Der Tote im Eiskeller - Petra Oelker - E-Book

Der Tote im Eiskeller E-Book

Petra Oelker

0,0
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Mord in einer Sturmnacht – Rosina auf der Spur eines rätselhaften Verbrechens Hamburg, anno 1771. Nach dem Sommer der großen Flut verunsichert eine Serie von merkwürdigen nächtlichen Anschlägen auf ehrbare Bürger die Hansestadt. Schließlich wird in einem Eiskeller, tief im Festungswall, ein toter Soldat gefunden. Sind alle derselben Bande zum Opfer gefallen? Und was wollte der Offizier der Garnison überhaupt mitten in der Nacht in dem finsteren Keller? War er Munitionsdieben auf der Spur? War er am Ende selber einer? Und welche Rolle spielt die seltsame junge Frau mit der Laterna magica? Rosina, Weddemeister Wagner und die Kaufmannsfamilie Herrmanns machen sich auf die schwierige Suche nach dem Mörder.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 582

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Petra Oelker

Der Tote im Eiskeller

Ein historischer Kriminalroman

Über dieses Buch

Mord in einer Sturmnacht – Rosina auf der Spur eines rätselhaften Verbrechens

 

Hamburg, anno 1771. Nach dem Sommer der großen Flut verunsichert eine Serie von merkwürdigen nächtlichen Anschlägen auf ehrbare Bürger die Hansestadt. Schließlich wird in einem Eiskeller, tief im Festungswall, ein toter Soldat gefunden. Sind alle derselben Bande zum Opfer gefallen? Und was wollte der Offizier der Garnison überhaupt mitten in der Nacht in dem finsteren Keller? War er Munitionsdieben auf der Spur? War er am Ende selber einer? Und welche Rolle spielt die seltsame junge Frau mit der Laterna magica?

Rosina, Weddemeister Wagner und die Kaufmannsfamilie Herrmanns machen sich auf die schwierige Suche nach dem Mörder.

Vita

Petra Oelker, geboren 1947, arbeitete als freie Journalistin und veröffentlichte Jugend- und Sachbücher. Sie schrieb mehrere in der Gegenwart angesiedelte Kriminalromane, unter ihnen «Der Klosterwald» und «Die kleine Madonna».

Dem großen Erfolg ihres ersten historischen Kriminalromans «Tod am Zollhaus» folgten weitere Romane, in deren Mittelpunkt Hamburg und die Komödiantin Rosina stehen.

 

Weitere Veröffentlichungen:

(in der Reihe um die Komödiantin Rosina)

Tod am Zollhaus

Der Sommer des Kometen

Lorettas letzter Vorhang

Die zerbrochene Uhr

Die ungehorsame Tochter

Die englische Episode

Mit dem Teufel im Bunde

Die Schwestern vom Roten Haus

 

(in der Reihe um die Äbtissin Felicitas Stern)

Der Klosterwald

Die kleine Madonna

 

sowie

Die Neuberin

Tod auf dem Jakobsweg

Und nun:

FÜR FRANK

Die Zeit wird vergehen!

Was wir hier sehen

steht in diesem grünen Garten,

verwelkt in kurzer Zeit,

wie schon des Herbstes Neid

scheint darauf zu warten.

 

Simon Dach, 9. Strophe des Trauergedichts Klage über den unendlichen Untergang und ruinierung der Musicalischen Kürbs=Hütte und Gärtchen anlässlich der Enteignung des Gartens des Komponisten Heinrich Albert wegen eines Straßenbaus. 1641.

Kapitel 1

Hamburg im August 1771

«Soll ich nicht doch einen Laternenträger holen lassen, Monsieur Hecker?» Der Wirt des Schwarzen Adler unterdrückte ein Gähnen und sah seinen letzten Gast besorgt an. «Ihr solltet so spät nicht alleine durch die Nacht gehen.»

«Wegen der paar Schritte? Vertanes Geld. Wir haben Halbmond und brave Nachtwächter, und wenn Ihr an diese seltsamen Kerle denkt, die sich in der letzten Zeit auf unseren Straßen herumtreiben – die sollen nur kommen.»

Wilbur Hecker, ein Mann von erheblichem Umfang und kurzem breitem Nacken, klopfte auf die ausgebeulte rechte Tasche seines Rocks, drückte sich den Dreispitz aufs spärliche Haar und machte sich auf den Heimweg. Nur wer genau hinsah, bemerkte sein leichtes Schwanken.

Der Wirt blickte ihm gleichmütig nach. Vom Licht des Mondes war in der Steinstraße, obwohl sie eine der breitesten der Stadt war, nicht viel zu sehen, die Gestalt in dem dunklen Rock verschmolz schon mit der Dunkelheit, nur die weiß bestrumpften Waden leuchteten noch. Beinahe sah es aus, als bewegten sie sich allein durch die Nacht. Die Straßen waren schlecht, und der regenreiche Sommer hatte sie nicht besser gemacht; Heckers Chance, ohne Sturz nach Hause zu kommen, war gering.

Achselzuckend schloss der Wirt die Tür. War er der Hüter seiner Gäste? Nur solange sie an seinen Tischen saßen. Wenn Heckers Geiz eine Laterne verbat, trug er selbst die Schuld.

Er legte den Balken vor, öffnete die Fenster, damit die milde Luft der Spätsommernacht den Tabakqualm und den klebrigen Geruch von Bier, Wein und Ochsenbraten vertreibe, und goss den Rotsponrest aus Heckers Krug in eines der guten Gläser. Der edle Schluck war der Auftakt für den schönsten Teil des Abends: Er setzte sich mit der Kasse in den Lehnstuhl beim Kamin, zog den dreiarmigen Leuchter heran und zählte die Einnahmen. Selbst wenn er dabei nicht leise und in tiefer Zufriedenheit vor sich hin gesummt hätte, wäre ihm das plötzliche Verstummen der klappernden Absätze auf der einsamen Straße kaum aufgefallen.

Wilbur Hecker war ein ehrbarer Mann. Als Kaufmann hatte er es zu einigem Reichtum gebracht, den er besonders in seinem Sommerhaus mit dem großen, an exotischen Gewächsen reichen Garten gerne zur Schau stellte. Er war ein pflichtbewusster Gatte und Vater von vier Söhnen und einer Tochter, er besuchte an jedem Tag den Frühgottesdienst (in dem er höchstens für einige Minuten einnickte) – viel mehr wurde über ihn in der Stadt nicht gesprochen. Außer dass sein unermüdliches Bestreben, in die Reihe der Bürgerkapitäne aufgenommen zu werden, kurz vor dem Ziel stand. Von Lastern jeglicher Art war nichts bekannt, zumindest wurde von keinen geredet – was unweigerlich geschehen wäre, wenn es welche gegeben hätte. Dass er an jedem Donnerstagabend im Schwarzen Adler einkehrte, um mit einigen nicht ganz so honorigen Herren ‹ein Spielchen zu wagen›, fiel da nicht ins Gewicht. Auch ein tugendhafter Mann brauchte ab und zu ein Vergnügen.

Böse Zungen behaupteten, es sei sein einziges, denn wer mit einer wie Madame Hecker verheiratet sei, müsse sein Amüsement nun mal außerhalb des eigenen Heims suchen. Eine Behauptung, die keinesfalls gerechtfertigt war. Madame Hecker galt als recht schweigsame und zuweilen strenge Dame, doch sie war eine Frau von Verstand und bei aller Leidenschaft für die empfindsamen (und teuren) Gewächse in ihrer Orangerie eine gute Wirtschafterin, was sich jeder kluge Mann von seiner Gattin nur wünschen konnte.

Das wiederum flüsterten andere Stimmen, die auch der Ansicht waren, wer mit Monsieur Hecker verheiratet sei, werde bald schweigsam und tue gut daran, sich der Pflege eines kostspieligen Gartens zu widmen, weil es in einem solchen Leben sonst wenig Freude gebe.

Kurz und gut, das Eheleben der Heckers und das, was darüber geredet wurde, boten nichts Außergewöhnliches.

An all dies dachte Wilbur Hecker nicht, als er die Steinstraße hinuntertapste. Er hatte nie über seine Ehe nachgedacht, auch nicht über seine Frau. Er hätte nicht gewusst, wozu das nützlich sein sollte. Das Leben war, wie es war, und er hatte allen Grund, mit dem seinen hoch zufrieden zu sein.

In diesen Minuten dachte er nur an den netten kleinen Gewinn, den er Ascan Westmeyer abgeluchst hatte. Er hoffte, der neue Spieler in seiner alten Runde werde sich trotz des Verlustes, der für den reichen Privatier gewiss leicht zu verschmerzen war, auch am nächsten Donnerstag im Hinterzimmer des Schwarzen Adler einfinden. Es war angenehm und einträglich, mit einem Mann zu spielen, der ängstlich jedes Risiko mied und auch sonst berechenbar blieb. Vor allem aber hoffte er, dann mehr über dessen geheimnisvolle Mischung von Alpenkräutern zu erfahren, aus denen sich ein Elixier brauen ließ, das das Leben wenn auch nicht endlos machte, so doch erheblich verlängern konnte. Bei guter Gesundheit. An diesem Abend hatte Westmeyer, der sonst für seine Geschwätzigkeit berüchtigt war, nicht mehr als einige vielversprechende Andeutungen preisgegeben.

