Der Teufel von Eguisheim - Jules Vitrac - E-Book

Der Teufel von Eguisheim E-Book

Jules Vitrac

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Beschreibung

Rasende Wut, kaltblütiger Mord Es herrscht beinahe gespenstische Ruhe am spätsommerlichen Morgen im elsässischen Eguisheim, als Jean-Marie Knopfer aus dem Fenster stürzt. Er ist augenblicklich tot. Niemand kann sich erklären, wie es dazu kam. Dann werden Wanderer von einem Reh attackiert. Eine Untersuchung ergibt: Das Tier hatte Tollwut. Wehrt sich die wilde Kreatur gegen den Menschen, wie einige im Dorf glauben wollen? Als ein weiterer Todesfall die Eguisheimer erschüttert, ahnen Céleste Kreydenweiss und Luc Bato von der Police Municipale, dass dieser Fall nur zu lösen ist, wenn man tief in die Abgründe der menschlichen Seele steigt, zu den Ursprüngen von Fanatismus und Aberglaube …

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Jules Vitrac

Der Teufel von Eguisheim

Kreydenweiss & Bato ermitteln

Kriminalroman

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Rasende Wut, kaltblütiger Mord

 

Es herrscht beinahe gespenstische Ruhe am spätsommerlichen Morgen im elsässischen Eguisheim, als Jean-Marie Knopfer aus dem Fenster stürzt. Er ist augenblicklich tot. Niemand kann sich erklären, wie es dazu kam. Dann werden Wanderer von einem Reh attackiert. Eine Untersuchung ergibt: Das Tier hatte Tollwut. Wehrt sich die wilde Kreatur gegen den Menschen, wie einige im Dorf glauben wollen? Als ein weiterer Todesfall die Eguisheimer erschüttert, ahnen Céleste Kreydenweiss und Luc Bato von der Police Municipale, dass dieser Fall nur zu lösen ist, wenn man tief in die Abgründe der menschlichen Seele steigt, zu den Ursprüngen von Fanatismus und Aberglaube …

Über Jules Vitrac

Jules Vitrac ist eine erfolgreiche deutsche Schriftstellerin und Juristin. In ihren Krimis verbindet sie berufliche Erfahrung in Sachen krimineller Abgründe und ein Faible für vertrackte Rätsel mit einer großen Liebe zu Frankreich. «Mord im Elsass» war ihr erster Kriminalroman um Chef de Police Céleste Kreydenweiss und ihren akkuraten jungen Brigadier Luc Bato. Mit «Der Teufel von Eguisheim» legt Jules Vitrac den zweiten Band vor.

Wahres Unglück bringt der falsche Wahn.

Friedrich von Schiller

1

Das Pfeifen eines Teekessels, das durch das geöffnete Küchenfenster nach draußen drang, störte die frühmorgendliche Stille. Es kam aus dem Dachgeschoss eines spitzgiebeligen Hauses, unweit der Hauptstraße des elsässischen Dörfchens Eguisheim, das um diese Zeit noch im Morgenschlummer lag.

«Eva!»

Ein wütender Ruf – kurz darauf verstummte das Pfeifen abrupt und hinterließ eine Art Vakuum, ein überraschtes Lauschen anstelle des Tons, der eben noch da gewesen war. Ein Hund stromerte gemächlich vorbei, schnüffelte mal hier, mal dort und hob dann an der Ecke jenes Hauses lässig ein Bein. In diesem Moment ertönte ein Schrei. Er ließ den Hund, das Bein noch in der Luft, überrascht zusammenzucken. Es war der Schrei einer Frau, mehr verwundert als schmerzerfüllt, gefolgt von einem wilden Brüllen. Der Hund stand wie erstarrt, noch unschlüssig, welche Richtung als Fluchtweg taugte, als etwas aus dem Fenster des Hauses flog.

Ein Mann, massig und schwer und brüllend wie ein Stier, schlug schwer auf dem Kopfsteinpflaster auf. Ein hässliches Geräusch ließ etwas von gebrochenem Schädel und zerschmetterten Knochen erahnen, und der Hund machte, dass er davonkam.

 

Wäre Céleste Kreydenweiss, Chef der Police Municipale von Eguisheim, an diesem sommerlichen Montagmorgen nicht so ausgesprochen pünktlich an ihrem Arbeitsplatz in der Mairie erschienen, hätte sie den Fenstersturz womöglich ebenso wie der Hund live miterlebt, denn das dreistöckige Fachwerkhaus mit dem spitzen Giebel befand sich in unmittelbarer Nähe zu ihrer Wohnung. So aber saß sie mit einer Tasse Milchkaffee und einer frischen Brioche an ihrem Schreibtisch und diskutierte mit dem jungen Brigadier Luc Bato wie so oft die Frage, ob man eine weibliche Vorgesetzte unbedingt Chef nennen müsse oder ob man sich nicht einfach zwanglos mit Vornamen ansprechen könne, als das Telefon klingelte.

Bato hob ab, meldete sich gewissenhaft mit Namen und Rang und einem freundlichen «Was kann ich für Sie tun?», dann schwieg er, lauschte der aufgeregten Stimme in der Leitung, und seine dunklen Augenbrauen zogen sich mit jedem Satz ein Stückchen weiter zusammen. Er kritzelte etwas auf seinen Block und fragte: «Haben Sie schon den Krankenwagen gerufen?»

Céleste hob fragend den Kopf. «Was ist los?», bedeutete sie ihm lautlos, doch er schüttelte nur den Kopf.

«Trotzdem hätten Sie zuerst den Krankenwagen rufen müssen», meinte er. «Sie können und dürfen das nicht alleine beurteilen … Nein … Das machen wir jetzt von unterwegs. Ja … Wir kommen sofort. Warten Sie auf uns.» Er legte auf und erhob sich. «Es ist was passiert, Chef», meinte er, und es klang ein wenig verwundert.

«Was denn?» Céleste schob sich den Rest ihrer Brioche in den Mund und spülte sie mit einem Schluck Kaffee hinunter, bevor sie ebenfalls aufstand und ihre Uniformjacke vom Stuhl nahm.

«Jemand ist aus einem Fenster gefallen.» Bato wählte bereits die Notrufnummer.

«Aus dem Fenster?»

«Ja. Er liegt am Cour Unterlinden. Monsieur Grenier vom Zeitschriftenladen hat ihn gefunden, und er meint, er sei mausetot.»

 

Der Cour Unterlinden war ein kleiner Platz zwischen der Grand’Rue und dem nördlichen Teil der pittoresken, kopfsteingepflasterten Rue du Rempart, die das Dorf wie ein Ring umschloss und eine der Touristenattraktionen von Eguisheim war. Die Kellerei Bertrand Fleckenstein hatte hier ihren Stammsitz, ein dottergelbes Fachwerkhaus wie aus einem Märchenbuch, mit himmelblauen Fensterläden und einem spitzen Türmchen am Eingang. Wie fast alles im Zentrum von Eguisheim befand sich auch der Cour Unterlinden in fußläufiger Entfernung von der Polizeiwache, die ihren Sitz im Rathaus in der Grand’Rue hatte. Dennoch kamen Céleste Kreydenweiss und der Brigadier in ihrem nicht mehr ganz taufrischen Dienstwagen standesgemäß mit Blaulicht und Sirene zum Unfallort und parkten schwungvoll hinter der Touristeninformation. Immerhin handelte es sich um einen Notfall, da machte es keinen guten Eindruck, wenn die Polizei zu Fuß um die Ecke spazierte.

Monsieur Grenier erwartete sie bereits ungeduldig. Steif wie ein Zinnsoldat stand er da und drehte nervös seinen Hut in den Händen. In einigem Abstand lag ein massiger Mann mit weit ausgebreiteten Armen bäuchlings auf dem Asphalt, so, als hätte er versucht zu fliegen. Um seinen Kopf hatte sich eine dunkel glänzende Blutlache gebildet. Céleste ging neben dem Mann in die Hocke und tastete nach seinem Puls. Monsieur Grenier hatte recht gehabt: Der Mann war mausetot. Schweigend betrachtete sie ihn. Er war barfuß, trug ein Unterhemd und eine blau-weiß gestreifte Pyjamahose.

«Erkennen Sie ihn?», fragte sie den Brigadier, der, etwas grün um die Nase, neben sie getreten war, und richtete sich wieder auf. «Das ist Jean-Marie Knopfer, er hat dort oben gewohnt.» Sie deutete auf die beiden obersten Fenster des Hauses, das direkt gegenüber der Domaine Fleckenstein lag und, soweit Céleste wusste, ebenfalls Bertrand Fleckenstein gehörte. Eines der Fenster stand offen.

Luc nickte. «Ich glaube schon», murmelte er. «Er hat bei Bertrand Fleckenstein gearbeitet.»

