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Es war ein traumhafter Sommer auf Mustique. Während die meisten Urlauber die Insel bereits verlassen haben, genießt eine illustre Runde wohlhabender Engländer weiterhin Sundowner und Dinnerpartys, darunter Lady Veronica Blake, Hofdame im Ruhestand. Als eine junge Amerikanerin aus bester Gesellschaft spurlos verschwindet, beginnt sie, auf eigene Faust zu ermitteln, sehr zum Missfallen von Solomon Nile, dem einzigen Polizisten der Insel. Wenige Tage später wird Amanda Fortinis Leiche aus dem türkisblauen Wasser geborgen. Der Mörder ist noch auf der Insel, vermutet Lady Blake. Dann bricht ein Tropensturm los, Mustique ist von der Außenwelt abgeschnitten, und eine weitere Person verschwindet …
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Seitenzahl: 428
Anne Glenconner
Kriminalroman
Eine Hofdame im Ruhestand auf Mörderjagd
Ein traumhafter Sommer auf Mustique geht zu Ende. Während die meisten Urlauber die Karibikinsel bereits verlassen haben, genießt eine illustre Runde wohlhabender Engländer weiterhin Sundowner und Dinnerpartys, darunter Lady Veronica Blake, ehemals Hofdame von Prinzessin Margaret. Als eine junge Amerikanerin aus bester Gesellschaft spurlos verschwindet, beginnt Lady Blake, auf eigene Faust zu ermitteln, sehr zum Missfallen von Solomon Nile, dem einzigen Polizisten der Insel. Wenige Tage später wird Amanda Fortinis Leiche aus dem türkisblauen Wasser geborgen. Der Mörder ist noch auf der Insel, da ist Lady Blake sich sicher. Dann bricht ein Tropensturm los, Mustique ist von der Außenwelt abgeschnitten – und eine weitere Person verschwindet …
Lady Anne Glenconner wurde 1932 als älteste Tochter des 5. Earl of Leicester geboren. Aufgewachsen im britischen Norfolk, zog sie 1958 mit ihrem Ehemann Lord Glenconner auf die Karibikinsel Mustique. 1971 wurde Anne Glenconner Hofdame von Prinzessin Margaret, die ein Anwesen auf der Insel hatte. Bis zu deren Tod begleitete sie die Prinzessin auf zahlreichen Staatsempfängen und Auslandsreisen. Heute lebt sie wieder in Norfolk. «Lady Blake und das Grab im Meer» ist ihr erster Kriminalroman.
Stefanie Kremer, geb. 1966 in Düsseldorf, arbeitet freiberuflich als Übersetzerin für Sachbücher und Belletristik aus dem Englischen und Französischen. Sie lebt südlich von München.
«Ein charmantes Buch, durchdrungen von der originellen und faszinierenden Persönlichkeit seiner Autorin.» Sunday Telegraph
«Lady Blake vereint umwerfenden Charme und beeindruckendes Ermittlungstalent.» Daily Mail
«Wie ein warmes Bad nach einem langen, kalten Tag.» ipaper
Für Colin, der Mustique allseits bekannt gemacht hat.
«Wir müssen weitergehen, weil wir nicht zurückkönnen.»
Robert Louis Stevenson, Die Schatzinsel
Wettervorhersage für die Tropen
National Hurricane Center, Miami, Florida
Freitag, 13. September 2002
Nordatlantik und Karibisches Meer
Das National Hurricane Center warnt vor dem tropischen Wirbelsturm Cristobal, der sich derzeit hundert Meilen östlich der Küste von South Carolina befindet.
Der Zyklon bewegt sich Richtung Südosten, gegenwärtige Risikostufe: gering
Es ist fünf Uhr morgens, als Amanda Fortini in einem roten Bikini an den Palmen vorbei zur Britannia Bay hinabspaziert. Sie ist barfuß und nach der Party der vergangenen Nacht noch ein wenig betrunken. Ihre Haut ist gebräunt von den Tauchgängen zum Korallenriff der Insel und dem Faulenzen an den Swimmingpools ihrer Freunde, und die blonden Haare sind zwei Nuancen heller als noch vor sechs Wochen, bei ihrer Ankunft auf Mustique. Sie bleibt einen Moment stehen und atmet tief ein. Der Duft der Insel nach Kletterorchideen, Hibiskusblüten und Abenteuer hebt ihre Stimmung, und sie folgt dem Pfad weiter durch schulterhohen Farn. Sie ist dreiundzwanzig Jahre alt und hat das erste Mal in ihrem Leben das Gefühl, die Dinge im Griff zu haben. Sicher, sie hat Fehler gemacht und sich die falschen Männer ausgesucht, obwohl sie als Mitglied der feinen New Yorker Gesellschaft viele begehrte Junggesellen kennengelernt hat – aber damit ist jetzt Schluss. Als das Meer vor ihr auftaucht, glitzerndes Türkis bis zum Horizont, spürt sie eine starke Entschlossenheit in sich.
Lächelnd lässt die junge Frau den Blick über den Strand mit seinem pinkfarbenen Sand schweifen, der sich in weitem Bogen vor ihr erstreckt. Schon steigt die Hitze wieder hoch, selbst hier auf der Westseite der Insel. Die gerade erst aufgegangene Sonne wärmt ihr den Rücken. Es ist noch früh, und keine Menschenseele ist zu sehen. Das Meer lockt sie, sie ist versucht, wie ein übermütiges Kind in die Wellen zu rennen. Hier kann sie tun, was immer ihr gefällt. Hier verstecken sich keine Reporter hinter den Bäumen wie in Manhattan, hier lauert ihr niemand auf und lässt sie gehemmt und unsicher agieren. Ihre Prominenz ist nun mal der Preis, den sie dafür zahlt, zu einer reichen Familie zu gehören, und das ist auf Dauer enorm anstrengend. Jedes Detail ihres Lebens wird auf den Seiten der Hochglanzmagazine minutiös seziert. Mustique ist der einzige Ort auf der Welt, an dem sie entspannen kann, ohne beobachtet zu werden. Mit einem berauschenden Gefühl der Freiheit dreht sie sich einmal um die eigene Achse und genießt den Anblick des üppigen Urwalds, der makellos weißen Villa oben auf dem Hügel und der Lichtflecken, die die Sonne aufs Wasser tupft. Die Karibik liegt ruhig vor ihr wie ein Pool mit tiefblauem Wasser und wartet nur darauf, sie willkommen zu heißen.
Amanda macht die ersten Schritte ins Meer, langsam zunächst, und lässt sich die Hitze der vergangenen Nacht, als sie im Schein eines Feuers am Strand tanzte, von der Haut spülen. Vor ihr am Horizont liegt eine riesige Yacht, deren Decks in der Sonne glänzen. Von der nächsten hohen Welle lässt sie sich emporheben. Ihre Muskeln sind locker und entspannt, und mit schnellen Kraulbewegungen entfernt sie sich vom Strand, ihre Arme und Beine durchpflügen das Wasser.
Nur einmal dreht sie sich für eine kurze Atempause um. Mustique sieht aus wie eine Werbung für Urlaub in der Karibik: Gesäumt von hohen Bäumen und menschenleeren Stränden ragen die Hügel der Insel empor. Amanda rollt sich auf den Rücken und lässt sich eine Weile treiben, das Gesicht zur Sonne gewandt.
Während sie noch immer den grandiosen Anblick der Insel bewundert, weht plötzlich ein schwaches Geräusch zu ihr herüber. Das hässliche Brummen eines Motorboots wird mit jeder Sekunde lauter. Das könnte ein hiesiger Fischer sein oder der Eigentümer der Yacht, aber warum rast der so? Jeder weiß doch, dass hier den ganzen Tag über Menschen im Wasser sind und schwimmen. Erschrocken wirbelt sie herum und sieht das Motorboot direkt auf sich zurauschen. Sie taucht instinktiv unter, bis ihre Lunge brennt. Der Propeller des Außenbordmotors verfehlt ihr Gesicht nur um wenige Zentimeter. Hat der Fahrer denn nicht gesehen, dass sie wie eine Wahnsinnige gewinkt hat, damit er den Kurs ändert? Jetzt wendet das Boot in einem engen Bogen, und zunehmend panisch taucht sie erneut. Doch als das Boot ein drittes Mal auf sie zurast, kann sie nicht mehr schnell genug reagieren.