‹Jajaja›, dachte Hecker, ‹das ist das Beste: bei guter Gesundheit.›

Und das war das Letzte, was er in dieser Nacht in zusammenhängenden Sätzen dachte. Es war nicht mehr weit bis zu seinem Haus in der Petritwiete, kaum mehr als zwanzig, in Anbetracht seines ziemlich unsicheren Ganges vielleicht dreißig Schritte, als er sich von kräftigen Händen mit einem Ruck in die Schwärze einer Toreinfahrt gezogen fühlte. Sein empörter Schrei erstickte in einem Lappen, der seinen Mund füllte und verschloss, und dann – was dann folgte, ging in einem Übelkeit erregenden Schwindel verloren. Bis ihn ein Schwall kalten Wassers wieder munter machte, stinkiges Wasser aus einem Fleet; bis der Knebel herausgezogen wurde und er, ehe er auch nur den Versuch machen konnte, um Hilfe zu schreien, gezwungen wurde, noch mehr Wein zu trinken. Wein? Nein, es war Bier, ein schales, saures Gebräu, er schluckte und spuckte und schluckte in panischer Angst, bis es wieder leer in seinem Kopf wurde, dumpf und schwarz, und er dachte, nun werde ihm auch kein Wunderelixier mehr zu einem biblischen Alter verhelfen können.

 

Als der Morgen graute und die Glocken zum Frühgottesdienst riefen, eilte der zweite Prediger von St. Petri die enge Treppe im dritten Pastorenhaus hinunter, nur ein hastiges Gebet verhinderte, dass er über den Talar stolperte und sich den Hals brach. Ein kleines Gebet half eben immer, sogar wenn er verschlafen hatte. Das hatte ihm ausgerechnet heute passieren müssen, da der erste Prediger mit einer Missstimmung der Galle niederlag und er die unverhoffte Ehre hatte, ihn zu vertreten.

Der Glockenschlag verlangsamte sich, just als er die Tür zur Sakristei aufstieß. Er hatte es geschafft, mit dem Verklingen des letzten Tons würde er vor den Altar treten, so wie es sein musste.

«Ich bin ja schon da», wehrte er den Küster ab, der ihm händeringend entgegenstürzte, «ich bin ja schon da. Nein, jetzt keine Debatte, Rubhoff, später, nun wartet die Gemeinde.»

Ärgerlich schüttelte er die nach seinem Talar greifende Hand des Küsters ab und öffnete die Tür zum Kirchenschiff. Wie erhebend wäre es, erklänge jetzt die mächtige Stimme der Orgel. Er liebte Musik, und die Orgel von St. Petri war weithin berühmt, doch leider gehörte der Frühgottesdienst einzig dem Wort und der stillen Andacht.

Abrupt blieb er stehen. Von Andacht konnte an diesem Morgen keine Rede sein. Die Gemeinde, sie war größer, als er erwartet hatte, saß nicht über ihre Gebete gebeugt in den Bänken, die Männer und Frauen, auch einige Kinder waren darunter, standen vor den Stufen des Altars wie vor einer Jahrmarktsbude und starrten stumm auf etwas, das er nicht sehen konnte.

«Was ist hier los?», rief er streng, allerdings klang es nach nicht viel mehr als einem Piepsen. Niemand wusste, dass er sich vor Menschen fürchtete, wenn es mehr als zwei waren und sie ihm näher als sechs Fuß kamen – was für einen Seelsorger und Mann Gottes höchst hinderlich war. «Was ist hier los?», wiederholte er. «So setzt euch doch, ich bin nun bei euch.»

Endlich bemerkte ihn jemand, ein Schubsen und Raunen ging durch die kleine Menge, und die Menschenmauer öffnete sich. Aber sie gingen nicht weg, setzten sich nicht in ihre Bänke. Warum gingen sie nicht endlich weg?

Seine Augen folgten ihren Blicken, und was er sah, erschien ihm wie der schlimmste Albtraum. Was für ein Sakrileg!

Direkt vor dem Altar lag ein Mann, Rock und Weste beschmutzt von Erbrochenem, die Beine gespreizt, die Hände über dem dicken Bauch gefaltet, und darunter, darunter – darunter war der Körper nackt. Bis zu den nicht mehr ganz weißen Strümpfen. Und dort!, an dieser besonderen Stelle des Körpers, die ein anständiger christlicher Mann selbst im ehelichen Schlafgemach nur in der Dunkelheit und so selten wie zum Erhalt einer Familie nötig unter der Decke entblößte, leuchtete im frühmorgendlichen Dämmerlicht ein großer runder Fleck in tiefroter Farbe. In Scham und Entsetzen wandte er den Blick ab, sah dem Mann, den er sehr wohl erkannte, ins Gesicht und zog scharf die Luft ein. Dort, wo seine Ohren, bescheidene menschliche Ohren, ihren Platz hatten, hingen borstige Schweinsohren.

«Tot», schnaufte der Schmied vom Pferdemarkt in die Stille. «Hecker is tot, keine Frage.»

Das Aschenmädchen der Matthews kicherte nervös, eine andere Stimme, sie gehörte einer Zwiebelverkäuferin aus Bardowick, murmelte etwas von der Sittenlosigkeit der Stadtleute. Und mitten hinein in die nun aufbrandenden Mutmaßungen, auch ein Besuch des Teufels während der vergangenen Nacht wurde als Erklärung für dieses unerhörte Ereignis erwogen, mitten hinein dröhnte plötzlich kurz und heftig ein rülpsender Schnarcher.

Wilbur Hecker war nicht tot. Aber als er gleich darauf erwachte und sein Bewusstsein sich den Weg durch den Nebel in seinem Kopf gekämpft hatte, als er in die Gesichter sah, eine ungewohnte Kälte am Unterleib spürte und endlich begriff, hätte er zum ersten Mal in seinem behaglichen Leben nichts dagegen gehabt.

Kapitel 2

September 1771

Das Licht des späten Nachmittags, matt und golden wie ein Vorbote des nahen Herbstes, verwandelte die verwüsteten Marschen zu einer Landschaft von bizarrer Schönheit. Anstatt der Gerüche warmer spätsommerlicher Äcker und Wiesen und frischen fließenden Wassers trieb der sanfte Wind die Ausdünstungen von Morast und Brackwasser heran, von verwesendem Fleisch und verfaultem Fisch. Wo gewöhnlich der Flickenteppich von fetten Weiden, Äckern und Gärten sein Gelb, Braun und Grün ausbreitete, lagen klebrig-nasser grauer Sand, zu wirren Haufen zusammengeschobener Unrat, entwurzeltes Gesträuch, zwischen sterbenden Bäumen von der Flut zerdrückte und auseinander gerissene Schuppen, Ställe und Katen. Selbst von den festeren Häusern waren viele nicht mehr bewohnbar.

Die eigentümliche Stille, die oft auf ein großes Unglück folgt, wurde nur von den Schwärmen der Krähen und Möwen durchbrochen, wenn sie sich mit Gekrächz und schrillem Geschrei um Beute stritten. Hin und wieder auch von einem zornigen menschlichen Schrei, wenn jemand die Kraft erübrigte, die gierigen Fresser für einen kurzen Moment aufzuscheuchen. Die Vögel schienen groß und siegreich, unbeirrbar wie die nun wieder in trügerischer Trägheit in ihren Betten dahinfließenden Wasser. Die Menschen hingegen wirkten in dieser Wüstenei wie müde Ameisen. Einige suchten noch Reste ihrer Habe. Die meisten mühten sich, mit Händen und Schaufeln ihre immer wieder im Morast einsinkenden Karren mit Unrat und den Kadavern ertrunkenen Viehs und Wildgetiers zu beladen. Andere schoben den schlammigen Sand und alles was die große Flut sonst noch zurückgelassen hatte, aus den Dielen ihrer Gehöfte.

Als die Pferde endlich wieder trockenen Grund unter den Hufen spürten und kräftig anzogen, sagte der Kutscher: «Es ist eine Schande. Dieser Deichbruch ist eine echte Schande. Die Leute in der Stadt meinen, die Wühlmäuse waren schuld, aber das sind nur dumme Kreaturen. Wühlmäuse wühlen. Was sonst? Und abgesoffen sind die sowieso zuerst. Ich sage, der Vogt ist schuld. Die Flut war wochenlang vorauszusehen, und als sie näher kam, da ist er die Deiche abgegangen und hat befunden, dass keine Gefahr besteht. Ein Vogt, der nicht sieht, dass die Wühlmäuse im Deich sind, ist schuld, wenn der bei Hochwasser bricht.»

Er blickte die junge Frau, die neben ihm auf dem Bock saß, erwartungsvoll an. Vergeblich, auch diesmal antwortete sie nicht. Sagte kein ‹Tatsächlich?›, kein ‹Wie Recht Ihr habt›, sie nickte ihm nur mit ihrem schmalen Lächeln zu, das immerhin, und es war bei aller Sprödigkeit doch ein hübsches Lächeln.

Als die Kutsche nach der Überquerung der Elbe bei Zollenspieker von der Fähre gerollt war und die Reisenden wieder ihre Plätze einnahmen, hatte sie gefragt, ob sie sich zu ihm setzen dürfe. Sie sei so neugierig auf die große Stadt und könne den Anblick kaum erwarten. Ihm war es recht gewesen und dem Postillion auch. Die Kutsche war ein einfaches Gefährt, schlecht gefedert, die Bänke nur mit durchgesessenem Stroh gepolstert, doch der Postillion war müde wie die Pferde und tauschte gerne für ein Weilchen den Platz im Staub gegen einen im Wagen. Ins Horn konnte er auch zum Fenster hinaus blasen. Oder sich, wenn die Stadt nah genug war, auf eines der Pferde schwingen. Das tat er immer gern, wenn Röcke und Hauben in der Nähe waren.

