Der Tod muss nicht das Ende sein - Sam Parnia - E-Book

Der Tod muss nicht das Ende sein E-Book

Sam Parnia

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Beschreibung

Erfahrungsberichte eines Reanimationsmediziners Was man über das Sterben,Wiederbelebung und "Nahtoderlebnis" wissen sollte Das Herz steht still, die Atmung setzt aus,das Gehirn arbeitet nicht mehr ... der Mensch ist tot. Aber ist es wirklich so einfach? Ist der Tod wirklich ein einziger, klar definierbarer Moment, in dem alles unwiderruflich zusammenbricht? Nein, das Sterben ist ein Prozess eine Rückkehr ins Leben ist oftmals noch möglich! Und das Wort "Nahtoderlebnis" ist eine unbeholfene Umschreibung dessen, was zahlreiche Menschen erfahren haben: die entscheidende Weichenstellung für ein neues Leben ... Sterben und Tod bleiben ein ungelöstes Rätsel, vielleicht die größte Menschheitsfrage überhaupt. Ihr nähert sich dieses Buch in einer einzigartigen Gesamtschau von Medizin, Philosophie und Spiritualität. Als Intensivmediziner und weltweit anerkannter Experte in Sachen "Nahtoderfahrung" ist Dr. Sam Parnia berufen,dem Tod manches Geheimnis zu entreißen. Mit der ganzen Erfahrung des langjährigen Praktikers legt er überzeugend dar, dass viele Menschen, die ärztlich für tot erklärt werden, eigentlich wieder ins Leben zurückgeholt werden könnten. Und die neuesten Entdeckungen der Reanimationsmedizin sorgen für weitere Überraschungen: So mancher Bericht über sogenannte "Nahtoderlebnisse" ist durchaus ernst zu nehmen. Und auch die Frage nach dem "Jenseits" muss ganz neu gestellt werden

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Dr. med. Sam Parnia

Josh Young

Der Tod muss nicht das Ende sein

Was wir wirklich über Sterben, Nahtoderlebnis und die Rückkehr ins Leben wissen

Aus dem Amerikanischen von

Die amerikanische Originalausgabe

ERASING DEATH: The Science That Is Rewriting the Boundaries Between Life and Death.

Copyright© 2013 by Sam Parnia, M. D. with Josh Young – ist erschienen in Abstimmung mit HarperOne, einem Imprint von HarperCollins Publishers, LLC.

HarperCollins® and HarperOne™ are trademarks of HarperCollins Publishers.

http://www.harpercollins.com

HarperCollins®, 10 East 53rd Street, New York, NY 10022. USA

1. eBook-Ausgabe

2013 © Scorpio Verlag GmbH & Co. KG Berlin · München Umschlaggestaltung und Motiv: Hauptmann & Kompanie, Werbeagentur, Zürich

Satz: BuchHaus Robert Gigler, München

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

ePub-ISBN: 978-3-943416-37-4

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.

www.scorpio-verlag.de

Inhalt

  1  Hier passieren erstaunliche Dinge

  2  Ein kleiner Schritt für den Menschen, ein riesiger Sprung für die Menschheit

  3  Die Formel des Lebens

  4  Den Tod rückgängig machen

  5  Das Waisenkind

  6  Wie es ist, zu sterben

  7  Der Elefant im Dunkeln

  8  Das Selbst verstehen

  9  Das Jenseits, das wir kennen

10  Die AWARE-Studie

11  Was bedeutet das alles?

Dank

Mitarbeiter an der AWARE-Studie

Bibliografie und Quellen zum Weiterlesen

KAPITEL 1

Hier passieren erstaunliche Dinge

Kurz nachdem er eine Autowaschanlage in Manhattan verlassen hatte, begann Joe Tiralosi sich krank zu fühlen. Ihm war ein wenig übel, er stand irgendwie neben sich und war heilfroh, dass seine Schicht zu Ende war. Als Chauffeur verbrachte Tiralosi seine Arbeitstage damit, den legendären Börsenmakler E. E. »Buzzy« mit Geduld durch New York City zu fahren. Doch an diesem Nachmittag im August des Jahres 2009, kurz nachdem er seine Heimfahrt in Richtung Brooklyn angetreten hatte, schwitzte er unaufhörlich. Er drehte die Klimaanlage in seinem Auto ganz auf, schwitzte aber weiterhin sehr stark.

Tiralosi war ein pragmatischer Mensch, ein verheirateter Vater von zwei Kindern, der nicht zur Panik neigte. Er nahm sich also vor, den Rest des Tages irgendwie hinter sich zu bringen, und ging davon aus, dass sein Unwohlsein schon wieder verschwinden würde. Aber eine Stunde später hielt er es nicht mehr aus. Er rief seine Frau an.

Geh kein Risiko ein, sagte sie. Fahr ins Krankenhaus.

Er schaffte es aber noch nicht einmal bis zur nächsten Kreuzung. Seine Frau rief sofort einen Kollegen an, der Tiralosi in seinem, am Straßenrand Ecke 80th Street/2nd Avenue in Manhattan geparkten Auto vorfand und ihn sofort in die Notaufnahme des New York Presbyterian Hospitals fuhr.

Tiralosi wurde von seinem Kollegen in die Notaufnahme geführt. Sein Gesicht war kreidebleich. Er fing an, einer Krankenschwester zu erzählen, was mit ihm los war, aber bevor er den Satz beenden konnte, brach er zusammen. Code Blue wurde ausgerufen: Herzstillstand. Tiralosis Herz hatte aufgehört zu schlagen. Er war tot.

Aber zum Glück für ihn war er in einem Krankenhaus gestorben, wo gerade ein speziell in Reanimation geschultes Team Dienst hatte. Ärzte und Krankenschwestern kamen aus allen Richtungen angerannt und begannen sofort mit der Reanimation. Es handelt sich hier um versierte Fachleute, mit denen ich schon viele Male gearbeitet habe, darunter Dr. Rahul Sharma und Dr. Flavio Gaudio, zwei sehr gewissenhafte Notärzte. Sie gehörten zu dem Team, das Tiralosi auf eine Bahre hob, sein Hemd aufriss und seine Hosenbeine mit einer Schere aufschnitt. Sie befestigten die kreisförmigen Elektroden eines Defibrillators auf seiner Brust. Sie schoben Rollwagen mit Medikamenten in den engen Raum, in dem er lag.

Trotz der ganzen modernen Technik, die hier zur Verfügung stand, versorgte das medizinische Team ihn auch mit etwas ganz Alltäglichem: mit Eisbeuteln aus Plastik. Sie positionierten die Eisbeutel zu beiden Seiten seines Körpers, in seinen Achselhöhlen und zu beiden Seiten seines Halses. Sie spritzten ihm gekühlte Kochsalzlösung in die Venen. All das geschah innerhalb von etwa einer Minute. Seine Körpertemperatur begann schnell zu sinken. Dann stellten sie sich auf einen Rhythmus ein: Reanimation, begleitet von gelegentlichen Adrenalininjektionen und Defibrillatorschocks.

Joe Tiralosi war nun von einigen der besten medizinischen Mitarbeiter, der besten Technik und dem besten Denken umgeben, das die moderne Wissenschaft zu bieten hatte. Aber weil sein Herz nicht mehr schlug und seine Gehirn- und Körperzellen nur ungenügend mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt wurden, war er bereits tot.

Geh kein Risiko ein, sagte seine Frau. Fahr ins Krankenhaus. Konnte es sein, dass diese oder irgendwelche anderen Worte in Tiralosi widerhallten, während er dort flach auf dem Tisch lag und immer weiter in den Prozess des Todes glitt? Nahm er überhaupt irgendetwas wahr? Die vorherrschende wissenschaftliche Ansicht über das Gehirn besagt, dass so etwas unmöglich ist. Der Würgreflex und andere Funktionen seines Stammhirns waren zum Erliegen gekommen. Und das bedeutete, dass sein Gehirn ganz zu funktionieren aufgehört hatte. Alle Gespräche, die er mit seiner Frau geführt hatte, waren für ihn jetzt anscheinend verloren, und seine Chancen, seine Familie jemals wiederzusehen, standen schlecht.

Sekunden vergingen im gleichförmigen Rhythmus der Brustkorbkompressionen. Minuten vergingen. Dann hörten sie kurz mit den Kompressionen auf und traktierten Tiralosis Körper mit einem elektrischen Schock. Immer noch kein Herzschlag. Nach zehn Minuten ununterbrochener Brustkorbkompressionen gaben Ärzte und Krankenschwestern allmählich die Hoffnung auf.

Zehn Minuten ohne Herzschlag galt lange Zeit als eine Art Grenzlinie in der Reanimationslehre. Man hat lange angenommen, dass der Schaden, den das Gehirn durch mangelnde Sauerstoffzufuhr nimmt, nach zehn Minuten ohne Herzschlag bleibend beziehungsweise nicht mehr umkehrbar ist. Und natürlich wäre Joe Tiralosi ohne ein funktionstüchtiges Gehirn nicht mehr Joe Tiralosi. Seine Erinnerungen, seine Persönlichkeit und alles, was wir als »Joeismus« bezeichnen könnten, wäre für immer dahin. Nur sein Körper wäre noch da. Seine Frau könnte die Hand des Mannes halten, mit dem sie einen großen Teil ihres Lebens verbracht hatte, aber sie wären nicht wirklich zusammen.

Zehn Minuten vergingen, fünfzehn Minuten vergingen. Die Ärzte arbeiteten längst jenseits der alten Marker; der gleichmäßige Rhythmus der Brustkorbkompressionen wurde von einer gelegentlichen Schockabgabe des Defibrillators unterbrochen.

Zwanzig Minuten.

Die Entscheidung, die Wiederbelebungsversuche unter diesen Umständen einzustellen, ist Sache des behandelnden Arztes. Aber er machte weiter.

Dreißig Minuten.

