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Erlebe ein aufregendes Abenteuer mit einer mutigen Heldin, für Kinder ab 10 Jahren
Als Willow miterlebt, wie ihr Vater Silas von einer Gruppe Füchse in den Wald verschleppt wird, nimmt sie die Verfolgung auf. Bei ihrer Suche betritt sie mutig den riesigen Turm, den die Füchse im Wald gebaut haben. Doch Reynard, der Anführer-Fuchs, hat einen dunklen Plan und er braucht Willows Hilfe, um ihn zu verwirklichen. Um ihren Vater zu retten, muss sie nicht nur den Gefahren des Waldes trotzen, sondern auch über sich hinauswachsen.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Das Buch
Als Willow miterlebt, wie ihr Vater Silas von einer Gruppe Füchse verschleppt wird, nimmt sie die Verfolgung auf. Mutig betritt sie den riesigen Turm, den die Füchse im Wald gebaut haben. Doch Reynard, der Anführer der Füchse, hat einen dunklen Plan. Kann Willow ihm vertrauen? Um ihren Vater zu retten, muss sie nicht nur den Gefahren des Waldes trotzen, sondern auch über sich hinauswachsen.
»Ein Autor von unfassbarer Größe« New York Times
Der Autor
© Chris O'Neill
Sam Thompson wurde 1978 in London geboren. Sein erstes Buch, Communion Town, wurde 2012 veröffentlicht und für den Man Booker Prize nominiert. Er hat für die Times Literary Supplement, die London Review of Books und andere Zeitschriften geschrieben und an der Oxford University, Oxford Brookes und der Queen’s University Belfast englische Literatur und Kreatives Schreiben unterrichtet. Heute lebt er in -Belfast.
Der Verlag
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Viel Spaß beim Lesen!
Für Sadhbh
Für Oisín
Für Odhrán
Ihr klugen Füchse
Wie soll man mich nennen bin ich der Erste
habe ich einen Besitzer welche Gestalt habe ich
– aus »Wodwo« von Ted Hughes (1967),
Übers.: Jan Wagner (2022)
Tief unten und vor langer Zeit liegen Träume im Lehm.
Der Lehm liegt tief in der Erde. Er lag schon dort, bevor die Welt anfing. Der Lehm träumt von dem, was kommen mag.
Er träumt von einer glitzernden Stadt aus Formen, welche die Natur nie gekannt hat. Er träumt, dass er vom Vergangenen singen, vom Geschehen erzählen und auf das Kommende zutanzen wird.
Der Lehm träumt davon, sich zu Lebewesen zu formen, die leben und weiterleben und sich für immer in die Zukunft träumen werden.
Im Lehm liegen Träume, tief unten und vor langer Zeit.
In der Nacht, als die Füchse ihren Vater raubten, konnte Willow nicht schlafen.
Sie hatte stundenlang im Dunkeln gelegen und dem Wind gelauscht, der in den Wänden sang. Dielen knarrten, als Dad im Haus umherging. Auch er fand keinen Schlaf.
Irgendwann nach Mitternacht hörte sie, wie die Hintertür aufging. Sie warf die Bettdecke ab und ging zum Fenster. Dad stand im Lichtschein aus dem Küchenfenster auf der Terrasse. Willow presste die Stirn ans Glas und versuchte zu erkennen, was er tat.
Er ging zum Ende des Gartens, schob sich durch das wuchernde Unkraut. Der hintere Zaun war seit langer Zeit verrottet, nur ein paar modernde Pfähle zeigten noch an, wo der Wald begann. Als er sich diesen näherte, tauchte ein kleines Tier zwischen den Bäumen auf. Es war ein Fuchs. Ein zweiter folgte, dann ein dritter, golden reflektierten ihre Augen.
Dad musste Futter in der Hand halten, dachte Willow. Er hockte sich hin, und die Füchse scharten sich um ihn.