In Lüneburg waren zwei Reisende ausgestiegen, der Postillion musste die beiden Bänke nur noch mit zwei weiteren Männern teilen. Der jüngere, ein kurzbeiniger dicklicher Mensch mit einem Kindergesicht, war ein Student, sein Gepäck bestand aus nichts als einer abgeschabten Tasche. Während der ganzen Reise versuchte er sie auf dem Schoß zu halten, was bei dem Geschaukel der Kutsche unermüdliche Aufmerksamkeit erforderte. Dabei sah die Tasche aus, als berge sie nichts als langweilige gelehrte Bücher, einen Schreibkasten und ein zweites reines Hemd.

Der andere, ein Herr von mittleren Jahren und gewaltigem Umfang, schien kaum interessanter. Sein Passpapier wies ihn als einen Mann von Adel aus, aber solche gab es wie Sand am Meer. Echte und falsche. Und wer in dieser Kutsche und ohne Diener reiste, mit dessen Adel konnte es nicht weit her sein. So oder so – das Trinkgeld würde mager ausfallen.

Die junge Frau neben dem Kutscher sah nicht aus, als könne man einen vergnüglichen Abend mit ihr haben. Dazu wirkte sie zu fromm. Die Farben ihres einfachen, von kaum helleren Streifen durchzogenen nachtblauen Kleides und des sandgelben Mieders waren noch frisch, auch die festen Nähte bezeugten, dass beides neu war. Ihr Brusttuch war hoch am Hals mit einer kupfernen Nadel geschlossen, eine graue Haube beschattete ihr Gesicht so sehr, dass er es nur sehen konnte, wenn er sich vorbeugte. Sie hatte dunkles, fast schwarzes Haar, das hatte er bemerkt, als sie sich nach einem Reiher umdrehte und dabei den glänzenden Knoten in ihrem Nacken zeigte. Es war ein schöner Nacken, lang und schlank. Für so etwas hatte er einen Blick. Die Zartheit passte allerdings nicht zu ihren Händen, die verrieten deutlich, dass sie ihre Tage nicht müßig in einem Salon zugebracht hatte. Das wunderte ihn nicht. Eine junge Frau, die allein reiste und sich auch noch zu dem Kutscher auf den Bock setzte, stammte kaum aus bürgerlichem oder gar wohlhabenden Haus.

Trotzdem war sie keine, der man ungefragt zu nahe kam, sei es auch nur, um rasch die Hand auf ihren Arm zu legen oder für ein Weilchen ihren weiblichen Duft zu atmen. Einerlei, selbst eine so spröde Gesellschaft machte eine lange Fahrt auf allzu bekannten Straßen kurzweiliger.

So hatte ihn ihre Bitte um einen Platz auf dem Bock gefreut, er hatte die Schultern breit und den Rücken gerade gemacht und bedauert, dass er sein Hemd schon seit dem vorletzten Sonntag trug, was man ihm leider auch ansah.

Es fand es angenehm, wenn Frauen wenig sprachen, es reichte, wenn sie zuhörten. Aber ab und zu ein kleines Wörtchen, ein zierliches Kichern, nur damit er nicht das Gefühl haben musste, mit sich selbst zu reden, das wäre doch angebracht.

«Wien», versuchte er es wieder, das kleine Wort tat stets gute Wirkung. «Das ist eine grandiose Stadt. Nichts gegen Hamburg, das ist groß – aber Wien!»

Er gab seiner vom Staub heiseren Stimme etwas Schwärmerisches und wartete auf den Seufzer, der von den Mädchen beim Erwähnen der fernen Kaiserstadt stets erfolgte. Nichts. Nicht einmal die üblichen Fragen, ob er dort die Kaiserin gesehen habe oder wenigstens eine der Hofdamen und ob die Schlösser und Gärten tatsächlich so prachtvoll und paradiesisch seien? Auch nach dem Kaiser wurde gewöhnlich gefragt, allerdings nicht so oft.

Er war nie in Wien gewesen. Die Postlinie, auf der er seit mehr als einem Jahrzehnt fuhr, verkehrte zwar zwischen Hamburg und Wien, doch er kutschierte stets nur bis Leipzig, für die Weiterfahrt über Prag bis zum Ziel übernahmen andere Kutscher die Zügel. Aber er hatte genug gehört, um mit den Geschichten anderer Männer Eindruck zu machen. Noch besser wäre es gewesen, wenn sich der Traum seiner Jugend erfüllt und er zu den Reitenden Boten gehört hätte. Die waren verwegen und schnell wie der Wind, sie brachten Post bis nach der fernen Türkei, im Norden bis nach Norwegen und Finnland, nach Hinterpommern im Osten, nach Westen bis Amsterdam und weiter durch England bis ins Schottische oder auf die irische Insel. Aber für solche Eskapaden war er längst zu alt.

«Wien», erklärte er mit einem nachdrücklichen Schnalzen, «ist wahrhaft kaiserlich.» Das war nicht originell, aber hübsch allgemein. «Wart Ihr jemals dort?»

«Nein», sagte sie und wandte ihm endlich ihr Gesicht zu. Einfach nur nein, kein Wort des Bedauerns, keine Frage nach seinen Erlebnissen. Nur ein Blick aus diesen dunklen Augen. Ein Blick, der ihn gleichsam schrumpfen ließ.

«Na ja», murmelte er, «ich auch nicht. Genau genommen.»

Sie lächelte, ihr Blick wurde sanft, und sie sah wieder nach vorn.

 

Die Große Allee vor dem Steintor, das den Eintritt in die Stadt von Osten gewährte, lag beinahe ebenso verlassen wie die in diesen Tagen aus dem überschwemmten Land wieder auftauchenden Nebenarme und -flüsschen der Elbe. Für gewöhnlich waren die schmalen Wasserläufe besonders in der Erntezeit voller kleiner Boote, die Allee voller Wagen; am Morgen rollten sie hoch bepackt in die Stadt, im Gefolge ein paar von barfüßigen Kindern getriebene Gänse oder Schafe, am Abend ging es leer zurück in die Dörfer und zu den einsam in den Marschen gelegenen Höfen. Doch im Spätsommer und Herbst anno 1771 gab es nur wenig zu transportieren, die gesamte Ernte der Vier- und Marschlande war vernichtet. Nur die Äpfel und Birnen, die an den oberen Zweigen der Bäume in den Gärten wohlhabender Bürger die Flut überstanden hatten, leuchteten rot und gelb im Licht der tief stehenden Sonne, als wollten sie die Bauern verspotten, die hier von jeher von der Gemüse-, Erdbeer- und Blumenzucht lebten, stets gebückt über die feuchte schwere Erde.

Am Rande der Großen Allee vor dem Steintor saßen zwei Männer auf ihren Pferden und blickten auf den verwüsteten Landstrich. Er erstreckte sich als mächtiger Keil nach Südosten, von der am Geesthang verlaufenen Allee etwa drei Meilen weit bis zur großen Elbschleife beim Krauel. Gut zwei Monate nach dem ersten Deichbruch war das Wasser bis auf modrige Tümpel in den Senken wieder abgelaufen, das Grün hatte mit seiner unermüdlichen Energie begonnen, sich den Weg zurück durch das versandete und verschlammte Land ans Licht zu erkämpfen, angeschwemmte Samen hatten schon kleine Kolonien von Gras, Kräutern und niedrigem Gebüsch neu entstehen lassen. Selbst manche der Bäume trieben so spät im Jahr noch einmal Knospen, wie zum Beweis, dass doch noch Leben in ihnen steckte.

Einer der beiden Männer, der im kirschroten Rock über engen sandfarbenen Hosen, schob seinen Dreispitz zurück, beschattete die Augen mit der Hand und murmelte: «Glück gehabt.» Er sah zu seinem Begleiter und sagte laut und plötzlich vergnügt: «Wirklich, Elias. Verteufeltes Glück.»

«Wie man’s nimmt», antwortete der andere. Er war schlicht und dunkel gekleidet, ein runder schwarzer Hut mit breiter Krempe steckte nachlässig aufgerollt in seiner Rocktasche. «Wir schon, Viktor. Unser Baumgarten liegt auf dem Geestrücken, aber die Leute dort …»

Er beendete den Satz nicht, eine alte Angewohnheit, die den anderen, seinen Bruder, stets ungeduldig werden ließ.

«Die kommen schon wieder auf die Beine. Wer’s nicht schafft, wäre sowieso über kurz oder lang in Konkurs gegangen. Die Leute in den Marschen sind Deichbrüche gewöhnt, Elias, und immerhin hat die Flut diesmal keine Menschenleben gekostet. Nicht ein einziges. Vergiss jetzt mal das Bauernland und denke an all die abgesoffenen Gärten um die Sommerhäuser. Für uns ist dieses Unglück reines Glück. Wenn der ganze Sand und Unrat erst weggeräumt sind, muss neu angelegt und gepflanzt werden, und wer hier einen Garten hat, verfügt auch über das nötige Geld. Hast du nicht die Liste gesehen? Unter den Besitzern sind zwei Bürgermeister, sechs Senatoren, ein Bürgerkapitän, lauter Männer mit dickem Geld. Auch der Kattunfabrikant ist gut im Geschäft. Für uns, Elias, ist das ein grandioses Geschäft. Ich hoffe, du warst klug genug, die Bestellungen für das nächste Frühjahr zu verdoppeln. Sieh mich nicht so grimmig an, Bruder, ich würde mir nie erlauben, deinen Geschäftssinn infrage zu stellen.»