Mittlerweile hatte Tiralosi Tausende von Brustkorbkompressionen bekommen, und sein Herz war ein halbes Dutzend Mal geschockt worden. Der Raum sah mehr und mehr wie ein Kriegsschauplatz aus. Blutspuren und medizinische Abfälle bedeckten den Boden um die Bahre. Leere Adrenalinfläschchen lagen dort herum wie gebrauchte Patronenhülsen auf einem Schlachtfeld. Die Krankenschwestern und Ärzte, die die Herzmassage durchführten, schwitzten und verbrauchten ihre letzten Energiereserven.

Vierzig Minuten.

Zehn Jahre zuvor hätte man es für ein großes Risiko gehalten, an diesem Punkt weiterzumachen und ihn retten zu wollen – ein Risiko sowohl für Tiralosi, als auch für seine Familie. Im günstigsten Fall würde – selbst wenn Tiralosis Herzschlag ganz wiederhergestellt wäre – absolutes Chaos in seinem denkenden Geist herrschen. Auf einer CT-Schichtaufnahme würde man höchstwahrscheinlich zahlreiche kleine und große Schwaden aus zerstörten schwarzen Räumen sehen, wo funktionierende Nervenzellen einst seine Gedanken enthalten hatten. Aber die Technik und das medizinische Verständnis haben sich im Laufe der Zeit weiterentwickelt. Also machten die Ärzte weiter, weil sie wussten, dass es eine, wie immer unwahrscheinliche Möglichkeit gab, dass Tiralosi gerettet werden und in sein normales Leben zurückkehren konnte.

Schließlich geschah etwas Unglaubliches, das der ermüdenden Monotonie ein Ende setzte. Jemand schrie ganz aufgeregt: »Ich spüre einen Puls. Ich glaube, wir haben ihn wieder.« Plötzlich, in einem einzigen Moment, verzogen sich sämtliche Wolken der Verzweiflung, und eine freudige Stimmung erfüllte den Raum. Das erschöpfte Personal bekam einen neuen Energieschub und, was noch viel wichtiger war, nach mehr als 4500 Brustkorbkompressionen, nachdem sein Herz acht Schockabgaben aus einem Defibrillator bekommen und ihm zahllose Fläschchen Adrenalin injiziert worden waren, hatte Joe Tiralosis Herz wieder zu flackern begonnen.

Aber die Gefahr war noch nicht vorbei. An diesem Punkt war noch ein Rätsel, warum Tiralosis Herz eigentlich aufgehört hatte, einwandfrei zu funktionieren. Die Ärzte mussten die Ursache des Problems finden, sonst bestand eine sehr gute Chance, dass es bald wieder stillstand. Nachdem sein Herz neu gestartet worden war, wurde Tiralosi schnell ins Herzkatheterlabor gebracht, denn einer der wahrscheinlichen Gründe für seinen Herzstillstand oder Tod war ein nicht diagnostiziertes Herzproblem oder, genauer gesagt, ein Herzinfarkt aufgrund einer Blockade in einer oder mehreren der Hauptarterien, die das Herz mit sauerstoffreichem Blut versorgen. Ein Kontrastmittel wurde in seine Arterien gespritzt, um festzustellen, ob sie an irgendeiner Stelle verstopft waren.

Im Herzkatheterlabor setzte sein Puls erschreckenderweise wieder etwa fünfzehn Minuten lang aus. Das bedeutete de facto, dass er ein zweites Mal starb. Die Ärzte reanimierten ihn erneut. Dabei fanden sie heraus, dass er eine ganze Reihe von Blockaden in den zum Herzen führenden Blutgefäßen hatte. Sie öffneten diese Verschlüsse mit einem ziemlich gängigen Ballonverfahren und setzten anschließend Stents, um zu verhindern, dass sich die Gefäße wieder schlossen. Während dieser ganzen Zeit – es handelte sich insgesamt um einen Zeitraum von 24 Stunden – wurde Tiralosis Körper mit einem speziellen Gerät namens Arctic Sun kühl gehalten, um durch Sauerstoffmangel verursachte Schäden an Gehirn und Organen zu verhindern.

Vor zehn Jahren wäre ein Mensch, der nach so langer Zeit ins Leben zurückgeholt wurde, höchstwahrscheinlich eine Art lebende Hülle gewesen – körperlich zwar vorhanden, aber geistig nicht mehr präsent. Doch heute ist Joe Tiralosi ein ganz lebendiger, strahlender Mann. Sein Gesicht ist lang und schmal mit einem gepflegten Schnurrbart und einem Spitzbart, der sein Kinn bedeckt. Er ist wieder zu Hause bei seinen Kindern und seiner Frau, deren Rat dazu beigetragen hat, sein Leben zu retten. Er geht wieder seiner Arbeit nach und setzt sein Leben fort. In den Zeitungen und im Fernsehen wurde über seine Wiederbelebung berichtet, und alle sprachen in Zusammenhang mit der Tatsache, dass er sich wieder erholt hatte, von einem Wunder. Wenn überhaupt, waren Tiralosi und seine Familie die Nutznießer eines medizinischen Wunders – bewirkt von der medizinischen Wissenschaft. Aber in meinen Augen ist das Wort Wunder in diesem Zusammenhang schlecht gewählt.

Tiralosi hat von einem Team aus vielleicht mehr als zwanzig Ärzten und Krankenschwestern profitiert, von Menschen, die im Einklang gearbeitet und die modernsten, medizinischen Ideen umgesetzt haben, und zwar sowohl während seines Herzstillstands als auch, als es darum ging, ihm das zu bieten, was als »Postreanimationstherapie« bekannt ist. Das hat ihn nicht nur zurück ins Leben gebracht, sondern auch verhindert, dass irgendwelche Hrnschäden auftraten. Der entscheidende Punkt war, dass das Kühlen seines Körpers zeitnah begonnen und nicht unterbrochen wurde; es begann schon in der Notaufnahme, wurde im Herzkatheterlabor weitergeführt und dann vierundzwanzig Stunden lang durchgehalten. Dies verlangsamte den Prozess des Zellverfalls im Gehirn und in den Organen, der einsetzt, wenn das Herz keinen Sauerstoff mehr durch den Körper pumpt. Mit anderen Worten, die Prozesse, die nach dem Tod auf ganz natürliche Weise im Körper ablaufen und hier bereits begonnen hatten, wurden so gesteuert, dass er sicher wiederbelebt werden und, was am wichtigsten war, ohne Hirnschädigung zu seiner Familie zurückkehren konnte.

Tiralosi war also weniger ein durch ein Wunder Geretteter als vielmehr einer aus der wachsenden Zahl von Patienten, die tot waren und viel später, als wir jemals für möglich gehalten hätten, wiederbelebt wurden. Dies wirft wichtige Fragen für Ärzte, Philosophen, Neurowissenschaftler, Ethiker und uns alle auf. Zunächst einmal, obwohl bei dieser Gelegenheit nur so um die 20 Leute an Tiralosi arbeiteten, ist es eine Tatsache, dass die Bereitstellung einer derart anspruchsvollen, medizinischen Versorgung erfordert, dass Hunderte von Menschen zusammenarbeiten, und zwar im Einklang mit verschiedenen medizinischen und staatlichen Stellen. Solche enormen Operationen mögen in anderen Branchen, die ein komplexes Koordinationssystem erfordern, etwa in der Luftfahrt, alltäglich und möglich sein, aber in der Medizin hat es sich immer als eine unglaubliche Herausforderung erwiesen, ein derartiges Maß an Koordination und Teamarbeit der verschiedenen Interessengruppen und Parteien zu erreichen. Wenn also so viele verschiedene Menschen gebraucht werden, die sowohl in den Krankenhäusern, als auch außerhalb davon erfolgreich als Team zusammenarbeiten, um einen Patienten zu retten, der einen Herzstillstand erlitten hat, wie stellen wir dann sicher, dass jeder die optimale Pflege bekommt? Die schmerzliche Realität ist: Obwohl sich die meisten von uns dessen nicht bewusst sind, leben vor unserer eigenen Haustür, auch in Industrienationen wie den Vereinigten Staaten, Großbritannien oder anderswo, sogar in Gegenden mit den allerbesten medizinischen Zentren der Welt Menschen, die vielleicht noch immer nicht die optimale medizinische Versorgung bekommen. Die große Frage lautet also: Wie viel mehr Menschen können wir retten, und um wie viel mehr können wir die Ergebnisse unserer Arbeit für reanimierte Patienten verbessern und so sicherstellen, dass sie keine dauerhaften Hirnschädigungen davontragen? Und dann gibt es da noch Fragen, welche die Schnittstelle zwischen dem Medizinischen, dem Persönlichen und dem Philosophischen betreffen. Wann wird der Tod endgültig und nicht mehr umkehrbar? Wann sollte man Menschen den Rat geben, alle lebenserhaltenden Maßnahmen für ihre Lieben einzustellen und sie zur Organspende freizugeben? Was sagt die Rückgewinnung des Bewusstseins nach dem vollständigen Erlöschen des Herzschlags und der Gehirnfunktionen – mit anderen Worten nach dem Tod – über die Natur des denkenden Geistes und des Körpers oder über die uralten Vorstellungen von der Seele und davon, was nach dem Tod geschieht – das sogenannte Leben nach dem Tod? Und welche weitergehenden Entwicklungen warten noch auf uns?

Das sind individuelle Fragen, aber das Gesamtbild entsteht, wenn man sämtliche Gedankenstränge verfolgt, die auf das letztendliche Ziel dieses Buches verweisen – und unser aller letztendliches Ziel: den Tod. Aber das Bild des Todes, das sich jetzt abzeichnet, entspricht vielleicht nicht dem, womit wir bisher in Berührung gekommen sind. Es ist streng wissenschaftlich und gleichzeitig ungemein hoffnungsvoll.