Willow wischte die beschlagene Fensterscheibe ab. Dad sprach mit den Tieren. Warum benahm er sich immer so komisch? Mit seinem wirren Haar und der ausgebeulten Trainingshose sah er aus wie ein alter Clown. Ständig ging er zu den seltsamsten Zeiten nach draußen. In letzter Zeit hatte sie ihn oft frühmorgens beim Aufstehen auf der Gartenbank sitzen sehen, wo er ungeachtet des Nieselregens zu den Bergen hinaufstarrte und den großen schwarzen Raben, den er halb gezähmt hatte, mit Brotstückchen fütterte.
Dad sprach nicht bloß mit den Füchsen: Anscheinend stritt er sich mit ihnen. Er schüttelte andauernd den Kopf. Schließlich machte er wieder kehrt in Richtung Haus.
Die drei Füchse stießen einen Laut aus – einen durchdringenden Schrei, wie ein Mensch unter großen Schmerzen. Wie zur Antwort kam etwas Großes, Dunkles aus dem Wald getrabt.
Das Ding hatte die Gestalt eines Wolfes, jedoch aus einem Albtraum, zu schrecklich, um wahr zu sein. Es war viel größer, als ein Wolf jemals sein konnte. Es ragte über Dad auf, und sein riesiger Kopf war auf Höhe von Willows Schlafzimmerfenster. Das mächtige Wesen hat keine erkenn-baren Gesichtszüge: Die Silhouette vor den Bäumen war reine Dunkelheit, als wäre es kein Lebewesen, sondern ein Schwarzes Loch mit dem Umriss eines Wolfes.
Schnell und still sprang es auf Dad los und warf ihn zu Boden.
Es packte seinen Knöchel mit den Kiefern und zerrte ihn auf die Bäume zu. Er sah verwirrt aus, weil er plötzlich so rasch von den Lichtern seines Hauses wegglitt. Seine Hand griff nach einem Zaunpfahl. Dann war er weg, verschluckt von der Finsternis.
Die Füchse verschwanden im Wald.
~
Als Willow die Hintertür öffnete und auf die Terrasse trat, flatterten schwarze Flügel aus dem Dunkel heran. Ein Vogel landete auf der Gartenbank und legte den Kopf schräg.
»Kraa?«
Es war Dads dummer Rabe, der auf Fütterung wartete. Ihr Vater hatte ihr erzählt, er hieße Cormac. Was hatte es für einen Zweck, einen Vogel zu zähmen und ihm einen Namen zu geben, wenn er im Augenblick der Gefahr bloß kam und auf Leckereien wartete?
»Hau ab«, sagte sie ärgerlich. Ohne zu wissen wieso, setzte sie noch hinzu: »Hilf ihm!«
Der Rabe krächzte. Er breitete die Flügel aus und ließ sich vom Wind in die Dunkelheit tragen.
Willow stand am Rand der Terrasse. Das Meer, der Himmel und die Berge um sie her waren nächtliche Leere. Die frostige Luft zog alle Wärme aus ihrer Brust. Sie packte die Taschenlampe fester, die sie sich geschnappt hatte, bevor sie nach unten rannte. Mit der las sie normalerweise unter der Bettdecke.
Wie konnte Dad so etwas geschehen lassen? Es musste irgendwie an ihm liegen. Als das dunkle Wesen ihn angesprungen hatte, wieso hatte er sich da nicht gewehrt? Wieso hatte er sich einfach umwerfen lassen, als machte es ihm gar nichts aus, von ihm weggerissen zu werden?
Gestern hatte Dad, wie an den meisten Tagen, sie zu einem Spaziergang genötigt. Sie waren im bitterkalten Wind zum Strand hinuntergetrottet, hatten sich dann wieder landeinwärts gewandt und den Pfad durch den Wald genommen, den Berg hinauf. Sie war mitgestapft, den Jackenkragen bis über die Ohren geklappt, während er ihr wie üblich erzählt hatte, was für ein Glück sie hatten, hier zu leben: wie sehr Mum es geliebt hatte und dass sie auf keinen Fall woanders hätte leben wollen.