Elias Malthus nickte, was immer das bedeuten mochte. Er zog den Hut aus der Tasche, schlug ihn auf dem Oberschenkel in Form und drückte ihn sich auf den Kopf. «Ja. Wir haben wohl Glück gehabt.»

Er hoffte, sein Bruder habe bemerkt, dass er das ‹Wir› betont hatte. So wie er hoffte, sein Bruder habe nicht bemerkt, dass er zuvor bei dem von Viktor so besonders betonten ‹uns› zusammengezuckt war. Uns. Wir. Das waren schöne Wörter, wenn sie jedoch ihn und Viktor betrafen, insbesondere im Zusammenhang mit der Malthus’schen Handelsgärtnerei, gefielen sie ihm ganz und gar nicht.

Der durchdringende Klang des Posthorns, schwerer, in einer Staubwolke näher kommender Hufe und ratternder Wagenräder riss ihn aus seinen Gedanken. Die Postkutsche kam rasch heran und zog an den beiden Brüdern vorbei. Das Wappen auf dem Schlag wies sie als eine der Hochfürstlich Braunschweigisch-Lüneburgischen Post aus. Der Postillion saß auf einem der beiden vorderen Pferde. Er hatte sich keine Zeit genommen, den Sattel aufzulegen, er war daran gewöhnt und sah aus, als sei er eins mit dem Tier. Die vier muskulösen Braunen waren schweißnass. Die Straße von der Elbfähre beim Zollenspieker war erst seit kurzem wieder befahrbar; immer noch machte der aufgeweichte Grund das Vorwärtskommen schwer, nur das letzte Stück, eine Viertelmeile vielleicht, war schon von spätsommerlichem Staub bedeckt.

Auf dem Bock neben dem Kutscher saß eine schmale, trotz des warmen Wetters dunkel und bis unter das Kinn hochgeschlossen gekleidete weibliche Gestalt. Sie hielt eine Tasche aus dunkelrotem Samt fest auf dem Schoß, saß kerzengerade und passte sich doch leicht und geschmeidig dem Schaukeln des schweren Gefährts an, als wäre sie eine so erfahrene wie gute Reiterin. Sie musste auch eine gute Tänzerin sein.

«Das Mädchen hat Mut», rief Viktor lachend durch das feine Tuch, das er sich gegen den aufwirbelnden Staub vor den Mund hielt, «das Reisen auf dem Kutschbock ist kein Vergnügen.»

Als die Kutsche die beiden Männer am Straßenrand passierte, sah sich die junge Reisende nach ihm um, und ihre Blicke trafen sich. Er salutierte auf eine fast private Weise, als grüße er auf dem Spazierweg auf den Wällen eine ihm gut bekannte Dame. Aber sie lächelte nicht, winkte auch nicht zurück, kokett und im Davoneilen nichts wirklich versprechend. Sie hielt nur für diesen kurzen Moment seinen Blick, bis der Staub die Kutsche wieder verschluckt hatte. Und er das Gesicht unter der grauen Haube schon wieder vergessen hatte.

«Nun komm, Elias», sagte er und klopfte flüchtig Staub von Dreispitz und Rock. «Das Tor wird gleich geschlossen.»

Er schnalzte leise, drückte seinem eleganten Apfelschimmel die Fersen in die Flanken und machte sich, ohne seinen Bruder weiter zu beachten, auf den Heimweg. Elias würde ihm folgen. So war es immer gewesen, jedenfalls früher, als sie noch Jungen waren. Viktor, der ältere, gab den Ton an, Elias, der jüngere, folgte. Das war nur natürlich, warum sollte es jetzt anders sein.

Als Viktor das leise Schnauben des Pferdes seines Bruders hinter sich hörte, lächelte er. Hätte er sich nach ihm umgedreht, hätte er das vielleicht nicht getan.

Elias Malthus galt als ruhiger, bedächtiger Mann. Niemand konnte sich erinnern, ihn je in einen lauten Streit, gar in eine Schlägerei verwickelt gesehen zu haben. Ebenso wenig fiel jemandem ein, ihn ängstlich oder gar feige zu nennen. Der junge Malthus, sagten die Leute und meinten damit auch nach dessen unvermuteter Rückkehr niemals Viktor, sondern einzig Elias, ist eben ein friedfertiger Mensch.

Als Elias seinem Bruder nun nachritt und auf dessen breite gerade Schultern in dem makellosen, mit einer weißen Schärpe geschmückten Uniformrock der Hamburger Garnison blickte, auf die selbstbewusste Haltung, die entspannt am Knauf des Offiziersdegens liegende linke Hand, sah er keineswegs friedfertig aus. Seine um die Zügel geballten Fäuste, der dunkle Blick verrieten alles andere als brüderliche Liebe und Verbundenheit.

Als Jungen hatten Viktor und Elias Malthus einander so sehr geglichen, dass selbst die Nachbarn sie kaum zu unterscheiden wussten, wenn einer der beiden an ihnen vorbeiflitzte: das blonde Haar, die hellen Augen, die staksigen Glieder. Vielleicht war Viktor, der um zwei Jahre ältere, ein wenig schneller, auch verwegener. So jedenfalls war die allgemeine Meinung, als er, kaum fünfzehn Jahre alt, an einem kalten Märztag mit der einsetzenden Dämmerung aus dem elterlichen Haus und durch das Millerntor aus der Stadt verschwunden war. Zu jener Zeit wurden die beiden Brüder kaum mehr verwechselt, obwohl sie einander auf den ersten Blick immer noch sehr ähnlich gesehen hatten. Während Viktor seinen kindlichen Übermut, seine schnelle Bereitschaft zum Zorn noch nicht abgelegt hatte, war Elias schon über seine Jahre hinaus vernünftig gewesen. Viktor träumte von den Abenteuern der weiten Welt, Elias stellte sich niemals ein anderes Leben als das von der Familientradition bestimmte vor. So war er Gärtner und Kaufmann geworden, und die weitesten Reisen, die er je gemacht hatte, hatten ihn ins Holländische und ins Württembergische geführt. Zu anderen Gärtnern und Kaufleuten. Seit dem plötzlichen Tod des alten Wilhelm Malthus im Frühjahr leitete er die Geschäfte allein, bedächtig und erfolgreich. Das war es, was er sich vom Leben wünschte; er hatte nie befürchtet, dem könne eines Tages etwas entgegenstehen. Oder jemand.

«Elias?» Viktor Malthus drehte sich nach seinem Bruder um. «Welche Laus läuft dir gerade über die Leber? Denkst du immer noch an die abgesoffenen Äcker? Vergiss es, mein Lieber, wenigstens für heute. Wenn du nicht länger herumtrödelst und deiner müden Stute gut zuredest, bleibt uns vor dem Nachtessen noch ein halbes Stündchen für ein Bier im Bremer Schlüssel. Bist du dabei?»

«Nein, heute nicht. Aber geh du nur. Solange du pünktlich zum Essen kommst …»

Er sprach den Satz nicht zu Ende, ihm war eingefallen, dass er etwas sagen wollte, was nicht zutraf. Tatsächlich legte ihre Mutter bei der Abendmahlzeit großen Wert auf Pünktlichkeit. Ihre Augen wurden streng, ihr Mund leidend, wenn er, was hin und wieder unumgänglich war, zu spät an dem großen Tisch erschien. Wenn jedoch Viktor zu spät kam, und das geschah weitaus häufiger, hob sie nur scherzend den drohenden Finger. Nur um darauf glücklich seinen Teller zu füllen und zu erklären, der Dienst eines Offiziers auf den Wällen sei eben nicht mit der Uhr zu messen. Und niemand widersprach. Konnte denn ein Gärtner einfach die Hacke und die Samenbeutel fallen lassen, ein Kaufmann die Feder ins Tintenfass stecken, wie es ihm beliebte?

Trotz des geringen Verkehrs auf der Straße von den Vier- und Marschlanden und vom Zollenspieker hatte sich vor dem Steintor eine kleine Schlange von Fuhrwerken gebildet, die meisten waren auf der nördlicher gelegenen Straße von Lübeck gekommen. Die Kutsche war nicht mehr zu sehen. Der Post wurde stets Priorität eingeräumt, sie hatte das Tor passiert, bevor ein hoch mit Tonnen und Säcken beladener Achtspänner über die Zugbrücke in die schmale Tordurchfahrt rollte und sie verstopfte. Die Torwache nahm es heute mit der Kontrolle der Fracht und der Berechnung der Akzise besonders genau.

Elias erfüllte das Zeit verschwendende Warten mit Ungeduld, doch Viktor nickte zufrieden. Seit dem Munitionsdiebstahl aus dem kleinen Magazin auf der Bastion Eberhardus war entsprechende Ordre ergangen; es befriedigte ihn zu sehen, wie die Soldaten sich daran hielten. Eigentlich ging es darum, die gestohlene Munition zu finden, wenn sie hinausgeschmuggelt wurde – aber wusste man, ob nicht auch welche undeklariert in die Stadt gebracht und dort heimlich verkauft wurde? Es war viel von gärender Unruhe in England zu hören, auch von frechen Raubüberfällen in London am hellen Tag und auf offener Straße. So weit durfte es hier nicht kommen.