Im Laufe der Geschichte war der Tod immer der letzte Wermutstropfen für ein Subjekt. Die endgültige Niederlage. Aber die jüngsten wissenschaftlichen Fortschritte haben für eine entscheidende Veränderung in unserem Verständnis vom Tod gesorgt. Sie stellen eine echte Herausforderung für unsere Vorstellung vom Tod, als etwas absolut Unerbittlichem und Finalem, dar. Und damit haben sich viele Ansichten über den Tod, von denen wir fest überzeugt waren, als überholt und altmodisch erwiesen. Was den Tod betrifft, haben zwei große Revolutionen in der Tat bereits begonnen – eine der Errungenschaften und eine andere des Verständnisses. Kurzum, in der medizinischen Wissenschaft werden zuvor undenkbare Ergebnisse mittlerweile als absolut plausibel anerkannt. Wir sind vielleicht bald in der Lage, Menschen, die eigentlich schon Stunden oder sogar länger tot sind, aus den Fängen des Todes zu befreien.

Eine unbeabsichtigte Folge der Entwicklung dieser neuen lebensrettenden Maßnahmen ist, dass die Wissenschaft auch unser Wissen über den Tod erweitert. Indem wir neue Wege finden, um Leben zu retten, finden wir ganz nebenbei, sozusagen unabsichtlich, auch neue Wege, um grundlegende Fragen darüber zu stellen und zu beantworten, was beim Sterben und nach dem Tod mit dem menschlichen Bewusstsein passiert, also mit dem, was wir den »denkenden Geist«, das »Selbst« oder sogar die »Seele« nennen könnten – Fragen, die bis vor Kurzem eher eine Sache der Theologie, der Philosophie oder vielleicht sogar der Science-Fiction waren.

Nachdem Tiralosis Herz neu gestartet worden war, wurde er für vier Tage in ein medizinisch induziertes Koma versetzt. In dieser Zeit war er an ein Beatmungsgerät angeschlossen, das für ihn atmete. Als die Ärzte ihn aus dem Koma geholt und das Beatmungsgerät entfernt hatten, erzählte Tiralosi den Krankenschwestern, dass er eine sehr tiefe Erfahrung gemacht habe. Sie alle erkannten, dass er sich wohl an etwas aus den 47 Minuten erinnerte, in denen er tot gewesen war.

In der Umgangssprache wird das, was er erlebt hat, üblicherweise als Nahtoderfahrung bezeichnet. Dies ist ein Begriff, von dem ich persönlich glaube, dass er die Wissenschaft dessen, womit wir uns hier beschäftigen, nicht ganz und nicht genau widerspiegelt, aber unabhängig davon, ob sie rein psychologisch sind oder sich tatsächlich abspielen, wird jetzt so routinemäßig über diese Erfahrung berichtet, dass nur wenige Menschen, die auf diesem Gebiet geforscht haben, daran zweifeln können, dass es sich um ein echtes Phänomen handelt, das weitere Untersuchungen rechtfertigt.

Meine Kollegen riefen mich an und sagten, ich solle mir Tiralosis Geschichte einmal anhören. Sie wissen nämlich, dass ich an einer Reihe von Studien beteiligt bin, in denen es um die Welt geht, die uns von der Wissenschaft der Wiederbelebung eröffnet wird. Ich betreibe Forschungen zur optimalen Versorgung nach einem Herzstillstand, beschäftige mich also mit der Art von medizinischer Wissenschaft, die Tiralosi gerettet hat, aber auch mit den Bewusstseinserfahrungen, die Menschen aus dem Reich des Todes mitbringen, nachdem ihr Herz neu gestartet wurde.

Tiralosis Fall warf sämtliche Fragen auf, die ich untersucht hatte. Wo war, während er ohne Herzschlag auf dem Tisch gelegen hatte, sein wahres Selbst gewesen? Wo waren sein denkender Geist und sein Bewusstsein gewesen und wo seine Erinnerungen? War ihm bewusst gewesen, was mit ihm passierte? Die vorherrschende wissenschaftliche Meinung ist, dass er in einen Erfahrungsabgrund gefallen war – in die dunkle Leere des existenziellen Nichts.

Ein paar Tage nachdem er aus dem Koma erwacht war, traf ich Tiralosi in seinem Zimmer im Krankenhaus. Der große, schlanke, grauhaarige Italoamerikaner mittleren Alters brauchte ein paar Minuten, um sich zu sammeln. Seine Frau hielt seine Hand und schaute ihn liebevoll an, während er eine kleine Yacht beobachtete, die über das sacht gekräuselte Wasser des New Yorker East Rivers glitt. Dann erzählte er mir seine Geschichte.

Was mich wirklich ergriff, war, dass er sich aus der Zeit, in der sein Herz nicht schlug, nur an ein Detail erinnerte, doch das berührte ihn zutiefst. Er sagte, er habe eine Art spirituelles Wesen getroffen, allerdings eines ohne Masse oder Form. Er sprach von der Begegnung mit einem lichtvollen, liebenden, mitfühlenden Wesen, das ihm ein liebevolles Gefühl und Wärme vermittelte. Seine Begegnung mit diesem Wesen war unbeschreibbar. Er fand beim besten Willen nicht die richtigen Worte, um seine Empfindungen voll und ganz zu beschreiben. Diese Begegnung und die ganze Erfahrung hatten ihm Trost gegeben, weil er jetzt wusste, wie es sein würde, wenn er, wie er sich ausdrückte, »auf die andere Seite« ging. Weil er dieses lichtvolle Gefühl erlebt hatte, sagte er, habe er keine Angst mehr vor dem Tod. Was immer dieses Wesen oder Gefühl auch war, es hat ihn vollkommen verwandelt.

Oberflächlich betrachtet, scheint dies eine wirklich bemerkenswerte Reaktion zu sein, und zwar für jede Person, die dem Tod sehr nah war. Als Intensivmediziner sehe ich, was aus Menschen wird, die nicht von dieser bewussten Erinnerung an den Tod berichten. Sie bringen zwar oft ein Gefühl der Erleichterung darüber zum Ausdruck, dass sie überlebt haben, aber es kommt vor, dass sie physisch, mental und emotional instabil werden. Das Leben hat ihnen deutlich gezeigt, wie fragil es ist, und eine Warnung ausgesprochen: Der Tod ist real und nicht etwas, das nur anderen passiert. Diese krude Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit kann schwer zu ertragen sein. Daher sind langfristige psychische Erkrankungen wie posttraumatische Belastungsstörungen und Depressionen bei reanimierten Patienten nicht ungewöhnlich.

Doch Menschen, die eine ähnliche Erfahrung gemacht haben wie Tiralosi, scheinen wirklich in einer neuen Welt zu sein – einer Welt, in der man den Tod nicht fürchten muss. Tiralosi hatte das Gefühl, ein lichtvolles Wesen getroffen zu haben, und er ging mit einem neuen Verständnis seiner Rolle als Ehemann, Freund und Vater aus dieser Begegnung hervor. Wie andere, die etwas Ähnliches erlebt hatten, war auch er anschließend weniger materialistisch und deutlich altruistisch eingestellt.

Seine Geschichte ist, in gewissem Sinne, persönlich für uns alle, denn sie handelt von einigen der grundlegenden Geheimnisse der menschlichen Existenz. Aber sie ist besonders persönlich für mich – weil sie in mein Forschungsgebiet passt und weil ich bis vor Kurzem in dem Krankenhaus gearbeitet habe, in dem Tiralosi von der medizinischen Wissenschaft gerettet wurde. Die Verwaltung dieses Krankenhauses wirbt mit dem Slogan: »Hier passieren erstaunliche Dinge.« Natürlich hält niemand seinen eigenen Arbeitsplatz zwangsläufig für erstaunlich. Aber die Wahrheit ist, dass in der Medizin erstaunliche Dinge geschehen – Dinge, die nahelegen, dass unser Leben und unser Bewusstsein sehr viel erstaunlicher sein könnten, als es die Wissenschaft bisher erlaubt.

Verschiedene Gruppen von Ärzten und Forscher auf diversen Gebieten bereiten diesen neuen Weg. Sie entwickeln spezielle Kühlakkus, um Patienten mit Herzstillstand darin einzuhüllen; Geräte, mit denen man ihnen gekühlte Kochsalzlösung in die Adern spritzen kann; Injektionen, um die Körperzellen zu erhalten, und Infusionslösungen, bei denen die einzelnen Tropfen sorgfältig von einer mikroskopischen Fettschicht umhüllt sind. Diese Tropfen liefern nach dem Tod Sauerstoff bis in die Zellen noch so weit entfernter Körperteile. Und schließlich Geräte, die eine effektivere Herzdruckmassage möglich machen. Neurologen entdeckten allmählich, dass vermeintlich vegetative, also im Wachkoma liegende Patienten entgegen dem alten Dogma ihre Umgebung möglicherweise bewusst wahrnehmen und auf Befehl mentale Aufgaben erfüllen können.

Ich war federführend an einer der ersten medizinischen Studien beteiligt, die durchgeführt wurden, um zu erforschen, was nach einem Herzstillstand mit dem denkenden Geist und der Psyche passiert. Derzeit leite ich die weltweit größte Studie zum Thema Geist und Gehirn bei Herzstillstand, die AWARE-Studie, eine ursprünglich auf drei bis fünf Jahre angelegte Untersuchung von Patienten, die behaupteten, ihnen sei bewusst gewesen, dass sie reanimiert wurden. AWARE bekam weltweit eine gute Presse und wurde im September 2008 auf einer, von der Nour Foundation*, den United Nations Departments of Economic and Social Affairs und der University of Montreal gesponserten Konferenz vorgestellt. Die Konferenz selbst war eine Art Paradigmen zerschlagendes Ereignis, denn sie machte deutlich, dass die Erforschung des Bewusstseins und die Wissenschaft von der Reanimation eng miteinander verflochten sind und sich auf uns alle auswirken.

