Der Tote auf der Treppe - Anne Glenconner - E-Book
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Der Tote auf der Treppe E-Book

Anne Glenconner

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Beschreibung

England, 1950: Lady Anne Coke, gerade achtzehn Jahre alt geworden, kehrt auf das Anwesen ihrer Familie in Norfolk zurück. Ihr geliebter Großvater wurde tot am Fuß der Treppe aufgefunden. Ein tragischer Unfall? Mord? Oder steckt der Hausgeist Lady Mary dahinter, wie es das Küchenpersonal vermutet? In der Tasche des Grafen wird eine wertvolle Halskette entdeckt und in seinem Kalender ein Name: Lavender Crane. Anne ist alarmiert. Sie beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln, gemeinsam mit Charles, einem charmanten Sozialdemokraten. Was die beiden herausfinden, führt sie in die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Damals lebte Anne auf Holkham Hall und wurde von ihrer herrischen Gouvernante Lavender Crane drangsaliert … Imposant wie «Downton Abbey», glamourös wie «The Crown»: Cosy Crime at its best mit viel britischem Flair.

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Seitenzahl: 466

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Anne Glenconner

Der Tote auf der Treppe

Kriminalroman

 

 

Aus dem Englischen von Stefanie Kremer

 

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel «A Haunting at Holkham» bei Hodder & Stoughton/Hachette UK Company, London.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg «A Haunting at Holkham» © Copyright 2021 by Anne Glenconner

Redaktion Anne Nordmann

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg

Coverabbildung Yolande de Kort, Jill Battaglia/Trevillion Images; Shutterstock

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-00952-3

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Meinen Eltern Tommy und Elizabeth, 5. Earl und Countess of Leicester, gewidmet.

1

17. Januar 1950

Dieses verflixte Telefon. Klingelte verlässlich immer dann, wenn Mrs. Rosen gerade keine Hand frei hatte. Die Uhr in der Diele zeigte bereits Viertel nach acht, und sie hatte noch jede Menge zu erledigen, bevor sie um neun den Teewagen ins Wohnzimmer schieben musste. Die Teller vom Abendessen abzuräumen, dauerte stets länger als gedacht. Nach all den Jahren sollte man meinen, sie hätte gewusst, dass die Herren Geschäftsreisenden die Suppe unweigerlich auf dem ganzen Tisch verkleckerten, und doch war sie jedes Mal aufs Neue überrascht.

Sie brauchte einen Moment, um einen Platz zum Ablegen des sauberen Tischtuchs zu finden, bevor sie den Hörer des heiser scheppernden Telefons abnehmen konnte. Der Eingangsbereich quoll über von Wintermänteln, an der Garderobe drängelten sich Schals und Hüte um die verfügbaren Haken, und auf dem Boden türmten sich wegen des diese Woche herrschenden Schmuddelwetters die Gummistiefel und Galoschen.

Der helle Bakelitapparat forderte Mrs. Rosens Aufmerksamkeit mehr klappernd als klingelnd ein, was auch erklärte, weshalb keiner der Herren im Wohnzimmer etwas gehört hatte. Noch so eine Sache, um die man sich dringend mal kümmern müsste. Es gelang Mrs. Rosen, das Tischtuch auf einem wackligen Stapel Zeitschriften zu platzieren, der auf der großen Truhe neben dem Telefon und einem Notizblock auslag. Während sie diesen heiklen Aufbau mit der Hüfte daran hinderte, zu Boden zu rutschen, nahm sie den schweren Hörer ab und hielt ihn sich ans Ohr.

«Scunthorpe 478? Ja, guten Abend …» Aus dem Wohnzimmer ertönte eine Lachsalve als Antwort auf eine gelungene Anekdote. «Bitte entschuldigen Sie, ich habe Sie nicht verstanden. Brauchen Sie ein Zimmer? Es kostet zwei Shilling die Nacht, ein kleines Frühstück, Abendessen und Tee sind inbegriffen. Oh, Verzeihung – einen unserer Gäste? Nein, ich glaube nicht, dass ein Herr namens Cook bei uns zu Gast ist … ach, das schreibt sich C-O-K-E? Verstehe. Nun, beim Abendessen hat mein Mann aufgetragen, während ich in der Küche war, eine junge Dame hat er allerdings nicht erwähnt …» Sie brach ab, um die Person am anderen Ende der Leitung sprechen zu lassen. Plötzlich richtete sie sich kerzengerade auf. Das Tischtuch und die Zeitschriften glitten auf den Linoleumboden, doch sie bemerkte es kaum. «Aber ja, ich verstehe. Wenn Sie sich nur einen Augenblick gedulden wollen, gnädige Frau.»

Just in diesem Moment versuchte Jimmy, Mrs. Rosens Jüngster, an ihr vorbeizuflitzen, doch sie war schneller, packte ihn am Kragen und deutete auf die herabgefallenen Magazine und das Tischtuch. Während er alles aufsammelte, legte sie den Hörer vorsichtig neben das Telefon, löste den Knoten ihrer Schürze und hängte sie zu den Überziehern der Geschäftsreisenden an die Garderobe. Jetzt, wo sie genauer hinsah, entdeckte sie, dass da tatsächlich auch ein Damenmantel hing. Ein hellbrauner Dufflecoat mit großen Knebelknöpfen aus Holz und einem in die Kapuze gesteckten geblümten Schal. Sehr hübsch. Rasch ordnete Mrs. Rosen sich das Haar. Jimmy schaute sie erstaunt an, woraufhin sie ihm einen finsteren Blick zuwarf und auf die Tür zum Esszimmer zeigte. Endlich verstand er und trug das Tischtuch hinein.

Mrs. Rosen öffnete die Wohnzimmertür. Soweit sie erkennen konnte, hatten die Männer sich allesamt dicht um die kleinen Tische geschart, auf denen die Aschenbecher immer voller wurden. Abgesehen vom Tabakduft lag noch ein weiterer Geruch in der Luft, dunkel und scharf – das Odeur der von den Herren benutzten Pomade. Als sie die Pensionswirtin in der Tür sahen, ebbte der Lärm ihrer Gespräche ab.

«Ist Miss Coke hier?», fragte sie, wobei sie auf die korrekte Aussprache achtete, so, dass der Name sich auf ‹Schmuck› reimte. Sie konnte immer noch nicht ganz glauben, dass jemand wie die Gesuchte sich in ihrem Wohnzimmer befinden sollte. Allerdings hatte die vornehme weibliche Stimme am Telefon ziemlich sicher geklungen. «Miss Anne Coke von Holkham Hall?»

Aus dem Meer der im Zimmer versammelten Herrenköpfe tauchte ein schmaler Arm empor, und Mrs. Rosen sah, wie sich eine groß gewachsene, schlanke junge Dame, mehr ein Mädchen eigentlich, nicht älter als siebzehn, mit schulterlangen blonden, ordentlich aus dem Gesicht gekämmten und weich ausgebürsteten Locken zwischen den Geschäftsreisenden erhob, wie eine Venus aus dem Schaum aus Handel und Kommerz. Sie hatte auf dem Ecksofa gesessen und hielt ein Buch in der Hand. Ihr Zeigefinger war zwischen die Seiten geklemmt und markierte die gerade gelesene Stelle.

«Ein Anruf für Sie, Miss Coke. Von Ihrer Mutter, aus Holkham Hall», ergänzte Mrs. Rosen unwillkürlich.

«Haben Sie vielen Dank, Mrs. Rosen», sagte die junge Dame. Die Geschäftsreisenden rückten mit ihren Stühlen beiseite, um sie durchzulassen, und folgten ihr mit den Blicken. Jene, die beim Abendessen mit ihr gesprochen hatten, blickten erkennbar selbstgefällig drein, die anderen, die sie nicht beachtet hatten, nachgerade verwirrt.

«Hier entlang, bitte», sagte Mrs. Rosen und geleitete die junge Dame aus dem Zimmer, als könnte man sich auf dem Weg zum Telefon verlaufen. Sie schloss die Tür zum Wohnzimmer, und die zurückgebliebenen Herren starrten ihnen hinterher.

«Holkham Hall? Ist das nicht so ein gewaltiger Kasten in Norfolk? Der Sitz des Earl of Leicester?» Diese an niemand Bestimmten gerichtete Frage warf ein rothaariger Mann in die Runde, der in Zahnpasta reiste.

«Es liegt an der Küste, einen Steinwurf von Sandringham entfernt», erwiderte ein älterer Herr mit eisengrauem Schnurrbart. «Miss Coke ist die Enkelin des Earl of Leicester.»

«Niemals!», rief der Rotschopf. «Mir hat sie erzählt, ihre Familie würde eine Töpferei betreiben, und sie hoffe, Vasen und Keramikkrüge an die Geschenkartikelläden in Grimsby und Skegness verkaufen zu können!»