Viktor Malthus war sicher, dass die Munition von ganz normalen Dieben gestohlen worden war, sie würden genug Abnehmer finden, in der Stadt und vor den Toren. Doch so oder so, es war immer gut, die starke Hand und das wachsame Auge des Militärs zu zeigen.

Der Soldat, der mit seinem bajonettbestückten Gewehr vor dem Tor stand, erkannte den Reiter in der roten Uniform, er salutierte und begann sofort, die Männer und Frauen, die sich an dem Fuhrwerk vorbei durch das Tor hinaus in die St.-Georg-Vorstadt drängten, zur Eile anzutreiben, und schrie auch einen bellenden Befehl in das Dunkel des Tores, um die Nachfolgenden zurückzuhalten, damit der Oberleutnant und sein Begleiter ohne Wartezeit passieren konnten. Niemand murrte, alle beeilten sich, Platz zu machen, und Elias, der seinem Bruder zögernd folgte, fragte sich wieder einmal, wieso es einem Mann solche Privilegien verschaffte, nur weil er eine Uniform trug und im tiefsten Frieden auf den Wällen patrouillierte. Besser gesagt: seine Untergebenen patrouillieren ließ. Kurzum: einem Mann, der keiner richtigen Arbeit nachging.

Einer der Männer auf dem Weg aus der Stadt und nach Osten schien der gleichen Meinung zu sein. Er war von kräftiger, nicht sehr großer Gestalt, sein Gesicht wettergegerbt, wie von vielen Jahren auf See. Der schwarze, kurz geschorene Bart gab ihm trotz der hellen Augen etwas Düsteres. Kurz bevor er den Offizier auf dem nervösen Apfelschimmel passierte, räusperte er sich derb und spuckte aus. Sein Auswurf verfehlte die Hufe nur um wenige Zoll, und der Blick, der Viktor traf, war so abschätzend wie verächtlich.

Niemand außer den beiden Malthus’ bemerkte die kleine Attacke, alle hatten es eilig, vor der Dunkelheit ihr Ziel zu erreichen. Elias sah dem ohne Hast und mit vorgerecktem Kinn davonmarschierenden Mann nach, Viktor lachte unbekümmert. «Noch einer, dem eine Laus über die Leber gelaufen ist.»

«Ja.» Elias neigte abwägend den Kopf. «Allerdings eine sehr konkrete. Das war Rutger Ermkendorf. Erinnerst du dich nicht an ihn? Seine Familie hat ihren Hof auf Spadenland. Als wir Jungen waren, hat er, wann immer er auf dem Hof seiner Eltern zu entbehren war, in unseren Gärten gearbeitet. Bis er zur See gefahren ist. Ich habe ihn einige Zeit nicht mehr gesehen, aber er ist unverkennbar, trotz des Bartes. Du musst dich doch erinnern. Er verstand sich gut auf unsere Arbeit, besser als all die anderen, die hin und wieder aushalfen.»

Viktor erinnerte sich nicht. Es war so lange her, und da waren so viele gewesen, die in den Gärten arbeiteten und kamen und gingen.

Aber er wusste, was Spadenland bedeutete. Als die Flut endgültig drohte, die Schleusen am Deichtor zu sprengen und in die Stadt einzudringen, hatte der Rat beschlossen, den gemeinsamen Deich von Ochsenwerder, Tatenberg und Spadenland durchstechen zu lassen, damit das Wasser Raum fand, abzufließen. Es war geglückt, die Stadt war verschont geblieben. Und die drei Gemeinden waren unter der Flut verschwunden. Sie dienten vor allem als Weiden für Rinder und Schafe, nur einige kleine Höfe duckten sich hinter dem Reet. Ein geringes Opfer, wenn man die Verheerungen dagegen aufrechnete, die das Wasser in der Stadt angerichtet hätte.

Die, denen die Höfe und die nun für lange Zeit verschlammten und sauren Wiesen gehörten oder die sie gepachtet hatten, waren anderer Meinung. Und viele mit ihnen. Immer noch wurde darüber gestritten, ob die Deichdurchstiche nötig gewesen waren, schließlich hatte das Wasser schon begonnen zu sinken, als sich die Männer mit den Schaufeln an die Arbeit machten; dass es während dieser schrecklichen Wochen häufig gesunken war, nur um in der nächsten Nacht wieder bedrohlich zu steigen, wollten sie nicht gelten lassen. Manche sagten, die Deiche seien nur so rasch durchstochen worden, damit das Wasser die überschwemmten Lustgärten der reichen Hamburger schneller wieder freigab und bisher verschonte nicht erreichte.

«Spadenland», murmelte Viktor, «deshalb also.»

«Ja. Die Ermkendorfs hat es schlimm getroffen. Sie können in diesem Herbst die Pacht nicht bezahlen, es heißt, sie seien endgültig bankrott.»

Viktor murmelte ein Bedauern, schnalzte und lenkte sein Pferd in den Tordurchgang. Die Menschen, dachte er, waren unvernünftig. Der Beschluss des Rats war hart, aber der einzig richtige gewesen. Doch warum traf der Zorn dieser Leute ihn und seine Männer? Rutger Ermkendorf war nicht der Erste, der ihn das spüren ließ. Er hatte nur die Kompanien befehligt, die bei den Deicharbeiten halfen und die Bauern in Schach hielten, die die eingerissenen Lücken wieder zuschaufeln wollten. Er hatte seine Pflicht getan, sonst nichts. Warum zielte die Wut nicht auf den Rat oder gar auf Baumeister Sonnin, der diese Aktion berechnet und für die Stadt empfohlen hatte? Immerhin traute sich der Vogt, der die Deiche vor dem Herannahen der Flut untersucht und für sicher befunden hatte, nicht mehr ohne die Begleitung seiner Knechte unter die Leute. Allerdings hatte die Flut seinen Hof als einen der ersten und mit noch unverbrauchter Wucht getroffen. Die meisten fanden, das sei Strafe genug.

«Warum war der Kerl wohl so durchnässt?», fragte Viktor, als sie das Tor passiert hatten, Elias wieder neben ihm ritt und sie ihre Pferde durch das übliche abendliche Gedränge auf den Straßen lenkten. «Wie heißt er? Rutger, ja. Und was trug er bei sich? Es sah nach einem ordentlichen Knüppel aus.»

«Du hast viel vergessen, seit du uns und die Nähe zur Küste verlassen hast.» Elias blinzelte ihm spöttisch zu. «Warum seine Jacke so nass war, weiß ich auch nicht. Aber was er über der Schulter trug, sah mehr nach einer Harpune als nach einem Knüppel aus. Die Spitze war mit Tuch umwickelt», erläuterte er auf Viktors fragenden Blick, «hast du das nicht gesehen? Rutger fährt als Harpunier auf den Grönlandfahrern. Wenn du mehr wissen willst, frag im Bremer Schlüssel. Jakobsen, die alte Landratte, weiß von jeher alles, was im Hafen passiert und geredet wird, und als guter Wirt gibt er immer gerne Auskunft. Aber es ist seltsam, dass Rutger schon da ist. Gewöhnlich kommen die Grönlandfahrer viel später im Jahr zurück. Rutger muss auf der Fortuna gefahren sein. Die musste bald wieder umkehren und hat wenig Walspeck und viel Eis mitgebracht, auch für unseren …»

«Ach, verdammt!» Viktor ließ die Faust auf den Sattelknauf fallen. «Mit dem Bier bei Jakobsen wird es nichts. Du wirst mich auch bei unserer verehrten Madame Malthus entschuldigen müssen, Elias. Ich hatte völlig vergessen, dass ich bei den Herrmanns’ erwartet werde. Wenn ich mich nicht sehr beeile, komme ich schon jetzt zu spät. Das mag Fenna gar nicht, und ich fürchte, Monsieur Herrmanns noch weniger. Mir bleibt nicht mal Zeit, den Staub von Rock und Stiefel zu bürsten.» Er warf einen raschen Blick auf seine mit Erde des Baumgartens überkrusteten Stiefelspitzen. «Der Hausdiener wird schon Bürste und Wasser herbeischaffen, bevor er mich in den Salon bringt. Es ist ja nur ein kleines Diner mit den van Wittens und – ich glaube – den Bocholts. Ganz nette, aber schrecklich langweilige Leute. Und wichtig. Immerhin, Madame Herrmanns ist charmant, findest du nicht? Man merkt gleich, dass sie nicht von hier stammt.»

Er tippte zwinkernd an seinen Dreispitz, lenkte sein Pferd rasch und sicher durch die Menge und verschwand im Dunkel einer Twiete, dem nächsten Weg zum Haus der Herrmanns’ auf der Wandrahminsel beim Hafen.

Elias spürte einen Anflug von Hitze auf der Stirn und im Nacken. Er sah seinem Bruder nach und ärgerte sich über seinen Ärger. So war es immer gewesen: Viktor fragte etwas und hörte nicht auf die Antwort. Aber: Sag Vater, sag Mutter, sag dem Pastor, sag diesem, sag jenem – und weg war er, der große Bruder. Und er, der Kleine, blieb zurück und sah ihm nach, allein, sehnsüchtig. Nicht wert, den Großen bei seinen Abenteuern zu begleiten.