Joe Tiralosis Fall illustriert nur den Beginn dessen, was die Reanimationswissenschaft leisten kann. Er zeigt auch, dass die Festlegung, wie lange wiederzubeleben ist, rein subjektiv ist und dass entsprechende Standards gebraucht werden, um sie objektiv zu machen. Zweifellos wäre Joe in einem anderen Krankenhaus oder sogar im selben Krankenhaus an einem anderen Tag und von einem anderen Ärzteteam nicht so lange wiederbelebt worden. Ein anderes Team hätte die Reanimationsversuche lange vor Ablauf der 47 Minuten, die nötig waren, um ihn wieder zum Leben zu erwecken, eingestellt, und er hätte die Kältetherapie ebenso wenig bekommen wie andere lebenswichtige Behandlungen, etwa eine rechtzeitige Herzkatheterisierung, die unmittelbar begonnen hatte, nachdem sein Herz in der Notaufnahme neu gestartet worden war, und weitergeführt wurde, während sein Herz ein zweites Mal stillstand. Ohne eine von diesen und andere Behandlungen wäre Joe Tiralosi jetzt entweder endgültig tot, dauerhaft behindert oder in einem vegetativen Zustand, sprich im Wachkoma.

Die Kühltechnik, die Tiralosis Rettung war, hat die Tür zu einem ganz neuen Forschungsgebiet geöffnet und bewiesen, dass wir Zeit gewinnen können, um alle Arten von medizinischen Störungen zu korrigieren und dennoch den ganzen Menschen zu retten, und zwar mit intakten körperlichen und kognitiven Funktionen. Allerdings wird die Kühlprozedur, die dafür sorgte, dass sein Körper ebenso erhalten blieb wie sein Geist, nur in schätzungsweise 50 bis 60 Prozent der Krankenhäuser in Industrieländern wie den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Deutschland eingesetzt.

Andere Spitzenforschungen sind in vollem Gange. Dr. Robert Neumar und andere, auf deren Untersuchungen ich später noch im Detail eingehen werde, arbeiten an einer pharmakologischen Lösung, die helfen könnte, den Körper auf der Zellebene zu erhalten und gleichzeitig die natürliche Hibernationsphase des Körpers zu verlängern, während die Ärzte darum kämpfen, den Patienten wiederzubeleben. Und das wunderbare kleine Gerät zur extrakorporalen Membranoxygenierung (ECMO) erlaubt es dem medizinischen Personal, vor allem in Südostasien, das Blut des Patienten aus dem Körper zu leiten, es mit Sauerstoff anzureichern und dann wieder dem Kreislaufsystem zuzuführen. Das sind wirklich bahnbrechende medizinische Fortschritte, die all unsere lang gehegten Vorstellungen vom Tod und seiner Macht ins Wanken zu bringen drohen und die im Begriff sind, der Menschheit mehr Macht über Leben und Tod zu geben, als sie jemals zuvor hatte.

Tiralosi hat auch eine tiefgreifende Erfahrung gemacht. Das steht in engem Zusammenhang mit den philosophischen Fragen. Was sagt die Reanimationswissenschaft über das Bewusstsein und die Fähigkeit des menschlichen Geistes, des Bewusstseins und der Seele – oder mit anderen Worten, des Wesens, das mich zu dem macht, der ich bin – den Tod zu überleben? Und was wiederum sagt uns das über die Beziehung zwischen Geist und Gehirn? Die Antworten auf diese Fragen sind natürlich tiefgreifend und haben Auswirkungen auf die Wissenschaft, die Philosophie, die Religion sowie jeden Mann, jede Frau und jedes Kind. In einer Gesellschaft, in der Medizin und Religion versuchen, nebeneinander zu bestehen, fangen wir gerade erst an, diese Antworten zu untersuchen, kriegen uns dabei aber oft in die Wolle. Was passiert, wenn wir sterben? Das ist ein Mysterium, angesichts dessen jeder innehält und sich etwas überlegt, eine Frage, auf die wir alle gern eine definitive Antwort hätten.

Während wir die philosophischen und wissenschaftlichen Nebenstraßen rund um die Geheimnisse des menschlichen Bewusstseins erforschen, versuchen wir zu berücksichtigen, was das alles dafür bedeutet, wie wir uns mit dem Thema Tod auseinandersetzen, wie wir unsere wissenschaftliche Forschung vorantreiben und, was vielleicht am wichtigsten ist, wie wir miteinander umgehen.

Als ich zweiundzwanzig Jahre alt war, begann ich mich für Reanimationswissenschaft zu interessieren, und letztendlich habe ich dieser Wissenschaft mein ganzes Berufsleben gewidmet. Derzeit verbringe ich meine Zeit etwa zu gleichen Teilen in Krankenhäusern in den USA und Großbritannien. Ich bin Assistenzprofessor für Lungenheilkunde und Intensivmedizin, sowie Leiter der Reanimationsforschung in der medizinischen Fakultät der State University von New York in Stony Brook. Ich erhielt mein Diplom in Medizin von der Universität London, bevor ich meine Facharztausbildung in innerer Medizin, Lungenheilkunde und Intensivmedizin an den Universitäten von Southampton und London in Großbritannien, sowie am Weill Cornell Medical Center in den Vereinigten Staaten machte. Außerdem habe ich an der Universität Southampton, Großbritannien, im Fach Zellbiologie promoviert.

Eine Kombination aus verschiedenen Ereignissen und Fragen brachte mich auf dieses Thema. Das Erste, was mein Interesse weckte, war die Erforschung des Gehirns an der medizinischen Hochschule. Als wir eines Tages im neurowissenschaftlichen Labor die Funktionen des Gehirns kennenlernten, war ich absolut überwältigt und fragte mich, wie dieses unglaubliche Organ aus grauen Zellen all unsere Persönlichkeiten hervorbringen konnte und alles, was uns als Individuen einzigartig macht. Eine meiner Freundinnen an der medizinischen Hochschule war sehr introvertiert und sprach kaum ein Wort. Ich weiß noch, dass ich sie eines Tages betrachtete und mich fragte: Was ist es, das sie so anders macht, als wir es sind? Dann schaute ich mich im ganzen Raum um. Da saßen 50 Menschen, und obwohl wir viel gemeinsam hatten, war jeder von uns eine einzigartige Persönlichkeit. Was war dran an diesem Organ, das uns alle so verschieden machte? Woher kamen unser denkender Geist und unser Bewusstsein oder, wie die Griechen es nannten, die Psyche oder die »Seele«?

Gegen Ende meiner medizinischen Ausbildung hatte ich es mit sterbenden Menschen zu tun. Ich begann darüber nachzudenken, was mit dem denkenden Geist dieser Menschen passierte. Mir fiel auch auf, dass die Entscheidung, einen Patienten zu reanimieren oder nicht, nur wenig und nur sehr eingeschränkt mit Wissenschaft zu tun hatte. Sie war nicht objektiv genug; sie war eigentlich sogar rein subjektiv. Zu der Zeit wurden Patienten, wenn sie eingeliefert wurden, nicht einmal gefragt, ob sie im Ernstfall reanimiert werden wollten, und man erklärte ihnen natürlich auch nicht, was das für sie bedeuten würde. Die Ärzte trafen einfach selbst eine Entscheidung und schrieben auf die Patientenkurve: »Nicht reanimieren.«

All dies entwickelte sich in meinem Kopf und erreichte schließlich seinen Höhepunkt, als ich einem Patienten in der Notaufnahme begegnete. Ich war zweiundzwanzig Jahre alt und verbrachte das letzte Jahr meines Medizinstudiums teilweise am Mount Sinai Hospital in New York. Es war eine aufregende Zeit für mich. Ich befand mich an einer der besten medizinischen Einrichtungen der Welt und arbeitete mich durch meine medizinische Pubertät ins Erwachsenenalter.

Eines Morgens machte ich meine Runden, als mein Pager vibrierte. Ich eilte in die Notaufnahme, nahm die Notizen der Krankenschwester zur Hand und las: »Desmond Smith, Hämoptoe« (ein medizinischer Begriff für Bluthusten).

Desmond war ein großer, hagerer Mann westindischen Ursprungs mit einem ausgeprägten Harlem-Akzent und einer gewinnenden Persönlichkeit. Die meisten Patienten, die ich in der Notaufnahme sehe, klagen verständlicherweise über Schmerzen. Sie regen sich über ihren Zustand auf und haben daher keine Lust auf Smalltalk. Allerdings sprechen Patienten manchmal aus Nervosität, manchmal auch, weil sie von Natur aus freundlich sind, über alltägliche Ereignisse aus ihrem Leben. Ich fand schnell heraus, dass Desmond einer der freundlichsten war. Er erzählte mir, dass er zweiundsechzig Jahre alt sei, dass seine Familie vor Kurzem eine Überraschungsparty zu seinem Geburtstag gegeben habe und dass er sich überhaupt keine Sorgen um seine Gesundheit mache.

Während ich seine Brust abtastete und sorgfältig nach irgendwelchen Anzeichen für Anomalien suchte, erfuhr ich, dass Desmond seinen Tag mit etwas begann, was sich mittlerweile zu einem täglichen Kampf gegen den frühmorgendlichen Husten entwickelt hatte. Während er sein Frühstückstablett in sein Zimmer trug, erinnerte er sich an den ursprünglichen Kommentar seines Arztes: »Das ist ein Raucherhusten.« Aber an diesem Tag hatte Desmond zum ersten Mal Blut gehustet.

Dennoch war Desmond optimistisch. »Das habe ich ausgehustet. Macht nichts. Ich werd’s überleben, Doc«, verkündete er.

Ich entdeckte Anzeichen für eine seine Lungen umgebende Flüssigkeit und ging aufgrund dessen eine mentale Liste möglicher Krankheiten durch. Die häufigste Ursache für Bluthusten ist eine einfache Infektion der oberen Atemwege, eine grippeähnliche Erkrankung. Aber das schien nicht zu Desmonds Fall zu passen. Er hatte sein Leben lang geraucht. Daher war es auch möglich, dass er Lungenkrebs hatte. Seine Vitalfunktionen waren stark. Daher beschloss ich, weitere Tests anzuordnen. Aber was immer Desmond auch hatte, es schien im Moment nicht unmittelbar lebensbedrohlich zu sein. Desmond winkte mir zum Dank kurz zu und ich verließ die Notaufnahme wieder.

