesenden wußte Bescheid, jeder, der schon einmal einen Abend mit ihm und Clara verbracht hatte.

»Walter, alter Freund, meinst du, ich bekomme noch einen kleinen?«

Walter lächelte in das vertraute knubbelige Gesicht Dick Jensens und hätte ihm am liebsten den Arm um die Schulter gelegt. »Aber sicher, mein Lieber. Ich hole mir auch noch einen. Gehen wir in die Küche.«

Claudia war mit dem kalten Roastbeef beschäftigt. Walter sagte zu ihr, es sei zu früh zum Servieren, sie solle lieber nachsehen, ob noch jemand etwas trinken wolle.

»Mrs. Stackhouse hat mich gebeten, das Essen zu servieren, Mr. Stackhouse«, sagte Claudia mit ausdrucksloser Resignation.

»Pech gehabt«, sagte Dick. »Das Gericht hat anders entschieden.«

Walter schwieg. Dick wußte schließlich, daß Clara nur verhindern wollte, daß sich jemand betrank, indem sie das Essen so früh auftragen ließ. Walter mixte Dick einen kräftigen Drink und sich selbst einen nicht zu sparsamen.

»Wo ist Polly?« fragte Walter.

»Oh. Vermutlich auf der Terrasse.«

Walter mixte einen Drink für Polly, falls sie keinen hatte, und ging auf die Terrasse. Polly lehnte am Geländer und blickte auf den Bildschirm, doch sie lächelte und nickte Walter zu, als sie ihn sah. Polly war keine Schönheit. Sie hatte breite Hüften und als Frisur einen langweiligen braunen Knoten, aber eine ungeheuer sympathische Persönlichkeit. Nur ein paar Augenblicke in ihrer Nähe zu sein befriedigte ein tiefes Verlangen in Walter, vergleichbar dem Verlangen, nackt in der Sonne zu liegen, das er manchmal empfand.

»Wie fühlt man sich, wenn man mit einem Immobilienboss verheiratet ist?« fragte Polly mit ihrem breiten, strahlenden Grinsen.

»Großartig! Da ich jetzt finanziell ausgesorgt habe, spiele ich mit dem Gedanken, mich demnächst aufs Altenteil zurückzuziehen.« Walter begann den Alkohol zu spüren. Ihm wurde etwas warm im Gesicht.

Dick trat zu ihnen und nahm seine Frau am Arm. »Entschuldigt, aber ich muß mir die Dame kurz ausleihen. Ich möchte sie mit Pete bekannt machen.«

»Warum kann Pete nicht herkommen?« fragte Walter.

»Er ist drinnen ins Gespräch vertieft.« Dick ging mit Polly.

Walter nahm den Highball, den Polly nicht gewollt hatte, und sah sich nach jemandem um, dem er den Drink anbieten konnte. Sein Blick blieb an einem Mädchen hängen, das vom Ende der Terrasse zu ihm hersah. Es war Petes Freundin, ganz allein. Walter ging zu ihr. »Sie haben gar keinen Drink«, sagte er. Ihren Namen hatte er vergessen.

»Danke, ich hatte einen. Ich bin rausgekommen, um die Landluft zu genießen.«

»Nehmen Sie doch noch einen!« Er reichte ihr das Glas, das sie annahm. »Kommen Sie aus New York?« fragte er.

»Ich wohne dort. Momentan sehe ich mich nach einer Stelle um – dort oder anderswo.« Ihr Augen blickten offen zu ihm auf, warm und freundlich. »Ich bin Musikerin. Ich unterrichte.«

»Welches Instrument?«

»Geige. Klavier auch, aber die Geige finde ich interessanter. Ich gebe Musikunterricht für Kinder. Grundkurse.«

»Für Kinder!« Die Vorstellung, Kindern Musikunterricht zu geben, kam Walter mit einemmal ganz bezaubernd vor. Am liebsten hätte er gesagt: Wie schade, daß wir keine Kinder haben, denen Sie Musikunterricht geben könnten!

»Ich hätte gerne eine Stelle an einer staatlichen Schule, aber so etwas ist schwer zu bekommen ohne eine Menge Titel und Zeugnisse. Ich will es jetzt mit Privatschulen versuchen.«

»Ich hoffe, Sie haben Glück«, sagte Walter. Die junge Frau schien in Peters Alter zu sein. Sie strahlte eine Schlichtheit aus, etwas bäuerlich Natürliches, das für Walters Empfinden Peter genau entsprach. Sie war sonnengebräunt, ihr Nasenrücken glänzte leicht. Wenn sie lächelte, sah man sehr weiße Zähne. »Kennen Sie Pete schon lange?«

»Ein paar Monate. Kurz nachdem er bei Ihnen angefangen hatte. Er ist sehr glücklich in Ihrer Firma.«

»Wir mögen ihn auch.«

»Er hat mich im Bus angesprochen – weil wir beide mit einem Geigenkasten unterwegs waren. Pete spielt auch Geige, ab und zu.«

»Das wußte ich nicht«, sagte Walter. »Er ist ein netter Junge.«

»Oh, ein sehr netter Junge«, sagte sie so ernsthaft, daß Walter seine eigenen Worte oberflächlich vorkamen. »Ich hätte gerne ein bißchen Angostura in meinem Drink, wenn Sie welchen haben.«

»Aber selbstverständlich! Geben Sie mir Ihr Glas.« Walter ging ins Wohnzimmer und zum Barwagen, träufelte bedächtig sechs Tropfen hinein und rührte mit einem Quirl um. Als er auf die Terrasse zurückging, sah er, daß Jon sich mit der jungen Frau unterhielt. Sie legte den Kopf in den Nacken und lachte über etwas, das Jon gesagt hatte.