«Und? Ich habe doch recht gehabt, oder?», mischte sich Monsieur Grenier von hinten ein. «Er ist tot, oder etwa nicht? Das sieht man gleich.»

Céleste drehte sich zu ihm um. «Haben Sie gesehen, wie er gestürzt ist?», fragte sie.

Alphonse Grenier sah sie erschrocken an und schüttelte den Kopf. «Gott sei Dank nicht.»

«Erzählen Sie mal, wie Sie ihn gefunden haben», forderte ihn die Polizistin auf.

«Ja, das war so …» Er räusperte sich und zupfte etwas umständlich an seiner Krawatte. Obwohl er tagein, tagaus nur in einem winzigen Zeitschriftenladen hinter der Theke stand, war Alphonse Grenier immer sehr korrekt gekleidet, mit bis oben zugeknöpftem Hemd, Schlips und Weste, dazu trug er auf der Straße stets Mantel und Hut. «Ich war wie üblich auf dem Weg zum Laden. Meine Frau und ich, wir wohnen in der Rue du Muscat, und jeden Morgen nehme ich die gleiche Route, über die Grand’Rue und den Cour Unterlinden in die Rue du Rempart … Und da lag er.» Er deutete etwas theatralisch auf den Mann am Boden. «In seinem Blut! Was glauben Sie, wie ich erschrocken bin. So etwas sieht man schließlich nicht alle Tage …»

«Natürlich nicht», pflichtete Céleste ihm bei. Als der Krankenwagen ankam und die Sanitäter heraussprangen, wandte sie sich an ihren Brigadier. «Bato, rufen Sie Capitaine Wolfsberger an.»

Bato verzog das Gesicht und zückte widerstrebend sein Handy. «Muss wohl sein.»

Didier Wolfsberger, der Chef der zuständigen Kriminalpolizei von Colmar, war nicht nur bei den beiden Gemeindepolizisten äußerst unbeliebt. Auch André Ginglinger, der Bürgermeister von Eguisheim, der von allen nur Dédé genannt wurde, konnte ihn nicht ausstehen. Céleste kannte Wolfsberger aus ihrer Zeit bei der Police Nationale in Straßburg, wo sie einige Jahre als Kriminalbeamtin gearbeitet hatte, ehe sie auf eigenen Wunsch nach Eguisheim und zur Police Municipale zurückgekehrt war. Sie hatte den Wechsel zur Gemeindepolizei nie bereut, der einzige Wermutstropfen war Didier Wolfsberger, der vor kurzem ebenfalls von Straßburg nach Colmar versetzt worden war. Da sie jedoch eher selten größere Kriminalfälle in Eguisheim zu lösen hatten, hielt sich der Kontakt in Grenzen, und wenn es nach Céleste ging, sollte das auch so bleiben.

Sie blickte wieder nach oben zu dem offenen Fenster und runzelte die Stirn. «Wenn Sie nicht gesehen haben, wie Monsieur Knopfer aus dem Fenster gefallen ist, woher wissen Sie es dann?», wollte sie von Monsieur Grenier wissen.

«Na, von Eva, seiner Frau. Sie stand oben und schaute herunter. Es war wohl gerade eben erst passiert. Als sie mich gesehen hat, hat sie mir zugerufen, er sei gesprungen.»

«Gesprungen? Hat sie tatsächlich gesprungen gesagt?»

Alphonse Grenier nickte, plötzlich verunsichert. «Ja, ich glaube schon … Aber jetzt, wo Sie so nachfragen, finde ich das auch seltsam. Vielleicht habe ich mich verhört?»

«Wo ist Eva Knopfer jetzt?»

Monsieur Grenier zuckte mit den Schultern. «Keine Ahnung.»

«Ist sie denn nicht heruntergekommen, um nach ihrem Mann zu sehen?», fragte Céleste.

«Nein. Sie ist gleich wieder vom Fenster verschwunden, und ich habe sie seither nicht mehr gesehen. Ich habe dann bei Ihnen auf dem Polizeirevier angerufen und mich nicht mehr von der Stelle bewegt. Hätte ich nach ihr sehen sollen?» Er wurde zunehmend nervös und zerknautschte seinen Hut. «Ich dachte, wegen der Spuren und so …»

«Nein. Sie haben alles richtig gemacht», sagte Céleste beruhigend. Dann wies sie Luc an, zusammen mit Monsieur Grenier auf die Brigade Criminelle zu warten.

«Und Sie, Chef?», wollte Bato wissen. Er war noch immer etwas blass unter seiner sonnengebräunten Haut und schaute unbehaglich drein. Der Anblick eines Toten machte ihm jedes Mal mehr zu schaffen, als ihm lieb war, und die Aussicht, auch noch Didier Wolfsberger alleine gegenüberzutreten und sich anschnauzen lassen zu müssen, versprach doppeltes Ungemach. Entschieden zu viel für einen Montagmorgen.

«Ich sehe nach der Ehefrau», meinte Céleste und lächelte ihm aufmunternd zu. «Sie machen das schon, Bato.»

Während Céleste die enge, knarzende Stiege nach oben ging, überlegte sie, was sie von dem Ehepaar Knopfer wusste. Jean-Marie Knopfer hatte in der Kellerei Fleckenstein gearbeitet. Sie schätzte ihn auf Anfang sechzig. Ursprünglich selbst Weinbauer, hatte er vor einigen Jahren Insolvenz anmelden und seinen Weinberg verkaufen müssen. Seitdem hatte er bei Bertrand Fleckenstein als eine Art Hausmeister gearbeitet. Célestes Großvater Théo, der ebenfalls einen Weinberg bewirtschaftete, hatte ihr davon erzählt. Jean-Marie Knopfer galt allgemein als jähzornig und streitbar – es gab kaum einen im Dorf, mit dem er sich noch nicht angelegt hatte. Etwas Ernsteres war Céleste jedoch bisher nicht zu Ohren gekommen. Sie nahm sich vor, die entsprechenden Register dennoch zu überprüfen. Von seiner Frau wusste Céleste wenig. Sie schien still und zurückhaltend, optisch eher der Typ graues Mäuschen. Céleste schätzte, dass sie neben ihrem polternden Mann nicht viel zu melden gehabt hatte. Aber das waren nur Spekulationen.

Inzwischen war sie an der Wohnungstür angelangt und klopfte. «Hallo? Madame Knopfer, machen Sie bitte auf!», rief sie und hielt dann das Ohr nahe an die massive Holztür, um zu lauschen.

Drinnen blieb alles still. Soweit sie wusste, lebte das Ehepaar allein hier, die Kinder waren längst ausgezogen. Sie klopfte noch einmal, dieses Mal lauter, und als sie ein Geräusch zu hören glaubte, trat sie einen Schritt zurück und wartete.

Die Tür öffnete sich langsam. Eva Knopfer bot ein Bild des Jammers: Noch im Morgenmantel und barfuß, die fahlbraunen, von grauen Strähnen durchzogenen Haare wirr und ungekämmt, stand sie einfach nur da, kreidebleich, mit hängenden Armen. Der Schock, hätte man meinen können. Doch was Céleste dazu veranlasste, scharf die Luft einzuziehen und die Frau vorsichtig am Arm zu nehmen wie ein Kind, das kurz davor ist, etwas Dummes oder Gefährliches zu tun, war die Tatsache, dass Eva Knopfer ein blutiges Messer in der Hand hielt. Außerdem waren ihr rosa Nachthemd und ihr rechtes Bein blutverschmiert.

Céleste wand Eva Knopfer behutsam das Messer aus der Hand und schob sie sanft zurück in die Wohnung. Die Frau ließ es teilnahmslos geschehen. Dann rief Céleste Luc an und bat ihn, die Sanitäter heraufzuschicken.

«Er ist einfach rausgesprungen», murmelte Eva Knopfer, während Céleste sie zu einem Stuhl führte. Die verstörte Frau setzte sich folgsam.

Céleste runzelte die Stirn. «Sie meinen, er ist gefallen, oder?»

Eva Knopfer schüttelte den Kopf, langsam, wie in Trance. «Er ist gesprungen. Einfach so, als ob wir ’nen verdammten Garten vor dem Fenster hätten …»

«Und die Wunde?», fragte Céleste und deutete auf die Stelle an Eva Knopfers Oberschenkel, wo ein tiefer Schnitt klaffte.

«Das war auch er. Vorher. Also bevor er gesprungen ist», sagte sie und klang noch immer fassungslos. «Er hat mir plötzlich mit voller Wucht das Messer ins Bein gerammt. Es ist sogar stecken geblieben. Ich musste es rausziehen.»

Céleste warf einen Blick auf das Messer. Es war stumpf und nicht sehr spitz, ein Frühstücksmesser, kaum als tödliche Waffe geeignet.