Weniger als dreißig Minuten später meldete sich mein Pager erneut mit der Nachricht »Herzstillstand: Notaufnahme«. Es ging um Leben und Tod. Während ich in die Notaufnahme rannte, hatte ich einen regelrechten Adrenalinschub. Als ich dort ankam, war eine Bucht mit Vorhängen abgetrennt worden. Ich zog die Vorhänge beiseite. Ein Ärzteteam war fieberhaft mit einem Mann beschäftigt. Einer kniete neben seinem Kopf und versuchte hastig, seine Atemwege zu sichern. Alles war voller Blut. Die Zeit beschleunigte sich für mich, als mir klar wurde, dass ich diesen Mann kannte. Es war Desmond.

Es herrschte hektische Betriebsamkeit, um sein Leben zu retten. Ärzte riefen in rascher Folge irgendwelche Anweisungen und Kommentare: »Puls messen, Rhythmus überprüfen …« » Kammerflimmern …« »Schock …« »Weg vom Patienten. Sauerstoff weg!« Dumpfes Geräusch. »IV-Zugang legen …« »Ein Milligramm Epinephrin, stat.« »Weiterdrücken …« »Neue Infusion.« »Blut quillt aus seinem Mund, er hat extensive Blutungen …« »Absaugen, schnell!« »Holen Sie den zweilumigen Endobronchialtubus. Holen Sie das Notfall-Bronchoskop. Wir müssen das blutende Gefäß finden …« »Ein Milligramm Epinephrin, stat.« »Kreuzprobe.« »Universalblut, stat.« »Flüssigkeitsbeutel ausdrücken …« »Asystolie … Nulllinie … ein Milligramm Epinephrin, drei Milligramm Atropin, stat.« »Weiter reanimieren.« »Ich sehe nichts – da unten ist nur ein rotes Meer aus Blut …« »Es ist nicht mehr möglich, ihn zu reanimieren; seine Atemwege sind voller Blutgerinnsel …«

Desmond war tot, einfach so. In der einen Minute war er noch hier gewesen, in der nächsten nicht mehr. Was war mit dem Menschen passiert, mit dem ich noch vor einer halben Stunde über die Überraschungsparty zu seinem Geburtstag gesprochen hatte? Was war übrig von seinen Erinnerungen, Gedanken und Gefühlen? Wie es aussah, nicht mehr, als ein lebloser Körper.

Dieses Intervall zwischen Leben und Tod war so kurz gewesen. Fragen schwirrten in meinem Kopf herum. Was hatte Desmond erlebt? Hatte er sehen können, wie wir versuchten, ihn zu reanimieren? Und was passierte jetzt mit ihm? Konnte er sich irgendeine Form von Bewusstsein bewahrt haben, oder war dies das Ende? Selbst vor dem Hintergrund meines Medizinstudiums konnte ich diese Fragen nicht einmal ansatzweise beantworten.

Desmonds Tod und die Fragen, die ich mir immer wieder zu dem Prozess stellte, den er in jenen Minuten und möglicherweise noch darüber hinaus durchlaufen hatte, beeinflussten mein Leben zutiefst. So tief, dass ich in den kommenden Monaten beschloss, Antworten auf diese Fragen zu finden, und zwar mit dem Werkzeug, in dessen Gebrauch ich geübt war und auf das ich mich am meisten verlassen konnte: die Naturwissenschaft.

Dieses Thema, das mich schon an der medizinischen Hochschule interessiert hatte, wuchs in den verschiedenen Phasen meiner medizinischen Entwicklung sozusagen mit mir. Ich wurde Zeuge, wie Entscheidungen über Leben und Tod für Patienten getroffen werden, und erkannte bereits als junger Medizinstudent, dass hier eine objektive Wissenschaft gebraucht wird. Dann machte ich meinen Abschluss an der medizinischen Hochschule und beschloss, selbst herauszufinden, was mit diesen Patienten passiert. Während meiner Facharztausbildung an der University of Southampton kümmerte ich mich um die Einrichtung einer Studie, führte aber auch selbst eine separate Untersuchung durch, für die ich etwa fünfhundert Fälle von Menschen sammelte, die unter verschiedenen Umständen das erlebt hatten, was man als Nahtoderfahrung bezeichnet. Dadurch lernte ich eine Menge über die Natur dieser Erfahrung und ihre Auswirkungen auf die betreffenden Menschen.

Ich erkannte nach und nach, dass Menschen, die solche Erfahrungen gemacht hatten, einen ganz unterschiedlichen Hintergrund hatten und ganz verschiedenen Glaubenssystemen angehörten. Das Spektrum reichte von Agnostikern bis zu Atheisten und von Leuten mit minimal ausgeprägter Vorliebe fürs Religiöse bis hin zu sehr religiösen Menschen. Am stärksten berührte mich, dass die meisten Menschen, die eine derartige Erfahrung gemacht hatten, vor allem diejenigen, die ein Lichtwesen gesehen hatten, wie sie es beschrieben, zutiefst davon betroffen waren und durch dieses Erlebnis eine positive Verwandlung erfuhren. Die andere Sache, die mich tief beeindruckte, war, dass an der Reanimation solcher Menschen beteiligte Ärzte und Krankenschwestern sehr erstaunt waren, wenn der Patient später zu ihnen kam und ihnen bis ins Detail erzählte, was dabei passiert war, obwohl er ihnen tot erschienen war.

Während ich meine medizinische Praxis vertiefte, merkte ich allmählich, dass zu lernen, wie man ein Leben rettet, auch bedeutet, über die verschiedenen Komponenten und Glieder einer sehr langen Kette des Überlebens Bescheid zu wissen. Das ist die Wissenschaft der Reanimation, und ich erkannte eines immer deutlicher: Wenn nicht sämtlichen Gliedern dieser Kette entsprechende Aufmerksamkeit geschenkt wurde, konnte es passieren, dass die Patienten, die wir in unseren Krankenhäusern behandelten, mehr als eine Beeinträchtigung davontrügen, darunter eine höhere Sterblichkeitsrate, sowie langfristige Schädigungen des Gehirns und anderer Organe. Als mein Interesse im Laufe der Zeit immer größer wurde und ich mich auf Reanimationswissenschaft spezialisierte, wurde mir darüber hinaus klar, dass, obwohl einzelne Ärzte und Krankenschwestern durchaus bestrebt waren, ihren Patienten die bestmögliche Pflege zu bieten, noch sehr viel mehr getan werden konnte. Aber die Ursache dafür, dass es nicht immer getan wurde, war weitgehend ein systemimmanentes Problem, das nicht auf der Ebene gelöst werden konnte, auf der sich einzelne Krankenschwestern und Ärzte wie ich befanden, sondern viel weiter oben. Indem ich mich fragte, warum Patienten Nahtoderfahrungen haben, erkannte ich schließlich, wie wenig Klinikärzte wirklich über die Qualität der Reanimation im Hinblick auf das Gehirn und andere lebenswichtige Organe während eines Herzstillstands wussten. Plötzlich dämmerte mir, dass wir jahrelang »im Dunkeln gefahren« waren, ohne Echtzeit-Messgerät, das uns sagte, ob unsere Behandlungen und Interventionen wirksam waren. Es ist wie bei einem Fahrer, der weiß, dass er beim Fahren erfolgreich war, wenn er am Ziel angekommen ist, der aber kaum Informationen über die Fahrt und den Weg hat. Die einzige Möglichkeit, den Erfolg unserer Reanimation zu überprüfen, war, ob jemand wie Tiralosi letztendlich überlebte oder nicht. Wenn die betreffende Person es nicht schaffte, würden wir es alle darauf schieben, dass es unvermeidlich war. »Er ist abgestürzt« und wir waren nicht in der Lage gewesen, den Tod rückgängig zu machen, weil es eben der Tod war. Aber mit der Zeit wurde mir immer klarer, dass ein dauerhafter und nicht mehr umkehrbarer Tod in vielen Fällen keineswegs unvermeidlich war, selbst wenn der Tod schon eingetreten ist. Es war einfach so, dass trotz bester Bemühungen der Reanimationsärzte irgendwo entlang der komplizierten Kette des Überlebens, die gebraucht wurde, um jemanden ins Leben zurückzubringen, ein oder zwei Glieder nicht an Ort und Stelle waren. Dies warf die Frage auf, ob die Erfahrungen und Erinnerungen aus der Zeit des Todes, die manche Menschen mitbrachten, uns vielleicht einfach sagten, dass die Reanimation des Gehirns bei gewissen Leuten von besserer Qualität gewesen war. Wenn dies der Fall sein sollte, sind ganz klar weitere Untersuchungen erforderlich, damit wir verstehen, welche unserer Behandlungen zu dieser Verbesserung geführt hat. Diese Erfahrungen könnten uns auch etwas mehr über die philosophischen und persönlichen Fragen erzählen, die wir uns stellen, wenn wir wissen wollen, was beim Sterben geschieht. Das ist natürlich nur möglich, weil wir jetzt wissen, dass der Tod reversibel ist.

* Die Nour Foundation, eine gemeinnützige und nicht staatliche Organisation mit speziellem Beraterstatus im Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen, hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Bedeutung und die Gemeinsamkeiten der menschlichen Erfahrung mithilfe eines multidisziplinären und integrativen Ansatzes zu erkunden, und zwar mit dem Ziel, Verständnis, Toleranz und Einigkeit zwischen Menschen auf der ganzen Welt zu fördern. Die Konzeption der Stiftung wurde inspiriert von der integrativen Philosophie des verstorbenen Denkers, Juristen und Musikers Ostad Elahi (1895–1974).

