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Geschenkejagd, ein Rentierschlitten mit Startproblemen und verfluchte Christbaumkugeln – mehr als 24 schaurig-schöne Kurzgeschichten für ein rabenschwarzes Fest der Liebe Bestsellerautor Markus Heitz erzählt in dieser ganz besonderen Weihnachts-Anthologie von einem Mädchen, das nicht nur den Nikolaus das Fürchten lehrt, weil sie statt dem gewünschten X-Mas-House-Of-Horror einen rosafarbenen Pullover bekommt, vom Treiben der Unheiligen drei Könige oder dem egoistischen Weihnachts-Muffel Quentin, dem eine Kita-Theater-Truppe mit einer ganz besonderen Vorstellung die Ehrfurcht vor dem Fest einbläut. In "Der Tannenbaum des Todes" wird das Beste aus zehn Jahren eines einmaligen Weihnachts-Live-Events erstmals in einem Buch versammelt! Von bitter-böse über gruselig bis fies & witzig: Mit diesen Kurzgeschichten von Bestsellerautor Markus Heitz werden nicht nur Fantasy-Fans ihren Spaß haben, sondern alle, die zum Fest mal eine Pause von allzu viel Besinnlichkeit brauchen. Aber sagen Sie nicht, wir hätten Sie nicht gewarnt!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 313
Markus Heitz
Der Tannenbaum des Todes
Mehr als 24 schwarzhumorige Weihnachtsgeschichten
Mit Illustrationen von Ingo Römling
Knaur e-books
Markus Heitz erzählt in dieser ganz besonderen Weihnachts-Anthologie von einem Mädchen, das nicht nur den Nikolaus das Fürchten lehrt, weil sie statt dem gewünschten X-Mas-House-Of-Horror einen rosafarbenen Pullover bekommt, vom Treiben der Unheiligen drei Könige oder dem egoistischen Weihnachts-Muffel Quentin, dem eine Kita-Theater-Truppe mit einer ganz besonderen Vorstellung die Ehrfurcht vor dem Fest einbläut. In »Der Tannenbaum des Todes« wird das Beste aus zehn Jahren eines einmaligen Weihnachts-Live-Events erstmals in einem Buch versammelt!
»Wenn ich beim Festschmaus in die Runde sehe, fallen mir die besten Morde ein.«
Alfred Hitchcock
Und es begab sich zu einer Zeit, da eine Heitz’sche Adventsanthologie mit Menüvorschlägen erschien … Ja, wie denn das? Und es ist kein Kochbuch?
Ganz einfach.
Seit mehr als zehn Jahren bietet das Gastronomie-Ehepaar Nancy und Willi Horster zusammen mit mir in ihrem Wirtshaus Zum Alten Bahnhof in Zweibrücken die Veranstaltung Böser die Glocken an: Dabei werden vier leckere Gänge, drei abstruse Geschichten rund um Weihnachten und andere Kleinigkeiten serviert.
Diese Veranstaltung ist stets binnen Minuten ausverkauft, und auch wenn Willi und ich diesen Abend dreimal hintereinander füllen könnten, bleiben wir bewusst bei dem einen Termin im Jahr. Das erhöht den Reiz. Für alle. Denn es soll etwas Besonderes sein.
Die vorgetragenen Geschichten waren bislang nicht in Gänze erhältlich.
Doch siehe: Nach zehn Jahren war es an der Zeit, die kleinen fiesen Storys zusammenzustellen und die Gerichte aufzulisten, damit eine jede und ein jeder zu Hause sein eigenes anderes, böses Weihnachten feiern kann.
Die Rezepte bleiben jedoch geheim … tut mir leid. In zehn Jahren kommt vielleicht die Fortsetzung. Oder doch das Rezeptbuch. Mal schauen.
Nun wünsche ich beste Unterhaltung, gelungenes Kochen und viel lautes Lachen!
Markus Heitz
Ostern 2019 – wie herrlich unpassend!
Ach so, ja, noch eine Sache.
Nikolaus.
Santa Claus.
Weihnachtsmann.
Christkind.
Knecht Ruprecht und so.
Die Begriffe werden in den Kurzgeschichten unterschiedlich eingesetzt. Einfach nicht verwirren lassen. Gemeint sind manchmal die gleichen, manchmal dieselben -läuse. Das ist so eine Art Verstehen-Sie-Weihnachten-Test.
Meine Lektorin kannte das Christkind zum Beispiel nicht. Skandal! Da frage ich mich, wer mir damals die Geschenke brachte? Oder ihr? Und warum bekommen Atheisten trotzdem was an Weihnachten?
Auf nichts ist mehr Verlass.
Doch: auf den 24. Dezember!
Außer Sie leben nach dem russisch-orthodoxen Kalender, dann müssen Sie mit Heiligabendspoilern leben.
Das wollte ich noch angemerkt haben.
Nun aber los. Ist ja nicht ewig Advent.
Als Eugen Maria Hutzel mit seiner siebenjährigen Tochter Jennifer durch den kleinen verschneiten Wald hinter der Siedlung lief, in der sein Haus stand, wusste er nicht, welche Wendung der Tag bringen würde. Denn er und seine Tochter fanden einen herrenlosen Sack.
Mitten im Wald.
Jennifer war der festen kindlichen Überzeugung, es sei der Sack des Weihnachtsmannes und man müsse ihn in Sicherheit bringen, weil doch die Nikolausgeschenke und Wunschzettel für das Christkind drin seien.
Also nahmen sie ihn mit, gegen den inneren Widerstand von Eugen, der den Sack nicht mal öffnen durfte, weil er doch dem Weihnachtsmann gehöre. Er schrieb seine Adresse und die Telefonnummer auf ein Blatt Papier, das Jennifer an einem Ast befestigte.
Sie waren gespannt, wer sich melden würde.
Eugen stieg aus der Dusche, rasierte sich, schnitt sich dabei mehrmals wie üblich und dämpfte die Blutungen mit nassem Klopapier auf den Wunden, als es an der Tür klingelte. Er schaltete die Videoüberwachungsanlage an und sah – den Nikolaus.