«Warum hat er das getan?», wollte sie wissen. «Haben Sie sich gestritten?»

Die Frau schüttelte den Kopf. «Nicht mehr als sonst auch. Der Teekessel hat ihn genervt. Ich hab ihn vom Herd runtergenommen und wollte gerade das Wasser in die Kanne gießen, da hat er zugestochen … einfach so.» Sie begann zu lachen, und gleichzeitig liefen ihr Tränen über das Gesicht. «Das ist doch total irre …»

«Ja, klingt so», bestätigte Céleste und sah sich um. Eine bescheidene Wohnküche mit Gasherd und Küchenzeile, daneben ein Tisch mit vier Stühlen. Er war fürs Frühstück gedeckt. Auf einem der Teller lag ein aufgeschnittenes Stück Baguette, zur Hälfte mit Butter bestrichen – ein Messer war nirgends zu sehen. Offenbar war das Jean-Maries Platz gewesen.

Céleste hatte keine Gelegenheit, Eva Knopfer weitere Fragen zu stellen, denn in diesem Moment kamen die Sanitäter zur Tür hereingepoltert. Sie erklärte knapp die Situation, und während sie begannen, Eva Knopfers Wunde zu untersuchen, waren in der Ferne bereits die Polizeisirenen der Brigade Criminelle zu vernehmen. Gleich würde Wolfsberger da sein.

Céleste wandte sich an die beiden Sanitäter: «Nehmen Sie sie bitte gleich mit ins Krankenhaus. Sie hat einen Schock erlitten. Und vielleicht ist die Schlagader verletzt …»

Der Sanitäter, der gerade einen Verband anlegte, nickte. «Machen wir.»

Und so kam es, dass Eva Knopfer bereits auf dem Weg ins Krankenhaus war, als Didier Wolfsberger in einem pastellgrün-weiß gestreiften Hemd und blauen Mokassins mit weißen Sohlen die Treppe heraufkam.

Kaum dass er Céleste bemerkte, stöhnte er genervt auf. «Sie schon wieder, Kreydenweiss!»

Ganz so, als hätte sie persönlich Jean-Marie Knopfer aus dem Fenster geworfen, nur um ihn zu ärgern. Céleste hatte keine Lust, sich mit dem Capitaine zu streiten. Nicht an einem Montagmorgen. Eigentlich überhaupt nie.

«Jean-Marie Knopfer, er wohnt hier mit seiner Frau Eva», sagte sie deshalb lediglich und fügte hinzu: «Angeblich ist er während des Frühstücks einfach aus dem Fenster gesprungen.»

Wolfsbergers Blick wanderte langsam von Céleste zu dem offenstehenden Fenster und wieder zurück. «Einfach gesprungen. Während des Frühstücks. Aha …»

«Sagt seine Frau.»

«Und wo ist das arme Frauchen, das zusehen musste, wie sein Mann – einfach mal so, hopp – aus dem Fenster gesprungen ist?»

«Sie ist im Krankenhaus.» Céleste deutete auf das Messer. «Damit hat er sie zuvor angegriffen.»

Wolfsberger warf einen Blick darauf. «Oho, das ist ja mal eine furchterregende Waffe.»

«Er hat ihr das Messer so heftig in den Oberschenkel gerammt, dass es stecken geblieben ist.»

Wolfsberger vergaß vor Verwunderung sein höhnisches Gehabe. «In den Oberschenkel? Wieso das denn?»

«Die Frau sagt, sie habe keine Ahnung. Und ihn können wir ja nicht mehr fragen.»

«Haha.» Wolfsberger verzog das Gesicht. «Sehr witzig, Kreydenweiss.»

«Montags immer», gab Céleste spitz zurück. Dann deutete sie erneut auf das Messer. «Da sind übrigens meine Fingerabdrücke drauf, ich musste es anfassen, um es Frau Knopfer abzunehmen.»

Wolfsberger maß sie mit einem vorwurfsvollen Blick, enthielt sich aber eines Kommentars. Sie schwiegen beide einen Moment, dann platzte es aus ihm heraus: «Das ist doch Schwachsinn, Kreydenweiss.»

«Was meinen Sie?»

«Sie werden doch nicht glauben, was Ihnen diese Frau erzählt hat. Aus dem Fenster gesprungen! Dass ich nicht lache. Sie hat ihn runtergestoßen, als er sich aus dem Fenster gebeugt hat. Wahrscheinlich ist ihr der Alte einfach auf den Zeiger gegangen, wie er so dastand, im Unterhemd … nicht mehr ganz taufrisch … und wahrscheinlich hat sie sich die Wunde danach selbst zugefügt, um wie eine arme misshandelte Frau dazustehen und nicht wie eine eiskalte Mörderin. Und Sie sind natürlich so naiv und glauben ihr aufs Wort.»

Céleste musterte ihn ungerührt. «Ich glaube gar nichts, Capitaine. Das ist Ihr Fall. Ich bin hier nur die Gemeindepolizistin.» Sie deutete einen spöttischen Salut an und verließ die Wohnung, ohne dass Didier Wolfsberger noch etwas hätte erwidern können. Im Treppenhaus kam ihr Luc entgegen.

«Alles in Ordnung, Chef?», fragte er beunruhigt. «Ich habe die Frau unten bei den Sanitätern gesehen, sie war voller Blut …»

Céleste nickte. «Eine seltsame Geschichte», meinte sie nachdenklich. «Angeblich ist er einfach gesprungen.»

Sie gingen hintereinander die Stiege hinunter und traten hinaus in den warmen Sonnenschein.

«Was sagt Capitaine Wolfsberger dazu?», wollte Bato wissen.

«Noch nicht viel.» Céleste zuckte mit den Schultern. «Aber für ihn ist jetzt schon klar, wie es abgelaufen sein muss.» Sie berichtete ihm von dem Messer und Capitaine Wolfsbergers Theorie.

Bato hörte ihr schweigend zu, dann meinte er: «Und Sie, Chef?»

«Was ist mit mir?»

«Was denken Sie?»

Céleste blinzelte in die Sonne. «Ich denke, er täuscht sich.»

Bato nickte, Célestes Einschätzung schien ihn weder zu überraschen, noch schien er sie in Zweifel zu ziehen. «Und was tun wir jetzt?»

«Wir? Nichts.»

«Das ist nicht Ihr Ernst!» Bato blieb stehen und sah sie empört an.

«Aber Bato, ich muss mich doch wundern», Céleste warf dem Brigadier einen belustigten Blick zu. «Ungeklärte Todesfälle und blutige Messerstechereien fallen nicht in unseren Zuständigkeitsbereich.»

Bato schüttelte eigensinnig den Kopf. «Stimmt nicht. Sie selbst sagen immer, alles, was in unserem Dorf passiert, liegt in unserer Zuständigkeit.»

Céleste musste sich ein Lächeln verkneifen. Schweigend schlenderten sie zu ihrem altersschwachen Mégane, dann meinte sie beiläufig: «Wir könnten noch mal mit Eva Knopfer sprechen und sie fragen, wie sie zu ihrem Gatten stand. Außerdem könnten wir die Strafregister durchsehen und uns ein bisschen umhören, ob er was auf dem Kerbholz hatte. Und vergessen Sie nicht, Bato, Sandrine ist meine Freundin …»

Sandrine Veilleux war die Gerichtsmedizinerin in Colmar, und wenn Jean-Marie Knopfers Verletzungen Spuren von Fremdeinwirkung aufweisen sollten, dann würde sie es herausfinden.

«Oh. Gut.» Luc Bato machte ein erleichtertes Gesicht. «Ich dachte schon, Sie meinten das ernst.»

Céleste stieg ein. «Sie haben ja etwas von einem Rebellen, Bato.»

«Von einem Rebellen?» Er sah sie überrascht an, während er seine langen Beine in den Fußraum faltete und sich dann gewissenhaft anschnallte. «Das hat mir wirklich noch niemand gesagt.»

Céleste lachte. Auf dem kurzen Weg zurück zur Mairie musterte sie ihren jungen Assistenten noch immer belustigt. Luc war immer für eine Überraschung gut. Mit seiner kräftigen Statur, den großen Händen und dem wettergegerbten Gesicht wirkte er weniger wie ein Polizist als ein Bergbauer aus den Vogesen, wo er auch tatsächlich herstammte. Seine Familie besaß einen abgelegenen Hof im Munstertal, einer einsamen, rauen Gegend, wo der bekannte Munsterkäse hergestellt wird. Als Luc ihr vor einigen Jahren zugeteilt wurde, frisch von der Polizeischule, hatte sie ihn für einen braven, etwas naiven Jungen gehalten, dem seine Mutter die Wäsche wusch und der stets ein frischgebügeltes Stofftaschentuch bei sich trug. Letzteres stimmte zwar; auch mochte Luc jung und relativ unerfahren sein, aber er lernte schnell, und naiv war er keineswegs. Und wenn es darum ging, Wolfsberger eins auszuwischen, entwickelte er einen geradezu sensationellen Kampfgeist.