Die Nour Foundation hat ein Stipendium zur Durchführung der AWARE-Studie zur Verfügung gestellt, das wir während eines Symposiums im Gebäude der Vereinten Nationen in New York am 11. September 2008 entgegennahmen. Weitere Informationen finden Sie auf der Website www.nourfoundation.com.

KAPITEL 2

Ein kleiner Schritt für den Menschen, ein riesiger Sprung für die Menschheit

Es gab eine Zeit, in der die Erforschung des Weltraums für unmöglich gehalten wurde. Vor etwa hundert Jahren hätte man Sie für verrückt gehalten, wenn Sie eine Forschungsexpedition zum Mond vorgeschlagen hätten. Man hätte Sie gefragt, wie um alles in der Welt Sie einen Menschen in die Weiten des Unbekannten schicken und sicher wieder zur Erde zurückbringen wollten. Wenn das Thema in Büchern behandelt wurde, wurde es in den Bereich der Science-Fiction verlegt. Im Jahr 1901 veröffentlichte H. G. Wells, der gefeierte Autor von Krieg der Welten, sein Buch Die ersten Menschen auf dem Mond, eine Geschichte über zwei Männer, die sich ein Raumschiff bauen und damit zum Mond fliegen. Obwohl dieser Roman als reine Science-Fiction eingeordnet und von manchen sogar als völlig absurd betrachtet wurde, war Wells überzeugt, dass die Raumfahrt eines Tages möglich sein würde.

Heute ist die Erforschung des Weltraums nicht nur möglich, sondern sogar selbstverständlich. Aufgrund der Fortschritte, die in der Wissenschaft gemacht wurden, konnten wir im Jahr 1969 Zeuge der ersten erfolgreichen Mondlandung werden – ein neuer Anfang für uns alle. In Analogie dazu haben uns die Fortschritte in der Wissenschaft erlaubt, die Grenze zum Tod zu überqueren und zu erforschen. Dies ist der Kern der Reanimationswissenschaft – der Wissenschaft, die sich damit beschäftigt, Menschen nach dem Tod ins Leben zurückzuholen. Das mag unmöglich klingen, als würden wir in Science-Fiction-Territorium überwechseln, aber das ist es nicht. Es ist sehr real.

Wenn wir über den Tod sprechen, reagieren Menschen bis auf den heutigen Tag genau so, wie unsere Ahnen vor rund hundert Jahren reagiert haben, etwa zur Zeit, als Wells Roman veröffentlicht wurde.

Wegen des Tempos, in dem der medizinische Fortschritt vonstattengeht, verstehen nur wenige Ärzte und noch weniger nicht medizinische oder rein wissenschaftlich orientierte Menschen, dass auf dem Höhepunkt des menschlichen Verstehens eine echte Revolution stattgefunden hat, die, unabhängig von der jeweiligen Kultur, dem religiösen Bekenntnis oder dem Hintergrund des Einzelnen, enorme Auswirkungen für uns alle haben wird. Das ist wirklich ein globales Phänomen. Entgegen der gängigen gesellschaftlichen und sogar medizinischen Wahrnehmung ist der »Tod« nicht das Ende, für das wir ihn einst gehalten haben. Der Tod ist nicht länger ein besonderer Moment in der Zeit – der Moment, in dem das Herz aufhört zu schlagen, die Atmung aufhört und das Gehirn nicht mehr funktioniert. Das heißt, im Gegensatz zum allgemeinen Verständnis ist der Tod kein Moment. Er ist ein Prozess – ein Prozess, der auch unterbrochen werden kann, nachdem er begonnen hat.

Obwohl es stimmt, dass der Tod ein biologischer Prozess ist und die Ursachen, warum Menschen sterben, vielfältig sind – beispielsweise eine Infektion, ein Herzinfarkt oder Krebs –, sieht das Endergebnis des gesamten Prozesses aus medizinischer, biologischer und zellbiologischer Perspektive betrachtet so aus: Die Zellen der einzelnen Organe werden nur noch unzureichend mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt. Sauerstoff und Nährstoffe werden benötigt, um die Tätigkeit der Organe ebenso aufrechtzuerhalten, wie die in den Zellen ablaufenden Prozesse, die uns am Leben halten. Wenn das Herz nicht mehr versorgt wird, stellt es seine Tätigkeit ein. Dann ist das System, das Blut durch den Körper pumpt, faktisch nicht mehr existent. Die Organe bekommen keinen Sauerstoff mehr und hören innerhalb von Sekunden auf zu arbeiten, der Körper ist leblos. Das ist das Ende – oder zumindest das, was jahrtausendelang für das Ende gehalten wurde. Unglaublicherweise scheint es das jetzt nicht mehr zu sein. Seit dem Aufkommen der Reanimationswissenschaft in den 1960er-Jahren haben Ärzte den Herzschlag von Menschen nach dem Tod regelmäßig wiederhergestellt und sie damit, wie es in jedem gängigen Lexikon steht, wiederbelebt beziehungsweise ins Leben zurückgebracht.

Der Tod kann rückgängig gemacht werden, weil er ein Prozess ist und eben kein Moment. Biologisch gesehen, ist der Tod ein Schlaganfall, aber anders als bei einem gewöhnlichen Schlaganfall ist es hier so, dass dem gesamten Gehirn Sauerstoff und Nährstoffe entzogen werden. Der Prozess, in dessen Verlauf Gehirnzellen von einem potenziell reversiblen in einen irreversiblen Zustand der Beschädigung übergehen und Zellen sterben, zieht sich, nachdem der Tod in einer Person begonnen hat, über viele Minuten bis Stunden hin. Bei einem gewöhnlichen Schlaganfall wird ein Teil des Gehirns nur unzureichend mit Blut versorgt. Das ist in der Regel, aber nicht immer, das Ergebnis eines Blutgerinnsels. Im Tod besteht aufgrund der Tatsache, dass das Herz nicht mehr schlägt, ein Mangel in der Versorgung des gesamten Gehirns mit Blut und nicht nur einer bestimmten Gehirnregion. Obwohl die Ursache für eine mangelnde Blutversorgung bei einem Schlaganfall und bei Tod jeweils eine andere ist, kommen in den betroffenen Gehirnzellen die gleichen biologischen Prozesse in Gang, wenn sie unter Sauerstoffmangel leiden. Bei einem Schlaganfall ist die Wahrscheinlichkeit einer dauerhaften Schädigung des betroffenen Gehirnbereichs umso größer, je länger die Blutzufuhr unterbrochen ist. Wir wissen, dass bei jemandem, der einen Schlaganfall hatte und innerhalb von ein paar Stunden in ein mit der richtigen Technik ausgestattetes Krankenhaus gebracht wird, eine CT-Schichtaufnahme gemacht wird, mit deren Hilfe ein Arzt dann versuchen kann, das betreffende Blutgefäß möglichst schnell zu öffnen. Wenn dies gelingt, kann der größte Teil des Hirngewebes gerettet werden. Der Patient kann sich erholen, und eine hohe oder sogar seine ganze Lebensqualität kann wiederhergestellt werden. Sollte es allerdings nicht gelingen und die Unterversorgung des Gehirns zu lange bestehen bleiben, wird der Patient dauerhaft leiden und eine irreversible Schädigung der Gehirnzellen und damit eine Behinderung davontragen. Wenn wir intervenieren, auch nachdem der Tod bereits eingesetzt hat, können wir durchaus etwas bewirken, und deswegen hat sich in Bezug auf das Verstehen des Todes und der Prozesse, die nach dem Tod ablaufen, einiges bewegt.

Wenn Sie also an den Tod als einen Schlaganfall denken, erkennen Sie, dass er, genau wie ein Schlaganfall, rückgängig gemacht werden kann. Dies hat erhebliche Auswirkungen darauf, wie der Tod definiert wird. Wenn jemand sagt: »Meine Tante ist gestorben«, könnten wir ganz harmlos fragen: »Wann genau, also in welchem Moment?« Die Wahrheit ist, dass wir das, rein wissenschaftlich betrachtet, vielleicht gar nicht wirklich wissen. Und wenn mich jemand fragen würde, wann genau der Tod dauerhaft wird, würde ich wieder sagen müssen, dass wir es nicht wirklich wissen. Wir wissen aber sehr wohl, dass die lang gehegte philosophische Vorstellung, es gäbe keinen Weg zurück, nicht ganz stimmt und dass der Tod in einem beträchtlichen Zeitraum nach dem Tod in der Tat noch vollständig reversibel ist.

Da es einen Weg zurück vom Tod gibt, müssen wir jetzt fragen, was mit Geist und Bewusstsein der betreffenden Person – der eigentlichen Essenz des Individuums – in der Zeit passiert, in der sie sich in jenem unbekannten Territorium aufhält. Da es sich um einen ziemlich langen Zeitraum handelt, in dem das, was Ärzte tun (oder auch nicht tun), entsprechende Konsequenzen für die Lebensqualität des Patienten haben wird, ist es wichtig, diese neue »Grauzone« zu verstehen. Die Behandlung, die wir in diesem Zeitraum geben oder zu geben versäumen, kann für den Patienten den entscheidenden Unterschied machen, ob er in ein sinnerfülltes Leben zurückkehrt oder in einem vegetativen Zustand verbleibt. Und schließlich ist da noch die philosophische Vorstellung von dem, was nach dem Tod passiert oder während des sogenannten Lebens im Jenseits. Weil die Person per definitionem die Schwelle des Todes überschritten hat, möglicherweise schon seit ein paar Stunden, befindet sie sich in dem Raum, den einige in der Vergangenheit als das Jenseits bezeichnet haben. Wenn ein solcher Patient wieder ins Leben zurückgeholt wird, was kann er uns dann über den Tod sagen und darüber, was passiert, wenn wir sterben? Hier überschneiden sich objektive, medizinische und wissenschaftliche Errungenschaften, die darauf abzielen, Leben zu retten und Gehirnfunktionen zu erhalten, unweigerlich mit den persönlichen Überzeugungen der Menschen, mit ihren religiösen Vorstellungen oder ihrer allgemeinen Weltsicht.