«Ganz recht, so ist es.» Der Herr mit dem Eisenschnurrbart, der fand, dass der rothaarige Kerl sich ein bisschen zu sehr aufplusterte, genoss nun dessen verdutzten Blick. «Ich bin mindestens zweimal im Jahr in King’s Lynn. Sie haben die alte Wäscherei von Holkham Hall zu einer Töpferei umgebaut. Machen übrigens wirklich hübsche Sachen, da ist durchaus künstlerisches Geschick vorhanden. Ein nettes kleines Service mit Schneeflockendekor, zum Beispiel.»

In diesem Moment ging die Tür wieder auf, und die junge Dame kehrte zurück. Sie sah, sofern das überhaupt möglich war, noch ein wenig blasser aus als zuvor. Einige Herren erhoben sich.

«Bitte entschuldigen Sie, aber ich habe meine Handtasche auf dem Sofa liegen gelassen. Ob sie mir jemand anreichen könnte?»

Die Handtasche, die eigentlich mehr eine Aktenmappe war, wurde geborgen, und Eisenbart wurde das Privileg zuteil, sie übergeben zu dürfen.

«Hoffentlich keine schlechten Nachrichten, Miss Coke?» Er hatte ein freundliches, onkelhaftes Gesicht. Anne war ihm auf ihren Handelsreisen bereits ein- oder zweimal begegnet, und die Mitteilung, dass sie adliger Herkunft war, hatte er mit ruhiger Höflichkeit aufgenommen, ohne viel Aufhebens darum zu machen. Alles, was er selbst übers Verkaufen wusste, hatte er bereitwillig an sie weitergegeben – die besten Tage für den Besuch bestimmter Geschäfte und wer gern ein Schwätzchen hielt, aber nie etwas kaufte. Samuels, so hieß er. Marcus Samuels. Anne schluckte.

«Leider doch, Mr. Samuels. Mein Großvater ist gestorben. Ich muss sofort nach Hause.»

Die Herren bekundeten murmelnd ihr Beileid, und diejenigen, die rauchten, drückten zum Zeichen des Respekts ihre Zigaretten aus.

«Ich bedaure sehr, das zu hören», sagte Mr. Samuels. «Er war ein echter Gentleman. Und Sie sind sicher, dass Sie noch heute Abend nach Hause fahren wollen, Lady Anne?»

Als er sie mit ‹Lady› ansprach, weiteten sich ihre blauen Augen. Eine Kleinigkeit nur, dieser neue Titel, und doch bedeutete er eine gewaltige Veränderung.

«Es ist mir ein Bedürfnis.»

Er nickte. «Dann lassen wir Sie selbstverständlich packen. Aber vielleicht können die hier versammelten Herren und ich Ihnen währenddessen eine Liste mit nützlichen Telefonnummern und einigen Namen zusammenstellen. Werkstätten und Pensionen auf Ihrer Route, nur für den Fall, dass Ihr kleiner Wagen Ihnen Probleme bereitet. Das ist doch Ihr Wagen, der Morris Minor, oder?» Sie nickte. «Und Sie fahren vermutlich über Sleaford und Holbeach, nicht wahr? Da kriegen wir schon ein paar Adressen zusammen, was meint ihr, Jungs?»

Die Jungs waren sich da ganz sicher.

«Wie freundlich von Ihnen.»

«Es ist uns ein Vergnügen, Mylady.»

«Haben Sie vielen Dank», erwiderte sie, bekam aber selbst kaum mehr mit, was sie sagte. Sie zog sich zurück, um mit Mrs. Rosen zu sprechen und ihre Sachen zu packen.

«Jetzt erkenne ich’s natürlich», verkündete der Rotschopf. «Das blaue Blut.»

Mr. Samuels schnaufte vielsagend und zog sein Notizbuch aus der Tasche.

«Also dann, Gentlemen. Sorgen wir dafür, dass Lady Anne sicher und wohlbehalten nach Hause kommt.»

 

Anne ging auf ihr Zimmer und begann, ihre paar Habseligkeiten zusammenzupacken. Der Koffer mit den sorgfältig in Zeitungspapier eingeschlagenen Mustern aus der Töpferei befand sich ohnehin noch im Wagen. Plötzlich aber sank sie unvermittelt auf das schmale Bett, den Beutel mit ihren Toilettenartikeln auf den Knien.

«Ach Grandpa!»

Ein Sturz, hatte ihre Mutter am Telefon gesagt, Großvater habe auf der Treppe vom Kapellentrakt hinab zur Waffenkammer den Halt verloren. Wie hatte das nur passieren können? Er kannte jeden Stein und jede Stufe von Holkham Hall, jeden Riss in der Mauer und jede blank gewischte Fliese. Hatte ihre Mutter etwas von einem Schlaganfall erwähnt? Aber war Grandpa mit nicht einmal siebzig Jahren nicht zu jung für so etwas? Zum Earl war er erst 1941 geworden, als sein eigener Vater im Alter von dreiundneunzig Jahren gestorben war. Für Anne war ihr Großvater ein Mann in seinen besten Jahren gewesen, und bei ihrer Abreise aus Holkham vor drei Tagen hatte er vollkommen gesund gewirkt. Er hatte die letzten Wochen der Jagdsaison in vollen Zügen genossen. Während Anne, ihre Schwester und ihre Mutter gegenüber in der Töpferei arbeiteten, hatte Grandpa die Wildkammer mit Fasanen gefüllt. Die Frauen hatten ihr eigenes Tagwerk nach dem Knallen der Gewehre und dem entfernten Rauschen der aufflatternden Jungvögel rund um den Küchengarten ausgerichtet.

Anne merkte, dass ihre Tränen auf das lederne Necessaire gefallen waren, und wischte sie fort, bevor sich Flecken bilden konnten. Nun war Dad der Earl. Jetzt schon! Bestimmt war er am Boden zerstört. Seit dem Krieg war er so nervös; alle Tagesroutinen mussten peinlichst genau eingehalten werden, als flöge ihnen der gesamte Haushalt um die Ohren, wenn einer von ihnen einmal nicht Punkt acht Uhr zum Abendessen erschien. Nun drohten neue Erbschaftssteuern, und er wusste sicher kaum noch, wo ihm der Kopf stand. Doch das Allerschlimmste: Wie würde sich Holkham Hall ohne Grandpa anfühlen?

Anne hob den Kopf. Was auch geschehen war, was auch geschehen würde, hier herumzusitzen, half jedenfalls niemandem weiter. Sie packte Waschzeug, Haarbürsten, ihr Nachthemd und die Seidenstrümpfe ein und ließ die Schlösser des Koffers zuschnappen. Dann griff sie nach der Aktenmappe und trug alles zusammen nach unten, wo sie ihren Mantel, den Schal und die Beileidsbekundungen der dort versammelten Handlungsreisenden entgegennahm.

2

Die Fahrt war lang und kalt. Anne war mit dem kleinen Wagen ihrer Mutter unterwegs – einer alten Klapperkiste, deren Kupplung gern mal hakte und in der es fürchterlich zog. Aber sie konnte ja schlecht im Bentley ihres Vaters auf Verkaufstour gehen. Sie konzentrierte sich auf die Straße.

Das mit der Töpferei war die Idee ihrer Mutter gewesen. Nachdem sie und Dad Weihnachten 1943 endlich aus Ägypten heimgekehrt waren, hatte Elizabeth, Viscountess Coke, einen der italienischen Kriegsgefangenen dabei beobachtet, wie er in der Ziegelei von Holkham auf einer selbst gemachten Töpferscheibe einen Krug aus Ton anfertigte. Und als sie sich nach Kriegsende nicht mehr um die Frauen kümmern musste, die zur Feldarbeit zu ihnen aufs Land geschickt worden waren, und die ganze Nation aus dem Siegestaumel in die kalte Dämmerung der kargen Nachkriegsverhältnisse gestoßen wurde, fielen ihr der Kriegsgefangene und sein Krug wieder ein. Lady Coke erkannte die Gelegenheit, etwas Geld zu verdienen – was weiß Gott bitter nötig war –, und ergriff sie. So wurde die alte Wäscherei zu dem, was Annes Vater den ‹Töpferschuppen› nannte. Seitdem stellte Lady Coke zusammen mit Annes Schwester Carey und einem halben Dutzend Handwerkern dort Becher, Schalen, Vasen und Krüge her, die stolz den Stempel von Holkham trugen. Anfangs hatte Anne in der Töpferei mitgeholfen, doch das Glätten und Wässern hatte sie so gelangweilt, dass sie um eine andere Aufgabe gebeten hatte. Wie wäre es mit Verkaufen? Zu den Handelsmessen konnten sie zu dritt reisen, doch jemand musste auch Klinken putzen und die Geschenkartikelläden in den Küstenstädtchen abklappern.