»Ja?«, sagte Eugen verdattert.
Der Nikolaus, standesgemäß in Rot mit schwarzen Stiefeln, weißem Nylonbart und Polyestermütze auf den falschen weißen Haaren, hob den Zettel. »Ist hier bei Hutzel?«
»Ja.«
»Sie haben meinen Sack gefunden«, sagte der heilige Mann.
Eugen trocknete sich notdürftig ab und stieg in seinen Bademantel. Seine Gattin war nicht da, und Jennifer wollte er nicht an die Tür schicken, wenn ein Fremder davorstand. Nikolaus hin oder her. »Ich komme runter. Einen Augenblick.«
»Jepp.«
Zwanzig Sekunden später öffnete er den Eingang. »Entschuldigen Sie, dass es gedauert hat.«
Der Nikolaus musterte ihn aus blauen Augen, deren Pupillen geweitet waren. Sehr geweitet. »Kein Problem, Chef. Wo ist mein Sack?«
Mit den Worten flog Eugen der Geruch von kaltem Rauch und Alkohol entgegen. Neben dem linken Nikolausstiefel entdeckte Eugen die Überreste eines Tütchens. »Woher weiß ich denn, dass es Ihr Sack ist?«
»Weil ich der Nikolaus bin.«
»Sehr komisch. Ich könnte auch ein Kostüm anziehen und behaupten, ich sei es.«
»Sie heißen aber Hutzel, Chef. Damit wären Sie höchstens einer meiner Elfen.« Der Mann fuchtelte mit den Armen. »Oder kennen Sie ein Lied, das heißt: Hutzel ist ein guter Mann?« Er lachte meckernd über seinen eigenen Witz. »Der heilige Hutzel. Das wäre doch was.«
»Ich darf doch sehr bitten.«
»Nein, Chef, ich bitte sehr. Und zwar um meinen Sack.« Jetzt klang der Nikolaus nicht mehr belustigt. »Oder sonst …« Er ließ die Drohung offen.
»Oder sonst was? Holen Sie Ihre Elfen oder Ihre Elche und hetzen sie auf mich?« Eugen gefielen weder der Ton noch das Aussehen; außerdem befürchtete er wegen der weiten, unbeweglichen Pupillen, dass sich etwas in dem Sack befand, das gegen das Betäubungsmittelgesetz verstieß.
»Nein. Sonst bekommen Sie« – der Mann beugte sich vor und senkte die Stimme drohend – »keine Geschenke mehr, Hutzel. Nie wieder.« Er schüttelte den Kopf. »Das ganze Leben nicht mehr.«
Eugen starrte ihn an. Von einem Anruf bei der Polizei bis hin zu einer Schlägerei zuckten ihm allerlei Ideen durch den Verstand, aber es war bald Heiligabend, und seine kleine Tochter befand sich nebenan, also mied er lieber Schwierigkeiten. »Warten Sie hier, Herr Nikolaus. Ich hole Ihnen Ihren Sack.«
»Danke, Hutzel. Und wenn Sie mal einen Job als Elf brauchen, schreiben Sie mir.« Er zwinkerte und hob den Daumen.
Eugen ging in den Wintergarten und fand dort Jennifer, umringt von ihren Puppen. Die Puppen hatten Tassen vor sich stehen, Pistolen auf dem Schoß liegen, Geldscheinstapel um sich herum, und die Gesichter waren weiß gepudert. Das Pulver stammte aus einem brikettgroßen Aluminiumpäckchen, dessen Folie aufgeplatzt war. Eugen brachte keinen Ton heraus.
»Papa, schau mal, was ich in den Päckchen gefunden habe. Wir spielen Gangstertee.« Jennifer zeigte auf drei geöffnete Schachteln, auf die ihr Name gemalt war. »Das habe ich mir aber nicht gewünscht.«
»Du hast den Sack ja aufgemacht, Liebes«, krächzte Eugen und gab sich Mühe, weder Vorwurf noch Entsetzen in die Stimme zu legen.
»Nein, er hatte einen Riss. Und ich habe meinen Namen auf einem Geschenk gesehen. Damit ich an Weihnachten vom Christkind das Richtige bekomme, habe ich nachgesehen.« Jennifer sagte das mit einer Unschuld, die all dem Koks, der Kohle und den Knarren spottete. »Papa, seit wann bringt denn der Nikolaus Pistolen und Drogen?«
Eugen ahnte, dass die eine oder andere Vorabendserie doch nicht so pädagogisch wertvoll für seine Tochter gewesen war.
»Ich … werde ihn fragen«, stammelte er und fing an, die Sachen in den Sack zu stopfen.
Es klingelte wieder.
»Scheiße«, fluchte er, und Jennifer sah ihn erstaunt an. »Geh in dein Zimmer und bleib dort.«
Rrring!
»Ist das der Nikolaus, Papa?«
Rrring! Rrring!
»Jennifer, geh hoch in dein Zimmer!« Eugen spurtete sacklos hinaus – und stand vor dem Nikolaus, der irgendwie den Weg in den Flur gefunden hatte; anscheinend war die Tür nicht richtig ins Schloss gefallen. Der Mann begutachtete sich vor dem Spiegel und zupfte an seinem falschen Bart herum.
»Sie sind nicht draußen?«, fragte Egon hilflos.
Ring!!!
»Nee, Chef. War mir zu kalt.« Er deutete auf den Eingang. »Besuch, was?«
Wortlos öffnete Eugen die Tür – doch da war niemand.
»Okay, Drogenklaus. Und jetzt raus mit dir.« Eugen war sich darüber im Klaren, dass ein frisch geduschter und im Bademantel umherlaufender Mann nicht unbedingt einschüchternd wirkte, doch er setzte auf das nasse, blutige Klopapier im Gesicht und den Baseballschläger, den er aus der Ecke hinter der Tür nahm, während er die Tür schloss.
Er wandte sich um – aber der Flur war leer.
»Drogenklaus?«, rief er zaghaft und hob den Baseballschläger, Schritt um Schritt ging er vorwärts, näherte sich dem Wintergarten. »Hallo?«
Es klingelte ein weiteres Mal.