 

In der Mairie erstatteten sie zunächst Dédé Bericht darüber, was sich am Morgen ereignet hatte. Der war auf dem Sprung und lauschte ihnen daher nur mit halbem Ohr. Seine Frau Edith warte, meinte er mit einem gehetzten Blick auf die Uhr, er müsse sie zur Rehaklinik nach Schiltigheim fahren, wo sie wegen ihres neuen Hüftgelenks acht Wochen bleiben werde. Er war schon an der Tür, als ihm noch etwas einfiel: «Und Wolflinger?»

«Wolfsberger», verbesserte ihn Luc gewohnheitsmäßig. Das schlechte Namensgedächtnis des Bürgermeisters war berühmt-berüchtigt.

Dédé winkte ab. «Ja, ja, egal, was meinen Sie, wird der Idiot uns wegen dieser Sache nerven?»

Céleste schüttelte den Kopf. «Ich glaube nicht, Monsieur Le Maire.»

«Aber dass Sie mir informiert bleiben!» Dédé kam ein paar Schritte zurück und fuchtelte mit seinem dicken kurzen Zeigefinger vor den Gesichtern der beiden herum. «Er darf zu keiner Zeit mehr wissen als wir.»

«Natürlich nicht. Wir kümmern uns darum», gab Céleste zurück.

«Sie können sich auf uns verlassen, Monsieur le Maire», ergänzte Bato zackig und stand soldatenstramm.

«Gut, gut!» Dédé zückte ein Taschentuch und wischte sich über die Stirn – eine Angewohnheit, die jeder kannte und die im Dorf entsprechend oft karikiert wurde. Man musste sich nur andeutungsweise über die Stirn streichen, und jedes Kind wusste, wer gemeint war.

«Sie können sich wieder locker machen, Bato», meinte Céleste, nachdem Dédé, nicht ohne einen weiteren nervösen Blick auf die Uhr geworfen zu haben, schließlich zur Tür hinausgeeilt war, und gab ihrem Brigadier einen spöttischen Knuff. «Haben Sie das etwa auch auf Ihrem Seminar gelernt?»

«Ich weiß nicht, was Sie meinen, Chef», gab Bato leicht beleidigt zurück und ging dann so kerzengerade zu seinem Schreibtisch, als hätte er einen Besenstiel verschluckt. «Ich habe eben eine gute Haltung …»

«Ach so, ich dachte schon …» Céleste ließ sich auf ihren Stuhl fallen. Dabei segelten ein paar lose Blätter von einem der unordentlichen Stapel auf ihrem Schreibtisch zu Boden.

Luc Bato hatte kürzlich ein Seminar in Lyon besucht, mit dem schönen Titel: «Bürgerfreundlichkeit und Effizienz: Die Gemeindepolizei, dein Freund und Helfer.» Seitdem war sein Schreibtisch noch penibler aufgeräumt als vorher, und er meldete sich beim Telefonieren immer mit floskelhaften Standardsätzen wie: «Mein Name ist Brigadier Luc Bato, was kann ich für Sie tun?» Das wiederum hatte Céleste zu der giftigen Bemerkung veranlasst, dass sie sich in ihrem Büro vorkomme wie am Drive-in-Schalter eines amerikanischen Fastfood-Restaurants. Doch Luc ließ sich von ihrem Spott nicht beirren. «Freundlichkeit hat noch nie geschadet», meinte er dazu nur und ratterte weiter seine Sprüche herunter.

Mittlerweile ertappte sich Céleste zu ihrem großen Entsetzen schon selbst hin und wieder dabei, wie sie am Telefon einen ähnlichen Callcenter-Tonfall anschlug wie ihr Brigadier.

2

«Ich verstehe das einfach nicht.» Luc schüttelte den Kopf. «Wieso springt jemand an einem Montagmorgen vor den Augen seiner Frau aus dem Fenster? Suizid?»

«Im Schlafanzug? Kann ich mir nicht vorstellen. Außerdem hatte er sich gerade noch ein Stück Baguette geschmiert …»

Bato musterte seine Chefin misstrauisch. «Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?»

Céleste schüttelte den Kopf. «Nein. Ganz sicher nicht, Bato. Ich habe das Baguette gesehen. Und Sie haben recht: Warum sollte jemand so etwas tun?»

«Das mit dem Springen kann nicht sein, die Frau hat sich getäuscht. Er muss unglücklich gefallen sein.» Bato überlegte weiter: «Oder aber er wurde tatsächlich gestoßen. Das wäre das Logischste, oder? Er sticht auf seine Frau ein, sie stößt ihn weg, er fällt aus dem Fenster …»

Céleste überlegte. «Aber Eva Knopfers Bestürzung war meiner Meinung nach echt. Sie war völlig fassungslos. ‹Er ist einfach gesprungen›, hat sie gesagt, ‹so als ob wir ’nen verdammten Garten vor dem Fenster hätten.› Das hätte sie doch so nicht formuliert, wenn sie ihn selbst gestoßen hätte, oder? Sie stand schließlich unter Schock. Außerdem: Warum hat er sie überhaupt angegriffen?»

«Er war als jähzornig bekannt», gab Luc zu bedenken. «Und seine Frau hat doch gesagt, er war genervt wegen des Teekessels.»

«Aber das ist doch kein Grund, seiner Frau aus heiterem Himmel ein Messer ins Bein zu rammen», widersprach ihm Céleste.

«Deshalb war sie ja so wütend. Sie ist auf ihn losgegangen.»

«Frau Knopfer ist ein Fliegengewicht, die ist höchstens eins sechzig groß, reichte ihrem Mann wohl nicht mal bis zur Schulter. Wie sollte die so einen Brocken aus dem Fenster stoßen, noch dazu, wenn sie sich gerade streiten, sie ihn also nicht überrumpeln kann?»

«Und wenn es doch so war, wie Wolfsberger vermutet? Jean-Marie Knopfer steht nichtsahnend am Fenster, sie stößt ihn … und sticht sich das Messer anschließend selbst ins Bein?», erwog Luc vorsichtig, wohl wissend, dass er sich damit auf gefährliches Terrain begab.

«Blödsinn!», erwiderte Céleste scharf. «Das ist eine richtig tiefe Wunde. So etwas fügt man sich nicht schnell mal selbst zu. Noch dazu mit einem stumpfen Messer. Da hätte sie schon ein scharfes Messer genommen.»

«Ja, da haben Sie auch wieder recht …» Luc machte ein ratloses Gesicht.

Das Klingeln des Telefons unterbrach ihre Grübeleien. Céleste warf einen Blick auf die Uhr, die über Luc an der Wand hing, schüttelte warnend den Kopf und deutete stumm Essensbewegungen an. Es war bereits Mittagszeit, und ihr knurrte der Magen. Sie hatten den ganzen Vormittag damit verbracht, über die seltsamen Ereignisse des heutigen Morgens nachzudenken, und sie fand, dass es jetzt Zeit zum Essen war.

Doch Luc war von Célestes pantomimischen Anstrengungen gänzlich unbeeindruckt. Er nahm den Hörer ab und sagte sein Sprüchlein auf: «Bonjour, Sie sprechen mit Brigadier Luc Bato von der Police Municipale in Eguisheim, was kann ich für Sie tun?» Er lauschte schweigend, und als er am Ende sagte: «Gut, wir kommen», seufzte Céleste. Mittagessen würde warten müssen.

Luc seufzte ebenfalls, nachdem er aufgelegt hatte. «Es ist mal wieder Rosalie», sagte er.

«Ach je. Dabei dachte ich, sie hätte es endlich im Griff.» Céleste stand auf. «Zu Francine?»

Luc nickte.

 

Francine Edel betrieb den einzigen Lebensmittelladen in Eguisheim, Le Petit Marché, der nur zwei Häuser von der Mairie entfernt in der Grand’Rue lag. Dieses Mal gingen Céleste und Luc daher zu Fuß. Es war ein Routinegang, wenngleich gesagt werden muss, dass sie ihn in letzter Zeit weniger häufig hatten unternehmen müssen. Jedenfalls nicht wegen Rosalie.

«Jetzt war so lang Ruhe», sagte Céleste bedrückt, «ich dachte eigentlich, sie hätte es geschafft.»

«Vielleicht wurde sie einfach nur lange nicht mehr erwischt», meinte Luc dazu, nüchtern wie immer.

