Der unsichtbare Drache - Daniel Kehlmann - E-Book

Der unsichtbare Drache E-Book

Daniel Kehlmann

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Beschreibung

Seinen ersten Roman Beerholms Vorstellung verfasste Daniel Kehlmann während seines Studiums in Wien. Ein Literaturkritiker riet ihm, ihn in der Toilette herunterzuspülen. Seitdem hat er 15 weitere Bücher geschrieben und gilt heute als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Gegenwartsautoren. Kehlmann hat sich mit Heinrich Detering zu einem langen Gespräch getroffen. Sie reden über das Spiel mit historischen Figuren, über Geister, die sich in Texte drängeln, über Logik und das Paradoxe, denn: »Einen Drachen muss man dort suchen, wo noch nie einer gesehen wurde.« Kehlmann erzählt von seiner Prägung durch das Theater, von Vorbildern, Schreibgewohnheiten und dem Verfassen des sehr deutschen Romans Tyll in der New York Library. Er spricht über den Umgang mit Kritik, Intelligenz als Vorwurf und das Dasein als »Formalist ohne Seele«. Neben Einblicken in sein Werk zeigt sich hier auch der private Kehlmann, Sohn eines bedeutenden Regisseurs und selbst Vater eines Kindes, das seinen Blick auf die Welt und sein Schreiben verändert hat.

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Daniel Kehlmann

Der unsichtbare Drache

Ein Gespräch mit Heinrich Detering

Kampa

Knock-knock-knockin’ on the dragon’s door

Knock-knock-knockin’ on the dragon’s door

Bob Dylan / Neil Young,1975

Boltzmanns Gehirne

Deine Texte, Daniel, sind voll von Konstellationen, in denen jemand verhört, ausgefragt, zur Rede gestellt wird. Deine Figuren sind oft under scrutiny; jetzt bist du es also selber.

Ich mag Verhöre. Es gibt ein paar Situationen, die sind schon von vornherein dramatisch aufgeladen. Das Verhör gehört einfach dazu. Ein Verhör ist an sich schon eine dramatische Situation.

»Ich glaube, dass wir eine Summe von Widersprüchen sind, und hinter den Widersprüchen ist nichts.«

Wenn in deinen Stücken Figuren verhört werden, wie zum Beispiel in Heilig AbendKehlmann, DanielHeilig Abend, dann geht es immer darum, dass sie entblößt werden sollen. Andererseits erweist sich aber die völlige Nacktheit als ganz unmöglich, weil immer nur neue Verkleidungen abgelegt werden, weil die Figuren nur das Sprachspiel wechseln. Trotzdem insistiert irgendjemand immer wieder darauf, das Verhör fortzusetzen. Wenn man denkt, das Stück ist zu Ende, dann kommt, wie in der ersten Fassung von Heilig AbendKehlmann, DanielHeilig Abend, eine neue Figur herein und setzt das Verhör fort.

Das ist eine eigenartige und eine für dein ganzes Schreiben charakteristische Balance – eine Balance nämlich zwischen dem Spiel einer Suche nach, sagen wir, existenziellen Wahrheiten, also nach klassischen Fragen der Literatur einerseits, und andererseits einem von selbst laufenden, rein abschnurrenden Spiel, einem Spiel wie am Schnürchen …

… ja, und das hat auch damit zu tun, ob es auf die Frage, wer wir sind, überhaupt eine befriedigende Antwort gibt. Ich glaube nicht, dass es sie gibt. In ein paar Grundfragen bin ich nach wie vor Buddhist. Ich glaube nicht an eine absolute, unwandelbare Seelensubstanz. Ich glaube tatsächlich, dass wir eine Summe von Widersprüchen sind, und hinter den Widersprüchen ist nichts.

Also auch hinter deinen tausend Stäben keine Welt.

Also letztlich auch kein Panther hinter den Stäben. Das könnte, glaube ich, auch eine gültige Interpretation dieses Gedichtes sein. Man kann es so lesen, dass die Welt nicht da ist, und eigentlich auch kein Panther mehr. Da sind nur die Stäbe.

Weil allein die suggerieren, dass es ein Draußen und ein Drinnen gibt, zum Beispiel?

Genau.