Wie eine Stoffpuppe wird sie vom Bug des Boots durch die Luft und zurück ins Wasser geschleudert. Die Gesichter der Menschen, die sie liebt, ziehen vor ihren Augen vorüber: ihre Mutter, ihre besten Freunde. Als Amanda wieder an die Wasseroberfläche kommt, ist sie kaum mehr bei Bewusstsein, in ihren Ohren tosen die Wellen. Ihr Blick fängt noch einmal die Insel ein, wie ein Kameraobjektiv, das eine letzte Aufnahme vom Paradies macht.
Meine Hände schweben über dem kleinen Karton, auf dessen Deckel «Prinzessin Margaret» gekritzelt steht. Ich bin zu Hause auf meinem Landsitz in Norfolk, und heute Vormittag widme ich mich einer Aufgabe, die ich schon seit Monaten vor mir herschiebe. Den Inhalt des Kartons kenne ich gut: Darin sind sämtliche Geschenke, die mir die Prinzessin im Verlauf der vier Jahrzehnte gemacht hat, die ich ihr als Hofdame diente. Seit ihrer Beerdigung vor sieben Monaten stand der kleine Karton oben auf dem Speicher.
Nun liegen Prinzessin Margarets Briefe fein säuberlich gebündelt vor mir, geschrieben in ihrer extravaganten Handschrift und adressiert an Lady Veronica Blake, wie mein offizieller Titel lautet. Bei ihrem Anblick schnürt sich mir die Kehle zu. Immer wenn wir aufgrund von Krankheit oder wegen familiärer Verpflichtungen voneinander getrennt waren, hat mir die Prinzessin geschrieben. Aber ich bringe es einfach noch nicht über mich, ihre Briefe erneut zu lesen. Stattdessen will ich heute nur eine Kleinigkeit für den einundzwanzigsten Geburtstag meiner Patentochter Lily Calder auswählen, die von dem glamourösen Leben der Prinzessin seit jeher fasziniert ist. Beim Betrachten so vieler Geschenke ist mir, als würde die Zeit zurückgedreht. Zierliche Eierbecher aus weißem Porzellan mit Goldrand, ein türkisblauer Seidenschal und eine aus Ebenholz geschnitzte Seifenschale. Die Prinzessin verschenkte gern Dinge mit praktischem Nutzen und wählte jedes einzelne Stück mit großer Sorgfalt aus. Die Gegenstände rufen Erinnerungen an die Reisen mit ihr hervor, an das Blitzlichtgewitter, von dem sie stets umringt war, was anfangs schmeichelhaft schien und später dann, in den Monaten vor ihrem Tod, zu einer grausamen Tortur wurde. Ich nehme den Seidenschal heraus, um ihn noch einmal zu bewundern. Das war das erste Geschenk, das die Prinzessin mir machte, nachdem Jasper aus einer Laune heraus Mustique gekauft hatte, im Jahr 1955, lange bevor es auf der Insel Strom und fließendes Wasser gab. Der Schal ist perfekt für Lily, vor allem wenn sie von seiner Herkunft erfährt. Ich weiß, die Prinzessin hätte nichts dagegen, dass er weiterverschenkt wird. Sie sah es immer gern, wenn die Dinge sinnvoll genutzt wurden.
Als um halb zehn das Telefon läutet und mich davor bewahrt, vollkommen in der Vergangenheit zu versinken, bin ich erleichtert. Eigentlich habe ich mit meinem Mann gerechnet, der mir mal wieder sein Leid klagen will, doch dann höre ich am anderen Ende der Leitung die Stimme meiner Patentochter. In den vergangenen sechzehn Jahren, seit dem Tod ihrer Mutter, habe ich mich um Lily gekümmert. Momentan wohnt sie in unserer Villa auf Mustique, und ihr Anruf kommt recht überraschend. Die Insel liegt fünf Stunden hinter der britischen Zeit, Lily muss also noch vor dem Morgengrauen aufgestanden sein. Sie klingt aufgewühlt, will mich aber offenbar nicht beunruhigen, deshalb höre ich ihr erst einmal zu. Zunächst berichtet sie von ihrer Arbeit, dem Naturschutzprojekt, das ihre Mutter vor so vielen Jahren ins Leben gerufen hat, um das Korallenriff vor der Insel zu retten. Schon als Teenager hat Lily jeden Sommer mit unerschöpflicher Energie für das Projekt gearbeitet, und nun, nachdem sie im Juli ihren Abschluss in Meeresbiologie gemacht hat, ist ein Vollzeitjob daraus geworden. Mit Hilfe von Freiwilligen verpflanzt sie Ableger gesunder Korallen an Stellen, die durch die Umweltverschmutzung oder die Meereserwärmung bereits ausgebleicht sind. Während sie erzählt, spüre ich eine Sorge in ihrer Stimme, die einem weniger sensiblen Gehör wohl entgangen wäre.
«Ansonsten gibt es nichts Neues, Vee. Ich wollte mich nur mal wieder bei dir melden.»
«Aber du bist doch schon so schrecklich früh wach, Liebes. Ist wirklich alles in Ordnung?»
Sie zögert einen Herzschlag zu lang. «Alles prima. Ich freue mich nur schon so darauf, dich zu sehen. Du und Jasper, ihr kommt doch zu meinem Geburtstag, oder?»
«Den lassen wir uns um nichts in der Welt entgehen. Ich komme nächstes Wochenende, dann haben wir eine ganze Woche Zeit zu überlegen, was du gern machen möchtest, und Jasper hat versprochen nachzukommen.»
Ich höre, wie sie tief Luft holt, als hätte sie Mühe, nicht loszuweinen.
«Du hast doch was, oder?» Geduldig warte ich auf ihre Antwort. Schweigen ist das beste Mittel, um Lily aus der Reserve zu locken.
«Amanda wollte gestern Abend vorbeikommen, ist aber nicht aufgetaucht.»
«Vielleicht hat sie’s vergessen. Du kannst doch nachher mal bei ihr vorbeischauen.»
«Diese Woche war überhaupt so komisch, darum habe ich kein gutes Gefühl. Vor ein paar Tagen habe ich abends auf dem Heimweg von Basil’s Bar hinter mir Schritte gehört. Ich glaube, dass mir jemand gefolgt ist.»
«Bist du sicher? Das könnte doch sonst wer gewesen sein, der mit ein paar Cocktails zu viel im Blut nach Hause getorkelt ist.»
«Vielleicht hast du ja recht», sagt sie mit schon etwas festerer Stimme. «Gib mir Bescheid, um wie viel Uhr du hier landest, sobald du es weißt. Dann hole ich dich ab.»
«Unternimm heute mal was mit deinen Freunden, Lily. Dich so ganz allein in diesem riesigen Haus zu wissen, gefällt mir gar nicht.»
«Mir geht’s gut, ehrlich. Außerdem bin ich noch längst nicht fertig mit den Arbeiten an meinem Boot.»
«Du darfst ab und zu ruhig mal eine Pause einlegen, Liebes. Vom Augenblick meiner Landung an werde ich dich mit Picknicks und Klatschgeschichten von allem ablenken.»
Sie lacht leise. «Das ist genau das, was ich brauche. Du fehlst mir.»
«Du mir auch, aber bald sind wir ja wieder zusammen.»
Zum Abschied sage ich Lily noch, dass ich sie liebe, dann beende ich das Gespräch. Die Anspannung in ihrer Stimme beschäftigt mich auch noch nach unserem Telefonat. Lily macht kein großes Aufheben um die Dinge, solange es nicht wirklich ernst ist. Aber wenn sie glaubt, an einem der sichersten Orte der Welt verfolgt worden zu sein, hat sie bestimmt nur zu viel gearbeitet. Sie neigt dazu, sich mehr um andere zu sorgen als um sich selbst, weshalb ich auch vorhabe, zu Ehren ihres Geburtstags eine große Überraschungsparty zu geben. Ich möchte, dass sie weiß, wie viel sie Jasper und mir und unseren inzwischen erwachsenen Kindern bedeutet. Sie großzuziehen, war die reinste Freude, dennoch scheint sie sich, was ihren Platz in unserer Familie angeht, immer noch nicht ganz sicher zu sein.