Francine erwartete sie schon. Sie war eine recht korpulente Person mit einem imposanten kastanienbraunen Dutt mitten auf dem Kopf und einem nicht minder imposanten Busen, vor dem sie jetzt ihre feisten Arme verschränkt hielt. Neben ihr stand eine zierliche, unscheinbare Frau um die sechzig in einem angesichts des strahlenden Sonnenscheins etwas unpassend wirkenden Regenmantel. Sie weinte bitterlich.

Rosalie. Man wusste nicht genau, woher sie gekommen war, vielleicht aus Nancy oder Metz, jedenfalls war sie keine gebürtige Elsässerin. Vor einigen Jahren war sie plötzlich da gewesen. War in eine kleine Mietwohnung in der südlichen Rue du Rempart gezogen und hatte seitdem ein zurückgezogenes, stilles Leben geführt. Sie war freundlich zu allen Nachbarn, fütterte deren Katzen und goss die Blumen, wenn sie verreist waren, und ein- bis zweimal im Monat kam sie ins Café du Marché oder in den Fetten Frosch zum Mittagessen. Nach und nach entdeckte man jedoch, dass sie zumindest eine Eigenschaft besaß, die für erhebliche Unruhe im Dorf sorgte: Sie klaute wie ein Rabe. Ließ im Café du Marché Messer und Gabeln mitgehen, nachdem sie einen Toast gegessen hatte, klaute im Restaurant Fetter Frosch, das Célestes Mutter Catherine gehörte, die Speisekarte oder die Dekoration und bediente sich im Tabakladen von Monsieur und Madame Grenier bei den Kreuzworträtselheften, den Kaugummis und den Ansichtskarten.

Besonders gern jedoch klaute sie im Petit Marché von Francine. Nie war etwas Besonderes, nie etwas Teures dabei, und sie war auch nicht wählerisch. Seidenstrumpfhosen und Butterpäckchen, Käse, Weintrauben, Zwiebeln, ein Teesieb, Schokolade, Kochlöffel, Kaffee – und im Sommer immer wieder Flipflops, von denen Francine in der Saison neben der Kasse ein kleines Sortiment anbot. Auch jetzt hob Francine mit hilfloser Geste ein paar geblümte Flipflops hoch, als Céleste und Luc bei ihnen eintrafen. Es hatte Céleste immer gewundert, weshalb Rosalie ausgerechnet diese Schuhe so anziehend fand, denn sie trug nie welche, immer nur, Sommer wie Winter, feste, praktische Schnürschuhe.

«Es tut mir leid», sagte Francine zu Céleste, «aber langsam geht’s wirklich nicht mehr.»

Céleste nickte bekümmert. Sie verstand Francine, hatte aber auch keine Lösung parat, mit der sie sich wohlfühlte. Rosalie hatte schon mehrere Verurteilungen wegen Ladendiebstahls auf ihrem Konto, und irgendwann würde einem Richter der Kragen platzen, und er würde sie einsperren. Aber das hätte Rosalie nicht verdient. Wenn sie nicht gerade ihre Mitmenschen bestahl, war sie eine äußerst liebenswürdige, hilfsbereite ältere Dame, die niemandem auf die Nerven ging oder willentlich schadete, was man nicht von allen Mitmenschen behaupten konnte. Céleste konnte sich Rosalie in einer Gefängniszelle nicht vorstellen, und bisher hatten die Richter das gottlob ebenso gesehen. Und auch Francine war dieser Ansicht. Trotz Rosalies regelmäßiger Raubzüge hatte sie es im Gegensatz zu anderen Ladenbesitzern bisher nicht übers Herz gebracht, die alte Dame anzuzeigen. Nicht einmal Hausverbot hatte sie ihr erteilt. Le Petit Marché war nämlich der einzige Lebensmittelladen in Eguisheim, der nächste Supermarkt lag fünf Kilometer entfernt in Colmar, und Rosalie hatte nur ein klappriges Fahrrad ohne Licht und ohne Gangschaltung. Und sie kaufte bei Francine ja auch durchaus regulär ein und bezahlte ihre Ware. Zumindest den größten Teil davon.

Céleste wandte sich an Rosalie. «Was ist passiert? Es lief doch so gut in letzter Zeit?»

Rosalie schluchzte auf. «Ich weiß es nicht …» Sie weinte heftiger.

«Na, na, na!», sagte Francine und tätschelte unbeholfen die Schulter der Ladendiebin. «So schlimm ist es nun auch wieder nicht. Es ist schließlich niemand gestorben.»

Nun blickte Céleste zu Francine: «Möchtest du dieses Mal Anzeige erstatten?»

Die Ladenbesitzerin zögerte. «Ich müsste wohl. Ich meine, ich muss ja auch schauen, wo ich bleibe. Und die Flipflops waren nicht das Einzige heute.»

«Ach!»

Francine zeigte ihnen einen blauen Flakon. «Mein Laden ist zwar keine Parfümerie, aber ganz billig ist das auch nicht.»

Da meldete sich Luc überraschend zu Wort: «Das kenne ich, das benutze ich auch!», sagte er. «Zitrusfrüchte und exotische Hölzer …» Er verstummte, peinlich berührt, als beide Frauen ihn verdutzt ansahen.

«Ein Aftershave?», wunderte sich Céleste. «Wozu brauchst du das denn, Rosalie?»

Die kleine Frau schluchzte so sehr, dass sie kaum reden konnte. «Eeeeein Ggggge… Ggggescheeehenk.»

Francine seufzte, zog eine Packung Taschentücher aus ihrer Kitteltasche und hielt sie Rosalie vor die Nase. «Jetzt lass man gut sein, machst mir ja den ganzen Laden nass.»

Rosalie zog ein Tuch aus dem Päckchen und schnäuzte sich geräuschvoll. Céleste und Francine warfen sich einen langen Blick zu.

Dann sagte Francine schulterzuckend: «Also gut, Rosalie, ein letztes Mal. Aber echt jetzt. Ich habe keine Lust mehr. Das nächste Mal zeige ich dich an, und du bekommst Hausverbot. Lebenslänglich. Dann musst du für jede Rolle Klopapier nach Colmar fahren …»

Sie konnte nicht weiterreden, denn Rosalie hatte ihre Hand ergriffen und schüttelte sie so heftig, dass die ganze mächtige Francine bebte. «Danke, Francine. Das werde ich dir nie vergessen. Ich verspreche dir …»

«Nee, nee.» Francine machte eine unwirsche Handbewegung. «Keine Versprechungen. Jetzt gehen wir zur Kasse, und du bezahlst deinen Kram, und damit basta.»

 

«Zitrusfrüchte und exotische Hölzer, soso …», sagte Céleste mit einem Schmunzeln zu ihrem Brigadier, als sie auf dem Weg zurück zur Mairie waren. «Ich wusste gar nicht, dass Sie sich so gut mit Düften auskennen.»

Er zögerte, dann erklärte er mit einem hastigen Seitenblick auf Céleste: «Der Leiter dieses Seminars, auf dem ich war, meinte, ein Mann von Welt zeichnet sich durch gute Schuhe und einen angenehmen Duft aus. Sehen Sie das nicht so, Chef?»

Céleste verkniff sich eine flapsige Erwiderung, als sie sah, dass es ihrem Brigadier vollkommen ernst mit seiner Frage war. Ironie war noch nie Batos Stärke gewesen. Stattdessen musterte sie Batos spiegelblank geputzte Schuhe und nickte. «Doch, doch, da ist schon was dran, Luc. Durchaus. Wobei ich ehrlich gesagt nicht weiß, was ein Mann von Welt eigentlich sein soll.»

Bato überlegte einen Moment, dann meinte er: «Ich eigentlich auch nicht.» Es klang irgendwie erleichtert.

Céleste fand, dass nun definitiv der richtige Zeitpunkt für die Mittagspause gekommen war, und schlug Luc vor, ohne Umwege bei Henri vorbeizuschauen und im Café du Marché eine Kleinigkeit zu essen. «So ein Todesfall macht mich immer hungrig», erklärte sie. Außerdem erhoffte sie sich, in dem von den Dorfbewohnern gern frequentierten Bistro ein paar Informationen über die Knopfers zu erhalten. Henri Breton, der Wirt, der optisch eine gewisse Ähnlichkeit mit einem großen, traurigen Vogel besaß, war nicht nur über alle Maßen neugierig, seine Frau Irène kochte auch noch gut, sodass man zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen konnte.

Henri begrüßte sie mit für seine Verhältnisse ausnehmender Freundlichkeit, es kam ihm sogar ein Lächeln über die Lippen. Daraus konnte man schließen, dass er bereits über den Vorfall am Morgen Bescheid wusste und sich Informationen erhoffte, mit denen er bei seinen Gästen ein wenig prahlen konnte.