Ohne dass wir wüssten, was auf welcher Seite ist. So geht es mir jedenfalls beim Lesen deiner Stücke oder auch einer Erzählung wie Du hättest gehen sollenKehlmann, DanielDu hättest gehen sollen. Es sind Spiele mit dem Spiegel. Und immer gibt es diese Figur eines Zuschauers, in den szenischen wie in den nicht-szenischen Texten. Immer schaut jemand, den man vielleicht doch einfach den Autor nennen könnte, mit uns Lesern auf die Situation wie aus einer versteckten Kamera.

Also HeiligAbendKehlmann, DanielHeilig Abend, um noch etwas dabei zu bleiben, habe ich sehr oft umgeschrieben, das Stück hat sich mehrmals drastisch geändert. Die ältere Version, die du kennst, ist sehr spielerisch, abstrakt; aber gerade das abstrakte Spiel war es, das mich zum Schreiben gebracht hat: eine Faszination für die Situation des Verhörs. Damit das aber nicht zu abstrakt bleibt, habe ich es dann nach und nach, auch in einem Workshop mit englischen Schauspielern, mit immer mehr Realität angereichert. Jetzt ist es voll von konkreter politischer Realität; die fehlte am Anfang. Jetzt wird über Unterdrückung gesprochen, über die sogenannte »Dritte Welt«, über Terrorismus …

… mit einem Wort, all die Themen, die im Stück die Judith umtreiben. Über Thomas’ Themen hingegen wird nicht gesprochen, also nicht über Familienbeziehungen, über Ehebruch, über Kindererziehung …

Das habe ich zurückgenommen, das gibt es jetzt nur noch, wenn Thomas seine Lebensumstände wirklich im Verhörprozess nutzt. Die Frage, was Terrorismus ist und wie man konkret Terrorismus bekämpft, spielt eine große Rolle. Aber: Das alles hat sich eben deshalb ergeben, weil ich bemerkt habe, dass diese Konstellation, zu der ich eigentlich aus einem abstrakt spielerischen Interesse für Verhörtechniken gekommen bin, auf der Bühne viel mehr Realität braucht. Dadurch ist dieses Stück jetzt sehr politisch geworden. Im Grunde aber war mein ursprüngliches Interesse nicht das Politische. Sondern das Formale.

Überhaupt hat man den Eindruck, dass man zumindest fast alles von dir so lesen kann, als gehe es um formale Konstruktionen von beträchtlicher Abgefeimtheit, und die jeweiligen Wirklichkeitspartikel oder Szenerien oder Figuren sind nur Draperien, die das Abschnurren der Maschine ermöglichen.

Ich glaube, in den letzten Jahren sind meine Sachen offener geworden. Es gibt immer mehr Fragen, die nicht gelöst, die nicht beantwortet werden. Nimm zum Beispiel TyllKehlmann, DanielTyll. Ich weiß wirklich nicht, wie Tyll aus diesem Schacht unterhalb von Brünn herauskommt. Ich weiß nicht, was in dem Brief steht, den der sterbende Winterkönig an seine Frau schreibt. Es gibt sehr vieles in diesem Buch, das ich nicht weiß. Das ist eine echte Offenheit, keine vorgetäuschte.

Aber sind nicht auch das wieder Offenheitsstellen, die du an den richtigen Stellen kalkuliert eingebaut hast? Teile einer Kehlmann-Konstruktion, eines noch etwas weiter avancierten Raffinements?

Stimmt natürlich auch wieder. In dieser Hinsicht bin ich wohl Formalist. Auch das, was ich nicht weiß, ist Teil der Komposition. Aber ich bin immer vorsichtig, wenn ich auf diese formale Seite angesprochen werde. Denn da schwingt sehr leicht, und ich habe das nun oft genug gehört, der Vorwurf mit, das sei ja alles intelligent – das Wort »intelligent« ist im deutschen Diskurs immer ein Vorwurf –, aber es fehle die Seele, es fehlten das Leben und das große Gefühl und so weiter.