Sie waren dem Waldweg bis hinauf zur Brücke gefolgt. Willow hatte bloß wieder nach Hause gewollt, aber Dad hatte sich auf das Geländer gesetzt und ins strudelnde Wasser gestarrt. Immer schleppte er sie hierher. Der Grund war, dass dies einer von Mums Lieblingsplätzen gewesen war. Anscheinend erwartete er, dass sie den Rest ihres Lebens den Berg hinaufsteigen und auf dieser Brücke sitzen würde.
Willow glaubte sich nicht an Mum erinnern zu können. Es war allerdings schwer zu sagen, denn sie erinnerte sich an eine Vorstellung von ihr. Sie kannte Mums Gesicht von Fotos und Videos. Manchmal schaute Dad sich einen Clip an, auf dem Mum ein Baby im Arm hielt und die winzige Hand nach ihrem Finger greifen ließ, dabei sang und in das winzige Ohr flüsterte. Doch sie konnte sich nicht erinnern, dieses Baby gewesen zu sein.
Als sie auf der Brücke saßen, hatte Dad wieder die gleichen Sachen gesagt wie immer, hatte gestockt, gestammelt, gezögert wie immer. Er sprach davon, wie gut es für sie sei, sich an Mum zu erinnern, und wie stolz sie auf Willow wäre, und dass es einfach nur großes Pech gewesen sei – dass sie krank geworden sei und niemand etwas dafür konnte.
Sie wusste nicht, warum er über Sachen reden wollte, die vor langer Zeit passiert waren und sich nicht mehr ändern ließen. Manchmal hatte sie den Eindruck, er wollte sie vor allem überzeugen, dass er nicht schuld war, an nichts. Sie sah ihn mit den Worten ringen, und irgendwann verlor sie die Geduld. Sie konnte nicht mehr zuhören. Sie stand auf und ging den Weg wieder hinunter. Als Dad ihr hinterherrief, war sie schneller gegangen und hatte ihn hinter sich gelassen.
Und jetzt hatte sie wie immer keine Wahl. Dad war im Wald verschwunden, und sie musste irgendwas unternehmen. Sie kämpfte sich durch das hohe Gras und spürte kalten Schlamm zwischen den Zehen. Sie hätte Schuhe anziehen sollen, aber jetzt konnte sie nicht mehr zurück.
Sie leuchtete mit der Taschenlampe in den Wald. Die Dunkelheit beugte sich zu ihr herab, öffnete den Rachen aus Baumstämmen, und sie schritt durch den kaputten Zaun.
Am Tag fand Willow sich im Wald zurecht, doch jetzt waren alle Pfade verschwunden. Baumfinger griffen aus dem Dunkel nach ihr. Brombeerranken zerkratzten ihr die Beine, und ihre Hände brannten vor Kälte. Sie taumelte weiter und schützte sich mit erhobenem Arm vor den Ästen.
Sie wusste nicht, wie lange sie schon hier draußen war: vielleicht schon Stunden. Keine Spur von Dad. Doch als sie dann den Strahl der Taschenlampe über die Bäume schweifen ließ, leuchteten zwei grüne Lampen in der Finsternis.
Augen.
Willow rutschte im Matsch aus und landete in einem Graben voller schleimiger Blätter. Als sie aufstand, glitzerten die Augen wieder, jetzt näher. Es waren Tieraugen, die das Licht zurückwarfen. Sie hob die Taschenlampe und sah einen schweren, dicht bepelzten Schädel mit spitzen Ohren und einer langen Schnauze.
Es war ein Wolf.
Willow spürte eine uralte Furcht. Jeder Mensch hatte sie gefühlt, der je im dunklen Wald Augen hatte leuchten sehen. Dieses Tier war hungrig und bösartig, sagte die uralte Furcht. Es wollte jagen und töten. Es würde sie in Stücke reißen.
Im zittrigen Lampenlicht hoben sich schwarze Lippen und ließen lange weiße Zähne sehen.
Willow rannte weg.
Sie stolperte durch den Matsch, ihr Herz hämmerte an die Rippen, ihre Kehle brannte von der eisigen Luft. Sie wusste nicht, wie dicht der Wolf hinter ihr war, doch sie rechnete jeden Augenblick damit, dass Kiefer sich um ihren Knöchel schlossen.