Eugen packte den Baseballschläger fester und rannte zurück zum Eingang, öffnete ihn.
Vor ihm standen vier Nikoläuse im handelsüblichen Outfit, und sobald sie ihn sahen, schmetterten sie Niklas ist ein guter Mann. Einer hielt ein Schild, auf dem in großen Lettern geschrieben stand: Lieder für den heiligen Sack! Bitte eine Spende zugunsten des Tierheims.
Eugen knallte die Tür wieder zu.
»Ist das die Überraschung, die du mir versprochen hast, Papa?«, hörte er Jennifer rufen, die sich eben die Treppe nach unten bewegte. »Da singt doch jemand.«
Ring!
Eugen öffnete die Tür. »Was?«
Der Weihnachtsmann mit dem Schild blickte ihn strafend an. »Hören Sie mal, Herr Hutzel. Wir singen hier für eine gute Sache, und Sie knallen uns einfach –«
Eugen schmetterte das Holz ins Schloss. Oder wollte es, denn der Schildträger stellte den Fuß dazwischen. »Herr Hutzel, seien Sie doch ein bisschen netter«, sagte er. »Denken Sie an die armen Tiere, die im –«
»Die Bullen«, rief einer der Männer, und sofort rannten alle vier davon.
»Die da!«, schrie Eugen sofort und zeigte auf die Flüchtenden. Mit dem Sack voller Koks und Waffen im Haus brauchte er keine Polizei bei sich. »Die waren es! Egal was, aber sie waren es!«
Die zwei Polizisten verfolgten die Nikoläuse die Straße hinab.
Ich muss diesen Sack loswerden. Niemand würde ihm glauben. Niemand. Er schniefte. Inzwischen war ihm alles egal.
Er packte den Sack, schleifte ihn vom Wintergarten zur Hintertür. Er würde das Zeug einfach über den Zaun werfen. Sollte sich der Nachbar damit herumschlagen. Mit dem hatte er eh noch eine Rechnung offen.
»Okay, Chef. Du bist hiermit mein Hutzelelf und wirst den Sack jetzt zu meinem Auto tragen, und alles ist okay.« Ein harter Gegenstand drückte sich in Eugens Nacken. »Niemandem wird was geschehen, alles klar?«
Eugen fügte sich in sein Schicksal, Hauptsache, er war diesen verdammten Sack los.
Der Nikolaus dirigierte ihn die Einfahrt hinunter, über den Zaun, die Straße entlang zu einem alten, verbeulten Peugeot 205 in einer Farbe, die vor zehn Jahren vielleicht weiß gewesen war.
Eugen öffnete den Kofferraum, warf den Sack mit Schwung hinein. »Bitte sehr, Nikolaus.« Ächzend richtete er sich auf. Trotz der Anstrengung fror er erbärmlich, sodass seine Zähne klapperten und er kaum vernünftig sprechen konnte. »Mir egal, welche Kinder sich das gewünscht haben. Aber schaff es weg.«
Der Nikolaus mit den weiten Pupillen gluckste. »Klar, Chef. Ich lass dich dann auch in Ruhe.« Er hielt einen Lippenpflegestift in der Hand, mit dem er die Mündung einer Pistole simuliert hatte, fettete sich die Lippen mit einer Hand, die andere öffnete die Kordel am Sack.
Zum Vorschein kamen Papierschnipsel und Backsteine.
»Scheiße, Hutzel, du scheiß Elf! Das ist nicht nett, seinen Chef zu beklauen!«, schrie der Nikolaus und bewarf ihn mit den Zeitungsfetzen. »Du blöder –«
Die vier singenden Weihnachtsmänner bogen um die Ecke, verfolgt von den beiden Polizisten. Am anderen Ende tauchte ein Polizeifahrzeug auf. Eugen nutzte die Ablenkung und schubste den bekifften Nikolaus in den Kofferraum, schloss die Klappe und duckte sich hinter eine Mülltonne.
Die Weihnachtmänner rannten auf den Peugeot zu, einer sah im Vorbeilaufen den Schlüssel stecken.
»Hey, Jungs! Hier rein!«, rief er die anderen zurück.
Sie sprangen in den Wagen, starteten den Motor und brausten davon, genau zwischen den beiden Polizisten durch.
Mit heulender Sirene nahm das Polizeifahrzeug die Verfolgung auf.
Langsam, ganz langsam tauchte Eugen Maria Hutzel hinter seiner Deckung auf.
Während die Blaulichter in der Ferne verschwanden und das Tatütata leiser wurde, kehrte die Idylle in die Siedlung zurück. Es wurde still, die Flocken rieselten sanft aus dem Himmel, es roch nach Kaminrauch, Plätzchenduft und Zimt.
Eugen atmete tief ein.
Er kehrte durch die Hintertür in sein Haus zurück, grüßte im Vorübergehen seinen Nachbarn Theo und seine Frau, die plaudernd im Wintergarten saßen, und ging ins Schlafzimmer. Dort legte er sich einfach ins Bett und beschloss, niemals mehr in seinem Leben an diesen Tag zu denken.
Dann schloss er die Augen und schlief ein.
Eugen erfuhr am nächsten Tag, aus der Zeitung, dass die vier jungen Männer nach einer wilden Verfolgungsjagd gefasst worden waren. »Es handelt sich um Trickbetrüger, die immer zur Weihnachtszeit durch verschiedene Städte ziehen und behaupten, sie sammelten für das Tierheim«, berichtete die Polizei. Im Kofferraum hatte man außerdem einen bekannten Drogendealer mit einem Sack voller Schnipsel und Backsteinen gefunden.
Eugen fragte an Heiligabend bei der Bescherung nichts und wollte nichts wissen.
Weder, woher das Geld für das Pony stammte, das Jennifer bekam, noch für den neuen Porsche, der vor der Tür stand, noch für Nachbar Theos Anbau mit der Glasfront und dem Pool sowie die beiden Damen, die sich darin räkelten.
Nein, das wollte Eugen alles nicht wissen.
Es gibt den Nikolaus. Wirklich.