Das war nun Vergangenheit. Er war nicht mehr klein, schon lange nicht mehr, er konnte eigene Abenteuer haben. Doch da war es wieder, dieses Ziehen in der Brust, das er während all der Jahre, die Viktor fort gewesen war, nie gespürt hatte. Es war nicht zu leugnen: Er, Elias, wollte keine Abenteuer. Die Launen der Natur in seinen Gärten und die Finessen des Handels waren ihm Abenteuer genug. Aber nichts, absolut gar nichts hätte er jetzt lieber getan, als seinem Bruder zu folgen und bei diesen ‹schrecklich langweiligen Leuten› an seiner Seite zu sitzen. Oder an Mademoiselle Fennas Seite, die ihn stets an die ersten milchfarbenen Gladiolen im Sommer und an den zarten Persischen Flieder in seiner Orangerie denken ließ.

Er hätte nie gewagt, direkt nach einem Ritt vor die Stadt und ohne frisches Hemd bei seinen Gastgebern zu erscheinen. Auch darin unterschieden sich die beiden Brüder. Aber anders als Viktor, der am Ende dieses langen Tages und selbst in morastigen Stiefeln noch frisch und makellos wirkte, klebte Elias’ Haar nass im Nacken und an der Stirn, war sein Hemd zerknittert, beschmutzt und verschwitzt.

Die Leute, die Elias Malthus als höflichen Menschen mit guten Manieren kannten und ihn an diesem Abend vorüberreiten sahen, wunderten sich. Er grüßte niemanden, schon gar nicht verhielt er seine Stute, um ein paar unverbindliche Worte zu wechseln, wie es doch gute Sitte war. Er starrte mit ausdruckslosem Gesicht geradeaus, und es schien, als lasse er seine Stute den Weg nach dem Malthus’schen Haus in der Neustadt selber finden.

 

Viktor Malthus hatte sich nicht geirrt – im Prinzip. Fenna Lehnert legte in der Tat Wert auf Pünktlichkeit, was allerdings nur bedeutete, dass sie eine gute Erziehung genossen hatte und Pünktlichkeit als höflich und somit selbstverständlich erachtete. Was wiederum nicht bedeutete, dass sie in dieser Hinsicht als Vorbild gelten konnte. Da half auch die neue, hübsch ziselierte Taschenuhr wenig, besonders wenn man vergaß, sie hervorzuziehen und den Deckel aufzuklappen. In Mademoiselle Lehnerts Kopf ging ein so profaner Gedanke wie der an die Zeit leicht unter, stets gab es so viel zu bedenken, so viel zu erleben, so viel zu sehen. Noch mehr, seit sie das beschauliche Hannover verlassen hatte, um in Hamburg zu leben.

Sie versprach sich Besserung, immer wieder. Denn Viktor, so dachte sie, mussten Verstöße gegen Disziplin und Pünktlichkeit höchst zuwider sein. Deshalb hatte sie gelassen Theas Spott ertragen, als sie schon am Nachmittag nach ihr rief, um sich bei den vielen winzigen Knöpfen ihres Kleides und bei der Frisur helfen zu lassen. Nun lag die Uhr aufgeklappt vor ihr, das mahnende Ticken war nicht zu überhören. Sie würde, egal was noch geschah, zur rechten Zeit bereit und zur Stelle sein.

Mit den van Wittens, den Bocholts und Viktor wurden nur wenige Gäste erwartet, trotzdem war es ein ungemein wichtiger Abend. Die Herrmanns’ legten großen Wert auf die gute Meinung vor allem der van Wittens, was nicht zuletzt daran lag, dass van Witten als Senator und überaus erfolgreicher Großkaufmann eine gewichtige Stimme in der Stadt und ihrer feinen Gesellschaft war. Und – das hatte sie durch die Tür des kleinen Salons gehört, obwohl sie wirklich nicht hatte lauschen wollen – weil Monsieur Herrmanns sich mit seiner Entscheidung, einer Verbindung Fennas mit Viktor Malthus zuzustimmen, wohler fühlen werde, wenn der Senator ihn akzeptiere. Daran zweifelte Fenna keine Minute.

Sie selbst legte größeren Wert auf Madame Herrmanns’ Meinung. Die stammte von der englischen Insel Jersey, lebte erst seit wenigen Jahren in Hamburg und war weit gereist, erst im vergangenen Jahr bis nach den amerikanischen Kolonien, worum Fenna sie glühend beneidete. Anne Herrmanns war bekannt für ihren guten (manche sagten: leichtfertigen) Geschmack, sie war eine Dame mit klarem, unbestechlichem Blick und ihre Gesellschaft nie langweilig. Obwohl ihre Heimat eine kleine Insel nahe der französischen Küste und somit tiefste Provinz war, wirkte sie in der behäbigen Stadt an der Elbe trotz allen Bemühens, sich in die hanseatischen Sitten einzufügen, wie ein bunter Vogel. Ihr Versprechen, Fenna bald mit in das kleine Theater am Dragonerstall zu nehmen, hatte Fennas Sympathie für Anne Herrmanns umgehend zu Verehrung wachsen lassen. Niemals hätte ihr Vater einem so frivolen Vergnügen zugestimmt. Zum Glück wusste Madame Herrmanns das nicht. Und sie hatte Viktor gleich gemocht, natürlich hatte sie das.

Monsieur Herrmanns hatte seine Zustimmung zu dieser Heirat erst gegeben, als Viktor erklärte, er werde seinen Offiziersrock zum Ende des Jahres ausziehen und in das Malthus’sche Familienunternehmen eintreten. Ein Kaufmann galt in dieser Stadt alles – ganz besonders bei wohlhabenden Kaufleuten wie Claes Herrmanns –, selbst wenn er Bäume, Blumen und Sämereien verkaufte, was auch bei Verbindungen bis Bordeaux, London und sogar St. Petersburg natürlich nicht so viel galt wie der Handel mit Weizen, Eisen, Kaffee, Zucker oder Holz.

Fenna warf die Feder auf die Ablage – die Tinte war längst eingetrocknet – und legte den zur Hälfte beschriebenen Bogen in die Mappe. Der Brief an ihren Vater mit dem überfälligen Dank für die Uhr würde auch heute nicht fertig werden. Sie schob die Mappe in die Schublade ihres Pultschreibtisches, ließ die Finger, wie stets, wenn sie die Schublade schloss, leicht über den Beschlag aus vergoldeter Bronze gleiten, und wischte ein Stäubchen von der mit Ebenholz und Palisander eingelegten Mahagoniplatte. Sie liebte das so zierliche wie elegante Möbelstück fast so sehr wie das große englische Bett mit dem Himmel aus nachtblauer Seide und war fest davon überzeugt, dass sie viel amüsantere Briefe und seelenvollere Gedichte schrieb, seit sie in diesem Zimmer wohnte.

Außerdem barg der Aufsatz des Schreibtisches dieses hübsche geheime Fach, in dem sich verstecken ließ, was niemand finden durfte. Der Brief zum Beispiel, den ihr ein Straßenkind vor dem Laden des Opticus gegeben und in dem Viktor sie um ihr erstes heimliches Treffen gebeten hatte. Oder der winzige Tiegel mit dem Rouge, das sie allerdings niemals gewagt hatte zu benutzen. Nicht wegen der Herrmanns’, sondern wegen Thea. Thea sah alles und würde sie mit gefärbten Wangen und Lippen nicht einmal die Treppen hinunter in die Diele lassen. Sie vergaß ständig, dass Fenna einundzwanzig Jahre alt war und spätestens im nächsten März eine würdige Ehefrau.

«Fenna!» Thea, Amme, Zofe und strenge Hüterin der einzigen Tochter Baptist Lehnerts, stand mit in die hageren Hüften gestemmten Fäusten in der Tür. «Wozu musste ich dir schon am Nachmittag das Mieder schnüren, bis du kaum mehr atmen konntest, wenn du nun hier herumsitzt und träumst? Die ersten Gäste sind da, und dein zukünftiger Herr Ehemann ist gerade in den Hof geritten. Warum bist du noch nicht im Salon und redest dummes Zeug, wie es sich gehört? Halt!» Mit energischem Griff hielt sie Fenna fest, die rasch an ihr vorbei zur Treppe laufen wollte, und zog eine besonders üppige rubinrote Seidenblume aus ihrem Haar. «Denkst du ich seh das nicht? Ich hab die da nicht reingesteckt. So ein Aufputz schickt sich höchstens für eine Karnevalstanzerei, davon kann heute keine Rede sein. So, nun lauf. Und, um Himmels willen», rief sie Fenna nach, «wasch dir den Tintenfleck ab, oder soll dein Rotrock dich für einen Blaustrumpf halten? Das wird er nicht mögen. Überhaupt nicht.»

‹Wäre aber gar nicht schlecht›, dachte sie und lauschte den treppab eilenden Schritten nach. ‹Gar nicht schlecht.›

Noch war es nicht zu spät. Wie hatte Monsieur Herrmanns dieser Verbindung nur zustimmen können? Ein Gärtner! Immerhin kein Zwiebelbauer, sondern Mitbesitzer eines anständigen Handelsunternehmens. Das galt allerdings eher für den jüngeren Bruder. Elias Malthus hätte überhaupt besser gepasst, so ein angenehmer ernsthafter Mann ohne jede Attitüde. Langweilig, hatte Fenna gesagt, schrecklich langweilig. Ob aus Viktor je ein solider Kaufmann werden konnte, wusste der Himmel. Er hatte ein anderes Handwerk gelernt, dass er sich aufs Rechnen verstand, glaubte sie nicht. Und ein guter Ehemann? Als Junge war er auf und davon, bei Nacht und Nebel, egal, was er seinen Eltern damit antat. So einer verschwand auch gern, wenn ihm die Ehefrau nicht mehr frisch genug erschien.