In Gedanken weiterhin bei Lily, werfe ich erneut einen Blick in den kleinen Karton und nehme eine Kette mit Citrinen heraus, die glücklichere Erinnerungen weckt. Prinzessin Margaret schenkte sie mir, weil sie fand, dass die Steine wunderbar zu meinem Lieblingskleid passen würden. Gerade will ich den Karton zurück auf den Speicher bringen, da läutet das Telefon schon wieder. Das grimmige Schweigen am anderen Ende der Leitung verrät mir, dass es diesmal tatsächlich mein Mann ist. Jaspers Naturell ist so sprunghaft, dass er binnen Sekunden aus bester Laune heraus in einen abscheulichen Wutausbruch geraten kann.
«Jasper, bist du’s?»
«Wer soll es denn sonst sein?», knurrt er.
«Eine Freundin vielleicht oder eins von den Kindern.»
«Himmelherrgott, Vee, hier draußen geht alles schief. Ich sollte das ganze Projekt begraben.»
«Was meinst du damit?»
«Dieser verdammte Architekt ist total unfähig, die Villen sind eine Katastrophe, und die Kängurubäume, die verschont werden sollten, wurden alle gefällt. Ich könnte sofort das Handtuch werfen.» Seine Stimme wird hoch und schrill, was zeigt, dass er kurz davor ist, zu explodieren.
«Du bringst das schon alles wieder in Ordnung», sage ich ruhig. «Jasper, bitte hör mir mal zu. Ich fliege nächsten Samstag nach Mustique, um alles für Lilys Geburtstagsparty vorzubereiten. Versprich mir, dass du die Kostüme abholst und rechtzeitig auf die Insel bringst. Das ist nicht bloß eine kleine Familienfeier, da fliegen Leute aus der ganzen Welt ein.»
«Großer Gott, bis dahin sind noch vierzehn Tage Zeit. Seit Monaten redest du von nichts anderem mehr.»
«Und vergiss nicht, dass es eine Überraschung sein soll. Du darfst kein Sterbenswörtchen sagen, zu niemandem, und vor allem nicht zu Lily.»
«Ich kann Geheimnisse für mich behalten, Vee, das weißt du doch. Ach, ich wünschte, du könntest jetzt die Karibik sehen, der Himmel ist heute strahlend blau, kein Wölkchen in Sicht. Wie damals, als wir auf Mustique im Zelt geschlafen haben. War das nicht herrlich?»
«Abgesehen von den elenden Moskitos.»
Jasper lacht. «Du Arme, ein Stich, und schon ist der ganze Schwarm über dich hergefallen.»
«Erinnere mich bloß nicht dran.»
«Phillip ist übrigens auch hier und heitert mich auf. Vermisst du uns denn gar nicht?»
«Doch, natürlich.»
«Weißt du noch, wie alles anfing auf Mustique? Wie wir in der Lagune die Hummer mit bloßen Händen gefangen und uns den Rest des Tages in der Sonne geaalt haben? So habe ich mir immer das Paradies vorgestellt.»
Der Stress in Jaspers Stimme ist jetzt der Nostalgie gewichen, seine sanfte Seite tritt hervor. Mein Mann ist seit vierzehn Tagen auf St. Lucia, wo er sein jüngstes Projekt beaufsichtigt: eine Villenkolonie am Strand, die es an Exklusivität durchaus mit Mustique aufnehmen kann. Die Frage, was das alles kostet, verkneife ich mir, denn das Projekt hat bereits einen gewaltigen Teil seines Vermögens verschlungen. Seit unserer Hochzeit lebe ich nun schon mit seinen Stimmungsschwankungen, erfreue mich an den Höhen und versuche, die Tiefen zu überstehen. Es ist besser, nicht an das Geld zu denken, das ihm so leicht durch die Finger rinnt, und sich auf die Zukunft zu konzentrieren.
Als ich den Hörer auflege, fällt mein Blick auf die Apfelbäume vor dem Fenster, die bereits ihre Blätter verlieren. Der Herbst neigt sich seinem Ende zu. Diese Zeit des Jahres mag ich am wenigsten, erinnert sie mich doch daran, dass ich inzwischen siebzig bin. Aber meine Eltern haben sich bei meiner Geburt von der außergewöhnlich standhaften Heldin von H.G. Wells’ Roman Ann Veronica dazu anregen lassen, mir deren zweiten Vornamen zu geben: Veronica. Ich versuche immer, diesem ehernen Vorbild gerecht zu werden. Jetzt sagt mir mein Instinkt, dass ich meine Pläne ändern und noch heute Nachmittag nach Mustique fliegen sollte, um bei Lily zu sein. Weshalb ich nun unverzüglich ein Ticket buchen und mich auf den Weg machen werde.
Detective Sergeant Solomon Nile sitzt in seinem Büro und fragt sich, was er bloß den lieben langen Tag tun soll. Er hat diesen Posten erst seit drei Monaten inne und fühlt sich reichlich unwohl damit, hier auf Mustique der einzige ausgebildete Polizeibeamte zu sein. Aber seit er im Juni aus Großbritannien hierher zurückgekehrt ist, gab es nicht den allerkleinsten Vorfall, der ihm einen Vorwand geboten hätte, zur Gewährleistung der Sicherheit auf der Insel einen Stellvertreter anzufordern. Der Polizeipräsident auf St. Vincent würde bestimmt lauthals loslachen, sollte Nile behaupten, auf Mustique werde ein weiterer Polizist gebraucht. Die Insel, auf der er geboren wurde, ist nur drei Meilen lang und anderthalb Meilen breit, und die Verbrechensrate hier liegt bei null. Wer sich auf Mustique etwas zuschulden kommen ließe, würde im Gefängnis von St. Vincent landen und dürfte die im Privatbesitz befindliche Insel nie wieder betreten.
Dummerweise ist Nile noch in der Probezeit und darum gezwungen, einen guten Eindruck auf seinen Vorgesetzten zu machen. Sein Vater ist krank, und er selbst ist mit dreißig Jahren der ältere der beiden Söhne. Ein Großteil seines Gehalts wird für die Medikamente des alten Mannes gebraucht. Der Posten bei der hiesigen Polizei ist nicht gerade Niles Traumjob, er hat die Stelle eher aus einem Gefühl der Loyalität heraus angenommen und weil er ohnehin eine Entscheidung über seine Zukunft treffen musste. Als er sieben Jahre alt war, starb seine Mutter, und seither hat er seinem Vater geholfen, Lyron, den jüngeren Bruder, großzuziehen. Der Job jetzt verschafft ihm etwas Luft zum Atmen, selbst wenn sein Büro gerade mal groß genug ist für einen ramponierten Schreibtisch und zwei Plastikstühle. Die Klimaanlage brummt den ganzen Tag über, ohne die Temperatur auch nur um ein Grad zu senken. Und seine Uniform mit dem steifen weißen Hemd und der schwarzen Hose mag ja schick aussehen, ist bei Außentemperaturen von fast siebenundzwanzig Grad Celsius aber denkbar ungeeignet.
Der junge Sergeant wirft einen Blick durch die halb offen stehende Bürotür auf seine Kollegen Winston und Charlie Layton, die gerade beim Kartenspielen sind. Die Brüder sind zehn Jahre älter als er und, da sie neunzig Prozent ihrer Zeit im Sitzen verbringen, schon ordentlich aus dem Leim gegangen. Auf ihren gelben T-Shirts prangt das Wort «Security». Im Fall der Fälle möchte Nile auf keinen von beiden bauen müssen.
Plötzlich läutet das Telefon auf seinem Schreibtisch, zum ersten Mal seit Wochen. Nile ist einen Moment lang völlig überrumpelt, aber dann nimmt er ab und lauscht schweigend Lily Calders leiser, eindringlicher Stimme. Als er erfährt, dass jemand vermisst wird, ist er sofort auf den Beinen. Ihre Freundin Amanda Fortini habe sie gestern Abend besuchen wollen, berichtet Lily, sei aber nicht aufgetaucht und gehe auch nicht an ihr Telefon. Die junge Frau sollte leicht aufzuspüren sein; jetzt, am Ende der Saison, sind nur noch ein paar Dutzend Villenbesitzer auf der Insel. Die meisten sind bereits in ihre jeweiligen Heimatländer geflogen, um dem Wirbelsturm zu entgehen, der sich langsam, aber stetig über den Atlantik voranschiebt. Für sie ist der Aufenthalt auf Mustique nur eine vorübergehende Auszeit von der Realität.