Sie setzten sich zu ihm an die Bar und bestellten beide das Mittagsgericht, das zugleich eines von Irènes Spezialitäten war: in Honig und Kräuter eingelegte und mit Speck umwickelte, gebratene Ziegenkäsetaler und Salat. Den Käse kaufte die Köchin bei Albert Epfacher, dem Leiter des Stadtmuseums, der neben seinem nicht sehr arbeitsintensiven Job noch eine kleine Ziegenherde sein Eigen nannte. Wenn man den Gerüchten Glauben schenken durfte, investierte er mehr Zeit in die Pflege der Tiere als seiner Ehe. Der Käse jedenfalls war ein Gedicht, und so wechselten Céleste und Bato während des Essens kein Wort, und auch Henri schwieg, aus Respekt gegenüber Alberts Ziegenkäse.

Das Café war leer, für die Mittagszeit waren sie bereits zu spät. Für eine ganze Weile war folglich nichts anderes im Raum zu hören als ein gelegentliches Klirren des Bestecks auf den Porzellantellern und das leise Krachen, wenn von den großen, knusprigen Baguettestücken, die zum Salat serviert worden waren, etwas abgebrochen wurde. Als Henri schließlich die Teller abräumte, befand er offenbar, dass seine Geduld nun endlich belohnt werden müsse.

«War ja was los heute Morgen», begann er wie beiläufig.

Céleste schwieg. Es war ein Spiel, in dem man nicht zu früh zu viel preisgeben durfte, denn sonst konnte es passieren, dass der eigentlich recht redselige Henri plötzlich verstummte und man selbst zwar viel gesagt, aber kaum etwas erfahren hatte.

«Die Brigade aus Colmar soll da gewesen sein», versuchte es Henri weiter.

«Mmja», gab Céleste vage zurück. «Machst du mir noch einen Kaffee?»

Henri hantierte an der Kaffeemaschine herum, dann sagte er kopfschüttelnd: «Es heißt, Jean-Marie Knopfer soll aus dem Fenster gefallen sein. Das ist aber Blödsinn, oder?»

«Wieso soll das Blödsinn sein?», fragte Bato, der das Spiel mittlerweile auch ganz gut beherrschte.

Henri warf ihm einen konsternierten Blick zu. «Na ja, wer fällt schon am helllichten Tag einfach so aus dem Fenster?»

«Kanntest du Jean-Marie Knopfer gut?», wollte Céleste wissen.

Henri wiegte seinen langen, traurigen Kopf hin und her, was besagte, dass er überlegte. Nach einer Weile gab er zögernd zur Auskunft: «Er war schon so was wie ein Stammkunde. Hat fast jeden Abend auf ein Glas Crémant vorbeigeschaut. Vor allem, seit er seinen Weinberg nicht mehr hatte.»

«Hat er getrunken?»

«Du meinst, ob er Alkoholiker war?»

Céleste nickte.

Henri schüttelte den Kopf. «Ist mir nicht aufgefallen. Bei mir war er nie betrunken.»

«Soll aber ein schwieriger Typ gewesen sein.» Der Einwurf kam wieder von Bato, ebenfalls eher beiläufig, mehr Kommentar als Frage, in einem Ton, der den Wirt sofort zu einer Antwort provozierte.

«Was heißt denn schwierig? Er hatte eben seine eigenen Ansichten. Ist ja nicht verboten, oder, Herr Brigadier?»

«Was waren das denn für Ansichten?», wollte Céleste wissen.

Wieder schwieg Henri eine Weile, dann verkündete er etwas kryptisch: «Ich halte mich aus Diskussionen dieser Art grundsätzlich raus. Ganz schlecht fürs Geschäft, wenn der Wirt in solchen Dingen eine eigene Meinung hat.»

«Was für Dinge?», hakte Bato nach, doch Henri sah ihn nur an und hob vielsagend die Augenbrauen.

«Politik?», tippte Céleste. «Religion?»

«Bringt nur Ärger, wenn man sich da einmischt.» Henri schnalzte traurig mit der Zunge. «Ich sage ja immer, jeder soll denken, was er will, solange er nichts Unrechtes tut …»

«Was waren das denn nun für Ansichten? War er radikal?»

Henri nahm ein Leinentuch und widmete sich mit Hingabe seinen Gläsern.

«Los, komm schon!» Céleste wurde langsam ungeduldig. «Lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen. Dann verrate ich dir auch, wo sie seine Frau hingebracht haben.»

«Eva?» Henri hob überrascht den Kopf. «Hat sie etwa was damit zu tun? Das kann ich mir nicht vorstellen …»

Céleste lächelte sanft. «Du wolltest mir sagen, inwiefern Jean-Marie Knopfer schwierig war.»

Henri legte das Handtuch weg. «Er war Kommunist, Anarchist, Atheist, Dummkopf, sucht euch was aus. Knopfer hat bei allem immer das Gegenteil von allen anderen vertreten, hatte Spaß am Provozieren. Er mochte es einfach, zu streiten. Ein Hund, der immer am lautesten von allen bellen wollte.»

«Hat er auch zugebissen?», schaltete sich Bato wieder ein.

«Wie?» Henri schaute ihn aus seinen großen traurigen Augen verständnislos an.

«Na, ob er den Worten auch Taten hat folgen lassen. Ob er aggressiv war, zu Handgreiflichkeiten oder Sachbeschädigungen neigte. Oder können Sie sich vorstellen, dass er seine Frau misshandelt hat?»

Henri lachte kurz auf. «Eva? Niemals. Auch wenn sie aussieht, als ob ein Windhauch sie umblasen könnte, war sie es, die zu Hause die Hosen anhatte. Jean-Marie Knopfer war ein Stänkerer, und es kann sein, dass es auch hin und wieder zu kleineren Handgreiflichkeiten kam, aber seine Frau hat er nie angerührt. Da bin ich mir sicher.»

«Was für Handgreiflichkeiten?», wollte Céleste wissen.

Henri hob in einer Unschuldsgeste beide Hände. «Ich weiß von nichts.»

Céleste sah ihn streng an. «Das kannst du deiner Großmutter erzählen.»

Henri verzog das Gesicht. «Man hat sich erzählt, dass er kürzlich mit ein paar Arbeitern aus der Kellerei aneinandergeraten ist.»

«Aus welchem Grund?»

«Irgendein Blödsinn, wie immer. Gab ein bisschen Gerangel in Julien’s Winstub deswegen. Aber er war kein Schläger, wenn ihr das meint. Sicher nicht. Hat eben das Maul ein bisschen zu weit aufgerissen und eins draufgekriegt, aber dann war es auch wieder gut.»

«Sie meinen, Hunde, die bellen, beißen nicht», sagte Luc.

«Genau!» Der Moment war gekommen, da Henri auftrumpfen konnte. Seine hängenden Schultern strafften sich etwas, jetzt, wo er dem Grünschnabel von der Police Municipale erklären konnte, was Sache war: «Ich, ich kenne nämlich meine Pappenheimer, Brigadier.» Henri tippte sich mit dem Zeigefinger unter das rechte Auge. «Schließlich bin ich nicht erst seit gestern Wirt. In dem Geschäft bekommt man mehr Menschenkenntnis, als wenn man nur in seiner hübschen Uniform im Büro rumsitzt und Däumchen dreht.»

«Da könnten Sie recht haben, Monsieur.» Luc nickte gleichmütig, und Céleste bewunderte nicht zum ersten Mal seine Fähigkeit, sich durch nichts so schnell aus der Ruhe bringen zu lassen, wenn man von Leichen und amourösen Angelegenheiten einmal absah.

Sie bezahlten, und als sie schon dabei waren zu gehen, rief ihnen Henri hinterher: «Und? Was ist jetzt mit Eva Knopfer?»

Céleste blieb stehen und drehte sich zu Henri um. «Sie liegt im Krankenhaus. Offenbar hat der bellende Hund doch zugebissen. Oder besser, zugestochen. Mit einem Messer.»

Als sie das Café bereits verlassen hatten, starrte Henri ihnen noch immer mit offenem Mund nach.