Er hält eine verchromte Pistole, auf der sich die glänzenden Lichter des Tannenbaums und die bunten Kugeln wunderschön spiegeln. Er trägt einen schwarzen Kunstledermantel und Handschuhe. Statt einer roten Zipfelmütze hat er eine Sturmhaube über dem Kopf. Er und sein Weihnachtsengel und Knecht Ruprecht. Ich nenne sie: das Wunschzetteleinsatzkommando.
Also, vergesst den Unsinn mit dem weißen Bart, dem roten Frotteemantel und dem dämlichen Hohoho-Lachen.
Woher ich das weiß?
Ich bin zehn Jahre alt, und ich habe schon einiges erlebt.
Bis vor ein paar Monaten war alles in Ordnung. Bis zum 1. Dezember. So gegen 17.32 Uhr. Da änderte sich mein Leben schlagartig durch einen grausigen Fund.
Ich suchte im Auftrag meiner Mutter das weiße Tischtuch im Schrank, hob das blaue, das grüne, das rote an – und da sah ich es: ein Geschenk.
Ein Geschenk in Nikolauspapier.
Es war ein Anhänger dran, auf dem mein Name stand. Daneben lag ein abgeschnittenes Preisschild. Pullover, rosa, € 14,95.
Ich drückte probeweise auf das Papier, darunter war es weich.
Ein Pullover? Ein blöder rosa Pullover! So einen trug Vanessa Backes, die in der ersten Reihe in meiner Klasse saß, und ich hasste sie.
Ich zitterte vor Zorn. Meine Eltern … sie mussten meinen Wunschzettel abgefangen haben. Sie betrogen mich! Und was noch viel schlimmer war: Sie betrogen den Nikolaus! Wahrscheinlich würden sie behaupten, er hätte diesen Pullover für mich ausgesucht. Sie wollten ihm die Schuld in die Schuhe schieben. Das musste ich verhindern.
Und ich wusste auch schon, wie.
Anstatt am nächsten Tag zur Turnstunde in die große, gelb gestrichene Halle zu gehen, in der es immer so eklig nach alten Schuhen und Gummimatten riecht, lief ich zum kleinen Kaufhaus ein paar Ecken weiter. Dort war der Nikolaus, wie jedes Jahr, solange ich mich erinnern konnte. Mein alter Freund. Ich musste in einer Schlange anstehen, bevor ich ihn sprechen durfte.
Geduld, Geduld.
»Hallo, Nikolaus«, sagte ich schüchtern, nachdem er mich auf seinen Schoß gehoben hatte. Merkwürdig … irgendetwas stimmte hier nicht. Nur was? Er roch anders, müffelte nach alten Kleidern aus feuchten Kartons.
»Ja, hallo, meine Kleine. Wie heißt du denn?« Der Nikolaus sprach mit ungewohnt tiefer Stimme und betonte die Worte merkwürdig. Er klang wie eine Mischung aus Pfarrer und Verkaufssendersprecher. Vielleicht war er erkältet?
»Aber das weißt du doch!«
»Nein. Woher denn?«, meinte er ein bisschen zickig. Er langte in den großen, löchrigen Jutesack, der neben ihm lag, und nahm eine Plastiktüte heraus; darin waren ein paar Schokotannenzapfen.
Mir kam der Verdacht, dass meine Eltern nicht die einzigen Betrüger waren.
»Sarah Annabella«, antwortete ich und schaute mir den Bart etwas genauer an. Er sah nicht echt aus. Die weißen Haare waren viel zu dick, ganz anders als sonst.
»Hohoho, jetzt fällt es mir wieder ein!« Er lachte dunkel. »Möchtest du die Schokotannenzapfen?« Der Nikolaus raschelte mit der Tüte, die Zapfen hüpften hin und her. Ich nickte, und er gab sie mir, strich mir über meine langen, schwarzen Haare. »Also, was wünschst du dir, Sandra?«
Verschwörerisch lehnte ich mich an ihn und flüsterte ihm ins Ohr: »Ich glaube, sie versuchen, uns zu betrügen. Und mein Name ist Sarah.«
»Uns?«
»Dich und mich.«
Der Nikolaus glotzte mich an. »Was?«
»Mama und Papa«, erklärte ich. »Sie haben mich nicht mehr lieb und wollen nicht, dass du mir das Creepy-X-Mas-House-of-Horror bringst. Ich glaube, sie haben meinen Wunschzettel geklaut.«
»Das Haus … was für ein Haus? Ist das dieses hässliche, abgeschmackte Plastikding, das diese ekelhaften Geräusche macht?« Er schüttelte den Kopf und sah mich mürrisch an. Die viel zu dicken weißen Augenbrauen sahen genauso falsch aus wie der Bart. »Deine Eltern haben recht. Das ist Schrott.«
Mir wurde schlecht. Er stellte sich auf die Seite meiner Eltern? »Nein, ist es nicht«, sagte ich beharrlich.
»Doch, ist es.« Er hob mich von seinem Schoß. »Geh zu deiner Mutter, Saskia. Du bekommst in diesem Jahr was anderes. Was Schönes.«
»Ich heiße Sarah, und ein blöder rosa Pullover ist nichts Schönes! Verstehst du denn nicht – meine Eltern wollen uns betrügen!«, sagte ich laut. »Dafür müsstest du sie mit an den Nordpol nehmen!«
Der Nikolaus lachte ganz merkwürdig, dann stand er auf. »Was soll der Mist?«, fragte er, gar nicht mehr freundlich, und sah sich misstrauisch um. »Ist das so eine Scheiße mit versteckter Kamera?«
Nein, so hatte ich mir den Beistand vom Nikolaus nicht vorgestellt. Ich wollte weg, aber er hielt mich an einem Arm fest.
»Hey, Beate!« Er riss sich den Bart vom Gesicht und schrie eine Verkäuferin an. »Beate, was soll das? Habt ihr mir das Mädchen geschickt? Soll das ein Scherz sein?«
Ich starrte auf das nackte Gesicht. Jetzt hatte ich den Beweis: Das war nicht der Nikolaus! Ich brauchte ihm also auch keinen Respekt mehr zu zeigen, und darum trat ich ihm wütend auf den Fuß.