Dann blieb ihr Fuß an einer Brombeerranke hängen, und sie stürzte ins Leere, bis ihr der Aufprall auf dem Boden den Atem raubte.
Die Taschenlampe war ausgegangen. Sie lag auf dem Rücken und versuchte ganz still und reglos zu liegen. Es war rätselhaft: Das Tier, vor dem sie weggelaufen war, hatte nichts mit dem ungeheuren Schatten zu tun, der ihren Vater geholt hatte. Das war ein Wolf aus einem schlimmen Traum gewesen, doch dieser Wolf war real. Sie hatte sein Nackenfell im Lampenlicht gesehen, seine feuchte Zunge und seine Atemwolke in der Luft.
Ihr war zum Lachen zumute beim Gedanken, dass ein Wolf sie gleich fressen würde. So viel zu Dads Geschichten darüber, was für wunderbare Wesen sie waren. Als Willow noch klein war, hatte er ihr oft von den Wölfen erzählt: wie er sich als Kind mit einem Wolfsrudel angefreundet hatte und was für Abenteuer sie im Wald erlebt hatten.
Früher hatte sie diese Geschichte geliebt. Sie kam ihr besonders und geheimnisvoll vor. Er versuchte sie ihr immer noch gelegentlich zu erzählen, meist, wenn sie im Wald spazieren gingen. Es war peinlich, aber sie wusste nicht, wie sie ihn daran hindern oder ihm klarmachen sollte, dass sie aus solchen Erzählungen herausgewachsen war. Vielleicht hast du mit Tieren geredet, als du klein warst, wollte sie sagen, und vielleicht haben sie auch geantwortet. Vielleicht hat das damals funktioniert. Aber heute nicht mehr.
Nach Dads Ansicht waren Wölfe am besten und Menschen am schlimmsten. Er redete zu gerne darüber, wie schrecklich Menschen waren, wie gierig und grausam, und dass Tiere ihre unschuldigen Opfer waren. Die menschliche Rasse ist eine Katastrophe für den Planeten, pflegte er zu sagen. Wir erzählen so viele Geschichten darüber, wie gefährlich und gnadenlos Wölfe sind, sagte er, aber wir haben ihnen viel mehr geschadet als sie uns.
Wann immer er auf dieses Thema zu sprechen kam, verdrehte Willow die Augen und hörte nicht mehr zu. Ja, dachte sie jedes Mal: Ich verstehe, die Menschen machen alles kaputt. Na und? Dad erwartete anscheinend, dass sie sich so schuldig fühlte wie er. Aber es war nicht ihr Problem. Der Schaden war schon angerichtet gewesen, bevor sie überhaupt geboren war.
Doch jetzt war der Himmel nicht mehr ganz finster. Felsen und Bäume wurden graue Geister. Weiter unten murmelte Wasser. Sie war nicht weit von einer Felskante über dem Fluss gestürzt.
Schwarze Flügel schlugen, und der Rabe landete auf einem Ast. Er krächzte laut, als wollte er ihr Versteck verraten. Sie zischte ihn an, versuchte ihn zu verscheuchen, doch er krächzte weiter. Sie stand auf, um den Ast zu schütteln; doch als sie dann am Ufer entlangschaute, sah sie den Wolf. Er war noch ein Stück entfernt, seine Gestalt bloß ein Wirbel im Dunst, doch er lief in weiten Sätzen auf sie zu.
Eine Esche ragte schräg über den Fluss. Willow hob einen Stein auf und fing an zu klettern. Der Baum neigte sich unter ihrem Gewicht, doch sie schob sich auf dem Ast hinaus, so weit es ging.
Der Wolf schnürte heran. Der Brocken in ihrer Hand war ein Feuerstein, er schnitt ihr in die Haut. Sie versuchte in den schwankenden Ästen ins Gleichgewicht zu kommen und drückte den Daumen fest an den Stein, machte sich zum Werfen bereit.
Dann sprach der Wolf zu ihr.