Die Brüder Layton sind viel zu sehr in ihr Pokerspiel vertieft, um sich zu verabschieden, als Nile aufbricht. Beim Blick zurück auf das Reviergebäude verspürt er erneut einen schmerzhaften Stich der Enttäuschung. Als ihm mit achtzehn ein Stipendium für das Geschichtsstudium an der Oxford University gewährt wurde, hatte er geglaubt, ihm würde von nun an die Welt zu Füßen liegen. Doch seit seiner Rückkehr in die Heimat beurteilt er seine Aussichten nicht mehr ganz so euphorisch. Die Fenster seines Büros schließen schlecht, das Revier hat nur zwei behelfsmäßige Arrestzellen aus Betonblocksteinen, und das Wellblechdach wird spätestens mit Ankunft der Herbststürme seine undichten Stellen offenbaren. Wenn seine Probezeit in sechs Monaten um ist, wird er den Polizeipräsidenten auf St. Vincent darum bitten, das Gebäude zu modernisieren.
Die Laune des Detectives hebt sich, als er in den geländetauglichen Strandbuggy steigt, der zur Stellenbeschreibung gehört. Mit dem Buggy kommt man auf dem abwechslungsreichen Gelände der Insel am schnellsten voran, und außerdem ist er das Beste an diesem Job, selbst wenn der Motor erst beim dritten Mal anspringt. Natürlich könnte Nile auch zu Fuß zur Villa der Fortinis gehen, aber die leichten Passatwinde sind längst abgeflaut, und als er jetzt anfährt, spürt er die brütende Hitze. Das Revier liegt in einem Teil der Insel, in den sich für gewöhnlich nur wenige Feriengäste verirren. Die meisten nisten sich einfach in ihren Villen ein und lassen sich nur auf ein paar Cocktails in Basil’s Bar, dem Firefly oder dem Cotton House blicken, bevor sie wieder nach Hause düsen.
Aufmerksam lässt Nile seine Blicke durch die dichte Vegetation wandern, die den steingepflasterten Weg säumt. Seit seiner Kindheit hat die Insel sich sehr verändert, doch die Bauherren haben darauf geachtet, die Illusion eines tropischen Urwalds aufrechtzuerhalten, obwohl beinahe einhundert Villen versteckt zwischen den Bäumen liegen. Als er ein kleiner Junge war, krabbelten noch Meeresschildkröten auf die Strände, um dort ihre Eier abzulegen, und im Dschungel gab es Köhlerschildkröten. Immerhin gehören noch zahlreiche Vogelarten zur Tierwelt der Insel, und als Nile Britannia Bay passiert, flattert ein Papagei mit grünen Schwanzfedern über seinen Kopf hinweg. In der Bucht baden ein paar Urlaubsgäste. Ihre Strandtücher bilden die einzigen Farbtupfer auf dem hellen Sand.
Der Detective stellt den Buggy vor dem Feriendomizil der Fortinis ab und spürt, wie seine Neugier wächst. Mit seinen in den Hang gemauerten riesigen Terrassen ähnelt das Gebäude eher einem Märchenpalast als einer Villa. Es ist eins der beeindruckendsten Anwesen auf Mustique, was aber nicht weiter überrascht. Das Kaffeeimperium der Fortinis zählt schließlich zu den größten weltweit. Nile hat sich schon immer gefragt, wie es drinnen wohl ausschauen mag, und heute wird er es endlich mit eigenen Augen sehen.
Als er die Stufen zur Eingangstür hochsteigt, fegt gerade eine seiner Nachbarinnen aus Lovell die Veranda. Obwohl Nile die etwa fünfzigjährige Frau schon sein ganzes Leben lang kennt, weicht sie plötzlich seinem Blick aus. Nicht zum ersten Mal beschert ihm seine Polizeimarke eine frostige Begrüßung. Auf seine Frage hin, ob Amanda Fortini zu Hause sei, verweist die Frau ihn an die Haushälterin.
«Im Moment werkelt sie wahrscheinlich in der Küche herum.»
Sie scheucht ihn mit einer Handbewegung ins Haus und widmet sich, noch bevor er ihr danken konnte, wieder ihrer Arbeit, die darin besteht, unsichtbaren Staub von der Veranda zu kehren.
Ein Blick auf sein Spiegelbild in einem der Fenster ruft ihm abrupt in Erinnerung, wie sehr seine äußerliche Erscheinung und sein Selbstbild auseinanderklaffen. Er ist ein Meter vierundneunzig groß, fast so groß wie Usain Bolt, und hat dank der Tatsache, dass er das ganze Jahr über im Meer schwimmt, breite, muskulöse Schultern. Aber da hören die Ähnlichkeiten auch schon auf. Nile mag denselben Körperbau haben wie der berühmte Sprinter, die siegessichere Lässigkeit fehlt ihm. Mit der runden zarten Goldrandbrille, die seine braunen Augen bedeckt, sieht er zudem eher aus wie ein Studiosus, nicht wie ein Athlet. In seinem Blick liegt neugieriges Interesse, aber nur wenig Selbstbewusstsein. Beim Betreten der Eingangshalle unterdrückt Nile einen leisen Pfiff der Bewunderung. Er fühlt sich beinahe, als stünde er in einer Kathedrale und nicht in einem privaten Wohnhaus. Marmortreppen mit goldenen Handläufen schrauben sich spiralförmig durchs Herz des Gebäudes, und aus in großer Höhe liegenden Fenstern ergießt sich das Tageslicht ins Innere. Als er nach der Haushälterin ruft, antwortet ihm nur das Echo der eigenen Stimme, das von den Wänden widerhallt.
Die Pracht des Gebäudes erscheint ihm mit jedem Schritt überwältigender. Allein das Wohnzimmer ist größer als das ganze Haus seines Vaters, und auch wenn die Aussicht von der Veranda dort genauso schön ist wie hier, wirkt sie in dem Rahmen aus perfekt designten Bogenfenstern ganz anders. Im Garten gibt es einen Infinitypool, in dessen Fliesen sich der helle Himmel spiegelt, zwischen den Palmen hängen Lichterketten, und auf dem Rasen verstreut liegt Konfetti aus den Blütenblättern der Bougainvilleen. Nile war noch nie besonders an Kunst interessiert, aber die Gemälde, mit denen die Wände übersät sind, sehen wertvoll aus. Der einzige Malstil, den er erkennt, ist ein Seestück von Mama Toulaine, die in Lovell Village gleich neben seinem Vater wohnt. Vor ihrem Aquarell der Gelliceaux Bay bleibt er kurz stehen, der Sonnenuntergang ist meisterlich eingefangen, das Meer austernschalenrosa.
Erst nachdem er sich im gesamten Erdgeschoss umgesehen hat, entdeckt Nile eine offen stehende Tür, die hinunter in den Keller führt, dem wohl einzigen Ort in der Villa der Fortinis, wo nicht alles blitzt und funkelt. Auf dem nackten Betonfußboden stehen lange Regalreihen, in denen Hunderte Flaschen Wein lagern. Als Nile die letzte Stufe erreicht hat, sieht er sich einer Frau gegenüber, die in jeder Hand ein Staubtuch hält.
Die Haushälterin besucht dieselbe Kirche wie sein Vater. Sie ist um die sechzig, hat ihre rundliche Gestalt in einen Hauskittel gehüllt und wischt emsig den Staub von den Flaschen. Ihre Begrüßung fällt entschieden wärmer aus als die der Frau mit dem Besen oben auf der Veranda.
«Solomon Nile», strahlt sie ihn an. «Du siehst aber schneidig aus in dieser Uniform! Komm Sonntagnachmittag doch mal bei mir vorbei. Meine Töchter suchen beide noch einen anständigen Mann. Du kannst dir eine aussuchen.»