Ihr Vater hatte eingewandt, dass Anne zu jung dafür sei, doch ihre Mutter erklärte, die Erfahrung würde Anne abhärten, was angesichts ihrer bevorstehenden Einführung in die Gesellschaft nicht das Schlechteste war. Lady Coke hatte sich durchgesetzt, und Anne stellte zu ihrer Freude fest, dass sie eine ziemlich gute Verkäuferin war. Die Ausbildung, die sie als adelige junge Dame genossen hatte, hatte sie gelehrt, wie man jedem nur denkbaren Menschenschlag ungezwungen und liebenswürdig begegnete, auch wenn man eigentlich eher scheu und zurückhaltend war. Außerdem hatte sie gelernt, klar auszudrücken, was sie brauchte und wollte, und, wenn nötig, eine gewisse Härte an den Tag zu legen. Nicht wenige Geschäftsinhaber hielten es für ein Kinderspiel, in den Verhandlungen mit diesem zart aussehenden jungen Mädchen vorteilhafte Bedingungen für sich selbst herauszuschlagen. Am Ende bestellten sie alle deutlich mehr als geplant, zu deutlich höheren Preisen als beabsichtigt, und bedankten sich danach bei Miss Coke auch noch für das gute Geschäft.

Ihre Konzentration auf die Straße, die Sorge, ob das Benzin reichen würde, und das angestrengte Lauschen auf jedes Klappern und Rattern des kleinen Wagens hielten Annes Kummer in Schach. Die Tatsache, dass ihr Großvater tot war, lag gewissermaßen dort draußen im Dunkeln, außerhalb der Fahrerkabine. Doch dann, als es bereits dämmerte und sie auf der High Street durch Holbeach fuhr, erkannte sie plötzlich ihre Umgebung wieder: die vor ihr aufragende achthundert Jahre alte prächtige Pfarrkirche und die Fassaden all der Läden, geschlossen und schweigend. Sie begriff, dass sie nur noch fünfzig Meilen von zu Hause entfernt war, und mit dem zunehmenden Tageslicht kehrte auch der Grund für die lange nächtliche Autofahrt in ihr Bewusstsein zurück. Sie bog von der Hauptstraße ab und hielt vor der Kirche, nicht ohne dem menschenleeren Ort diese Absicht durch das entsprechende Blinkzeichen mitzuteilen. Nachdem sie den Motor ausgemacht und die Handbremse angezogen hatte, bedeckte sie das Gesicht mit den Händen und ließ den Tränen freien Lauf, nach denen ihr Herz sich schon seit dem Moment am Telefon in Mrs. Rosens Pension gesehnt hatte.

Nur zehn Minuten, sagte sie sich, einmal herzhaft weinen, dann wäre sie bereit, sich den Bewohnern von Holkham Hall zu stellen. Ihr Vater war sicher hin- und hergerissen zwischen seiner Trauer und der Aufgabe, sich ab jetzt allein um das Anwesen kümmern zu müssen; ihre Mutter und Schwester sprachen bestimmt den Bediensteten gut zu, die dem alten Earl alle treu ergeben gewesen waren. Ob schon jemand den König informiert hatte? Doch, natürlich, ihr Vater hatte ihn gewiss sofort benachrichtigt. Wann begannen wohl die Kondolenzbesuche? Ein Sturz. Ihr Großvater war gestürzt, und Maria hatte ihn gefunden. Anne versuchte, sich an die Worte zu erinnern, die sie als Letztes mit ihm gewechselt hatte. Selbstverständlich hatte sie ihn vor ihrer Abreise aufgesucht, um sich zu verabschieden. Er war mit Mr. Mullins, dem Archivar und Bibliothekar von Holkham, in der Bibliothek mit den mittelalterlichen Handschriften im Familientrakt gewesen. Sie hatten die Köpfe einträchtig wie immer tief über einem alten Band zusammengesteckt. Der Abschied war so banal gewesen, so kurz. Grandpa hatte ihr viel Glück gewünscht und sie ermahnt, vorsichtig zu fahren, was sie sowieso immer tat, doch seine Aufmerksamkeit hatte weiter der Begutachtung des vor ihm liegenden Buchs gegolten.

Anne holte ihr Taschentuch hervor und trocknete sich die Tränen, prüfte im Rückspiegel, ob ihr geblümtes Kopftuch noch ordentlich saß, und stieg dann aus dem Wagen. Sie brauchte jetzt frische Luft im Gesicht, kühle, vom Salz prickelnde Nordseeluft. Dabei betrachtete sie den herrlichen, grenzenlosen Himmel über Norfolk, der von keinem Hügel und keinem Berg unterbrochen wurde, und die im Osten aufgehende Sonne, eine kalte, blassgoldene Scheibe, die sich jetzt über den Horizont schob und den Nebel aus den weiten Marschen schmolz. Hier hatten die Fischer schon in der Bronzezeit Aale gefangen, genau wie ihre Nachkommen es heute noch taten, und King John hatte seinen Kronschatz in den Wassermassen verloren. Sie sollte froh sein, ihren Großvater so in Erinnerung zu behalten, vertieft in seine Schätze und mit seiner Hand an der Stelle, wo einst die eines alten Meisters gelegen hatte, durch Papier und Tinte über all die Meere der Zeit einen Augenblick lang mit einem unbekannten Buchmaler aus dem vierzehnten Jahrhundert verbunden.

Anne stieg wieder in ihren kleinen Wagen und bog zurück auf die Straße. Während sie durch King’s Lynn und weiter Richtung Holkham fuhr, wurde das Klappern und Keuchen des Motors immer lauter.

 

Nachdem sie King’s Lynn durchquert hatte, konnte sie die ersten Fischerboote erkennen, die aufs Meer hinausfuhren, um die ruhigen Morgenstunden zu nutzen. Die Geräusche des Motors erinnerten mittlerweile an eine akute Bronchitis. Sie beschwor den Wagen durchzuhalten, und der Gedanke, sie könnte liegen bleiben, versetzte sie mehr und mehr in Unruhe. Nein. Nicht jetzt. Sie würde jetzt keinen ihrer panikartigen Anfälle kriegen. Sie musste es nur noch bis nach Hause schaffen. Ihre Hände umklammerten das Lenkrad fester, als könnte das helfen. Doch dann, kurz vor Docking, gab der Motor den Geist auf. Zehn Meilen! Mehr nicht! Wieder und wieder drehte sie den Schlüssel im Zündschloss und trat die Kupplung durch, bis aus dem Treten ein Stampfen wurde und Frustration und Panik sie überwältigten.

«Ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Idee ist.»

Die Männerstimme an ihrem Beifahrerfenster ließ sie zusammenzucken. Sie fuhr sich mit der Hand an die Kehle und blickte nach links, um zu sehen, wer sie da angesprochen hatte. Immerhin hatte die Stimme sie aus ihrem Panikstrudel herausgerissen; augenblicklich gewann sie die Fassung zurück, als hätte sie einfach ihre alte Haut wieder übergestreift.

Ein noch recht junger Mann, Ende zwanzig vielleicht, in einem dicken Pullover und trotz der kühlen Morgenluft ohne Mütze auf dem etwas zu langen blonden Haar, beugte sich herab und schaute durchs Fenster zu ihr herein.

«Ich weiß», sagte sie. «Ach, verdammt! Der Motor gibt keinen Mucks mehr von sich, dabei bin ich doch fast schon zu Hause!»

Der Mann richtete sich auf und warf einen Blick die schmale Straße hinunter. Dabei bemerkte Anne, dass die Tür zu einem der kleinen Steinhäuser an der Cross Lane offen stand. Der Mann musste das letzte Röcheln ihres Motors gehört haben, als er beim Frühstück saß.

«Tja, Sie haben da wohl einen Motorschaden. Allerdings dürfen wir Sie nicht die Straße blockieren lassen, sonst kriegt der alte George einen Anfall, wenn er mit seinem Karren hier entlang will. Wenn Sie den Gang rausnehmen, kann ich Sie anschieben und wir bugsieren Ihren Wagen erst einmal an den Straßenrand.»

Anne riss sich zusammen. «Ja, vielen Dank.»

Sie schaltete in den Leerlauf und fragte sich gerade, ob sie aussteigen und schieben helfen sollte, während sie durch die offene Fahrertür lenkte, da hatte sich das Auto bereits in Bewegung gesetzt. Sie drehte am Steuer, und der Wagen rollte klaglos auf den Grasstreifen gleich gegenüber den kleinen Cottages.

Und jetzt? Wenn der Mann ein Telefon hatte, könnte sie vielleicht in Holkham Hall anrufen und Smith bitten, sie abzuholen. Allerdings besaß er wahrscheinlich keins. Die meisten Menschen in der Gegend von Holkham beäugten die Apparate mit Argwohn. Mrs. Pullen, eine der Angestellten aus dem Dorf, hatte Anne einmal erklärt, sie wolle kein Telefon im Haus haben, weil die Leute es ja doch nur benutzten, um einem schlechte Neuigkeiten zu übermitteln. Und wer wolle das schon? Ganz unrecht hatte sie damit wohl nicht.

Anne stieg wieder aus dem Wagen und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Kurz nach acht Uhr in der Früh.

«Wo wohnen Sie denn?», fragte der Mann, während er sich die Hände abwischte. «Wenn Sie es eilig haben, kann ich Sie nach Hause fahren. Andererseits macht die Werkstatt in der Pound Lane in einer Stunde auf, und Mike kann den Motor bestimmt wieder zusammenflicken, wenn Sie lieber warten möchten.»