~
Durchnässt und frierend quälte Willow sich durch den Wald. So hoch war sie den Berg noch nie hinaufgestiegen. Der Rabe flog voran, flatterte von Baum zu Baum, während die Wölfin neben ihr lief, die Schnauze dicht am Boden. Die Augen, die im Lampenlicht grün geleuchtet hatten, waren jetzt eisgrau. Das Fell der Wölfin war hellgrau auf dem Rücken und fast weiß an Bauch und Läufen.
Die Wölfin hatte nur einmal gesprochen und zu Willow gesagt, wenn sie ihren Vater wiedersehen wolle, dürfe sie keine Zeit verlieren. Der Rabe andererseits hörte gar nicht auf zu reden. Auch jetzt noch, da er durch die Bäume flatterte, plapperte er weiter. Er hatte alles passieren sehen, sagte er. Diese Füchse, bei denen wusste man nie, was sie als Nächstes anstellen würden. Es war eine schlimme Sache, gar keine Frage, aber immerhin gut, dass Willow zu ihm gekommen war, denn ein Rabe weiß immer, wo er einen Wolf findet. Er war so schnell geflogen, wie er konnte, um Hilfe zu holen, sagte er, und sie hatte Glück, dass er jetzt hier war, denn Raben waren die einzig wahren Pfadfinder. So einen Weg konnte man nicht ohne einen Raben als Führer machen.
»Nicht mal Wölfe kennen alle Wege. Wenn du reisen willst, frag immer einen Raben.«
Er setzte sich auf die Überreste einer Steinmauer und betrachtete Willow, die sich hinter ihm den Hang hinaufmühte. Die Bäume waren uralt und ragten in eine Luft, die so trübe war wie tiefes Wasser. Ein paar versteckte Vögel sangen.
Endlich erreichten sie die Baumgrenze. Der Rabe plusterte sich auf und schüttelte die Federn wie einen schäbigen Mantel.
»Na, von hier findet ihr den Weg auch allein«, sagte er.
Der Vogel flatterte über die Baumwipfel, sein Kraa klang wie raues Gelächter, und er wurde zu einem Punkt, der im Dunst verschwand.
Willow hatte die Berge fast jeden Tag ihres Lebens aus ihrem Zimmerfenster gesehen. Keine Aussicht konnte vertrauter sein als diese aufgeworfene und gefaltete Landschaft. Die oberen Hänge waren von den Bränden versehrt, die sich jeden Sommer durch das Gebüsch fraßen. Dad sagte gern mit bitterer Befriedigung, dass Menschen sie ohne jeden Grund entfachten.
Doch als sie jetzt nach oben sah, war sie verwirrt, denn was vor ihr aufragte, war anders als alles, was sie bisher von den Bergen gesehen hatte. Es kam ihr vor, als wären sie an einen ganz anderen Ort gewandert.
Auf der Lichtung vor ihnen drängten sich Dornbüsche mit winzigen weißen Blüten um einen Höhleneingang. Das Licht des frühen Morgens ließ grüne und blaue Schattierungen auf den Felsen spielen. Der Höhleneingang sah aus wie eine halb offene Tür, ein Felsblock stand ein Stück von der Felswand entfernt und gab den Blick auf das Dunkel drinnen frei.
»Da«, sagte die Wölfin. »Dort haben sie ihn hingebracht.«
Über dem Höhleneingang und über dem Bergkamm sah Willow etwas, was sie sich nicht erklären konnte. Über ihnen stand – wie eine Säule, die den Himmel stützte, der bleiche Stein vom Morgenlicht erhellt, die Stützstreben geschwungen wie die Wurzeln eines riesigen Baumes, die höchsten Anbauten und Brüstungen im Dunst verschwunden – ein Turm.
In der Höhle waren Wölfe. Zwei weitere Wölfe, deutlich größer als die Wölfin und mit dunklerem Fell. Einer war fast schwarz, der andere schiefergrau. Hinter ihnen fiel die Höhlendecke ins Dunkel ab. Willow atmete einen erdigen Gestank ein.