Er brüllte: »Scheiße!«, und wollte mir mit der freien Hand eine Ohrfeige verpassen, aber ich riss mich los und rannte weg.
Ich versteckte mich in der Textilabteilung unter einem Ständer mit Damenmänteln, aß mit Tränen in den Augen die zerquetschten Tannenzapfen. Das war nicht der Nikolaus.
Und nach dem vierten Schokotannenzapfen schlug meine Angst in Wut um.
Wut auf den Betrüger.
Er würde zu spüren bekommen, was es hieß, sich als Nikolaus auszugeben. Und das Kaufhaus wusste Bescheid und machte mit. Das sollten sie büßen!
Ich stahl aus der Haushaltsabteilung ein Päckchen Streichhölzer und legte Feuer in der Textilabteilung.
In dem Durcheinander, das daraufhin ausbrach, in dem Rauch, in dem Schrillen der Signalhörner, dem Getrampel der flüchtenden Menschen, entdeckte ich den Betrüger noch mal. Er stand vor einer offenen Kasse und stopfte sich Geldscheine in den Mantel, schaute dabei dauernd nach rechts und links. Seinen Bart hatte er über die Kamera gestülpt, die über der Kasse an der Wand angebracht war.
Ich schlich mich unbemerkt näher. Meine Rache war noch nicht beendet.
Als er sich zur Feuertreppe davonstahl, verfolgte ich ihn und stellte ihn auf der obersten Stufe. Er hörte, wie die Tür hinter mir ins Schloss fiel.
»Du schon wieder?«, sagte er genervt und versuchte, einige lose Scheine in seine Taschen zu schieben.
»Du bist nicht der echte Nikolaus«, sagte ich wütend.
Er lachte mich aus. »Verpiss dich, Sabrina, sonst leg ich dich übers Knie.« Er drehte sich um.
Da sprang ich vor und gab ihm einen kräftigen Stoß in den Rücken.
Der Betrüger schrie vor Überraschung auf, geriet ins Straucheln – und stürzte kopfüber den ersten Treppenabschnitt hinunter. Er bekam Nasenbluten. Jedenfalls glaubte ich zuerst, dass es nur aus der Nase kam. Aber es war ziemlich viel Blut.
Stöhnend wälzte er sich auf den Rücken. »Ich schlag dich tot«, sagte er ächzend und versuchte, sich aufzurappeln.
Ich nahm all meinen Mut zusammen, rannte ihm entgegen, rutschte dabei auf dem Blut aus und wäre beinahe selbst noch gefallen. Gerade, als er sich halb aufgerichtet hatte, trat ich ihm so fest, wie ich konnte, in den Hintern. Für ihn ging es die nächsten Stufen abwärts.
Der Betrüger hatte es verdient.
Damit begann sie, meine Suche nach dem echten Nikolaus, dem heiligen Mann, der mir meinen Wunsch erfüllen sollte: das Creepy-X-Mas-House-of-Horror.
Meiner Mutter erzählte ich, wir hätten nach der Schule regelmäßig Proben für das Krippenspiel. Sie glaubte mir – und die Nikolausbetrüger bezahlten teuer.
Ich ging von nun an mit System vor und stellte einen Fragenkatalog auf, dem kein Hochstapler und Kinderblender standhalten konnte. Ich bestrafte sie im Namen des echten Nikolaus, mal mit Reißzwecken, mal mit Rohrreiniger im Getränk, aber meistens, indem ich sie Treppen runterschubste.
Ich wurde nie erwischt. Und brachte es schließlich auf zwölf Schwindler in drei Tagen.
Nur einer, der Nikolaus in einem kleinen Spielzeugladen, machte es mir verdammt schwer, ihn zu überführen.
»Hallo, Sarah«, begrüßte er mich, als ich eintrat.
»Guten Tag, Nikolaus«, grüßte ich freudig überrascht. Der Anfang war gut, er kannte meinen Namen! »Bist du der echte Nikolaus?«
»Sicher«, sagte er. »Und was wünschst du dir zu Weihnachten?«
»Wie kalt ist es am Nordpol?«, knallte ich ihm meine erste Frage gegen den Kopf.
Er verzog keine Miene. »Etwa minus dreißig Grad. Natürlich nur, wenn kein Wind weht.«
»Wie schnell ist dein Rentierschlitten?«
»Der hat mehr als hundert PS.«
»Wo hast du ihn abgestellt?«
»Er ist unsichtbar, wenn ich es möchte.« Er klopfte sich auf die Manteltasche. »Hier habe ich eine Fernbedienung. Funktioniert wie bei einem Auto.«
Ich war verunsichert. Kein Stottern, kein Stammeln, keine Rückfragen, nein, er antwortete sofort und ohne zu zögern, auch wenn ich nicht wusste, was ein PS war. »Wie viele Weihnachtsengel hast du?«
»Ungefähr neunhundertelf …« Er stockte. »Nein, warte. Belinda hat gestern gekündigt. Also genau neunhundertzehn. Und keine Weihnachtselfen. Elfen trödeln immer, weißt du.« Er lächelte. »Du bist neugierig, Sarah. Denkst du, ich wäre ein Schwindler?«
»Ich bin mir nicht sicher.« Ich senkte den Blick und erzählte ihm mit leiser Stimme von dem Betrug meiner Eltern. »Und ich habe Angst, dass der echte Nikolaus verschwunden ist.«
»Jetzt hast du ihn ja gefunden.« Er streichelte meine Wange. »Also, was möchtest du zu Weihnachten?«
»Das Creepy-X-Mas-House-of-Horror.« Ich betrachtete ihn sehr aufmerksam.
»Aha. Cool.« Er holte ein Bonbon aus seiner Manteltasche und schob es sich in den Mund; mir gab er auch eins. »Ich finde aber das Vorläufermodell besser.«
»Das Spooky-Screaming-Easter-Egg?«
»Das Spooky-Screaming-Easter-Egg, genau.«
Ich war von den Socken. Der Nikolaus kannte das Spooky-Screaming-Easter-Egg! Vielleicht gab es so etwas wie eine Kooperation zwischen dem Osterhasen, dem Nikolaus und dem Christkind?