«Ich wohne in Holkham Hall», sagte Anne, «und möchte gern so schnell wie möglich nach Hause.»

In seinen Augen blitzte eine Erkenntnis auf. «Oh! Sind Sie eine von den Enkelinnen? Ich habe gestern Abend im Pub vom Tod des alten Earl erfahren. Mein Beileid.»

«Herzlichen Dank.» Sie reichte ihm die Hand. «Ich heiße Anne Coke.»

Er betrachtete ihre Handschuhe und dann seine eigenen, vom Anschieben des Wagens noch immer staubigen Hände. «Charles Elwood. Ich habe derzeit eins der Cottages Ihrer Familie gemietet. Ich wasche mir nur schnell Hände und Gesicht, dann fahre ich Sie nach Holkham Hall. Und sobald ich zurück bin, sage ich Mike, er soll sich um die alte Klapperkiste kümmern.»

Damit drehte er sich um und lief zu seinem Häuschen.

«Vielen Dank, Mr. Elwood!», rief Anne ihm hinterher.

Er hob die Hand, blickte sich beim Betreten des Cottages aber nicht mehr um.

Elwood? Er war nicht von hier. Das Häuschen, in dem er wohnte, hatte seit dem Krieg leer gestanden und war genau wie die beiden Häuser daneben reichlich baufällig. Ihr Großvater hatte vorgehabt, sich darum zu kümmern, sobald die neuen Cottages in Burnham Thorpe fertig waren.

Sie reckte leicht den Hals, um durch das Wohnzimmerfenster zu spähen, und sah eine eher spärliche Möblierung. Stand da etwa eine Staffelei?

Da tauchte der Mann schon wieder auf und wirbelte seinen Autoschlüssel um die langen Finger.

«Brauchen Sie noch etwas aus Ihrem Wagen? Eine Reisetasche vielleicht?»

Sie errötete. «Ja, natürlich.»

«Dann hole ich inzwischen mein Auto.»

 

Er fuhr einen kleinen Ford Anglia, der die letzten Meilen nach Holkham enthusiastisch knatternd bewältigte.

Jetzt, wo sie nicht mehr selbst am Steuer saß, merkte Anne erst, wie müde sie war. Sie zog den geblümten Schal vom Kopf und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, im Versuch, sich ein wenig zurechtzumachen.

«Standen Sie Ihrem Großvater sehr nahe?», erkundigte sich Charles.

«Oh ja. Vor allem, als ich noch ein Kind war. Ich habe ihn sehr bewundert. Zu Kriegsbeginn wurden meine Schwester Carey und ich hoch nach Schottland verfrachtet, zu meinen Cousins. 1943 bekam Carey dann die Masern, und weil Mum und Dad ohnehin bald nach Norfolk zurückkehren wollten, wurde ich nach Holkham vorausgeschickt. So war ich nicht im Weg, während Carey sich erholte.

Wie kommt es, dass Sie in einem der Holkham-Häuser wohnen?», wechselte sie das Thema.

«Während des Kriegs war ich bei der Schottischen Garde. Nachdem ich aus dem Dienst entlassen wurde, bin ich nach England zurückgekehrt und habe an der Kunsthochschule studiert. Dann habe ich einen Ort gesucht, an dem ich malen konnte. Ein alter Freund aus der Garde meinte, Ihre Familie hätte da ein paar Häuschen, die sie günstig vermieten würde, und da bin ich nun.»

Anne runzelte die Stirn. «Haben Sie etwa den Winter hier verbracht? Das muss ganz schön hart gewesen sein.»

«In Italien habe ich genug Hitze für den Rest meines Lebens abbekommen. Außerdem sind meine Bedürfnisse zum Glück recht bescheiden.»

Etwas an seinem trockenen Tonfall warf die Räder in Annes Kopf an, und plötzlich machte es ‹klick›.

«Ach, dann sind Sie der Kommunist! Von Ihnen habe ich schon gehört. Dad meinte, Sie hätten sich tapfer geschlagen im Krieg, seien dann aber auf komische Ideen gebracht worden.»

«Ja, aber zum Glück hat er das mit den komischen Ideen erst erfahren, nachdem er zugestimmt hatte, mir das Cottage für ein Jahr zu vermieten. Und wenn Sie mit ‹tapfer geschlagen› meinen, dass ich weder gefallen noch desertiert bin, kann man das wohl so stehen lassen. Nennen Sie Ihren Vater wirklich ‹Dad›? Ich hätte angenommen, Sie würden ihn Vater nennen oder Papa.»

Anne stellte sofort die Stacheln auf. «Ich lebe in Holkham, nicht in einem Roman von P. G. Wodehouse.»

«Wäre ein einfaches Kind der Arbeiterklasse wie ich denn überhaupt in der Lage, den Unterschied zu erkennen?»

«Sie klingen nicht nach einem einfachen Kind der Arbeiterklasse.»

«Meine Mutter hat dafür gesorgt, dass ich meine Aussprache an den Nachrichtensendungen im Radio schule, damit ich später mal einen guten Job bekomme.» In seiner Stimme lag Bitterkeit. «Ich glaube, sie hätte mich gern als Butler gesehen. Außerdem bin ich kein Kommunist, sondern demokratischer Sozialist. Was heutzutage übrigens jeder halbwegs intelligente Mensch in diesem Land ist. Wie könnte man nach den vergangenen fünfzig Jahren auch noch irgendetwas anderes sein? Familien wie Ihre haben Familien wie meine jahrhundertelang unterdrückt. Tja, Sie hätten uns eben nie erlauben dürfen, zur Schule zu gehen.»

«Dann wird es Sie sicher freuen, zu hören, dass meine Familie durch die zweite Runde Erbschaftssteuern innerhalb eines Jahrzehnts nun vermutlich vollends ruiniert ist. Gestern ist nämlich mein Großvater gestorben. Ich dachte, das hätten wir vorhin kurz erwähnt.»

Charles wurde rot und verstummte, während Anne außer sich vor Wut aus dem Fenster auf die vorüberziehenden Hecken starrte.

Charles räusperte sich. «Es tut mir sehr leid, Miss Coke. Mein kleiner Ausbruch gerade ist unverzeihlich. Ich bin einfach zu oft allein. Ärgere mich im Stillen über das Klassensystem und lasse es dann an Ihnen aus.»

«Ist schon gut», erwiderte sie knapp.

«Ist es natürlich nicht, aber danke, dass Sie das sagen.»

Sie war absolut nicht dazu aufgelegt, ihm jetzt schon zu vergeben. Während sie heftig blinzelnd hinaus auf die kahlen Felder starrte und die Hitze in ihren Wangen spürte, tauchten zu ihrer Linken plötzlich die Steinmauern von Holkham Hall auf und liefen wie ein Willkommensgruß neben ihnen her. Der Pförtner in der Südloge hatte den Wagen gehört und die Eisentore zu der von Bäumen gesäumten Auffahrt bereits für sie geöffnet; jetzt winkte er sie herein. Charles fuhr langsam hindurch und hob die Hand zum Dank.

«Ich bin zum Malen heimgekehrt, nicht zum Predigen. Im Moment sitze ich irgendwie zwischen allen Stühlen. In London halten sie mich für einen fanatischen Kriegstreiber und hier bin ich für die Leute entweder ein Bohemien oder ein Kommunist. Das war ein ziemlich einsamer Winter. Doch gestern Abend im Pub haben alle mit den wärmsten Worten von Ihrem Großvater gesprochen. Sein Loblied singen zu können, war es offenbar sogar wert, sich mit mir zu unterhalten.»

«Und, haben Sie denen auch Ihre Meinung über das englische Klassensystem kundgetan?», fragte sie.

«Nein, ich dachte, das spare ich mir lieber für eine wüste Schimpftirade vor einer seiner trauernden Angehörigen auf!», gab er kopfschüttelnd zurück. Sie musste lächeln.

Langsam fuhren sie die Allee hoch, über die sanften Unebenheiten des Bodens schnurgerade auf den Obelisken zu, dessen Spitze unbeirrt in den grauen, leeren Himmel ragte.

Dann waren sie oben, und so weit das Auge reichte, war dies alles Annes Zuhause. Charles stieß einen Pfiff aus.

Das Morgenlicht ließ Holkham Hall in seiner ganzen palladianischen Pracht erstrahlen – eine massive Front aus cremefarbenem Stein, die das Land mit dem Himmel verband, der große südliche Portikus mit den gewaltigen korinthischen Säulen, flankiert vom Kapellen- und Familienflügel, ein jeder gegliedert in drei gleichmäßige Abschnitte. Die gesamte Fassade verströmte eine erhabene, rhythmische Symmetrie, die durch den See im Westen und den Wintergarten im Osten abgerundet wurde.

Die Auffahrtsallee wand sich von hier aus den Hügel hinab auf Holkham Hall zu, und jetzt konnte man auch die Stufen vor dem Herrenhaus und den Brunnen sehen, wo der heilige Georg gerade das Schwert erhob, um einen Drachen zu töten, aus dessen Maul Wasser sprudelte, während Schwäne, Muscheln und Delphine um ihn herum gewaltige bogenförmige Wassersäulen gen Himmel sandten.