Eine quälende Nacht lang hatte sie gegrübelt, ob sie Fenna oder gar deren Vormund berichten solle, was sie erfahren hatte. Böser Klatsch, hatte sie gedacht, bis sie es selbst gesehen hatte. Man hörte von solchen Dingen, und junge Männer mussten sich die Hörner abstoßen. Es mochte auch sein, dass grüne Jungen es ab und zu mit dem Gesetz nicht so genau nahmen, über die Stränge zu schlagen gehörte zum Erwachsenwerden. Doch alles hatte Grenzen. Und Viktor Malthus war nicht mehr jung, sondern dreißig Jahre alt, und zwischen Kopenhagen und Wien und in all den Kriegen, in denen er sich herumgetrieben hatte, musste mehr als genug Zeit und Gelegenheit für solche Sperenzien gewesen sein. Wenn es nur Sperenzien waren.

‹Ach, Kind›, dachte sie und stieg steif die Treppe hinunter, ‹so stolz und so klug und fällst auf dieses fatale Glitzern in den Augen herein wie jede andere.›

Thea hatte ihren Schützling für klüger gehalten, für weniger töricht. Trotzdem, sie würde schweigen. Und gut Acht geben.

 

Die Torwachen hatten das Horn des Postillions schon von weitem gehört und die Kutsche, wie es Vorschrift war, schnell passieren lassen. Nun kam sie in den engen Straßen nur mit Mühe vorwärts, der Postillion tat seine Pflicht und blies immer wieder ins Horn, doch wie stets, wenn sich der Tag neigte, schien die ganze Stadt unterwegs zu sein, besonders vor den Brücken, zumeist noch schmaler als die Straßen, stauten sich Wagen, Karren und Fuhrwerke. Am schlimmsten waren die Sänftenträger. Immer in Eile, drängten sie sich, mit lauten Rufen Platz fordernd, in jede Lücke, es war ein Wunder, dass nicht alle Tage einer der Männer unter Räder oder Hufe geriet.

Doch endlich war das Ziel, die Poststation bei der Hohen Brücke am Hafen, erreicht. Der Kutscher streckte seine steifen Glieder und kletterte vom Bock. Erst jetzt spürte er seine Müdigkeit. Bis auf die kurze Zeit, für die er dem Postillion die Zügel überlassen hatte, bis auf die Momente, in denen er dösend die Pferde sich selbst überließ, hatte er seit Braunschweig keinen Schlaf gehabt, wohl an die vierzig Stunden.

«Wir sind da», rief er dem Mädchen zu, das, die Hände noch fest um die Tasche in ihrem Schoß verschränkt, reglos sitzen blieb. «Weiter geht’s nur zu Fuß. Oder soll ich Euch eine Sänfte rufen?»

Das mit der Sänfte war ein Scherz, sie würde kaum Geld für überflüssige Bequemlichkeiten ausgeben können. Sie sah ihn ernst an, schüttelte langsam den Kopf und stieg immer noch nicht ab. Sie sah auf das Pflaster hinunter wie auf unsicheres Eis. Er hätte gerne gewusst, warum sie nicht, wie es bei allen anderen Reisenden das Gewöhnliche war, nach langer Fahrt so rasch wie möglich die unbequeme Kutsche verließ. Bis er das Gepäck und den Korb mit der Post abgeladen hatte, mochte sie bleiben, wo sie war.

Als sie sich der Stadt genähert hatten und die alten Festungswälle in Sicht kamen, das sie überragende Meer roter Dächer mit den Leuchttürmen gleichenden kupfergrünen Kirchturmspitzen, hatte sie doch gesprochen: «Welcher Turm gehört zu St. Michaelis?»

«Keiner», hatte er geantwortet. «Die Michaeliskirche ist vor Jahren abgebrannt, ein böser Blitz und aus war’s. Die neue Kirche hat noch keinen Turm, dafür hat das Geld nicht gereicht. Aber in ein paar Jahren …»

«Und St. Petri?», hatte sie ihn unterbrochen. Er hatte die Hand gegen die Abendsonne gehalten, nur um ein wenig Zeit zu gewinnen, denn er konnte die Kirchtürme der Stadt nie auseinander halten. «Der mittlere», hatte er schließlich behauptet. Er hatte sich geirrt, aber das machte nichts. Als sie der Stadt näher kamen, das Vorwerk passierten und auf das Steintor zurollten, hatte die Perspektive sich längst verändert und damit auch der Standort der Türme. Später würde sie genug Zeit haben, sich die Kirchen und Türme, die großen wie die kleinen, aus der Nähe anzusehen.

Während der Fahrt durch die Stadt hatte sie sich nicht satt sehen können, hatte jeder Kutsche nachgeblickt, zu den Kirchtürmen hinauf und, wenn sie über ein Fleet rollten, in das dunkle Wasser hinab, als finde sich dort die Lösung eines alten Rätsels. Sie hatte auch den Soldaten nachgesehen, die zur Wachablösung zum Steintor marschierten, nur die Häuser, viele doch mit prächtigen Fassaden, hatten sie kaum interessiert. Auch nicht die vielen, unermüdlich ihre Waren ausrufenden Straßenhändler oder die bunten Schilder über den Läden, die die Frauen sonst so entzückten. Er hatte ihre Aufregung gespürt, ihre Neugier und noch etwas, das er nicht deuten konnte. Abenteuerlust, hatte er gedacht, doch nun war er nicht mehr so sicher. Sie saß auf dem Bock, die Schultern hochgezogen, die Lippen aufeinander gepresst, und ihre Blicke glitten beunruhigt über das trotz des nahen Abends noch lärmende Gedränge am Hafen.

Sie musterte wachsam die am Ufer und an den Duckdalben festgemachten Schiffe, das Gewusel der Matrosen und Hafenarbeiter, der Männer und Frauen, die mit Karren und Fuhrwerken die Fracht aus aller Welt in die Stadt brachten, die kantigen Schuten auf ihrem Weg zu den an den Fleeten gelegenen Speichern, die auf dem Fluss tanzenden letzten Ewer, die ihre kleinen Segel in den Wind drehten für die Fahrt hinüber zu den Inseln oder in die Mitte der Elbe und nach Altona oder weiter hinaus, vielleicht bis zum Meer. Den dicken, von der am Horizont stehenden Sonne golden und rosig geränderten weißen Wolken, die so heiter wirkten, als böten sie einen Fensterplatz für die Engel, schenkte sie keinen Blick. Das erstaunte den Kutscher, nirgends war der Himmel so weit, waren die Wolken so schön wie im frühen Herbst hier im Norden. Er sah oft nach dem Himmel, nicht nur wegen aufziehender Wetter, die für einem Mann seines Berufes von größter Bedeutung waren, sondern weil er die hohen freien Wolken, die wie er immer unterwegs waren, mehr liebte als das Gedränge und den Lärm auf der Erde.

Endlich kletterte sie vom Bock, strich ihren Rock glatt, schob die Haube zurecht und wartete mit plötzlicher Ungeduld darauf, dass er ihr Gepäck, ein Reisekorb und eine kleine, fest verschlossene Holzkiste, vom Dach der Kutsche lud.

«Vorsicht», rief sie, als er nach der Kiste griff und sie mit Schwung dem aus der Station zu Hilfe geeilten Postknecht hinunterreichte. «Bitte! Seid doch vorsichtig.»

«Das könnt Ihr unmöglich allein tragen», rief er zu ihr hinunter. «Werdet Ihr nicht abgeholt?»

Sie schüttelte den Kopf, musterte streng die Schar von barfüßigen Straßenjungen, die sich immer einfanden, wenn eine Kutsche ankam, und entschied sich für den mit einem kleinen zweirädrigen Karren.

«Weißt du, wo die Neustädter Fuhlentwiete ist?», fragte sie ihn. «Und Krögers Hof?»

«Klar. Das is nich weit.» Seine Stimme klang enttäuscht. «Nur über die Kajen und am Herrengraben lang. Der Hof is gleich hinterm Bremer Schlüssel.»

Sie sah den Postknecht fragend an, und als er nickte, hob sie behutsam die kleine Kiste auf den Karren. Den Reisekorb überließ sie den kräftigeren Armen des Knechts.

Sehr aufrecht, immer nur einen halben Schritt hinter dem Jungen, die Hand fest auf der Holzkiste, verschwand sie im Gedränge.

Kapitel 3

Wenn das Schwalbenpaar von der Versammlung seines Schwarms in das Nest unter dem Dach des Kröger’schen Hauses zurückkehrte, war es froh, dass der Abflug in das südliche Winterquartier kurz bevorstand. Den ganzen Sommer waren Haus und Hof in der Neustädter Fuhlentwiete hinter ihrem hohen geschlossenen Bretterzaun ein sicherer und stiller Hort inmitten der lärmenden Stadt gewesen. Das Haus, solide und drei Etagen hoch, wurde nur von Madame Kröger und ihrem Mädchen bewohnt, in der kleinen Scheune hinter dem Pferdestall hatten ein Korbmacher und seine beiden Söhne ihre Werkstatt eingerichtet, auch sie waren ruhige Menschen. Nicht einmal der jüngere Sohn, der gerade im richtigen Alter für solcherlei Bosheiten war, zog je eine Schleuder aus der Tasche, um auf Vogeljagd zu gehen.