«Das würde ich ja gern, Mrs. Jackson, aber das wäre nicht fair. Lieber würde ich mit Ihnen einen Spaziergang am Strand machen, wann immer Sie wollen.»
«Das ist eine faustdicke Lüge.» Sie legt den Kopf in den Nacken und bricht in ein herzhaftes Lachen aus.
Wie von selbst findet Nile in die harmlosen Neckereien und das fröhliche Lachen zurück, das er noch aus seiner Kindheit kennt. Er vermisst das gute Gefühl, einfach so akzeptiert zu werden. Nach der langen Zeit, die er in Großbritannien verbracht hat, muss er darum kämpfen, hier wieder dazuzugehören.
«Ich bin auf der Suche nach Miss Fortini», erklärt er. «Lily Calder hat vergeblich versucht, sie zu erreichen.»
«Ach ja?» Die wohlwollende Miene der Haushälterin wird plötzlich kühl. «Diese junge Dame hört ja auf niemanden. Sie macht sich ihre eigenen Regeln.»
«Was meinen Sie damit?»
«Miss Amanda kommt aus einer guten Familie, aber sie kennt keine Grenzen. Kaum sind ihre Eltern nach Hause geflogen, verbringt sie jede Nacht in den Bars. Und ich darf nichts sagen, obwohl ich früher mal ihr Kindermädchen war, lang ist’s her. Wenn sie meine Tochter wäre, ich würde sie in ihr Zimmer einsperren.»
«Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?»
«Donnerstagnachmittag, so um zwei. Sie wollte Langusten und Safranreis zum Mittagessen, keinen Nachtisch und auch keinen Wein, bitte, nur eiskaltes Eau naturelle. Weil sie einen Kater hatte, darauf würde ich wetten.»
«Und seither nicht mehr?»
Die Frau blickt nachdenklich drein. «Gestern habe ich ihr zwar das Frühstück gemacht, aber sie ist nicht aufgetaucht, und in ihrem Bett hat sie auch nicht geschlafen. Daraus kannst du deine eigenen Schlüsse ziehen.»
«Darf ich mir ihr Zimmer ansehen?»
«Nur zu. Es liegt im obersten Stock, vom Treppenabsatz aus die letzte Tür rechts.»
Nile bedankt sich bei der Haushälterin und verabschiedet sich. Als er wieder nach oben steigt, wirkt das Anwesen plötzlich beunruhigend auf ihn, wie ein Geisterhaus, obwohl die Räume lichtdurchflutet sind. Alles ist so steril, jeder Quadratzentimeter Boden scheint auf Hochglanz poliert. Die Schlafzimmermöbel im obersten Stock sind modern, nur hier und da wurden ein paar Antiquitäten eingestreut, um der Einrichtung Stil zu verleihen. Beim Betreten von Amanda Fortinis Zimmer erreicht Niles Neugier ihren Höhepunkt. Das Bett ist frisch gemacht, verborgen hinter Moskitonetzen, die von der Zimmerdecke hängen, um Amandas Schlaf zu beschützen. Er wirft einen Blick in ihren Schrank, wo Flipflops und Espadrilles, dünne Röckchen und ein mit Pailletten übersätes Kleid bunt durcheinander auf einem Haufen liegen. Fotos an einer Pinnwand zeigen die junge Frau umringt von Freunden, ihre blonden Haare und ihr Lächeln strahlen um die Wette. Sie sieht aus, als hätte sie in ihrem ganzen Leben noch nie den geringsten Zweifel verspürt, doch Nile weiß aus eigener Erfahrung, dass die äußere Erscheinung täuschen kann. Noch einmal lässt er den Blick durchs Zimmer schweifen, auf der Suche nach einem Hinweis auf Amandas Persönlichkeit. Neben einer Ablage mit Make-up-Utensilien auf dem Toilettentisch steht eine Schatulle voll Schmuck, ein Handy entdeckt er nicht.
Auf dem Nachttisch liegt eine Broschüre mit Informationen zu Lily Calders Projekt zur Rettung des Korallenriffs, über das die ganze Insel spricht. Die Fischer bemühen sich seit Jahren, das Korallenatoll vor der Zerstörung zu bewahren, doch das ist ein aussichtsloser Kampf. Schon bald wird es keine Brutgebiete mehr geben für die Schnapperfische, Hummer und Langusten, die auf den Kleinen Antillen auf jeder Speisekarte stehen. Sterben die Korallen, geht auch die Existenzgrundlage der Fischer verloren. Die meisten von ihnen sind dankbar, dass die junge Frau sich für eine gute Sache engagiert.
Nile blickt sich ein letztes Mal in Amanda Fortinis Zimmer um, es fällt ihm schwer, sich ein Bild von ihrer Persönlichkeit zu machen. Die junge Amerikanerin hat ihr Portemonnaie liegengelassen, es ist voller Kreditkarten, dennoch soll sie beim Wiederaufbau des Riffs höchstpersönlich mit angepackt haben.
Erst als er das Moskitonetz beiseitezieht, springt Nile etwas Merkwürdiges ins Auge. Auf dem frisch gemachten Bett liegt ein großes etwa dreißig Zentimeter langes Stück Koralle und verteilt seinen Sand auf dem Betttuch. Es ist blütenweiß und fühlt sich spröde an, als er es in die Hand nimmt. Die zarten Tentakel zerfallen bereits. Die Koralle riecht intensiv nach Salzwasser, und in die Oberfläche hat jemand mit einem Messer zwei sich kreuzende Pfeile geritzt. Aber wieso sollte Amanda Fortini ihr Bett mit einem sandverkrusteten Stück Koralle schmutzig machen? Sie hätte es doch auch auf den Toilettentisch legen können. Nile hält die Koralle noch immer in der Hand, als er das angrenzende Bad inspiziert. Auch hier findet sich nichts Persönliches, abgesehen von einem Hauch Parfum, ein Zitrusduft, der bereits langsam verfliegt.
Als der Detective die Villa verlässt, schwirren ihm so viele Fragen im Kopf herum, dass er völlig vergisst, sich von der Frau zu verabschieden, die noch immer die Veranda fegt. Sie bemerkt die Kränkung sehr wohl und schickt ihm einen Schwall kreolischer Verwünschungen hinterher.
Mit Ach und Krach erwische ich die Mittagsmaschine von Gatwick nach St. Lucia. Mir ist klar, dass Jasper sich über meinen überstürzten Aufbruch fürchterlich aufregen wird. Ihm wäre es bestimmt lieber, ich würde seinem Bauprojekt einen Besuch abstatten, anstatt Hals über Kopf den letzten Flug nach Mustique zu nehmen. Aber Lily beizustehen und dafür zu sorgen, dass bei den Vorbereitungen für ihre Überraschungsparty alles nach Plan läuft, hat nun einmal Vorrang für mich. Sobald ich sicher sein kann, dass alles seine Ordnung hat, werde ich nach Herzenslust baden und in der Sonne liegen, bis Jasper eintrifft, um mir zu helfen.
Beim Abheben liegt England grau und düster unter uns, dennoch wird mir augenblicklich leichter ums Herz. Prinzessin Margaret begriff jeden ihrer Flüge als Auszeit von ihren Pflichten und ihrer öffentlichen Rolle, und ich habe vor, es ganz genauso zu halten. Also lausche ich einem Hörbuch von Verstand und Gefühl und genieße die Ablenkung, doch nach ein paar Stunden lässt meine Konzentration nach, und die Vergangenheit drängt sich in den Vordergrund.