Elwood bemerkte eine kleine Menschenansammlung, die sich an der einen Seite des Hauses gebildet hatte. Männer in Ausgehjacken und Frauen mit Hüten und Handschuhen.

«Wer sind die alle?», fragte er.

Anne blickte aus dem Fenster. «Das sind einige von unseren Pächtern. Sie sind sicher gekommen, um Großvater die letzte Ehre zu erweisen.»

«Verstehe.»

Die Auffahrt führte um die Südfassade herum, am See vorbei und endete schließlich vor der Nordseite des Herrenhauses.

«Wo darf ich Sie absetzen?», fragte er schlicht.

«Hier wäre es gut, Mr. Elwood.»

Die Autoreifen knirschten auf dem Kies, als er die letzte Kurve zum Portal hin nahm. Während er einen Blick hoch auf die großen Steinlöwen warf, brachte er den Wagen weich zum Stehen.

Anne stieg aus und fischte ihren Koffer vom Rücksitz. Shreeve, der Butler, erwartete sie bereits und stand mit hinter dem Rücken verschränkten Händen am oberen Ende der flachen Steinstufen.

«Ich kümmere mich um Ihren Wagen», sagte Charles. «Bitte verschwenden Sie heute keinen weiteren Gedanken daran.»

Sie zog den Autoschlüssel aus der Tasche ihres Dufflecoats und reichte ihn dem jungen Mann.

«Das ist sehr freundlich von Ihnen, danke sehr. Und vielen Dank auch, dass Sie mich nach Hause gefahren haben.» Sie nahm ihren Koffer und die Aktenmappe und ging zur Treppe. Charles blickte der schlanken Gestalt nach, bis sie im Herrenhaus verschwunden war.

3

«Hatten Sie Ärger mit dem Wagen, Lady Anne?», erkundigte sich Shreeve, während er ihr den Koffer abnahm und die Tür vom Vestibül in die Marmorhalle öffnete.

«Ja, aber ganz in der Nähe, und Mr. Elwood hat sich erboten, sich darum zu kümmern. Wo ist Mum?»

«Lady Leicester hat soeben gefrühstückt und ist jetzt in ihrem Salon. Lady Carey ist in die Töpferei gegangen, und Ihr Vater», er legte eine kleine Pause ein, «Ihr Vater spricht gerade mit dem Captain und Reverend Howard. Möchten Sie Ihren Großvater sehen, Lady Anne?»

«An der Terrasse stehen die Leute schon Schlange, um sich von ihm zu verabschieden.»

«Ihre Mutter hat das Kondolenzbuch am Eingang zur Kapelle auslegen lassen, aber noch haben wir den Pächtern die Türen nicht geöffnet.»

«Danke Ihnen. Ja, ich würde ihn gern sehen. Aber wie geht es allen? Wie geht es Ihnen, Shreeve?»

Er blinzelte. «Es geht schon, Mylady. Es geht schon.» Einen Augenblick lang hatte es den Anschein, als wollte er noch etwas hinzufügen, dann aber entschied er sich anders.

Anne zog Handschuhe und Mantel aus und reichte sie ihm. «Nachdem ich bei Grandpa war, gehe ich zu Mum», erklärte sie. «Wenn Sie ihr bitte Bescheid sagen würden, dass ich in ein paar Minuten bei ihr bin.»

Shreeve nickte, und Anne verließ linker Hand die Marmorhalle, wandte sich dann nach rechts, in Richtung Kapelle, und nahm den Gang zwischen Peristyl und den Dienstzimmern des Butlers. Im Vorraum zur Kapelle warfen Annes Ahnen forschende Blicke von den Wänden auf sie herab. Sie legte die Hand auf die Klinke, holte tief Luft und trat ein.

Die Kapelle war hoch, schmal und lichtdurchflutet, mit Mauern, die bis hinauf zur Empore mit rotem und weißem Alabaster verkleidet waren. Darüber erhob sich eine weiß verputzte zweite Ebene mit Fenstern bis unters Dach. Über dem Altar hing ein weich konturiertes Meisterwerk von Guido Reni, die Jungfrau Maria im vom Himmel herabfallenden Licht, das ihr fließendes Haar zum Leuchten brachte, die Hände weit geöffnet in Erwartung und Erstaunen. Flankiert wurde sie von der heiligen Cäcilia und der heiligen Anne. Ein weibliches Triumvirat, das über einen sehr männerdominierten Haushalt wachen sollte, dessen Mitglieder so verzweifelt um Söhne beteten. Vielleicht hätte die Familie andere Heilige wählen sollen. Anne hatte zwei Schwestern, Carey, die nur zwei Jahre jünger war als sie selbst, und die gegen Kriegsende geborene Sarah, das von der ganzen Familie innig geliebte Nesthäkchen – und zugleich ihre größte Enttäuschung.

Annes Vater war nun der fünfte Earl of Leicester. Mit seinem Tod würden Titel und Ländereien auf seinen Cousin dritten Grades übergehen, einen Mann, den keiner von ihnen kannte und der in Südafrika lebte. Dieses Wissen hatte Grandpa großen Kummer bereitet, auch wenn er die kleine Sarah nicht weniger geliebt hatte als sie alle. Armer Grandpa.

Der vierte Earl of Leicester of Holkham, Thomas William Coke, Ritter des Order of St. John, Lord Lieutenant of Norfolk, lag, das Haupt zum Altar hin ausgerichtet, in der Mitte der Kapelle wie auf einem Bett, die Hände über der Brust gekreuzt. Die Kirchenbänke waren allesamt hinausgeräumt, wodurch die Kapelle sehr still und leer wirkte. Links und rechts neben dem Altar standen John Hope und Peter Franklin, zwei der Gärtner. Sie trugen gestärkte weiße Hemden und sonntägliche Jacketts und blickten mit gesenkten Köpfen auf den Toten nieder.

Als Anne hereinkam und ihnen zunickte, sahen sie kaum auf. Keiner sprach ein Wort, während sie den Mittelgang hochschritt, stehen blieb und auf das Gesicht ihres Großvaters hinabschaute. Er war tot, das erkannte sie sofort. Der Körper dort vor ihr war nur noch eine Erinnerung an ihn, als würde man sich ein Porträt ansehen oder ein Foto anstelle des Mannes selbst. Er hatte ein schmales Gesicht, wie sein Sohn, dieselbe hohe Stirn, einen sorgfältig getrimmten Schnauzbart. Anne berührte seine langen Finger, die Finger eines Musikers, beugte sich hinab und küsste ihn auf die Stirn, dann, ihre Hand noch immer auf der seinen, neigte auch sie den Kopf und betete für ihn. Doch ihre Gebete bestanden in diesem Augenblick nicht aus Wörtern, sondern aus den auf sie einstürzenden Bildern aus seinem Leben: wie er auf dem mächtigen Grammophon aus Eichenholz in der Statuengalerie Schallplatten abspielte; wie er hitzig mit den Gärtnern diskutierte und seine Stimme von den Backsteinwänden widerhallte; wie er sorgenvoll über den Rechnungsbüchern saß; wie er voller Wärme und Vergnügen über Holkham Hall sprach, über die Kunstwerke und Schätze, die die Wände säumten und jede Nische und jedes Bücherregal füllten und sich auf jedem Tischchen türmten.

Anne hob den Kopf, strich ihm noch ein letztes Mal mit den Fingerspitzen über die Wange und überließ ihn dann den Kerzen und frischen Blumen und seinen stummen Wächtern, um zu ihrer Mutter zu gehen.

Shreeve hatte gewartet, bis sie fertig war. Sie hörte, wie hinter ihr die Türen zum Eingangskorridor geöffnet wurden, hörte das Gemurmel der draußen wartenden Trauergäste, das Hüsteln und Räuspern der Menschen aus dem Ort und von den Ländereien. Die Pächter von Holkhams zwanzigtausend Hektar Land wollten sich persönlich von Lord Leicester verabschieden.

 

Anne traf ihre Mutter in deren Salon an. Lady Leicester, bereits in ihren Töpfereikittel gekleidet, saß mit dem Füllfederhalter in der Hand am Schreibtisch und starrte hinaus in die Gartenanlagen. Der Briefbogen, der vor ihr lag, war leer.

«Mum?»

So angesprochen, sprang sie auf und durchquerte mit schnellen Schritten das Zimmer, um ihre Tochter fest in die Arme zu schließen.

«Anne, du siehst vollkommen erschöpft aus! Du musst die ganze Nacht durchgefahren sein! Das hättest du nicht tun sollen – auch wenn ich heilfroh darüber bin. Das alles ist so unsagbar traurig. Shreeve hat uns Tee bringen lassen, Gott segne ihn, und Brot und Butter. Komm her, setz dich. Es sind bereits viele Kondolenzschreiben eingetroffen, und dein Vater zerbricht sich den Kopf über die Anzeige in der Times. Was für eine Katastrophe – dein Großvater ist erst seit ein paar Stunden tot, aber ich vermisse ihn schon jetzt ganz entsetzlich.»