3

Zu Luc Batos großer Enttäuschung entwickelte sich Jean-Maries spektakulärer Fenstersturz nicht zu einem ebenso spektakulären Ermittlungsfall für die Police Municipale von Eguisheim. Eva Knopfer blieb bei ihrer Version der Geschichte, wonach ihr Ehegatte völlig unvermittelt aus dem Fenster gesprungen sei, und verneinte überdies jegliche Gewalttätigkeit seinerseits ihr gegenüber, den Vorfall mit dem Frühstücksmesser ausgenommen. Er sei ein rechter Hitzkopf gewesen, habe immer mit allen über alles gestritten, auch mit ihr, das schon, bestätigte sie, aber im Grunde seines Herzens sei er doch ein Lämmchen gewesen. Die Arbeiter der Kellerei Fleckenstein, die Céleste befragte, betätigten, dass es vor einiger Zeit in Julien’s Winstub zu einer Auseinandersetzung gekommen sei, in deren Verlauf einer der Arbeiter, ein zorniger junger Kerl aus dem Süden namens Antoine, Jean-Marie einen Faustschlag ins Gesicht verpasst habe. Sie maßen der Sache jedoch keine größere Bedeutung bei. «Er hat dumm dahergeredet», hieß es allgemein mit einem Schulterzucken. Nach dem Schlag sei er nach Hause gegangen, und damit sei wieder Ruhe gewesen.

Sandrine Veilleux, die Gerichtsmedizinerin in Colmar, bestätigte Eva Knopfers Geschichte und erteilte damit zugleich Wolfsbergers Mordtheorie eine glatte Absage. Der Einstichwinkel des Messers in Frau Knopfers Oberschenkel sei dergestalt gewesen, dass sie sich die Verletzung unmöglich selbst zugefügt haben könne. Jemand habe mit großer Kraft von unten nach oben zugestoßen, wahrscheinlich sitzend und nicht sehr präzise gezielt. «Ein mit großer Wucht ausgeführter Hieb von jemandem, der außer sich war vor Wut», so lautete ihre Einschätzung. Jean-Marie Knopfer dagegen wies keine Spuren von Fremdeinwirkung auf, und er war den Verletzungen nach mit den Beinen zuerst auf dem Boden aufgeschlagen, was tatsächlich eher auf einen Sprung als auf einen Stoß schließen ließ. Im Übrigen war er nüchtern gewesen, weder Alkohol noch Medikamente wurden in seinem Blut gefunden.

Die Sache blieb ein Rätsel, doch keines von der Sorte, die weitere Ermittlungen nach sich zog. Der Fall wurde nach dem Obduktionsbericht als Unfall im Jähzorn zu den Akten gelegt, und Jean-Marie Knopfer fand unter großer dörflicher Anteilnahme auf dem Friedhof von Eguisheim seine letzte Ruhe. Die etwas bemühte Grabrede von Abbé Schwarzweiler, der sich einen vielsagenden Bibelspruch – Ein Hitzkopf schürt Zank und Streit, ein Geduldiger aber schafft Versöhnung – nicht verkneifen konnte, ließ darauf schließen, dass auch er, obwohl noch nicht allzu lange in der Pfarrei tätig, schon Bekanntschaft mit dem ganz speziellen Charakter des Verstorbenen gemacht hatte. Wie üblich, begoss man den Todesfall anschließend gemeinschaftlich mit Riesling im Fetten Frosch, gönnte sich dazu ein gutes Essen und ging danach zur Tagesordnung über.

Die Wohnung unter dem Dach des alten Fachwerkhauses am Cour Unterlinden beherbergte fortan nur noch Eva Knopfer, die die Fenster zur Straße hinunter jetzt meist geschlossen hielt und sich selten im Dorf blicken ließ. Wenn man sie doch einmal sah, etwa beim Einkaufen oder auf dem Weg zum Friedhof, konnte der genaue Beobachter feststellen, dass sie ihr rechtes Bein noch ein wenig nachzog, doch das würde sich mit der Zeit geben.

Am Ende waren keine zwei Wochen vergangen, und Jean-Marie Knopfer, Kommunist, Anarchist, Atheist und Dummkopf, war in den Köpfen der meisten Eguisheimer bereits Geschichte.

Céleste hingegen wollte die Sache nicht so recht aus dem Kopf gehen. Dinge, für die sie keine Erklärung fand, hatten die Angewohnheit, sich an ihr festzuhaken wie kleine Kletten, die in den Haaren hängen blieben, wenn man unachtsam durchs Gebüsch streifte – was eine Angewohnheit von Céleste war, die gern abseits der Wege joggte und sich schon ein ums andere Mal verlaufen hatte. Ihr Brigadier hingegen hatte, nachdem seine Enttäuschung darüber verraucht war, dass es nichts weiter zu ermitteln gab, den Fall Jean-Marie Knopfer schnell abgehakt. Bei Luc Bato gab es keine Kletten, und er streifte auch nicht durchs Unterholz, wenn es einen Weg gab, auf dem man gehen konnte. Er liebte Listen und Tabellen und gerade Linien, und wenn etwas erledigt war, machte er neben die Aufgabe einen ordentlichen Haken.

Der Spätsommer zog ins Land und bewies, dass mit ihm noch zu rechnen war: Er bescherte dem gesamten Elsass noch einmal eine ungewöhnlich heftige Hitzewelle. Die Trauben hingen schwer und prall an den Reben und warteten auf die anstehende Lese, und die Winzer rieben sich die Hände. Der Wein in diesem Jahr würde kräftig werden. Vielleicht sogar außergewöhnlich.

Die Mairie und das Büro der Police Municipale lagen wie ausgestorben da. Seit dem ungewöhnlichen Ableben von Monsieur Knopfer hatte sich nichts Nennenswertes mehr ereignet. Eigentlich überhaupt nichts, um genau zu sein. Céleste und ihr Brigadier schoben Dienst nach Vorschrift und gönnten sich gelegentlich ausgedehnte Mittagspausen im schattigen Gastgarten des Fetten Frosches. Célestes Mutter Catherine hatte nach anfänglichem Misstrauen längst einen Narren an Luc Bato gefressen. Sie betrachtete ihn fast wie einen Schwiegersohn und ließ ihm allerlei Köstlichkeiten aus ihrer Küche zukommen, die Luc mit großem Appetit und ebensolcher Begeisterung vertilgte. Er revanchierte sich mit gewaltigen Stücken Munsterkäse, die er zusammen mit dicken braunen Eiern und kleinen Laiben selbstgebackenen Brotes von seinen Besuchen zu Hause mitbrachte. Hin und wieder war auch ein Fläschchen Schnaps dabei, den sein Vater im Kuhstall heimlich brannte und der dazu geeignet war, noch den größten Schurken auf Erden Halleluja singen zu lassen. So jedenfalls lautete die einhellige Meinung im Dorf über Vater Batos Schnaps, wie Luc jedes Mal nicht ohne Stolz verkündete.

Eines Morgens störte jedoch ein ungewohntes Geräusch die spätsommerliche Ruhe in der Mairie von Eguisheim. Céleste war gerade von ihrem Schreibtisch aufgestanden und hatte sich ein Glas leidlich kaltes Leitungswasser eingegossen. Sie trank ein paar Schlucke und hielt sich dann das kühle Glas gegen die Stirn.

«Ich könnte unser Sommerloch dazu nutzen, endlich einmal Ordnung auf meinem Schreibtisch zu schaffen …», sagte sie zögernd, nur um diesen ungehörigen Gedanken sofort wieder in den hintersten Winkel ihres Gehirns zu verbannen.

Exakt in diesem Moment ertönte heiseres Hundegebell direkt vor ihrer Bürotür, und die beiden sahen sich verblüfft an. «Was …», begann Céleste, da wurde auch schon die Tür aufgerissen, und herein kam Dédé – mit einem wütend bellenden Mops an der Leine. Das Tier machte einen ziemlich missmutigen Eindruck, ebenso wie Dédé. Er hatte den beiden Polizisten hin und wieder von dem neuen Familienmitglied im Hause Ginglinger erzählt, doch sie hatten den Hund noch nie zu Gesicht bekommen.

«Kinder, das geht nicht», eröffnete Dédé ihnen, «ich kann das nicht. Dieses Vieh macht mich wahnsinnig.» Er tupfte sich mit seinem Taschentuch die Stirn. Céleste und Luc zogen es vor, zu schweigen und abzuwarten, was noch kommen würde. «Meine Frau ist noch mindestens sechs Wochen auf Reha!» Er sah sich mitleidheischend um, doch weder von Céleste noch von Luc kam die Reaktion, die er offenbar erwartet hatte. «Das halten wir beide nicht aus», fügte Dédé hinzu und sah seine Mitarbeiter so vorwurfsvoll an, als trügen sie Schuld an seinem Problem. Dann blieb sein Blick bei Bato hängen. «Sie, Bato, kennen sich doch mit Tieren aus. Haben Sie nicht einen Bauernhof?»

«Meine Eltern …», gab der Brigadier widerstrebend zu.

«Wunderbar!» Dédé reichte ihm die Hundeleine. Sie war rosa und mit Strasssteinen verziert. «Bitte, kümmern Sie sich doch ein bisschen um ihn. Ich muss heute nach Straßburg, da kann ich ihn nicht mitnehmen …»

«Aber …», begann Luc und warf dem missmutigen Mops einen verhaltenen Blick zu, den dieser mürrisch erwiderte. Immerhin bellte er nicht mehr.