»Ich heiße Cú«, sagte die bleiche Wölfin. »Dies sind meine Schwestern Dorcha und Liath.«
»Was ist das denn?«, sagte die dunkelste Wölfin, die Dorcha hieß. »Was hast du getan?«
Die bleiche Wölfin jaulte auf und wedelte mit dem Schwanz. Die anderen beiden wichen argwöhnisch zurück und ließen Willow nicht aus den Augen. Alle drei hatten die gleichen eisgrauen Augen.
»Warum bringst du ein Menschenkind hierher?«, fragte die schiefergraue Wölfin. »Warum verrätst du ihr unsere Namen?«
Cú wandte sich an Willow.
»Also los«, sagte sie. »Du kannst es ihnen sagen. Erzähl ihnen, wer du bist.«
Willow wusste nicht, was die Wölfin meinte – und überhaupt merkte sie, dass sie kein Wort herausbrachte. Ihr Kiefer zitterte so stark, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen, und ihre Beine waren zu schwach, um sich zu bewegen. Ihre Gedanken waren taub geworden. Sie sollte irgendwohin, sie sollte irgendwas tun, aber sie wusste nicht mehr was. Sie musste sich eine Minute ausruhen. Die Höhle drehte sich, und der Boden hob sich und fing sie auf.
Willow hörte nicht auf zu zittern. Die Wölfin namens Cú sagte, sie sei zu lange unterwegs gewesen und friere zu sehr. Die Wölfin legte sich zu ihr, und sie kuschelte sich in die Wärme ihres dichten Fells. Der erdige Gestank umfing sie. Eine heiße Zunge leckte an ihren Händen und Wangen, und Willow spürte das Pumpen des Wolfsherzens.
Sie ließ die Augen zufallen. Sie hörte die Stimmen der Wölfe. Dorcha und Liath wollten sie aus der Höhle werfen und nach Hause schicken, doch Cú bestand darauf, dass sie ihr helfen müssten. Sie schien etwas über Dad zu sagen.
»Wir kennen den Geruch. Sie ist sein Kind.«
»Ja«, sagte Dorcha zweifelnd. »Ich rieche es.«
»Ja und?«, sagte Liath. »Das hat nichts zu bedeuten.«
»Es bedeutet, dass wir helfen sollten«, sagte Cú. »Sie gehört beinahe zum Rudel.«
Dorcha knurrte.
»Es gibt kein Rudel«, sagte sie.
Die Wölfe klangen wütend und erschöpft. Sie stritten sich weiter, doch bald hörte Willow nicht mehr, was sie sagten. Sie glitt tiefer in den Schlaf.
Sie träumte.
Im Traum war sie nicht sie selbst. Sie war kein lebendes Wesen. Sie war kalter, dunkler Lehm, der tief im Boden lagerte. Der Traum spielte vor so langer Zeit, dass es noch gar keine Lebewesen auf der Welt gab. Nur den Lehm tief im Boden, der wartete und träumte, eines Tages Gestalt anzunehmen, ins Licht zu steigen und auf der Erde herumzulaufen. Das würde nicht leicht sein, und zum Leben zu erwachen, würde wehtun; und doch regte sich der Traum. Sie war der Lehm, und der Traum pulste durch sie, nahm Formen an, die noch nie existiert hatten, aber vielleicht Wirklichkeit werden konnten.
~
Als sie erwachte, war nur noch die blasse Wölfin in der Höhle. Die anderen beiden waren draußen auf Futter-suche gegangen. Sie lebten hier in der Höhle unter dem Turm, erklärte Cú, und sie entfernten sich nie weit von diesem Ort. Sie lebten von Aas und Abfällen, die aus den Turmbauten fielen.
»Einst, als der WALD noch jung war, streiften wir überall umher«, sagte Cú. »Wir wanderten tief in die Welt hinein. Doch damals waren unsere Mutter und unser Vater noch hier, damals waren wir noch ein Rudel.«
Ihre Eltern hatten Willows Vater gekannt, sagte Cú. Sie waren seine Freunde gewesen. Darum hatte Cú reagiert, als der Rabe Willows Hilferuf überbrachte. Das hätten ihre Eltern auch getan.