Sie führte ihre Tochter zu den Sesseln vor dem Kamin und schob ihr Tee und Brot hin. Lady Leicester war bei Annes Geburt erst neunzehn gewesen und benahm sich manchmal mehr wie eine große Schwester als wie eine Mutter. Vor allem kurz nach dem Krieg, als Anne noch zur Schule ging, war es so gewesen – einmal hatte Lady Leicester ihre beiden älteren Töchter dazu angestachelt, auf jeden einzelnen Baum der Zufahrtsallee zu klettern.

«Was genau ist denn eigentlich geschehen, Mum?», fragte Anne. Der Tee war stark und tat ihr sehr gut.

«Das wissen wir auch nicht, Liebes. Was alles nur noch schlimmer macht. Maria hat ihn gestern Morgen am Fuß der Treppe gefunden, und wir haben keine Ahnung, wie lange er dort schon gelegen hat.»

Sie sah ihre Tochter aufmerksam an.

«Es tut mir so leid, dass es so lange gedauert hat, dich zu informieren, Anne, aber ich habe ewig nach deinem Routenplan gesucht, und die ganze Zeit über wimmelte es in Holkham Hall von Ärzten und Polizisten.»

«Polizisten?», fragte Anne.

«Ja, weil es ein so plötzlicher Todesfall war, weißt du. Aber es ist ja offensichtlich, dass er auf den Stufen ausgerutscht und unglücklich gestürzt ist. Die Beamten waren sehr respektvoll, trotzdem hat dein Vater sie recht unsanft aus dem Haus komplimentiert. Die Feststellung der Todesursache wird wohl eine reine Formalität.»

Anne ließ Brot und Butter sinken, ihr war der Appetit vergangen. «Ich muss die ganze Zeit daran denken, dass ich nichts ahnend durch Scunthorpe spaziert bin und den Händlern fröhlich unsere Waren aufgeschwatzt habe, während Grandpa schon längst tot war.»

«Das weiß ich doch, Liebes. Es tut mir wirklich leid, aber es lässt sich nicht mehr ändern. Hör zu, ich erzähle es dir lieber gleich. Maria gibt Lady Mary die Schuld. Sie schwört, sie hätte letzte Woche eine weiße Katze im Keller gesehen, und behauptet jetzt, das wäre ein Omen gewesen.»

«Sie glaubt, unser Gespenst hätte Grandpa umgebracht?»

«Du weißt doch, dass Lady Mary einem manchmal schreckliche Streiche spielt. Als wir während des Kriegs aus Ägypten heimgekehrt sind, hattest du auch entsetzliche Angst vor ihr. Damals habe ich mir große Sorgen um dich gemacht. Du warst ganz schön wunderlich geworden in der Zeit, die du allein mit Großvater und Lady Mary hier verbracht hattest.»

Anne wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte, und trank einen Schluck Tee.

«Und er hat dich auch noch ermutigt!», stieß Lady Leicester grimmig hervor.

«Es hat mir Spaß gemacht, alles über sie in Erfahrung zu bringen, Mum.»

«Carey erzählt, dass Lady Mary sie in den Gängen rund um den Küchentrakt immer noch hin und wieder schubst. Gott sei Dank ist sie nie bis zur Töpferei vorgedrungen. Ist vermutlich unter ihrer Würde, in der alten Wäscherei zu spuken.» Mit zusammengekniffenen Augen starrte Lady Leicester vor sich in die Luft. «Denk dran, wenn du je einen meiner Krüge zerbrichst, lasse ich den Vikar kommen und dich exorzieren!»

Anne lächelte.

«Ach übrigens, was hast du eigentlich mit meinem Wagen angestellt? Shreeve meinte, du hättest Probleme gehabt?»

«Ich bin bis Docking gekommen, dann hat der Motor den Geist aufgegeben. Die letzten paar Meilen hat mich so ein Künstler gefahren, der eins unserer Cottages gemietet hat.»

«Ach ja, Charles Elwood! Dein Vater glaubt, Elwood wolle alle Dorfbewohner zum Kommunismus bekehren.»

«Offenbar ist er ein demokratischer Sozialist. Doch allem Anschein nach hat er noch niemanden erfolgreich bekehrt.»

Ihre Mutter zog die Nase kraus. «Das freut mich zu hören! Ein Kriegskamerad deines Vaters hat ihn empfohlen, weshalb wir davon ausgegangen sind, dass er schon in Ordnung sein wird. Allerdings glaube ich nicht, dass Tommy eins seiner Gemälde hier im Haus dulden würde, selbst wenn er ein zweiter Constable sein sollte.»

«Er hat mir angeboten, Mike zu bitten, nach dem Wagen zu sehen.»

«Gute Idee. Ein wenig verschroben muss er aber schon sein. Wieso sonst hätte er Johns alte Bude übernehmen wollen? Wobei ich zugeben muss, dass wir selbst die symbolische Miete, die wir dafür verlangen, gut gebrauchen können.» Nach diesen Worten machte Lady Leicester eine Geste, als wolle sie Elwood, den Kommunismus und das baufällige Cottage aus ihren Gedanken verscheuchen, beugte sich vor und stützte mit plötzlich sehr ernstem Gesichtsausdruck die Ellbogen auf die Knie.

«Da ist noch etwas, Anne. Es ist ein bisschen merkwürdig, aber …» Sie stand auf, nahm einen großen Beutel aus schwarzem Samt von ihrem Schreibtisch und reichte ihn Anne. «Das trug dein Großvater bei sich, als er stürzte. Mach auf und sag mir, was du davon hältst.»

Anne zog die Verschlusskordel auf und ließ den Inhalt des Beutels auf ihren Schoß gleiten. Im Schein, den die niedrig stehende Wintersonne durch die Fensterscheiben warf, sah es aus, als hätte Anne einen regenbogenfarbenen Wasserfall ausgegossen.

«Das Coke-Collier?», fragte sie sofort.

Aber irgendetwas daran stimmte nicht. Sie nahm die Halskette in die Hand und hob sie an. Das Gewicht fühlte sich falsch an. Und auch die Regenbögen stimmten nicht. Das Funkeln der Facetten in den Steinen wirkte wie gedämpft, das Spiel des Sonnenlichts darin plump und leblos.

«Aber das ist nicht das echte Collier, Mum. Das ist eine Kopie.»

«Ganz genau!», erwiderte Elizabeth, ließ sich zurück in den zweiten Sessel fallen und starrte unglücklich auf den Fremdkörper, der da von Annes Fingern herabbaumelte. «Ich wusste, du würdest es merken! Das habe ich zwar auch, allerdings habe ich viel länger dafür gebraucht.»

In Annes Kopf drehte sich alles. «Was um Himmels willen ist da bloß los, Mum? Ein solcher Sturz, und dann eine falsche Halskette in Grandpas Tasche? Was genau hat die Polizei dazu gemeint?»

«Gar nichts! Ich hab es dir doch schon gesagt – dein Dad hat sie ohne viel Federlesens des Grundstücks verwiesen, und das mit dem Collier haben wir ihnen gar nicht erst erzählt.»

«Aber Mum …»

«Nein, Anne! Dein Vater hat darauf bestanden, und ich finde, er hat recht. Was immer das da» – sie machte eine verächtliche Handbewegung in Richtung der Halskette – «auch bedeuten mag, deinen Großvater bringt es jedenfalls nicht zurück. Die Polizei aber würde es zum Vorwand nehmen, hier einen Riesenwirbel zu veranstalten. Und dein Vater wird es keinesfalls dulden, dass eine Meute von Polizisten anfängt, überall herumzuschnüffeln und Fragen zu stellen. Das wäre einfach zu beschämend. Und was, wenn die Presse Wind davon bekäme? Du weißt selbst, dass das passieren würde! Erst vor zwei oder drei Tagen war der König hier, um mit deinem Vater auf die Hasenjagd zu gehen. Was, wenn die Polizei auf die Idee käme, sich an den König zu wenden und ihm Fragen nach deinem Großvater und einem Diamantcollier zu stellen? Nein. Das ist vollkommen undenkbar.»

Anne wollte protestieren, doch ihre Mutter, auf deren Wangen zwei rote Flecken erschienen waren, schnitt ihr das Wort ab. «Und kein Wort zu Carey über die Sache.»

«Ihr habt ihr nichts davon gesagt?»

«Nein. Dein Vater und ich haben beschlossen, es dir zu erzählen, aber warum sollten wir Carey damit belasten? Wo wir nicht mal eine Ahnung haben, was das überhaupt zu bedeuten hat.»

«Aber Grandpa!»

«Er ist unglücklich gestürzt und zu Tode gekommen, und diese Tragödie macht uns schon genug zu schaffen. Jetzt reiß dich ein bisschen zusammen, Anne. Du bist fast achtzehn. In unserer Position ist ein gewisses Maß an Diskretion und Haltung nun mal unerlässlich – du musst einsehen, dass es so am vernünftigsten ist.»