«Das geht nicht», kam Céleste ihrem Brigadier zu Hilfe. «Wir können hier keinen Hund gebrauchen.»

«Bitte! Kreydenweiss, enttäuschen Sie mich nicht!», flehte Dédé regelrecht. «Ich kann ihn nicht allein zu Hause lassen, der stellt mir das ganze Haus auf den Kopf.»

«Was ist denn mit Ihrem Sohn?»

«Léo kümmert sich ohnehin schon viel um ihn. Er geht mit ihm spazieren, morgens und abends. Doch jetzt fängt die Schule wieder an. Er muss lernen. Und Marie hat eine Hundehaarallergie.»

Céleste schnaubte. Dass Dédés Sekretärin eine Allergie hatte, glaubte sie keine Sekunde lang. Das war eine Ausrede, nichts weiter. «Wie soll das denn gehen?», fragte sie. «Wenn wir einen Einsatz haben …»

«Zurzeit ist doch alles ruhig. Und eigentlich ist er ganz brav. Am Abend nehme ich ihn wieder mit. Es ist doch nur für ein paar Wochen …»

«Wochen? Sagten Sie gerade für ein paar Wochen?» Céleste starrte den Bürgermeister entgeistert an. «Ich dachte, nur für heute, weil Sie nach Straßburg fahren.»

Dédés Miene bekam etwas Verzweifeltes. «Bitte, Céleste, Luc, dieser Hund hasst mich …»

Noch bevor Céleste etwas erwidern konnte, fragte Luc: «Wie heißt er denn?»

«Franz.»

«Franz?»

Die verwunderte Gegenfrage kam wie aus einem Mund, und Dédé bemühte sich rasch um eine Erklärung: «Das war nicht unsere Idee. Edith wollte ihn Chouchou nennen, aber der Züchter hat ihn so getauft, und Franz hatte sich schon an seinen Namen gewöhnt, als wir ihn bekommen haben. Er heißt Franz von Guebwiller.»

Céleste hob eine Augenbraue. «Von Guebwiller! Soso. Adelig ist er also auch noch.»

«Da haben wir ihn her, aus Guebwiller …» Dédé war jetzt schweißgebadet, und das lag nicht nur an der Hitze. Er wischte sich wieder mit seinem großen Taschentuch über die Stirn und das Gesicht. «Wenn es nach mir ginge, Kreydenweiss, dann hätte ich aus dem Vieh schon längst Pastete gemacht, das können Sie mir glauben. Aber Edith …» Er seufzte tief und gewährte mit diesem Seufzer einen aufschlussreichen Einblick in die Machtverhältnisse seiner Ehe. Schließlich war es Luc, der eine Entscheidung traf. Oder auch Franz von Guebwiller selbst, je nachdem, wie man es sehen mochte. Luc bückte sich und kraulte den Hund etwas unschlüssig im Nacken. Der Mops schnaufte und schleckte dann dem Brigadier mit großer Hingabe das Ohr ab. Luc lachte und hob den Mops auf seinen Schoß, Célestes abwehrendes Kopfschütteln ignorierend.

«Na gut, Monsieur le Maire», sagte er. «Lassen Sie ihn hier.»

Als Dédé erleichtert das Büro verlassen hatte, blickte Céleste ihren Brigadier vorwurfsvoll an: «Wie konnten Sie nur, Bato? Franz wird uns permanent auf die Nerven gehen.»

«Er ist unglücklich», meinte Luc achselzuckend. «Und wir haben doch nicht viel zu tun im Augenblick. Haben Sie selbst gesagt.»

«Aber das kann sich ganz schnell ändern.»

Luc stand auf und ging mit dem sich sträubenden Franz im Schlepptau zur Tür.

«Wo wollen Sie denn hin?»

«Eine ordentliche Leine holen. Ich habe noch eine von unseren Hunden im Auto liegen. Mit dem lächerlichen rosa Dings laufe ich nicht durch die Gegend. Das ist erniedrigend. Sogar für einen Mops.»

«Na, wenn Sie es sagen.» Céleste trank einen großen Schluck von ihrem Wasser. «Aber lassen Sie das bloß nicht Dédés Frau hören. Mit Edith Ginglinger ist nicht zu spaßen.»

Als Luc wenig später zurückkam, Franz an einer robusten braunen Leine, die an dem kleinen Hund ein wenig überdimensioniert wirkte, erwartete Céleste ihn schon an der Tür, den Autoschlüssel ihres Dienstwagens in der Hand.

«Wir müssen los. Ein Einsatz.»

«Worum geht’s?», wollte Luc wissen, während sie zum Auto liefen.

Céleste zuckte mit den Schultern. «Kann ich nicht genau sagen, es klang ein wenig seltsam, um ehrlich zu sein.» Sie warf einen Blick auf Franz, der auf seinen kurzen Beinen zwischen ihnen hertippelte. «Heute ist irgendwie ein animalischer Tag. Im Wald bei Wettolsheim wurden angeblich zwei Wanderer von einem wilden Tier angegriffen.»

 

«Ein Reh?»

Céleste und Luc standen ungläubig vor den Wanderern, die den Notruf abgesetzt hatten. Es war ein älteres Ehepaar in nahezu identischer Kleidung, beide trugen olivfarbene Dreiviertelhosen aus Mikrofaser, Bergschuhe mit roten Socken und Polohemden. Während das Hemd des Mannes rot wie seine Socken war, hatte das Polohemd der Frau eine zarte Grünfärbung, die in etwa mit ihrer Gesichtsfarbe korrespondierte. Ihre Augen waren vor Schreck weit aufgerissen, und sie zitterte. Der Mann hatte einen Arm um sie gelegt und tätschelte sie hin und wieder beruhigend.

«Sie sind sich sicher, dass es ein Reh war, das Sie angegriffen hat?», fragte Céleste noch einmal nach. «Könnte es nicht vielleicht ein Wildschwein gewesen sein?»

«Nein, absolut. Wir haben sogar ein Foto!»

Der Mann zückte seine Kamera, die ihm um den Hals hing, und zeigte den beiden Polizisten ein verwackeltes Bild, auf dem zunächst nichts weiter als Bäume zu erkennen waren.

«Und wo soll das Reh sein?» Céleste kniff die Augen zusammen.

«Na hier!» Der Mann vergrößerte das Foto, und tatsächlich konnte man im Unterholz verschwommen das braune Hinterteil eines Tieres ausmachen.

«Sieht wirklich wie ein Reh aus», meinte Luc vorsichtig.

«Wenn ich es doch sage! Es hat meine Frau angegriffen, regelrecht angesprungen hat es sie!»

Die Frau nickte, und auf ihrer Stirn standen Schweißperlen. «Es wollte mich töten …»

«Rehe greifen keine Menschen an», widersprach Céleste bestimmt. «Vielleicht hatte es sich erschreckt. Haben Sie was gehört? Einen Hund vielleicht oder ein Motorrad? Hier in der Nähe fahren oft Jugendliche verbotenerweise Motocross.»

Beide schüttelten den Kopf. «Es war ganz still», sagte der Mann. «Wir gingen vollkommen friedlich den Weg entlang, und plötzlich kam dieses Tier aus dem Unterholz gestürmt, direkt auf uns zu. Wie ein Stier in einer Arena! Das war kein Zufall. Dieses Reh wollte uns angreifen, verstehen Sie? Es ist stehen geblieben, hat sich umgesehen und dann direkt auf meine Frau zugehalten.»

«Und dieser irre Blick!» Die blassen Wangen der Frau bekamen jetzt ein wenig Farbe. «Ich konnte das Weiße in seinen Augen sehen, die pure Mordlust …» Sie atmete heftig, und der Mann zog sie etwas enger an sich heran.

«Is ja gut», murmelte er beruhigend.

«Sind Sie verletzt?», wollte Céleste wissen, der zu der dramatischen Beschreibung des Tathergangs kein vernünftiger Kommentar einfiel. «Sollen wir Sie in ein Krankenhaus bringen?»

Beide verneinten. Sie seien bei ihrer Tochter in Wettolsheim zu Besuch und würden jetzt gern zu ihr fahren. Céleste und Luc ließen sich noch einmal genau die Stelle zeigen, wo das Reh aufgetaucht war, notierten die Namen und Adresse der beiden sowie die der Tochter in Wettolsheim und versprachen einmütig, sich um die Angelegenheit zu kümmern. Erleichtert zog das Paar ab in Richtung Wanderparkplatz.

Als sie außer Hörweite waren, sah Céleste ihren Brigadier zweifelnd an. «Ein Reh, das Menschen angreift? Sie sind doch der Naturbursche, Bato, was halten Sie davon?»