Daran, wie es dazu kam, dass Lily in unser Leben trat, erinnere ich mich, als wäre es gestern gewesen. Vor sechzehn Jahren war ich gut mit Dr. Emily Calder befreundet, einer frisch geschiedenen Frau, die eine Villa ganz in unserer Nähe gemietet hatte. Emily war Mitte dreißig, hatte in Harvard promoviert und machte sich zusehends einen Namen als bahnbrechende Meeresbiologin und Umweltschützerin. Sie verbrachte jeden Sommer auf Mustique und widmete sich dem Korallenriff. Alle auf der Insel hatten sie gern, denn sie war humorvoll und klug und besaß eine ganz besondere Ausstrahlung. Ich freute mich sehr, als sie mich bat, Patin der fünfjährigen Lily zu werden. Die Kleine war ein so bescheidenes, liebenswürdiges Kind, stets zufrieden damit, am seichten Ende unseres Pools vor sich hin zu planschen, während Emily und ich nach einem ihrer langen Arbeitstage auf dem Meer miteinander plauderten. Ihre Scheidung erwähnte sie kaum, aber vielleicht hat sie ihr doch schwerer zu schaffen gemacht, als alle ahnten. Ich mache mir jedenfalls Vorwürfe, nicht auf mögliche Warnzeichen geachtet zu haben. Eines Abends muss Emily nach ihrem letzten Drink mit mir Lily in ihrer Villa ins Bett gebracht haben und dann ins Meer gegangen sein. Sie hat nichts zurückgelassen, was ihren Selbstmord erklären würde. Abgesehen von ihrem Sarong, den man ordentlich zusammengelegt am Macaroni Beach fand, ist sie einfach spurlos verschwunden. Ich kann es bis heute nicht begreifen. Emily war jung und schön und hatte so viele Freunde, denen sie von ihren Nöten hätte erzählen können, und trotzdem hat sie das alles einfach weggeworfen und Lily ihrem Schicksal überlassen. Ich kann nur vermuten, dass sie insgeheim mit Depressionen zu kämpfen hatte. Falls sie einen Abschiedsbrief hinterlassen hat, wurde er nie gefunden, und so blieben ihrer Tochter nicht einmal ein paar Worte des Trostes.
Jasper war sofort damit einverstanden, Emilys Tochter großzuziehen. Dank seines jungenhaften Charakters ist er immer gern mit Kindern zusammen, und unser eigener Nachwuchs war damals bereits flügge. Unsere Kinder akzeptierten Lily ohne Wenn und Aber als Teil der Familie, aber Lilys Kindheit war dennoch überschattet vom Tod ihrer Mutter und dem Desinteresse ihres Vaters. Henry Calder ist ein Ölmagnat, der seine Verpflichtungen als Vater offenbar darin erfüllt sieht, einen kleinen Treuhandfonds angelegt zu haben. Sonst bemüht er sich kaum um Kontakt zu seiner Tochter. Lily hat genügend Geld, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, reich wird sie allerdings nie sein, und außer Jasper und mir gibt es niemanden, auf den sie sich wirklich verlassen kann. Trotzdem ist sie eine unerschütterliche Optimistin. Sie ist fest entschlossen, das Korallenriff zu retten, und ich habe das Gefühl, dass nichts und niemand sich ihr in den Weg stellen kann.
Nach einer Weile falle ich in einen unruhigen Schlaf. Als ich wieder aufwache, verkündet der Flugkapitän, dass es nur noch eine halbe Stunde bis St. Lucia sei, der Anflug aufgrund von Turbulenzen allerdings ein wenig holprig werden könne. Die Maschine wackelt und ruckelt, während ich meine Uhr um fünf Stunden zurückstelle. Hier ist es kurz nach fünf Uhr nachmittags.
Flüchtig überlege ich, Jasper anzurufen, doch der Flug war anstrengend genug. Ich beschließe, den Anruf auf morgen früh zu verschieben, wenn ich wieder frisch und ausgeruht bin. Auf dem kleinen Flughafen wimmelt es von Verwandten, die ihre Familienmitglieder abholen wollen, von Taxifahrern und Gepäckträgern, die mir anbieten, für ein geringes Entgelt meinen Koffer zu tragen. Gerade als ich für meinen Anschlussflug einchecken will, entdecke ich in der Menge ein bekanntes Gesicht. Es gehört Dr. Simon Pakefield, dem britischen Arzt, der unseren geliebten Dr. Bunbury vertritt, während dieser Verwandte in England besucht. Die ganze Insel vermisst Dr. Bunbury, wenn er auf Reisen ist. Er verarztet unsere Wehwehchen und Beschwerden nun schon seit Jahrzehnten so fürsorglich.
Dr. Pakefield erwidert mein Winken nicht, obwohl wir uns bestimmt schon ein halbes Dutzend Mal begegnet sind. Er ist ein bleicher, eigentümlicher Mann mit einer undurchdringlichen Miene und einem kohlrabenschwarzen Haarschopf. Seltsam, dass er so gut mit Kranken umgehen kann, obwohl ihm jede gesellschaftliche Geschmeidigkeit fehlt. Mit Menschen scheint er besser auszukommen, wenn sie lediglich seine Patienten sind und nicht seine Freunde werden wollen.
Da ruft eine andere Stimme meinen Namen, und schon ist Dr. Pakefield wieder in der Menge verschwunden. Die Hand zum Gruß erhoben, stürzt mein alter Freund Phillip Everard auf mich zu. Phillip stammt aus Kanada, ist Schauspieler und inzwischen Mitte sechzig, was aber nie jemand vermuten würde. Sein Gesicht sieht noch fast genauso aus wie in den Achtzigern, als er die Welt mit einem halben Dutzend Komödien im Sturm eroberte. Er zählt zu der Sorte Mensch, die die Aufmerksamkeit von Männern und Frauen jedes Alters auf sich ziehen, und seine offen gelebte Bisexualität erhöht sein Charisma nur. Heute trägt Phillip ein blaues Leinenhemd, das seine Sonnenbräune betont, das graue Haar ist raspelkurz geschnitten und lässt seine gepflegten Züge klarer hervortreten denn je.
«Du siehst noch immer derart umwerfend aus, Phil, du bist der perfekte Begleiter.»
«Nicht halb so umwerfend wie du.» Er grinst und nimmt mich fest in die Arme. «Wie machst du das nur, dass deine Haut so jugendlich strahlt?»
«Gute Gene und die Gesichtscreme von Harrods. Was in aller Welt hast du denn hier verloren?»
«Lily hat mir verraten, dass du kommst, weshalb ich meinen Rückflug umgebucht habe. Ich war bei Jasper, um ihm bei den Verhandlungen mit diesem schrecklichen französischen Architekten zu helfen.»
«Du bist ein Schatz. Geht’s Jasper gut? So mutlos habe ich ihn noch nie erlebt.»
«Er will, dass du kommst und ihm die Tränen trocknest, und flippt regelmäßig aus, also alles wie immer.» Phillip blickt belustigt drein. «Ich habe den ganzen Nachmittag nach einem Geburtstagsgeschenk für Lily gesucht.»
«Und, bist du fündig geworden?»
«Ohrringe mit Süßwasserperlen und ein dazu passender Armreif. Ist das zu langweilig?»
«Sie wird den Schmuck lieben.»
«Gott sei Dank kommst du direkt nach Mustique und meidest dieses scheußliche Resort, das Jasper da hochzieht.» Man hört den weichen französischen Einschlag, der Phillip von seiner Kindheit in Quebec geblieben ist.
«Davon will ich überhaupt nichts hören, mein Lieber. Erst mal brauche ich einen Wodka.»
«Die Drinks müssen leider warten. Es gibt jede Menge Verspätungen, und wir sind auf den letzten Flug gebucht. Sobald wir gestartet sind, machen sie den Flughafen dicht. Anscheinend zieht ein Wirbelsturm in unsere Richtung. Weiß der Himmel, weshalb sie so ein Brimborium darum machen, das verdammte Ding ist doch noch meilenweit weg.»
Phillip packt meine Hand und führt mich mit raschen Schritten durch den Flughafen. Wir sind jetzt seit dreißig Jahren befreundet, seit er damals eine der kleinsten Villen auf Mustique kaufte, obwohl er genug Geld aus dem Filmgeschäft gehabt hätte, um sich einen Palast zu bauen. Er wollte eine Zuflucht haben, wo er den Paparazzi entkommen konnte, war aber bescheiden genug, nicht zu prunken und zu protzen. Phillip war stets der strahlende Mittelpunkt jeder Party und jedes Kostümfests, doch in letzter Zeit ist es ruhiger um ihn geworden. Ich kann mich gar nicht erinnern, wann er zuletzt gedreht hat. Während ich ihm zusehe, wie er, ganz geschäftsmäßig und ernst, alles für unseren Anschlussflug regelt, stelle ich mir vor, wie er einen ehrbaren Anwalt für Menschenrechte gibt oder einen US-Präsidenten mit altmodischen Wertvorstellungen. Doch als wir auf die Maschine zugehen, die auf dem Flugfeld wartet, schlägt seine heitere Stimmung plötzlich um.