Er lachte. »Hey, Sarah. Da gibt es nichts zu staunen. Ich habe es ungefähr dreißigtausend Kindern in Deutschland gebracht.«
Der Zauber zerriss. Ich hatte doch einen Betrüger vor mir. »Das Easter-Egg gab es nur bis Mitte Juli«, entgegnete ich düster und unterdrückte meine Tränen.
Ich hatte dem Mann mein Herz ausgeschüttet, und er war nicht besser als die anderen. Mir fiel ein, dass mein Name auf dem Schulranzen stand, den ich über der Schulter trug. Er hatte ihn einfach nur abgelesen. Alles, alles Lüge! Ich reckte den Finger und zeigte anklagend auf ihn. »Du bist nicht der echte Nikolaus!«
Ich rannte davon, drehte mich nicht um und warf das Bonbon weg, das er mir geschenkt hatte. Er hatte mich tief verletzt.
Dementsprechend fiel die Strafe für ihn besonders hart aus.
Ich verfolgte ihn nach Hause, schlug die Scheibe seines Schlafzimmers ein und steckte seine Wohnung in Brand. Als er vor den Flammen flüchtete, fiel er über mein gespanntes Seil vor der Tür und stürzte die Treppe hinunter, genau in die Glasscherben, die ich dort vorsorglich ausgestreut hatte. Das hätte er sich ersparen können.
Ich musste sorgfältiger sein. So etwas wie in dem Spielzeugladen sollte nicht noch einmal passieren. Ich musste mehr über den Nikolaus wissen, um bessere Fragen stellen zu können. Heimlich schlich ich mich nach der letzten Schulstunde in den Raum der Computer-AG, um zu recherchieren. Das gab meiner Suche eine überraschende Wendung.
Der echte Nikolaus stammte aus Patara, einer früheren Stadt in der kleinasiatischen Provinz Lykien, in der heutigen Türkei. Er trat ins nahe gelegene Kloster von Sion ein und wurde später zum Erzbischof von Myra geweiht. Der Nikolaus gilt als Schutzherr der Kinder, Seefahrer, Kaufleute, Apotheker und Bäcker. Keine Ahnung, was die Bäcker damit zu tun haben. Und der Weihnachtsmann mit weißem Bart und rotem Gewand geht auf den niederländischen Sinterklaas zurück.
Allmählich wurde es kompliziert. Der echte Nikolaus war also Türke und hatte nichts, aber so gar nichts mit dem Nordpol, Rentieren und Schlitten am Hut.
Während die anderen Kinder auf den deutschen Abklatsch eines holländischen Türkenimitats warteten, begab ich mich weiter auf die Suche. Ich fand einen russischen Nikolausbetrüger und geriet in eine Zwickmühle. Der echte Nikolaus ist Schutzheiliger von Russland. Ob er es mir übel nehmen würde, wenn ich einen Russen die Treppe runterschubste? Andererseits, das war ein Betrüger, Russe hin oder her.
Ich zeigte mich gnädig und suchte eine kurze Treppe für ihn aus.
Es ist sehr schwierig, einen türkischen Nikolaus ausfindig zu machen.
Sogar die Weihnachtsfeiern in Firmen mit überwiegend türkischen Mitarbeitern bestellen sich einen deutschen Nikolausbetrüger.
Ich habe es überprüft.
Mehrmals.
Als ich am 5. Dezember beinahe aufgeben wollte, kam der Nikolaus zu mir.
Der echte Nikolaus.
Meine Mutter und ich standen kurz vor 20 Uhr in der Schlange im Supermarkt, das Band mit unseren Einkäufen schnurrte an mir vorbei.
»Packst du schon mal ein?«, bat mich Mama.
Meine Laune befand sich auf dem Tiefpunkt. Es sah nicht danach aus, als würde ich bis morgen den echten Nikolaus finden – und deswegen würde ich mich mit einem rosafarbenen Pullover anfreunden müssen. Ich schwor bei der Nussnougatcreme, die ich vom Band in den Einkaufswagen legte, das grässliche Ding niemals anzuziehen. Nicht, solange Vanessa Backes einen trug.
Plötzlich stieß eine Frau hinter uns in der Schlange einen Schrei aus.
Vor mir erschien der Nikolaus.
In dem Moment wusste ich es noch nicht, aber ich hatte gleich so eine Ahnung. Er schwenkte eine funkelnde Pistole. Schwarzer Kunstledermantel. Handschuhe. Sturmhaube. Knecht Ruprecht, dessen schwarzer Bart unter der Maske hervorschaute, kauerte schräg hinter ihm am Boden und hielt eine Sporttasche, in der sicher die Geschenke für die Kinder lagen. Und dem Weihnachtsengel, der neben dem Nikolaus stand und den Ausgang im Blick behielt, quollen die blonden Locken unter der Sturmhaube hervor bis zu den Schultern.
Der Anblick bannte mich.
»Ruhe!«, rief Knecht Ruprecht. »Wir sind gleich wieder weg, Herrschaften. Wir nehmen uns nur eine Spende für die Armen. Es ist ja bald das Fest der Liebe.«
Sie liefen von Kasse zu Kasse, der Weihnachtsengel packte Scheine und Geldrollen ein. Der Nikolaus redete mit Knecht Ruprecht – auf Türkisch! Ich verstand zwar nichts, aber ich wusste, wie es klang.
Da begriff ich es: Sie sammelten für die Armen, er sprach Türkisch – es konnte nur der echte Nikolaus sein!
Die Tür, auf der Büro stand, öffnete sich langsam, und ein Wachmann schlich heraus, richtete seine Pistole auf die drei.
»Vorsicht, Nikolaus!«, schrie ich.
Der Nikolaus verstand sofort. Seine braunen Augen richteten sich auf den Wachmann, dann hob er seine Pistole. Das war der Augenblick, in dem sich die Lichter des Supermarktweihnachtsbaumes und die Kugeln auf der verchromten Waffe spiegelten. Ein herrlicher Anblick! Knecht Ruprecht und der Weihnachtsengel zogen ebenfalls ihre Pistolen.