Zugegeben, es kann eine Herausforderung sein, diese Konzepte zu begreifen, hauptsächlich weil unsere Vorstellung vom Tod traditionell sehr schwarz-weiß ist. In Filmen sehen wir ganz deutlich, wann Menschen tot sind. Jemand schießt mehrmals auf jemand anderen, der Typ fällt um und ist tot. Deshalb wurde jemand, der leblos und bewegungslos war und dessen Herz nicht mehr schlug, klassischerweise für tot gehalten. In der Tat bedienen sich Ärzte immer noch drei einfacher Kriterien, um jemanden für tot zu erklären: kein Herzschlag, keine Atmung und fixe, erweiterte Pupillen (was bedeutet, dass keine Gehirnfunktionen mehr da sind).

Oft sagen mir Leute, darunter auch Ärzte und Wissenschaftler, wenn es gelungen sei, jemanden wiederzubeleben, sei er gar nicht wirklich tot gewesen. Wie konnte ein Individuum tot gewesen sein, wenn es nun wieder lebendig war? Aber es ist nun mal eine Tatsache, dass der Tod nicht das ist, was Sie und ich beschließen, das er ist. Mancher hat vielleicht die philosophische Vorstellung, dass der Tod dann eingetreten ist, wenn eine Person nicht mehr zurückkommen und reden, essen oder Geschichten erzählen kann. Das könnte sogar unsere eigene Überzeugung oder die unseres Arztes gewesen sein, aber das ist nicht der Tod. Nicht die Menschen stellen die Parameter dafür auf, was der Tod ist; die Wissenschaft tut es.

Betrachten wir etwas detaillierter, was der Tod wirklich ist. Biologisch und medizinisch gesehen, sind »Tod« und Herzstillstand Synonyme. Per definitionem sprechen wir von Herzstillstand, wenn das Herz zu schlagen aufhört und die Person zu atmen aufhört. Aufgrund der mangelnden Zufuhr an Sauerstoff und Nährstoffen wird das Gehirn innerhalb von Sekunden heruntergefahren, und der Patient entwickelt fixe, geweitete Pupillen. Der medizinische Fachausdruck für Tod ist Herzstillstand, weil zu diesem Zeitpunkt alle drei Kriterien des Todes (d. h. kein Herzschlag, keine Atmung und fixe, geweitete Pupillen) gegeben sind.

Viele setzen einen Herzinfarkt einem Herzstillstand gleich, aber Tatsache ist, sie sind nicht ein und dasselbe. Jemand könnte sagen: »Mein Onkel hatte einen Herzinfarkt und lebt immer noch. Er wurde aus dem Reich der Toten zurückgeholt.« Aber das ist nicht ganz korrekt. Zu einem Herzinfarkt kommt es, wenn eine Arterie, durch die sauerstoff- und nährstoffreiches Blut zum Herzen gepumpt wird, blockiert ist und das Herz nicht mehr ausreichend versorgt wird. Als Folge davon stirbt ein Teil des Herzmuskels ab. Ein Herzstillstand liegt vor, wenn das Herz aus irgendeinem Grund, der den Tod signalisiert, zu schlagen aufhört. Natürlich kann auch ein entsprechend schwerer Herzinfarkt dazu führen, dass das Herz zu schlagen aufhört. Wenn der Blutfluss zum Herzen ganz blockiert ist, kommt es ebenfalls zum Herzstillstand, wie bei Joe Tiralosi geschehen. Doch im Gegensatz zum Herzinfarkt werden Herz- beziehungsweise Kreislaufstillstand und Tod medizinisch als ein und dasselbe definiert. Es gibt keinen Unterschied.

Ärzte glauben oft, im Falle eines Herzstillstands müsse man Notfall-Reanimationsmaßnahmen anwenden, von denen die Herz-Lungen-Wiederbelebung (HLW) die einfachste ist, und versuchen, die Person innerhalb von Minuten wieder ins Leben zurückzuholen. Wenn dies nicht gelingt, wird die Person für tot erklärt. Als die moderne Reanimation 1960 erstmals eingeführt wurde, bestand sie in erster Linie aus Herzdruckmassage, Beatmung und der Möglichkeit, das Herz mit Elektroschocks zu bearbeiten. Und das bringen die meisten Menschen eigentlich immer noch mit Reanimationswissenschaft in Verbindung. Aber heute ist die Wissenschaft schon sehr viel weiter.

Nun, nachdem immer längere Kämpfe mit dem Tod ausgefochten wurden, die sich teilweise über Stunden nach seinem Eintreten hinzogen, können Ärzte mehr Menschen nach einem Herzstillstand retten als jemals zuvor. Man hat herausgefunden, dass wenn das Herz einer Person zu schlagen aufgehört hat, wenn die entscheidende Zufuhr von Sauerstoff und nährstoffreichem Blut zum Herzen und allen anderen Organen, einschließlich des Gehirns lahmgelegt ist und die Person für tot erklärt wird, wie wir es kennen, dass dann nicht alle Zellen im Körper sofort absterben. Gehirnzellen, Leberzellen und Muskelzellen bleiben, nachdem das Herz zu schlagen aufgehört hat und der Mensch gestorben ist, noch eine gewisse Zeit, bevor sie irreversibel geschädigt sind. Ihr eigener Sterbeprozess hat gerade erst begonnen und er kann Stunden dauern. Beispielsweise können Wissenschaftler Teile des Gehirns von jemandem, der vier Stunden vorher gestorben ist und bereits in der Leichenhalle liegt, entnehmen und im Labor wachsen lassen, was darauf hinweist, dass diese Zellen nicht irreversibel tot waren. Obwohl diese Zellen nicht arbeiten, sind sie immer noch potenziell lebensfähig. Deswegen können Menschen ihre Organe spenden, und deswegen können diese Organe von einem gesunden Körper immer noch verwendet werden. Um zu funktionieren, sind Zellen darauf angewiesen, dass sie mit Sauerstoff versorgt werden, damit Stoffwechselaktivitäten stattfinden und Energie erzeugt werden kann. Ohne Sauerstoff beginnt für diese Zellen ein Prozess, in dessen Verlauf sie sterben werden, aber sie sind noch nicht gestorben und können immer noch gerettet werden. Allerdings arbeitet das Organ in dieser Zeit nicht, denn seine Zellen bekommen weder Blut noch Sauerstoff. Obwohl das Gehirn nicht funktioniert und die Leber nicht arbeitet, nachdem das Herz zu schlagen aufgehört hat, hat der Prozess des Zelltods in diesen Organen gerade erst begonnen und kann sich, nachdem eine Person für tot erklärt wurde, noch über Stunden hinziehen.

Wo in diesem Prozess ziehen wir also die Grenze, die eine Person überschritten haben muss, damit wir sie für dauerhaft tot erklären? Wo immer wir diese Linie ziehen und sagen, der Tod sei dauerhaft und endgültig, wird sie irgendwie willkürlich sein, denn der Tod ist ein Prozess, und die Grenze, hinter der bestimmte Zellen und Organe dauerhaft sterben, ist ständig in Bewegung, weil die Reanimationswissenschaft immer weiter fortschreitet. Je weiter wir diese Grenze also verschieben können, desto weiter können wir diesen finalen, absolut tödlichen Punkt nach hinten schieben. Im neuen Grenzland der medizinischen Forschung geht es hauptsächlich darum, den Zustand zu verlängern, in dem die Zellen noch lebensfähig sind, und Zeit zu gewinnen, um das Problem zu beheben, das den Herzstillstand ursprünglich verursacht hat.

Die Wiederbelebung von Menschen hat zwei Konsequenzen – genau wie zwei Prozesse an der Raumfahrt beteiligt sind. Erstens, wenn die Zellen zu retten sind, können wir Menschen nicht nur aus den Klauen des Todes befreien und ins Leben zurückholen, nachdem sie in den ewigen Abgrund oder das, was man bisher dafür hielt, gefallen waren, sondern auch sicherstellen, dass sie nicht mit irgendeinem bleibenden Schaden daraus hervorgehen – wie der Astronaut, der mit einer Rakete in den Weltraum gestartet ist und in einer Raumkapsel zurückkehrt. Zweitens, in der gleichen Weise, wie ein Astronaut den Weltraum erforscht und uns dann aus erster Hand sagen kann, was dort vor sich geht, können uns diese Menschen sagen, was im metaphorischen Raum des Jenseits vor sich geht. Menschen auf der ganzen Welt haben sich darüber ihre eigenen Gedanken gemacht, und zwar in ganz ähnlicher Weise, wie Menschen vor Tausenden von Jahren in den Himmel geschaut und sich gefragt haben, was im Weltraum wohl wirklich vor sich geht. Doch bei diesen Gedanken und Anschauungen handelt es sich oft um etwas ganz Persönliches. Das Gleiche gilt für den Tod.

Einzelne Personen ins Leben zurückzuholen ist nur der erste Schritt zum Überleben. Wenn jemand stirbt und wir diese Person wiederbeleben, müssen Ärzte auch das zugrunde liegende Problem beheben, wenn dieses Individuum am Leben bleiben soll. Wenn jemand einen Herzstillstand erleidet und wir das zugrunde liegende Leiden schnell behandeln können, kann der Tod rückgängig gemacht werden. Wenn beispielsweise jemand in einen Verkehrsunfall verwickelt war, aufgrund eines geplatzten Blutgefäßes heftige Blutungen hatte und an einem Herzstillstand gestorben ist, gibt es Möglichkeiten, diese Person zu retten. Das Problem ist der Blutverlust. Während viele die Niederlage einfach hinnehmen und die Person für »tot« erklären, können wir jetzt möglicherweise ein System etablieren, das den Prozess verlangsamt, in dessen Verlauf die Zellen in den Organen dieser toten Person dauerhaft geschädigt werden, und so langfristige Schädigungen des Gehirns und anderer lebenswichtiger Organe verhindern. Damit schinden wir ein paar Stunden Zeit, in der unsere erfahrenen Chirurgen das blutende Gefäß finden und behandeln, das verlorene Blut ersetzen und das Herz neu starten können – und damit den Tod rückgängig machen. Wenn jemand mit Herzinfarkt ins Krankenhaus eingeliefert wird, weil ein Blutgerinnsel eine Arterie auf einer Seite seines Herzens verstopft hat, können Ärzte den Patienten ganz schnell ins Herzkatheterlabor bringen, das Blutgerinnsel entfernen und ihn sicher ins Leben zurückholen, und zwar mit einem ausgeklügelten Bündel rechtzeitiger medizinischer Eingriffe, einschließlich dessen, was als »Postreanimationstherapie« bekannt geworden ist. Wenn diese Therapie innerhalb der rund 72 Stunden, die auf einen Neustart des Herzens folgen, korrekt angewandt wird, kann sie sogar sicherstellen, dass ein solcher Patient wieder ein normales Leben führen kann.