«Habe ich dir eigentlich schon erzählt, dass Jose sich in letzter Zeit ziemlich merkwürdig benimmt? Natürlich kümmert er sich nach wie vor hervorragend um unsere Gärten, aber seit kurzem geht er mir überallhin nach, morgens, mittags und abends.»
«Das klingt aber gar nicht gut. Wenn du möchtest, spreche ich mal mit ihm.»
«Ich will dem armen Jungen keine Angst einjagen, aber er muss aufhören, sich wie mein Leibwächter aufzuführen.»
Jose Gomez arbeitet seit fünf Jahren für Phillip und mich und widmet seine Zeit unseren beiden Gärten. Der junge Mann ist mit einem grünen Daumen gesegnet, jedoch von Geburt an stumm. Manchmal höre ich ihn bei der Rasenpflege pfeifen, aber ein Wort hat er mir gegenüber noch nie von sich gegeben. Phillip wirkt erleichtert, dass er sich die Sache von der Seele geredet hat. Während der Inselflieger startklar gemacht wird, greift er wieder nach meiner Hand.
«Am liebsten hätte ich Lily schon von dem Geburtstagsfest erzählt, aber natürlich habe ich mir auf die Zunge gebissen. Sie ist fasziniert von der guten alten Zeit, nicht wahr? Die Partys auf Mustique erscheinen ihr geradezu legendär.»
«Ja, aber ihr Fest muss alle anderen in den Schatten stellen. Lily hat sich eine Aufmunterung verdient, und es sind nur noch zwei Wochen. Jasper und ich haben zwei Designerinnen auf St. Lucia damit beauftragt, Dutzende von einzigartigen Kostümen für unsere Gäste zu schneidern, übrigens auch eins für dich.»
«Gibt es ein Motto?»
«Wir wollen es den Mondball nennen, weil an dem Abend Vollmond ist, und ich bete für einen wolkenlosen Himmel. Ich will, dass die ganze Insel zu Lilys Ehren erstrahlt.»
«Niemand nimmt die Planung einer Party so ernst wie du und Jasper. Ich weiß noch, wie ihr vor Jahren extra nach Kerala geflogen seid, um Kostüme und Requisiten für eine Party zu besorgen. Ihr hattet sogar eine Yacht gemietet, damit die Gäste sich auf See umkleiden konnten und perfekt zurechtgemacht am Strand ankamen. Es muss doch Wochen gedauert haben, diesen Palast auf dem Rasen zu errichten, oder?»
«Lilys Geschmack ist bescheidener als unserer, aber das ist mir egal. Alle werden kommen: Mitglieder des Königshauses, Supermodels, Rockstars und du natürlich.» Wieder schenke ich ihm ein Lächeln.
«Es ist nie zu spät, mich zu heiraten.»
«Jasper würde niemals in die Scheidung einwilligen, und du würdest mich für den erstbesten hübschen Kerl oder das erste junge Mädchen verlassen, das dir über den Weg läuft.»
Dr. Pakefield sitzt drei Reihen vor uns. Phillip und ich necken uns weiter, während der Vertretungsarzt in Gedanken versunken aus dem Fenster blickt und die Flugzeugmotoren aufbrüllen. Das Abheben in der zehnsitzigen Maschine fühlt sich an, als würde man in die Luft katapultiert, aber das Wissen, dass am Ende dieser Reise Mustique auf mich wartet, lässt mich jede Unbequemlichkeit ertragen. Die Dämmerung bricht bereits herein, und der Flugkapitän wird bestimmt alles geben, um die Insel noch rechtzeitig zu erreichen, denn bei Dunkelheit dürfen wir dort nicht landen. Die Lichter von St. Lucia verblassen, als wir Richtung Süden abdrehen. Viele Meilen weit unter uns liegt das sich kräuselnde Meer.
Ich weiß nicht, warum mich auf einmal fröstelt, als die Insel schließlich in Sicht kommt. Noch immer wachsen die Bäume und Sträucher so dicht, dass Mustique aussieht wie ein schimmernder Smaragd auf einem Kissen aus dunkelblauem Samt. In meiner Erinnerung ist die ursprüngliche Flora und Fauna der Insel noch sehr lebendig, mit den wild lebenden Kühen und Ziegen im Urwald und der Luft voller Moskitos. Unsere Maschine überfliegt jetzt Mustiques höchsten Punkt, und dann greift Phillip wieder nach meiner Hand, als wir wie ein Stein auf die winzige Landebahn herabfallen.
Nur Minuten nachdem wir gelandet sind, bricht die Nacht herein. Ich kann gerade noch die Ebene im Herzen von Mustique ausmachen, die einst zu einer Baumwollplantage gehörte und noch immer von zweihundert Jahre alten Palmen gesäumt wird. Als wir aus dem Flieger steigen und uns die warme Luft und der Duft nach Orchideen begrüßen, wird mir leicht ums Herz. Die Mitarbeiter des Flughafens warten vor dem kleinen Gebäude und heißen uns willkommen. Der Bau selbst erzählt bereits alles darüber, wie entspannt es auf der Insel zugeht. In der Hochsaison reisen hier Mustiques berühmte Besucher täglich an und ab, doch das bescheidene Gebäude bleibt, wie es ist. Palmblätter bedecken sein spitzes Dach, und über zwei kleinen Durchgängen stehen die Wörter «Ankunft» und «Abflug» auf ungelenk von Hand beschrifteten Schildern. Der Flughafendirektor macht eine Verbeugung vor mir, die Mühe, meinen Ausweis zu überprüfen, spart er sich, ganz als würde mir die Insel noch gehören. Mit ausgesuchter Höflichkeit erkundigt er sich nach Lord Blake, und obwohl ich es sehr schätze, dass man mir auf Mustique so viel Freundlichkeit entgegenbringt, dauert der Austausch von Nettigkeiten diesmal doch so lange, dass ich beim Hinaustreten aus dem Gebäude Erleichterung verspüre.
Unser Butler hat meinen Strandbuggy zum Parkplatz bringen lassen, der lediglich Stellfläche für eine Handvoll Wagen bietet, was aber für die gesamte winzige Fahrzeugflotte der Insel reicht. Unter normalen Umständen genieße ich es, überall auf Mustique zu Fuß hinzugehen, doch heute Abend bin ich froh, dass Phillip und ich den Buggy haben. Mit meinem Koffer auf dem Rücksitz brechen wir zu seiner Villa auf. Während der Fahrt atme ich tief die Gerüche der Insel ein: den süßlichen Duft von moderndem Laub, von Meersalz und von Paprika, das aus irgendeiner Küche heranweht. Ich spüre, wie sich langsam die Spannung in meinen Schultern löst. Allerdings hat sich Mustique in den sechs Monaten seit meinem letzten Besuch verändert. Die Wege durch Kängurubäume und üppiges Gebüsch wurden gepflastert, und bald wird die ganze Insel mit behördlich gebauten Trottoirs überzogen sein anstelle der sandigen Pfade, die ich doch so liebe. Von den Feriendomizilen meiner Freunde sind viele zurzeit unbewohnt. Auf Mick Jaggers Anwesen brennt kein Licht, es wird auf der Insel also viel weniger los sein als sonst und auch keine von den Cricketmatches geben, die er immer so gern spontan ausrichtet. David Bowies Haus liegt ebenfalls im Dunkeln, womit die Ausflüge zu Basil’s Bar wohl weit weniger amüsant ausfallen werden als üblich. Zumindest solange, bis die beiden Männer zu Lilys Party wieder einfliegen.