»Wo sind sie denn, deine Eltern?«, fragte Willow.
Die Ohren der Wölfin zuckten. »In der Vergangenheit«, sagte sie. »Sie sind in den TIEFEN WALD gegangen.«
Cú und ihre Schwestern waren kein Rudel mehr, erklärte sie, weil ein Rudel weitergehen, weiterleben sollte. Der Sinn eines Rudels war zu überleben, tief und weit in die Welt hineinzuwandern, nie zum Ende zu kommen. Doch darauf konnten sie und ihre Schwestern nicht hoffen, denn sie waren die Letzten ihrer Art im WALD.
»Wir sind die Letzten, die es jemals geben wird«, sagte Cú. »Das sagen jedenfalls meine Schwestern.«
Die Wölfin umkreiste ein Mal den Höhlenraum und legte sich dann hin, das Kinn auf den Pfoten.
»Wir sind nicht die Wölfe, die wir sein sollten«, sagte sie. »Wir sollten nicht mal so heißen, wie wir heißen. Als wir noch mit unseren Eltern zusammen waren, hatten meine Schwestern und ich keine Namen, denn Wölfe sollten namenlos leben. Doch dann gingen unsere Mutter und unser Vater in den TIEFEN WALD, und der Turm kam, und wir konnten nicht mehr so leben. Der Turm gibt dir einen Namen, ob du ihn willst oder nicht.«
Cú seufzte durch die Nase.
»Ich dachte, wir drei könnten dir helfen. Aber ich habe mich geirrt. Meine Schwestern verstehen das alles besser als ich. Es tut mir leid.«
Willow überlegte, was sie sagen sollte. Sie glaubte dem Tier etwas schuldig zu sein, weil es sie so weit gebracht und sie gewärmt hatte. Doch jetzt hatte sie keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen.
»Wenn du mir nicht hilfst, kein Problem«, sagte sie. »Dann gehe ich allein.«
Sie ging aus der Höhle. Der Turm ragte über der Lichtung auf. Sie betrachtete die Felswand und suchte einen Weg nach oben.
»Warte«, rief die Wölfin hinter ihr.
Willow drehte sich um. Cú stand im Höhleneingang.
»Es geht hier entlang.«
~
Die Taschenlampe erhellte einen Tunnel im Felsen. Willow bückte sich, um sich nicht den Kopf zu stoßen, und folgte der Wölfin ins Dunkel. Die Höhle wurde zu einem Gang, der tief in den Berg unter dem Turm hineinführte.
Einige Zeit später zeigte der Lampenschein eiserne Stufen, die nach oben führten.
»Das ist ein alter Schacht aus der Zeit, als der Turm gebaut wurde«, sagte Cú. »Heute weiß niemand mehr davon. Außer mir und meinen Schwestern.«
Die Wendeltreppe wand sich zwischen riesigen Rohren nach oben, die tief in den Felsen getrieben worden waren. Es war ein langer Aufstieg. Endlich kroch Willow durch eine eiserne Klappe nach draußen.
Einen Augenblick glaubte sie von Baumstämmen umgeben zu sein. Dann merkte sie, dass die Stämme rostige Röhren waren, die aus dem Steinboden sprossen.
»Da sind wir«, sagte die Wölfin. »Im Inneren des Turms.«
Was auch immer dieser Turm sein mochte, dachte Willow, er roch grauenhaft: eine beißende Mischung aus Kot und verrottetem Futter. Sie hielt sich die Nase zu, atmete durch den Mund und sah sich um.
Es kam ihr vor wie der Maschinenraum eines gewaltigen Schiffes. Riesige Rohrleitungen liefen die Wände hi-nauf. Eine breite Treppe, die auf Steinbögen ruhte, führte zu einer umlaufenden Empore. Von der Decke baumelnde Laternen lieferten gleichmäßiges Licht, hell wie der Tag.
»Dies ist die Halle der Rohre, aber alle, die hier leben, nennen es bloß das Gewirr.«
Ende der Leseprobe