Anne spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg, doch sie wusste, dass ihre Mutter nur, wenn sie wirklich aufgewühlt war, so zu ihr sprach. Während Anne noch versuchte, ihre Gedanken wieder zu ordnen, ging die Tür auf und ihr Vater trat ein – der neue Earl of Leicester, wie ihr mit leichtem Schreck bewusst wurde. Wie alle Mitglieder der Familie war er groß und feingliedrig und besaß eine hohe Stirn, eine schmale Nase und klare blaue Augen. Nun jedoch lagen Anspannung und Erschöpfung in seiner Miene. Unter dem Arm trug er den schweren Terminkalender seines Vaters, den dieser stets in seinem Arbeitszimmer verwahrt hatte.

«In einer Stunde kommt der Notar, Elizabeth. Hast du mit Mrs. Warnes schon über die Modalitäten der Trauerfeier gesprochen? Nach dem Gottesdienst brauchen wir natürlich ein Schutzdach für die Pächter. Ich hoffe nur, die Zeltseile sind noch nicht vermodert. Die Vorratskammer ist voll mit Wildbret, aber wenn wir den Leuten nur Rehpastete servieren, höre ich die nächsten zehn Jahre nichts als Beschwerden darüber, dass ich Vater nicht angemessen gewürdigt hätte.» Jetzt erst bemerkte er seine älteste Tochter. «Anne! Wie schön, dass du wieder zu Hause bist!»

«Guten Tag, Dad.» Anne legte das Collier zu Brot und Butter auf das Tischchen und durchquerte das Zimmer, um ihm die Wange hinzuhalten. Mittlerweile war sie fast schon so groß wie er. In ihrer Kindheit war er ihr immer wie ein spindeldürrer Riese vorgekommen, eine distanzierte, knochige Gestalt, ein Schatten, der Missbilligung ausstrahlte, neben dem hellen Licht der großväterlichen Anerkennung und Zuneigung. Vor allem damals war das so gewesen, als er und ihre Mutter als praktisch Fremde für ihre Töchter aus Ägypten nach Hause zurückgekehrt waren und feststellen mussten, dass ihre Älteste in der Zwischenzeit einerseits eine hingebungsvolle Liebe zu ihrem Großvater entwickelt hatte, andererseits jedoch an Nervosität, häufigen Albträumen und plötzlichen Angstattacken litt.

In den Jahren, die seither vergangen waren, hatte sie sich wieder an seine Anwesenheit gewöhnt, und auch ihre Albträume hatten nachgelassen, dennoch nahm sie sich weiterhin vor ihm in Acht, vor seinen jähen Wutausbrüchen und vor der Halsstarrigkeit, mit der er darauf beharrte, dass gewisse Dinge auf eine ganz bestimmte Art und Weise getan werden mussten. Ihre Mutter hatte ihr versichert, dass er bei ihrer Heirat noch ein ganz anderer Mann gewesen sei, doch an so einen Vater konnte Anne sich nicht erinnern.

Noch immer verlor niemand ein Wort darüber, was er in Nordafrika durchgemacht hatte und mitansehen musste, doch als Anne älter wurde, begriff sie langsam, dass es wohl eine ganze Menge gewesen war. Sie wusste, dass ihr Onkel David, der Bruder ihres Vaters, in der Wüste niedergeschossen worden und gestorben war, jedoch nicht an seinen Wunden – er war verdurstet. Er war so ein liebenswürdiger Mann gewesen, der immer gern mit seinen Nichten gespielt hatte, und jedes Mal, wenn Anne seither in der Bibliothek sein Foto in dem schweren Silberrahmen sah, auf dem er mit verschränkten Armen und lebhaft blitzenden, intelligenten Augen an der Kamera vorbeiblickte, schmeckte sie Sand im Mund, und der Krieg war auf einmal wieder sehr nahe und düster.

«Darling, Anne hat sofort gesehen, dass das Collier eine Kopie ist. Ich hab’s dir doch gesagt.»

«Kluges Kind, aber hilft uns dieses Ding irgendwie weiter?» Er knallte den Terminkalender auf Elizabeths Schreibtisch, woraufhin sämtliche Briefe erschrocken in die Höhe hüpften. «Und aus welchem Grund trug Vater es bloß bei sich? Ich bin alle seine Termine durchgegangen und finde absolut keine Erklärung dafür. Am Tag vor seinem Tod waren er und Abner Mullins mit einem Mann vom British Museum verabredet, um über ein paar Handschriften zu sprechen, und nachmittags hat er mit Horton Besuche bei den Pächtern gemacht. Aber Horton meint, das sei nur eine ihrer üblichen Runden gewesen, und Mullins sagt, bei dem Termin sei es ausschließlich um den Zustand der Handschriften gegangen, mehr nicht. Der Kerl vom British Museum sei froh gewesen, dass wir den Leonardo-Kodex nicht in einem modrigen Küchenschrank aufbewahren, und Vater habe einigen Reparaturen im Nordflügel zugestimmt. Das Abendessen hat er sich auf einem Tablett in der Familienbibliothek servieren lassen. Für gestern Vormittag hatte er sich nichts notiert, da kann er alles Mögliche vorgehabt haben. Kein Wort über die Diamanten.»

Er hatte den Terminkalender aufgeschlagen, und Anne, die ihm über die Schulter blickte, sah die vertraute schwungvolle und zugleich schnörkelige Handschrift ihres Großvaters. Die Termine waren mit Uhrzeit und Namen eingetragen, und rechts daneben standen kurze Notizen, Initialen und hin und wieder ein paar vereinzelte Wörter als Gedächtnisstütze. Während sie die Seite betrachtete und seine flüchtigen Bemerkungen las, spürte sie erneut eine überwältigende Zuneigung zu ihrem Großvater, seinen Kümmernissen und Leidenschaften. Unvermittelt tauchte sein Gesicht vor ihrem inneren Auge auf, im roten Schein der Dunkelkammerlampe in seinem Fotolabor im Keller, emsig und neugierig darauf, was das Bad in den Chemikalien enthüllen würde, vorfreudig und gespannt, welche seiner Aufnahmen von Freunden, Familie und Haus ihm gelungen war.

«Die Geschäftsbücher habe ich durchgesehen bis zurück ins Jahr 1938; ich finde keinen Eintrag, demzufolge er die echte Halskette verkauft hätte!», fuhr Annes Vater fort und holte sie damit zurück in die Gegenwart. «In den Kontoauszügen gibt es keine Spur einer Einzahlung ungeklärter Herkunft, und sollte Vater ein paar Tausend Pfund in Banknoten hier im Haus gebunkert haben, hat er sie verdammt gut versteckt.» Er drehte sich um und schaute seine Frau an. «Das war doch 1938, als du das Collier das letzte Mal getragen hast, nicht wahr?»

«Ja, genau. Zwar hatte ich Thomas anlässlich der Hochzeit von Prinzessin Elizabeth gebeten, die Kette tragen zu dürfen, doch er war dagegen, so kurz nach dem Krieg unsere Juwelen zur Schau zu stellen.» Lady Leicester klang verschnupft. «Dabei hatten sich die meisten Frauen dort mit so viel Familienschmuck behängt, wie sie nur tragen konnten, ohne unter dem Gewicht zusammenzubrechen. Ich schwöre, ich habe gesehen, wie die Herzogin von Devonshire unter dem Gewicht ihres Diadems geschwankt hat.»

«Also 1947 hat Vater dich das Collier nicht tragen lassen? Vielleicht hat er es ja 1941 verkauft, als mein Großvater starb. Das waren natürlich harte Zeiten damals, und wir waren in Ägypten, vielleicht haben wir deshalb nichts davon erfahren.»

Anne schüttelte den Kopf. «Nein, Dad. Im Winter 1943 waren die echten Steine noch da. Grandpa hat sie mir gezeigt.»

Ihr Vater strich sich mit seinen langen Fingern über den Kopf. «Bist du dir da ganz sicher, Anne? Das ist wichtig.»

«Vollkommen sicher.»

Er betrachtete sie prüfend und nickte dann knapp.

«Thomas hätte ihr ja wohl kaum eine Kopie gezeigt, Darling! Nicht seiner Enkelin», rief Elizabeth.

«Nein, da hast du wohl recht», stimmte Leicester ihr zu.

«Dad, bist du sicher, dass du der Polizei nicht doch besser von der Halskette erzählen solltest?»

Er starrte seine Tochter an, als hätte sie unflätig geflucht.

«Auf gar keinen Fall! Aus dem Tod meines Vaters wird keine billige Räuberpistole gemacht, verstanden?»

«Aber Dad –»

«Nein, Anne! Und ich erwarte von dir, dass du meinen Wunsch respektierst. Großer Gott, du sollst demnächst bei Hof debütieren! Da schleichen dann sowieso schon genug Pressefotografen ums Haus herum. Aber wenn ein solcher Skandal über Holkham schwebt, findest du nie einen annehmbaren Mann.»