»Nicht!«, rief der Mann vom Wachschutz und hob die Hände. »Ich tue nichts.«
Ich atmete auf. Das hätte noch gefehlt, dass der Idiot auf den Nikolaus schoss. Damit wäre meine letzte Chance auf ein anständiges Geschenk dahin gewesen.
Meine Mutter schüttelte mich und zischte: »Sei still, um Himmels willen!«
Knecht Ruprecht und der Weihnachtsengel leerten die letzten Kassen. Nikolaus deutete auf den Ausgang, ging los – und blieb vor mir stehen. Er beugte sich zu mir. Der Nikolaus roch gut, frisch geduscht und nach Aftershave. Nicht stinkig wie die meisten der Betrüger.
»Bringst du mir das Creepy-X-Mas-House-of-Horror, lieber Nikolaus?«, fragte ich ihn. »Bitte, ich will keinen rosa Pulli wie Vanessa!« Vor Aufregung vergaß ich den Spruch und alle sieben Strophen des Gedichtes.
Dem Nikolaus war es egal. Er schaute mich lange an, dann griff er an meiner versteinerten Mutter vorbei in den Nachbareinkaufswagen und nahm eine schreiend grüne Verpackung heraus, die ich sehr gut kannte. Das Creepy-X-Mas-House-of-Horror!
»Das ist für dich, Sarah.« Er reichte es mir und küsste mich durch die Haube auf die Stirn.
Knecht Ruprecht rief nach ihm, und Nikolaus sprang auf und rannte hinaus. Sie stiegen in einen großen, dunklen Wagen und rauschten davon.
Meine Mutter starrte mich an. »Du weißt, was wir dir schenken wollten?«
»Ihr habt dem Nikolaus absichtlich nicht gesagt, was ich mir gewünscht habe«, sagte ich trotzig. »Weil ihr es hässlich findet.«
Sie fuhr durch meine Haare. »Ich wusste nicht, dass Vanessa auch so einen Pulli hat. Ich … ich bringe ihn zurück.« Dabei schaute sie resignierend auf das Creepy-X-Mas-House-of-Horror.
Der Mann, aus dessen Korb es stammte, widersprach nicht.
Später bedankte sich der Filialleiter persönlich bei mir, weil ich eine Schießerei verhindert hätte.
»Man weiß nie, wie viele Kunden bei so was getroffen werden«, sagte er erleichtert zu meiner Mutter und schaute zu mir. »Du bist wirklich eine kleine Heldin!«
Das wusste ich natürlich schon, aber ich verriet es ihm nicht. Wir gingen mit unseren Einkäufen und einem Gutschein über eintausend Euro nach Hause.
Papa machte große Augen, als er hörte, was geschehen war.
»Woher kannte er deinen Namen?«, fragte er mich am Ende der Geschichte.
»Er ist der Nikolaus. Er weiß ihn einfach«, gab ich zufrieden zurück, während ich mit meinem Creepy-X-Mas-House-of-Horror auf dem Küchentisch spielte.
Und damit war meine Welt für ein paar Monate in Ordnung.
Aber jetzt ist wieder etwas passiert.
Ausgerechnet an Ostern.
Zum ersten Mal hat der Osterhase, der die Geschenke für mich bei Oma abliefert, nicht richtig pariert. Ich bekam einen Pullover. Helllila.
Tja, was soll ich sagen?
Ich sitze gerade an meinen Nachforschungen.
Ich fürchte, es wird ein bisschen komplizierter als bei der Suche nach dem Nikolaus. Sicher ist schon mal, dass der als Hase verkleidete Mann im Einkaufszentrum nichts mit dem echten Osterhasen zu tun hat.
Noch so ein Betrüger …
BKA-Kommissarin Irene Umlauf hörte das Ticken der Wanduhr überlaut.
Es roch nach Plätzchen und künstlichem Tannenbaum, und es war eindeutig zu warm in dem kleinen Raum. Dunkles Holz dominierte die Einrichtung, eine selbst gehäkelte Gardine vor dem Fenster versperrte Neugierigen die Sicht von der Straße.
Ihr Blick richtete sich auf das Regal neben dem Durchgang zum Flur, auf dem Pokale standen: Bester Nikolaus 2006, Sackwerfer 2000, Bester heiliger Mann 2007, Nikolaus der Nikoläuse 2004, Sieger der Internationalen Santa Claus Olympiade 2005 und so weiter und so fort – eine Trophäe reihte sich an die nächste. Alle sagten aus, dass der Mann, in dessen Wohnzimmer sie saß, mit 68 Jahren ein herausragender Nikolaus war.
»Geht’s wieder, Herr Dingler?«
»Ich bin der Beste«, erwiderte Herbert Dingler und wischte sich Tränen von den Wangen. »Der Beste in ganz Deutschland, verstehen Sie? Deswegen hat sie mich in diesem Jahr ausgesucht.« Er putzte sich die Nase, und Irene musste an einen Babyelefanten denken. »Danke, dass Sie hier sind.«
Nochmals wurde geschnäuzt, Dingler schniefte und sah sie aus geröteten Augen an. Kariertes Hemd, beige Stoffhose und Hausschuhe. Ein ganz normaler netter Rentner, dessen heile weiße Weihnachtswelt eben einen gehörigen Riss bekommen hatte.
»Wir müssen uns bedanken, dass Sie uns informiert haben«, erwiderte Irene und sah ihm an, dass er sie für viel zu jung hielt. Undiplomatisch gesagt: für inkompetent. Noch dazu war sie eine Frau.
»Was soll ich denn machen, wenn mir jemand ein Päckchen mit einem blutigen Hammer schickt?«, erwiderte Dingler verängstigt. »Soll ich den einfach so wegschmeißen? Oder abwischen und zum anderen Werkzeug hängen?« Dingler schüttelte den ergrauten Kopf. »Nee, nee. Da habe ich viel zu viel Angst. Meine Weihnachtsmannfreunde und ich wissen doch, was läuft. Steht doch überall. Und kommt im Radio.« Er hielt ihr auffordernd den Plätzchenteller hin. »Da, bitte. Versuchen Sie mal.«
Irene nickte. »Ganz recht, Herr Dingler. Die Soko Weihnachtsmann findet Ihren Einsatz auch unbezahlbar. Mit Ihrer Hilfe schnappen wir sie endlich.« Sie beugte sich nach vorne und nahm sich eine Makrone, schob sie in den Mund.