Für mich ist dies noch erstaunlicher, als in den Weltraum zu reisen und von dort wieder zurückzukommen. Wie viele Menschen profitieren schließlich unmittelbar von der Erforschung des Weltraums? Doch jeder profitiert von den Fortschritten, die in der Reanimationswissenschaft gemacht werden. Und genau wie uns Astronauten, sobald sie zurückgekehrt sind, erklären können, was im Weltraum vor sich geht, können uns diese Menschen, die gestorben sind, sagen, was sie in den ersten paar Stunden ihres Todes erlebt haben.

Klar ist, dass das Wiederbeleben von Menschen seine Grenzen hat, ähnlich wie uns bei Reisen in den Weltraum und der sicheren Rückkehr von dort Grenzen gesetzt sind. In dem schrecklichen Fall, dass bei einem Unfall sämtliche Organe eines Menschen zerstört wurden, können wir nichts mehr für ihn tun, weil es keine Organe mehr gibt, die den Körper unterstützen. Es gibt einfach nichts mehr, wohin dieser Mensch zurückkehren könnte. Wenn der Körper vollständig zerstört ist, kann er nicht wiederhergestellt werden – zumindest bis heute nicht. Allerdings werden diese Grenzen kontinuierlich nach hinten verschoben. Erst sind wir auf dem Mond gelandet und jetzt wollen wir den Mars erforschen. Das Gleiche gilt für die Reanimationswissenschaft. Wir dehnen die Grenzen zwischen Leben und Tod immer weiter in den Bereich hinein aus, der früher für das Jenseits gehalten wurde. Heute sind es drei oder vier Stunden. Morgen könnten es zwölf oder 24 Stunden oder noch mehr sein.

Ein Geweberegenerationsprogramm, in dessen Rahmen Wissenschaftler eifrig daran arbeiten, Systeme zu entwickeln, mit denen man Organe künstlich wachsen lassen kann, gibt es bereits. Im Juli 2011 stellten Ärzte in Schweden eine künstliche Luftröhre aus den Stammzellen eines Mannes her und ersetzten seine vom Krebs befallene Luftröhre durch diese synthetisch erzeugte. Man kann sich vorstellen, dass wir, sagen wir in hundert Jahren, wenn diese Technologie ganz ausgereift ist, vielleicht in der Lage sind, schnell neue Organe zu implantieren und eine Person, die irreversible Schäden davongetragen hat, zu rekonstruieren. Wenn heute jemand eine Krebsart hat, die therapiert werden kann, diese Person die Schwelle des Todes aber leider überschritten hat, bevor der Krebs besiegt werden konnte, kann sie sicher wieder zurückgebracht werden. Und wenn diese Person eine potenziell heilbare Krebsart hat, kann sie therapiert werden und sich erholen. Das ist natürlich nicht der Fall, wenn die Person beispielsweise Lungenkrebs im Endstadium hat, denn derzeit gibt es keine Heilung für letalen Lungenkrebs oder bestimmte Arten von resistenten Lymphomen oder von Leukämie, die refraktär gegen Behandlungen geworden sind.

Im Jahr 2011 behandelte ich eine mutige Frau namens Laura. Sie war 27 Jahre alt und hatte Leukämie. Menschen, die an Leukämie leiden, erleben eine Proliferation ihrer weißen Blutkörperchen, die als Blasten bezeichnet werden, weil sie nicht vollständig ausgebildet sind. Diese Zellen vermehren sich frenetisch, und die Proliferation von nicht funktionierenden Zellen verursacht Schäden an den Organen. Wenn die Zellen voll entwickelt wären, könnten sie die Infektion bekämpfen, aber in diesem Stadium verstopfen sie letztendlich nur das System.

Bei Laura war im Alter von 17 Jahren Leukämie diagnostiziert worden. Obwohl Leukämie manchmal chronisch ist, kann sie in einigen Fällen mit einer Chemotherapie oder durch eine Stammzelltransplantation geheilt werden. Bei Laura war in der Tat eine Stammzelltransplantation vorgenommen worden. Im Verlauf dieses Prozesses hatte sie eine so starke Chemotherapie bekommen, dass ihr Knochenmark fast völlig vernichtet war, was ihren Körper im Grunde davon abhielt, die schlechten weißen Blutkörperchen zu produzieren. Dann übertrugen ihr die Ärzte Stammzellen von einem Familienmitglied, und diese neuen Stammzellen produzierten gesunde weiße Blutkörperchen. Zwar können bei diesem Verfahren Komplikationen auftreten, etwa eine Infektion, aber bei Laura funktionierte es und sie wurde geheilt.

In den folgenden zehn Jahren führte Laura ein ganz normales Leben. Sie heiratete und hatte eine Tochter. Obwohl Laura die Leukämie und die zermürbenden Behandlungen nie vergaß, war es eher etwas, das ihre Vergangenheit heimsuchte, als ihre Zukunft in eine bestimmte Richtung zu lenken.

Dann, als sie 27 war, kehrten ihre Symptome zurück, wie das verzögerte Nachbeben eines schweren Erdbebens. Sie suchte erneut ihren Onkologen auf. Wie beim ersten Mal verordnete er ihr eine Chemotherapie in mehreren Dosen und bereitete alles für eine weitere Stammzellentransplantation vor. Leider funktionierte dies beim zweiten Mal nicht mehr, und ihre Leukämie wurde refraktär. Das heißt, sie sprach nicht mehr auf die Behandlung an. Der Onkologe teilte ihr und ihrer Familie mit, dass es nichts anderes gab, was getan werden konnte. Aber weil sie eine kleine Tochter hatte, der Schatz ihres Lebens, war Laura bereit, alles Mögliche zu tun, um ihr Leben zu verlängern.

An diesem Punkt kam ich, als ihr Arzt auf der Intensivstation, ins Spiel. Als ich Laura zum ersten Mal sah, war sie körperlich in einer sehr schlechten Verfassung und litt unter signifikantem Untergewicht. Sie hatte sich eine Lungenentzündung zugezogen, weil ihr Immunsystem nicht stark genug war, um die Infektion abzuwehren. Schlimmer noch, die Lungenentzündung erwies sich als absolut resistent gegen sämtliche Antibiotika und breitete sich kontinuierlich aus, weil Laura keine funktionierenden weißen Blutkörperchen hatte, um die Infektion zu bekämpfen. Sie hatte nur »Blasten«, die alle ihre inneren Organe beschädigten. Mittlerweile hatte sie den Punkt erreicht, wo sie kaum noch atmen konnte. Entsprechend ihrem Wunsch, es möge »alles getan werden«, hatte ich ihr einen Beatmungsschlauch eingesetzt und versuchte nun meinerseits, die Infektion zu bewältigen, aber das erwies sich als schwierig, weil sie auf keine Behandlung ansprach. Weil die Infektion nicht zurückgehen wollte, verschlechterte sich Lauras Zustand kontinuierlich.

Es wurde deutlich, dass ihr Herz bald aufhören würde zu schlagen. Theoretisch und basierend auf allem, was wir bisher behandelt haben, wäre es logisch gewesen, sich die folgende Frage zu stellen – wo wir doch wussten, dass ihr Herz aufhören würde zu schlagen und wir genug Zeit hatten, uns auf diesen Moment vorzubereiten: Warum konnten wir ihren Tod nicht einfach rückgängig machen und sie wiederbeleben, nachdem dies geschehen war? Tatsache ist, dass ich zwar wusste, ich würde ihr Herz neu starten können, aber auch, dass das eigentliche Problem ein anderes war: Ihr Herz würde immer und immer wieder aufhören zu schlagen, weil ihre Organe nicht genügend Sauerstoff bekamen. Wir verfügten nicht über die wissenschaftlichen Kenntnisse und Möglichkeiten, die nötig gewesen wären, um das zugrunde liegende Problem zu lösen, also die Ursache für ihren Herzstillstand zu behandeln. Wir konnten die Blasten nicht loswerden und sicherstellen, dass sie normale weiße Blutkörperchen bildete. Ihr Sauerstoffbedarf war aufgrund der Infektion extrem gestiegen. Wir hatten versucht, diesen Bedarf dadurch zu decken, dass wir ihr den Atemschlauch einsetzten. Doch weil sie – aufgrund der unheilbaren Infektion und der Organschädigung durch die Blasten – kränker und kränker wurde, kamen wir schließlich an einen Punkt, an dem wir ihren Sauerstoffbedarf nicht mehr decken konnten. Wir konnten einfach nicht mithalten. Wir wussten, dies würde dazu führen, dass ihr Blutdruck sank, und wenn das passierte, würde sie nicht mehr in der Lage sein, den Sauerstoff, mit dem wir sie durch das Beatmungsgerät versorgten, an ihre Organe weiterzugeben. Sie würde bald darauf in einen Schockzustand fallen, und der würde einen Teufelskreis für ihre Organe in Gang setzen, der erst zu Ende war, wenn ihr Herz aufhören würde zu schlagen: Herzstillstand und Tod.