Er blätterte eine Seite des Terminkalenders um. «Wenn wir die Diamanten nicht wiederfinden, müssen wir das Ganze eben irgendwie vertuschen. Obwohl so etwas am Ende ja doch immer ans Licht kommt. Das Einzige, was mir an Dads Eintragungen der letzten Tage merkwürdig erscheint, ist das hier.» Er deutete auf einen dick unterstrichenen Namen. «Die anderen Namen sagen mir alle etwas, aber wer bitte schön ist Lavender Crane?»

«Wie seltsam», sagte Elizabeth. Dann hellte ihre Miene sich plötzlich auf. «Ach, war das nicht die Gouvernante, die wir damals für Anne eingestellt haben? Wir beide haben sie nie persönlich kennengelernt, Darling. Sie hat Holkham Hall kurz vor unserer Rückkehr verlassen.»

Anne starrte auf den Namen im Kalender. Er begann vor ihren Augen zu flirren und zu flimmern, wurde immer größer, bis er die ganze Seite ausfüllte mit dieser dicken Unterstreichung, den akkuraten, gewissenhaft ausgeführten Konturen jedes einzelnen Buchstabens.

«Anne? So hieß sie doch, nicht wahr? Miss Lavender Crane. Sie wurde mir wärmstens empfohlen. Ich weiß noch, wie ich regelrecht jubiliert habe in Kairo, als sie glücklicherweise noch verfügbar war. Vermutlich hat sie Thomas geschrieben und um Referenzen gebeten.»

«Es tut mir leid, bitte entschuldigt mich.»

Anne trat vom Tisch zurück und bahnte sich, auf einmal tränenblind, einen Weg durch den vollgestopften Salon ihrer Mutter, lief über den schmalen Gang und ins Badezimmer. Bevor sie wusste, wie ihr geschah, kniete sie schon am ganzen Leib zitternd auf dem kalten Boden und übergab sich heftig in die Toilette. Lavender Crane. Allein der Name reichte aus, um Anne in tausend winzige Scherben zerbrechen zu lassen.

4

Am nächsten Morgen erwachte Anne schon früh. Maria brachte ihr ein Tablett mit dem Frühstück und zog die Vorhänge auf. Normalerweise erfüllte sie das ganze Haus mit ihrem lebhaften, munteren Wesen; auch wenn sie die Regeln der Etikette nie übertrat, konnte sie ihren Hang zum Plaudern mitunter nur schwer zügeln. Doch auch ihr war die Trauer heute anzumerken. Gemeinsam mit ihrem Bruder, einem der italienischen Gefangenen, und ihrer Cousine Gina hatte sie die Stelle im Holkham’schen Haushalt unmittelbar nach dem Krieg angetreten, und sie alle waren dem alten Earl treu ergeben gewesen.

«Ist mein Vater schon aufgestanden, Maria?», fragte Anne, nachdem sie sich Tee eingeschenkt hatte. Ein bescheidenes Frühstück, Toast und Butter. Das mit ihrem Namen beschriftete Marmeladenglas war schon ziemlich leer, und da der Zucker nach wie vor streng rationiert wurde, bekäme sie vor Anfang des nächsten Monats auch kein neues.

«Ja, Mylady», sagte Maria. «Er ist bereits in seinem Arbeitszimmer. Wir sind alle sehr froh, dass Sie wieder zu Hause sind. Um drei hat Hochwürden Howard sich angekündigt, um die Musik für den Trauergottesdienst zu besprechen, und Lady Leicester wünscht Sie und Lady Carey bei dem Gespräch dabeizuhaben.»

Rasch erledigte Anne ihre übliche Morgentoilette und schlüpfte fröstelnd in ihre Sachen. Langer Rock, dicke Strümpfe und einen von den Pullovern mit Fair-Isle-Muster, die ihre Tante in Schottland so gern strickte. Gepriesen sei sie, und gepriesen seien auch die Schafe auf ihren Ländereien, für die Wolle. Anne und Carey würden jetzt sämtliche Kleidermarken, die sie hatten, zusammenkratzen müssen, um genug Stoff für Trauerkleidung kaufen zu können. Anne dachte an ihr Marmeladenglas. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, mal ein oder zwei Wochen ohne auskommen zu müssen. Die üppigen, vor Fett triefenden Frühstücke, die sie auf ihren Verkaufstouren für die Töpferwaren von Holkham Hall immer serviert bekam, hatten bereits angefangen, sich auf ihren Hüften abzusetzen, und dabei stand doch ihre Einführung in die Gesellschaft kurz bevor.

Sie holte das Buch mit den Bestellungen aus ihrer Aktenmappe und ging damit nach unten und hinaus zur alten Wäscherei, die nunmehr das Reich ihrer Mutter war und die Töpferei beherbergte. Mit wie viel Verachtung ihr Vater auch darauf hinabsehen mochte, das kleine Unternehmen ihrer Mutter beschäftigte inzwischen fünf Mitarbeiter sowie sie selbst und ihre beiden Töchter und entwickelte sich ganz offensichtlich bestens.

Carey legte schon mit fünfzehn ein künstlerisches Talent an den Tag, das Anne nie besessen hatte, und sprühte vor Lebendigkeit – einer Eigenschaft, die Anne selbst irgendwann während des Kriegs eingebüßt zu haben glaubte, wie ein Kunstwerk, das zur Kriegsbeute geworden war. Seither war sie in den Trümmern ihrer Erinnerungen auf der Suche danach. Gestern Abend waren die Schwestern noch lange aufgeblieben und hatten in Careys Zimmer über ihren Großvater gesprochen und sich Sorgen um ihren Vater und den Nachlass gemacht. Dass Anne den Namen ihrer ehemaligen Gouvernante in Grandpas Terminkalender gesehen hatte, hatte sie dabei allerdings ebenso wenig erwähnt wie ihre Reaktion darauf.

Als die Familie Weihnachten 1943 wieder zusammengefunden hatte – Annes Eltern waren aus Ägypten zurückgekehrt und Carey mit ihrem Kindermädchen Billy Williams vom Anwesen ihrer schottischen Verwandtschaft heimgekommen –, hatte Carey durchaus gespürt, dass etwas vorgefallen sein musste, doch sie hatte Anne nicht mit Fragen bedrängt. Vielleicht hatte sie warten wollen, bis ihre Schwester sich ihr von selbst anvertraute. Aber das hatte Anne nie getan, jedenfalls nicht darüber, und womöglich hatte Carey Annes neue Nervosität – die Tatsache, dass sie sich immer wieder umsah und jäh erstarrte, sobald sie Schritte hinter sich hörte – als Zeichen dafür interpretiert, dass ihre Schwester sich vor Lady Mary fürchtete, wie alle anderen ja auch.

Carey saß bereits an ihrem Zeichentisch und arbeitete, auf dem Papier vor ihr entstanden abstrakte Kreise und Wirbel. Als sie Anne sah, legte sie den Bleistift beiseite.

«Für die neuen Sparschweine! Die Viecher werden ganz schön komisch aussehen, mit langen, dicken Wimpern und solchen Paisley-Mustern auf dem Rücken. Glaubst du, die werden sich verkaufen?»

Anne beugte sich über die Schulter ihrer Schwester und begutachtete die Entwürfe. Dabei dachte sie an die Läden, die sie küstenauf- und küstenabwärts besuchte, den vom Meer hereinkommenden Wind, der an ihrem Kopftuch zerrte, wenn sie mit strahlendem Lächeln eintrat und darum bat, den Besitzer sprechen zu dürfen. Manche waren die Liebenswürdigkeit selbst und boten ihr im Büro Tee und Kekse an, während sie ihren Musterkoffer öffnete. Andere sahen mit verbissener Miene und vor der Brust verschränkten Armen zu, wie sie auf dem kalten Boden hockte und Krüge und Vasen auswickelte. Sie dachte an all die Andenken im Sortiment solcher Läden, Teeservices und Geschenkartikel, Butterdosen und Vasen, die die Leute kauften, um sich im Urlaub ein wenig zu verwöhnen. Nach sechs Jahren Krieg und weiteren fünf Jahren mit rationiertem Zucker und Kleidermarken brauchten sie jeden Farbtupfer, den sie kriegen konnten.

«Oh ja, das werden sie. Sie fallen bestimmt auf in den Läden. Und dann ermutigen sie junge Leute auch noch zum Sparen!» Worauf sie ihrer Stimme einen ernsteren Klang gab. «Eine kleine Lektion in Moral, Carey. Die Menschen geben gern ein paar Shilling für etwas Buntes aus, vor allem dann, wenn sie kein schlechtes Gewissen deswegen haben müssen.»

Carey blickte sie von der Seite her an. «Bist du sicher, dass du die Bestellungen heute bearbeiten willst, Anne? Es besteht kein Grund zur Eile.»

Anne nickte. Schon seltsam, wie die Trauer um Grandpa sie mit immer neuer Wucht aus jedem Winkel ihres Herzens heraus ansprang.

«Ja. Das hält mich davon ab, Trübsal zu blasen.»