Im Allgemeinen waren Makronen weich, doch die Backwerke des Herrn Dingler bildeten eine unrühmliche Ausnahme. Irene lächelte hilflos. Der steinharte Brocken im Mund ließ sich nicht kauen. Auch der eilig nachgekippte Kaffee brachte das Gebäck nicht dazu, die Konsistenz zu verändern. Die Flüssigkeit umspülte es erfolglos.
»Gut, gell?«, sagte der Beste Nikolaus 2006. »Die hat meine Gertrud noch gebacken. Letztes Jahr, bevor sie dann gestorben ist.« Er stellte den Teller ab. »Mir sind die zu hart. Die Dritten.«
Irene schob die Makrone von der rechten in die linke Wangentasche.
Dingler schlürfte Kaffee. »Stimmt das wirklich, dass sie schon elf Weihnachtsmänner umgebracht hat?«
»Ja«, sagte Irene undeutlich. »Elf Weihnachtsmänner und einen Engel, wobei sie den Engel vermutlich deshalb erschlug, weil er die Tat beobachtet hatte. Ansonsten hat sie es nur auf Nikoläuse abgesehen. Quer durch die Republik, auf allen möglichen Märkten. Die Mörderin ist eine Psychopathin mit einem irrationalen Hass auf die Gestalt des Nikolaus, sagen unsere Experten.« Sie biss probehalber auf die Makrone, die sich noch immer widersetzte. »Am Hammer, den Sie uns mit dem Päckchen gegeben haben, fanden unsere Forensiker die Fingerabdrücke und DNS einer Frau, wie in den Fällen zuvor, sowie das Blut des letzten Opfers. Jetzt wissen wir, warum der elfte Hammer verschwunden blieb. Die Drohung ist also ernst zu nehmen.«
Dingler rieb sich unruhig die Oberschenkel. »Ich kann’s immer noch nicht fassen. Mich hat die Sauhündin ausgesucht! Nur, weil ich so gut bin!« Er sah zum Regal. »Erst dieses Jahr habe ich in Stuttgart den Wettbewerb der Senioren-Nikoläuse gewonnen. Niemand hat schöner Hohoho gerufen als ich. Dafür soll ich mit einem Hammer erschlagen werden?« Er erbleichte ansatzlos. »Vielleicht hat sie mich dabei gesehen? Die ist neidisch auf mich!«
»Wir vom BKA lassen nicht zu, dass sie ihre Drohung in die Tat umsetzt, Herr Dingler.« Irene schob die Makrone in die andere Wangentasche und lehnte hastig ab, als der Sieger der Santa Claus Olympiade 2005 ihr die Plätzchen schon wieder anbot. »Sie gehen ganz normal über den Weihnachtsmarkt und absolvieren Ihr Programm für die Werbegemeinschaft. Zivilbeamte der Soko haben Sie immer im Auge. Es kann Ihnen nichts geschehen! Ich verspreche es Ihnen.« Sie stand auf. »Morgen treffen wir uns, kurz bevor Sie auf den Markt gehen. Für letzte Instruktionen.« Die Makrone immer noch im Mund, trat Irene in den Flur. »Auf Wiedersehen, Herr Dingler.«
Als sie im Freien stand, spuckte sie das Plätzchen aus, das ebenso gut eine Mischung aus Kleber und Holzmehl hätte sein können. Es kullerte auf die Straße, wo es von einem Lkw überrollt wurde.
Die Makrone hielt.
Irene schälte die nächste Marone, ließ die Schalen auf das Pflaster fallen und folgte dem Nikolaus der Nikoläuse 2004 mit einem Abstand von vier Metern über den Weihnachtsmarkt. Insgesamt hatten sich sieben Beamte um ihn herum verteilt, mal mehr, mal weniger dicht an ihm dran.
Und es war jede Menge los.
Irene achtete auf Frauen, die sich Dingler näherten. Blöderweise waren es meistens Frauen, die mit ihren Kindern zum Weihnachtsmann traten, um eine Kleinigkeit für den Nachwuchs zu bekommen. Stress pur.
Irene nahm das Handy hervor und rief einen Kollegen an. »Irgendwas Verdächtiges?«
»Ja«, kam es zurück. »Am Stand mit der Stadtwurst hängen ein paar Typen mit Schildern rum, auf denen steht: Wir rücken der Stadtwurst auf die Pelle! Sieht aus wie eine Demo.«
»Witzig«, gab sie zurück und legte auf.
Dingler zog seine Bahn, die Fußgängerzone entlang in Richtung Alexanderkirche, verteilte unermüdlich Zeugs aus seinem Jutesack.
»Mami, Mami! Guck mal«, hörte Irene ein Kind aufgeregt sagen. »Der Weihnachtsmann kommt ja von der Werbegemeinschaft! Toll! Das Christkind, kommt das auch von hier?«
»Ja«, antwortete die genervte Mutter. »Wie Maria und Josef.«
»Und der Ochse und der Esel? Die auch?«, hakte das Kind begeistert nach. »Dann stimmt das ja gar nicht, was wir in der Schule durchgenommen haben …«
Irene verpasste leider, wie sich die Mutter aus der Lüge wand, und bog ab, auf die Bussteige zu. Dingler musste ins City-Center, um den Sieger des Zeichenwettbewerbs der hiesigen Grundschulen zu verkünden, so stand es auf dem Plan.
Die Kommissarin sah einen weiteren Nikolaus, der leicht angetrunken auf einer Wartebank saß und laut »Vom Himmel hoch« grölte. Als er Dingler sah, sprang er auf, salutierte und stürzte auf ihn zu, legte den Arm um seine Schulter und tanzte los. Dabei sang er: »Santa Klausis are coming to town.«