Phillips Anwesen liegt westlich von unserem und blickt über die Plantation Bay. Es ist eines der wenigen Häuser auf Mustique ohne Schutzzäune gegen die Stürme, die die Insel in der Hurrikansaison heimsuchen. Seinen Namen hat es von den Jacarandabäumen, die es, noch schwer mit violetten Blüten behangen, umringen. Jacaranda ist im Grunde ein einfaches Cottage, verkleidet mit gebleichtem Holz und gekrönt mit einem Dach aus Schiefer. Es verrät eine Menge über Phillip, dass er gerade die Schlichtheit dieses Ortes schätzt und auch nur zwei Angestellte beschäftigt – ein älteres Hausmädchen und Jose, der sich um den Garten kümmert. Er bittet mich auf einen Drink herein, aber ich kann es kaum noch erwarten, endlich Lily zu sehen, weshalb ich ihn stattdessen für morgen auf ein spätes Mittagessen zu mir einlade. Er wünscht mir gute Nacht und verspricht, frische Papayas von seinem Baum mitzubringen.
Die letzte Etappe meiner Reise durch dichte Baumgruppen fahre ich langsamer, um die friedliche Stille zu genießen. Nichts weist darauf hin, dass es hier Menschen gibt, man hört nur die Moskitos, nach denen die Insel benannt wurde, und die Zikaden, die so laut zirpen, als wollten sie jemandem applaudieren. Es sind diese Geräusche, die ich mir immer ins Gedächtnis rufe, wenn ich in England bin, dieses feine Sirren und Brummen, das mich hier in den Schlaf wiegt. Plötzlich aber höre ich ein neues Geräusch: Schritte hinter mir auf dem Weg, langsam und gleichmäßig, doch als ich mich umdrehe, sehe ich nur die dunklen Umrisse der Palmen und die leuchtenden Sterne über mir. Die Schritte setzen kurz aus, dann kommen sie wieder näher.
«Treten Sie vor und zeigen Sie sich, wer Sie auch sind!», rufe ich laut.
Aus dem Unterholz stolpert Dr. Simon Pakefield hervor. Schon aus zwanzig Yards Entfernung sehe ich, wie unangenehm ihm die Situation ist, er hat die Schultern hochgezogen wie ein Schuljunge, der erwartet, bestraft zu werden.
«Ist alles in Ordnung, Doktor? Ich habe Sie schon auf dem Flughafen gesehen und versucht, Ihre Aufmerksamkeit zu erlangen, aber Sie waren offenbar ganz in Ihre Gedanken versunken.»
«Das tut mir leid, Lady Blake.» Der Mann lächelt schief. «Ich habe Sie gar nicht bemerkt.»
«Nicht weiter schlimm. Darf ich Sie nach Hause bringen?»
Als der Vertretungsarzt in den Buggy steigt, wirkt er schon etwas entspannter. Wir haben dieselbe Richtung, denn er wohnt während Dr. Bunburys Abwesenheit in dessen Villa. Dr. Pakefield erzählt mir von seinen Plänen. In den zwei Monaten, die er auf der Insel verbringen wird, will er die Arbeit unseres Arztes weiterführen, Spenden für eine neue Röntgenanlage eintreiben und die kleine Krankenstation der Klinik mit modernen Betten und Möbeln ausstatten.
«Das klingt phantastisch, ich werde eine Benefizveranstaltung organisieren. Ist Ihre Frau dieses Mal denn nicht mitgekommen?»
«Chloe ist bei den Kindern geblieben, wir wollten sie nicht schon wieder aus ihrer gewohnten Umgebung reißen.»
«Wie schade. Sie müssen bald zum Abendessen vorbeikommen. Es ist nicht gut, wenn man zu viel Zeit allein verbringt.»
«Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber meine Patienten halten mich ganz schön auf Trab. Mir geht es gut, ehrlich.»
«Wir sollten trotzdem demnächst etwas verabreden, wir würden Sie so gern bei uns begrüßen.»
Als wir an der nächsten Weggabelung halten, wünscht mir der Vertretungsarzt eine gute Nacht und geht die letzten Schritte zur Villa von Dr. Bunbury zu Fuß. Ich bleibe voll Mitgefühl zurück. In gesellschaftlichen Belangen ist Dr. Simon Pakefield ganz auf seine Frau angewiesen. Während seines Aufenthalts auf der Insel wird er wohl etwas Unterstützung benötigen, wenn er nicht völlig vereinsamen soll. Die Begegnung mit ihm hat mich in meiner Meinung bestärkt, dass Lily es sich bestimmt nur eingebildet hat, diese Woche auf dem Heimweg verfolgt worden zu sein.
Es erstaunt mich immer noch, dass sie im Sommer nach ihrer Rückkehr aus Kalifornien beschlossen hat, auf Mustique zu bleiben. Die Insel muss viele schmerzhafte Erinnerungen in ihr wachrufen, trotzdem macht sie genau dort weiter, wo ihre Mutter aufgehört hat: mit der Reef Revival Charity, der Stiftung für den Wiederaufbau des Riffs, und dem Kutter, den ihre Mutter ihr hinterlassen hat. Natürlich würde es mir nicht im Traum einfallen, ihr das alles zu entreißen, aber manchmal wünschte ich mir, sie könnte die Vergangenheit hinter sich lassen.
Als ich jetzt durch das Dickicht der Äste Eden House erblicke, geht mir das Herz auf. Jasper hat unserer Villa diesen Namen noch vor der Grundsteinlegung gegeben, und tatsächlich erschien mir das Leben in so viel Luxus von Anfang an paradiesisch, zumal wir hier die ersten Wochen in Zelten hausen mussten. Das dreistöckige Gebäude sticht einem schon von weitem ins Auge, vor allem nachts, wenn die Fassade in dem Licht funkelt, das aus Dutzenden hohen Fenstern fällt. Entworfen wurde die Villa von Oliver Messel, einem Architekten, der für seine Bauten im Zuckerbäckerstil und sein Gespür für Theatralik berühmt ist. Der schneeweiße Bau in dem für Messel typischen Mix aus modernen und klassischen Elementen wartet mit verschnörkelten Schnitzereien an den Dachüberständen und zierlichen Balkonen im obersten Stock auf. Der Anblick wirkt so romantisch, die Villa könnte auch als Filmkulisse für Romeo und Julia dienen. Die Marmorterrasse zu ebener Erde begrüßt mich mit ihrem weiten Schwung. Der Garten sieht phantastisch aus, die Außenbeleuchtung spiegelt sich im Pool jenseits des Rasens, und unser hölzernes Poolhaus ist frisch gestrichen.
Schon beim Betreten des Hauses rufe ich Lilys Namen, bekomme aber keine Antwort, was mich nicht überrascht. Unser Flug hatte Verspätung, und unsere Angestellten haben bereits Feierabend. Die ruhige Eleganz der Räume wirkt wie immer einladend, trotzdem verspüre ich plötzlich ein seltsames Unbehagen. Das liegt vielleicht daran, dass ich selten allein hier bin, in dem Haus, das Jasper und ich seit so vielen Jahren lieben. Denn abgesehen von der langen Reise sehe ich keinen Grund für meine innere Unruhe. Also schiebe ich das Gefühl beiseite und schlendere durchs Erdgeschoss, das ich, mit ein wenig Hilfe von meinem Freund Nicky Haslam und seinem untrüglichen Geschmack, selbst eingerichtet habe. Alle Zimmer haben hohe Decken und weiße Wände, um das hereinflutende Tageslicht zur Geltung zu bringen. Überall liegen oder stehen Kunstgegenstände, die ich auf meinen Reisen mit Jasper und Prinzessin Margaret durch Indien und die Karibik erworben habe. An den Wänden hängen hohe Spiegel, deren Silberrahmen mit mythischen Figuren verziert sind, geschnitzt vor hundert Jahren von Kunsthandwerkern in Jaipur. Während ich nach oben gehe, hellt meine Stimmung sich wieder auf. In meinem Schrank hängen die Kleider, die ich bei meinem letzten Besuch hier zurückgelassen habe, und die Gemälde an unseren Wänden bereiten mir nach wie vor große Freude. Das farbige Landschaftsbild über dem Bett, das ich bei einer hiesigen Künstlerin erstanden habe, sprüht vor Lebendigkeit. Die zerbrechliche Vase, die ich einmal in Japan entdeckt habe, steht wie immer auf meinem Toilettentisch und wartet nur darauf, mit Blumen gefüllt zu werden.
Natürlich könnte ich jetzt zur Britannia Bay hinuntergehen und in Basil’s Bar Ausschau nach Lily halten, aber irgendwie scheue ich die Mühe, mir die Haare zu kämmen