Ab und zu beherbergte Madame Krögers Haus auch Mieter, wandernde Handwerker, die keiner Innung angehörten und deshalb auch bei keinem Meister Aufnahme fanden, reisende Kleinhändler oder Studenten. Alle blieben nur kurze Zeit, und nur einer hatte sich durch unmanierliches Lärmen bemerkbar gemacht, zumeist spät am Abend, wenn die Wirtshäuser schlossen und die Nachtwächter die letzten Herumtreiber von den Straßen scheuchten oder bis zum Sonnenaufgang in den Arreststuben der Wachhäuser einsperrten.

Doch seit einigen Tagen war es mit der Ruhe vorbei. An einem trüben Nachmittag waren die drei hochbepackten Wagen der Becker’schen Komödiantengesellschaft in den Hof gerollt. Nun war das Haus überfüllt, ständig klappten Fenster, fielen Türen ins Schloss, hallten Rufe über den Hof, Unmengen von Wäsche flatterte auf der Leine beim Stall. Überhaupt lebten und arbeiteten diese seltsamen Fremden mehr im Hof als im Haus. Selbst Madame Kröger, eine mehr oder weniger ehrbare Witwe mit Ehrfurcht gebietender weißer Haube, erhob ihre Stimme lauter, und ihr Mädchen lachte schriller.

Die Neuankömmlinge zählten ein gutes Dutzend, sie schienen nie still zu sitzen, nie zu schweigen. Ausgenommen der noch sehr junge Mann mit dem roten Haar, den sie Muto riefen. Der sprach nie, selbst wenn er lachte, was nur hin und wieder geschah, tat er das wohl mit weit offenem Mund, gleichsam mit seinem ganzen Körper, doch ohne Töne. Während die anderen noch schliefen zu dieser frühen Stunde, wenn die Luft feucht und frisch und der sommerliche Gestank aus den Fleeten und übervölkerten Hinterhöfen noch nicht aufgestiegen war, kam er geräuschlos wie ein junger Fuchs aus dem Haus geschlichen. Er setzte sich auf die Bank unter dem Holunder und wartete geduldig zum Himmel blickend darauf, dass die Sonne über die Dächer stieg. Sein leicht geneigter Kopf zeigte, dass er auf die Geräusche der erwachenden Stadt lauschte. Und auf den Gesang der Vögel. Dann zwitscherten die Schwalben besonders schön, und manchmal konnten sie hören, wie er leise versuchte, ihre Melodie nachzupfeifen. Es gelang ihm von Tag zu Tag besser.

Die Schwalben mochten den Rothaarigen, und weil sie ihn auch nicht fürchteten, war er der Einzige, dem sie ihre rasanten Flugkünste so nah vorführten, dass er ihre flinken zarten Körperchen hätte greifen können. Sie waren sicher, er würde es nie versuchen.

Auch an diesem frühen Abend saßen Menschen im Hof, zum Glück nur drei Frauen, und schon seit dem Sechs-Uhr-Läuten hatte keine auch nur ein Wort gesprochen. Der hohe Bretterzaun sperrte den größten Lärm der umliegenden Straßen und Werkstätten aus, und wenn die Hämmer des Kupferschmieds in der übernächsten Twiete für einen Moment schwiegen, war es so still, dass man das Kratzen von Federn auf billigem Papier hören konnte. Eine der Frauen, sie war eher hager als zierlich und wurde Gesine gerufen, hockte auf einer umgestülpten Kiste und nähte. Obwohl sie als Gewandmeisterin der Komödiantengesellschaft alle Tage mit bunten Stoffen und Flitter hantierte, war sie so schlicht gekleidet wie die Pfarrersfrauen in den Dörfern vor der Stadt; das mausbraune Haar war im Nacken zu einem aufgerollten dünnen Zopf gefasst. Ihr schmales Gesicht verriet jene Ruhe, die aus einer bescheidenen Zufriedenheit entsteht. Nur manchmal, wenn sie für einen Wimpernschlag von ihrer Arbeit aufsah, um den anderen beiden Frauen einen raschen, prüfenden Blick zuzuwerfen, verrieten ihre Augen, dass sie nicht so ergeben war, wie sie schien.

Die beiden anderen saßen sich an einem grob gezimmerten Tisch gegenüber, zwischen sich ein Tintenfässchen, und kopierten, jede für sich, einen Text, der ihren Augen einige Mühe bereitete. Was weniger an dem matter werdenden Tageslicht lag, als an den mit offensichtlicher Hast geschriebenen Zeilen ihrer Vorlage.

Rosina Hardenstein und Helena Becker glichen einander überhaupt nicht. Rosina war Ende zwanzig und so honigblond und schlank wie die um ein knappes Jahrzehnt ältere Helena kastanienbraun und trotz der schmalen Taille üppig.

Auf der Bühne war Rosina als Soubrette, die gerade noch jugendliche Liebhaberin, Tänzerin und in Hosenrollen zu sehen. Der verhaltene Ausdruck von Skepsis in den Augen und die lange Narbe auf der linken Wange taten ihrer Schönheit keinen Abbruch. Es gab Stimmen, die behaupteten, beides erhöhe ihren Reiz. Helena war die erste Heroine der Gesellschaft, mit ihrer wahrhaft königlichen Gestalt, den vollen Lippen und dunklen Augen gab sie ebenso fabelhaft die tragische Herrscherin, die würdige Mutter wie die Rachegöttin. Ihr Temperament wechselte leicht zwischen zornigem Aufbrausen und schallendem Gelächter, das hatte schon manches langweilige Stück gerettet.

«Du hattest Recht, Rosina. Das Drama ist wirklich gut.» Helena legte die Feder neben das Tintenfass, zog sich in der rasch abkühlenden Abendluft fröstelnd das heruntergerutschte Tuch mit den seidigen bunten Fransen über die Schultern und sah ihr Gegenüber abwartend an. Rosina nickte flüchtig und ließ die Feder weiter eilig über das Papier gleiten.

«Ich habe gesagt, du hattest Recht! Was soll ich noch sagen? Du kannst aufhören, ein grimmiges Gesicht zu machen.»

Dieses fatale neue Stück. Eine Theatertruppe brauchte ständig neue Stücke, wenn sie sich gegen die Konkurrenz behaupten wollte. Trotzdem war Helena nicht müde geworden, gegen dieses Einwände zu finden, bevor sie es noch gelesen hatte. Madame Hensel, hatte sie gesagt, sei als Schauspielerin grandios – selbst wenn der berühmten Aktrice bei genauem Hinsehen mancher Patzer unterlaufe, von ihrer Übertreibung des Melodramatischen gar nicht erst zu reden. Auch wenn sogar Monsieur Lessing sie für die größte Darstellerin halte – sie sei nun mal eine humorlose, selbstgerechte Person; so eine könne unmöglich ein die Herzen bewegendes Drama schreiben, und ganz gewiss enthalte es nicht die winzigste Stelle, die das Publikum zum Lachen bringe.

Endlich musste sie nachgeben. Alle übrigen Mitglieder der Gesellschaft waren dafür gewesen, Madame Hensels Das Leben auf dem Lande aufzuführen. Sogar Titus, der Hanswurst der Gesellschaft, der wusste, dass in neuen Stücken wie diesem kaum eine wirklich derb-komische Rolle zu besetzen war.

Aber womöglich hatte Rosinas Missmut einen anderen Grund. Seit ihrer Ankunft wartete sie auf Post von Magnus. Und weil keine kam, schwankte sie beständig zwischen der Sorge, ihm könne auf den Straßen etwas zugestoßen sein, und dem Zorn, weil er sein Versprechen nicht hielt. Und der Angst, er könne sie vergessen haben.

«Noch sagen?» Endlich sah Rosina auf. «Du sollst gar nichts sagen, Helena. Wenn ich grimmig aussehe, liegt es nur daran, dass diese Schrift schrecklich ist.» Unmutig schnippte sie gegen den Stapel eng beschriebener Bögen, der vor ihr auf dem Tisch lag. Das Stück enthielt neun Rollen mit Text, dazu einige stumme Auftritte. Das erforderte mindestens zehn Abschriften. «Ich wollte, wir hätten eine gedruckte Fassung bekommen, die ließe sich leichter kopieren.» Sie wischte ihre Feder ab, prüfte die Spitze und griff nach dem kleinen Messer mit dem Buchsbaumgriff. «Aber die Mühe lohnt sich. Dieses Drama», sie klopfte triumphierend auf den Papierstapel, «wird ein Erfolg.»

«Hoffentlich.» Helena stütze aufseufzend ihr Kinn in die Hände. «Wenn wir satt durch den Winter kommen wollen, brauchen wir alle Tage ein volles Haus.»

«Fast alle Tage würde schon reichen. Wie weit bist du?»

«Vierter Aufzug, elfter Auftritt. Bei dem Dialog zwischen Karl und Julie. Der ist wunderbar dramatisch.»

«Ja.» Rosina lachte leise und versuchte ihren Triumph zu verbergen. «Das sind gute Rollen mit echtem Leben. Aber die beste ist doch die der Lady Danby. Du wirst großartig sein, Helena.»