»Walter!« sagte Jon. »Was ist mit Sonntag?«

»Ich weiß nicht recht, ob ich Zeit haben werde, Jon. Sieht aus, als müßten wir am Sonntag –«

»Schon verstanden«, sagte Jon verdrießlich.

»Es tut mir so leid. Wenn ich nur –«

»Schon verstanden«, wiederholte Jon ungehalten.

Walter warf einen Blick zu der jungen Frau, peinlich berührt und wenig glücklich. Wäre sie nicht dabeigewesen, hätte Jon gesagt: Ach, Clara, die kann uns mal gerne haben! Das hatte er früher ein paarmal gesagt, wenn Walter bei ähnlichen Anlässen abgesagt hatte. Sehr oft würde Jon sich nicht mehr die Mühe machen, ihn zu fragen, dachte Walter.

»Jetzt will ich dir mal was sagen«, sagte Jon im befehlsgewohnten Ton eines Chefredakteurs, doch dann hielt er inne und seufzte schwer, als sehe er keinen Sinn darin.

Die junge Frau hatte sich taktvoll entfernt und ging die Stufen zum Garten hinunter.

»Ich weiß, was du sagen wolltest«, sagte Walter, »aber damit muß ich leben.«

Jon lächelte sein unbeschwertes Lächeln. Er antwortete nichts, sondern sagte: »Übrigens hat Chad mich gebeten, dir zu sagen, daß er dich gerne bei der Party sehen würde, die er am Freitag gibt. Abendessen bei ihm, danach gehen wir ins Theater. Das neue Stück seines Freundes Richard Bell hat am Freitag Premiere. Wir werden um die sechs Leute sein. Gönn dir einen Abend ohne Clara. Das wird dir guttun. Chad weiß, daß er bei ihr in Ungnade gefallen ist. Er will dich hier draußen nicht mal anrufen.«

»Gut, ich komme.« Wenn Clara Chad ausschloß, dachte er, dann schloß Chad eben auch Clara aus.

Niemand betrank sich an diesem Abend außer Mrs. Philpott. Sie verlor das Gleichgewicht und setzte sich mit einem Plumps vor dem Musikschrank auf den Boden, wo sie fröhlich sitzen blieb und der Musik zuhörte, die Vic Rogers für einen kleinen aufmerksamen Kreis spielte. Und dort saß sie auch noch um drei Uhr morgens, als bis auf sechs Leute alle Gäste gegangen waren. Clara verlor die Geduld: Sie fand, jede Party müsse um drei Uhr morgens ein Ende finden, doch es waren zweifellos die Philpotts, die den Weg nach Hause nicht fanden, und den Philpotts konnte sie kaum einen diskreten Wink geben.

»Laß ihr doch das Vergnügen«, sagte Walter.

»Ich glaube, sie ist betrunken!« flüsterte Clara voller Abscheu. »Ich kriege sie nicht vom Boden hoch. Ich habe sie dreimal angesprochen.«

Unversehens marschierte Clara zu Mrs. Philpott, und Walter sah ungläubig, wie Clara Mrs. Philpott unter den Achseln faßte und hochhievte. Bill Ireton schob ihr schnell einen Stuhl unter. Walter fing den Blick auf, mit dem Mrs. Philpott Clara ansah, einen Blick voll sprachloser Überraschung und Verärgerung. Mrs. Philpott schüttelte sich, als wolle sie Claras Berührung abstreifen. »Nein, so etwas! Ich wußte nicht, daß es verboten ist, auf dem Boden zu sitzen!«

Schreckliche Stille trat ein. Bill Ireton sah plötzlich stocknüchtern aus. Walter trat mechanisch vor, um die Peinlichkeit der Situation zu überspielen, und erzählte Mrs. Philpott, wie oft er selbst auf dem Boden zu sitzen pflegte.

Bill Ireton brach in Gelächter aus. Seine Frau stimmte ein, bis alle laut lachten, sogar Mrs. Philpott, nur Clara nicht, die nur gereizt lächelte. Walter legte ihr einen Arm um die Schulter und drückte sie liebevoll. Er wußte, daß sie dem Drang, Mrs. Philpott hochzuheben, einfach nicht hatte widerstehen können. Kurze Zeit später waren alle gegangen.

Im Schlafzimmerfenster zeigte sich das wolkige Grau der Morgendämmerung. Jeff lag in der Mulde zwischen den Kissen des aufgeschlagenen Betts, an seiner Lieblingsstelle.

»Komm, mein Junge«, sagte Walter und schnipste mit den Fingern, um Jeff zu wecken; der Hund richtete sich verschlafen auf und sprang vom Bett. Walter klopfte auf das Kissen in Jeffs Körbchen in einer Ecke des Zimmers, und Jeff kletterte hinein. »Er hat einen anstrengenden Abend hinter sich«, sagte Walter lächelnd.

»Ich finde, er hält sich wesentlich besser als du«, sagte Clara. »Du riechst nach Schnaps, und dein Gesicht ist ganz rot davon.«

»Wenn ich mir die Zähne geputzt habe, wirst du nichts mehr riechen.« Walter ging ins Badezimmer.

»Wer ist das Mädchen, das Peter Slotnikoff dabeihatte?«

»Weiß ich nicht«, rief er aus der Dusche. »Ellie Irgendwas, glaube ich.«

»Ellie Briess. Ich wollte nur wissen, wer sie ist.«