Dieser Vorwurf interessiert mich im Augenblick gerade gar nicht. Mir geht es um die Machart, um das Spiel mit der Offenheit als einem Teil der Konstruktion. Ich will nicht mal ein Wort wie »Formalismus« benutzen. Sollte ich es aber doch tun, so wäre es ganz sicher nicht pejorativ. Eher versuche ich einen Leseeindruck zusammenfassen. Wann immer ich darüber nachdenke, was diese Bücher in ihrer ganzen Unterschiedlichkeit zusammenhält, habe ich den Eindruck, dass darin letztlich immer mögliche Weltmodelle konstruiert werden, dass du Versuche mit Weltmodellen betreibst. Dass also die Ausschnittsvergrößerungen, die du uns gibst, sich immer als monadische Entwürfe einer möglichen Welt zu erkennen geben. Und ich frage mich, wie das eigentlich funktioniert. Deine Figuren müssen immerzu Möglichkeiten durchspielen, ohne zu wissen, ob sie nicht, während sie spielen, selbst als Figuren in einem anderen Spiel gespielt werden, und so fort.

Für die soziale Welt gilt das ganz sicher. Für den Winterkönig in TyllKehlmann, DanielTyll zum Beispiel.

In solchen realen Spielen gilt es, und in den metaphysischen Spielen auch. Manchmal erscheint mir dein Schreiben wie eine fortgesetzte metaphysische Übung, in sehr unterschiedlichen Varianten. Wie metaphysische Rollenspiele eines Erzählers.

Ich merke doch, dass ich als Schriftsteller in gewisser Weise von der Philosophie herkomme. Und andererseits bin ich sehr vom Theater geprägt. Vieles, was Leute seltsam oder ungewöhnlich finden an meiner erzählenden Prosa, erscheint weniger ungewöhnlich, wenn man es im Kontext von Dramen sieht, zum Beispiel das Spiel mit historischen Figuren. Im Theater ist es ganz normal, dass sie auftreten, von ShakespeareShakespeare, William über SchillerSchiller, Friedrich bis StoppardStoppard, Tom. Aber auf das Historische kommen wir vielleicht gleich nochmal. Jedenfalls merke ich, dass vieles, was mich beim Schreiben interessiert, mit metaphysischen Fragen zu tun hat.

Ich habe zum Beispiel, wie der Müller Claus in TyllKehlmann, DanielTyll, ein endloses Interesse an Paradoxa. Und mit »Paradoxa« meine ich wirklich Fragen, auf die es keine widerspruchsfreie Antwort gibt. Der Umstand, dass logische Gesetze selbst in Widersprüche führen, ist ja eigentlich ein absoluter Skandal. Das ist unerträglich, aber gerade darum interessiere ich mich endlos dafür …

»Ich merke doch, dass ich als Schriftsteller in gewisser Weise von der Philosophie herkomme. Und andererseits bin ich sehr vom Theater geprägt.«

… weil der Skandal für dich auch eine Quelle endlosen Vergnügens ist, in deinen Büchern jedenfalls, oder? Das Entsetzen darüber, dass er unerträglich sei, ist doch ein gespieltes Entsetzen. Auch für den Müller in TyllKehlmann, DanielTyll ist es bei aller Quälerei doch auch ein Vergnügen, dass es nirgends ganz hinkommt mit der Vernunft, weil er mögliche Zugänge zu verborgenen, ganz andersartigen Zusammenhängen als den logischen sucht.

Natürlich ist es auch ein Vergnügen. Alles, was man künstlerisch produktiv macht, wird ein ästhetisches Vergnügen. Aber ebenso natürlich bleibt trotzdem der Skandal. Es ist ein Skandal, dass uns die Logik in Paradoxa führt. Hast du schon mal was von Boltzmann Brains gehört? Ein unglaubliches Gedankenexperiment. Ich weiß nicht, ob uns das zu weit wegführt, aber die Boltzmann Brains machen mich zurzeit ganz wahnsinnig.

Erklär’s mir!

Es gibt den physikalisch tragfähigen Umstand, dass aufgrund der Quantengesetze, aufgrund der Quantenfluktuationen plötzlich etwas aus dem Nichts entstehen und wieder verschwinden kann. Das ist mathematisch möglich, und zwar könnte im Prinzip jede Struktur aus dem Nichts entstehen und wieder verschwinden, sie würde für einen winzigen Zeitbruchteil existieren und wäre dann wieder weg. Natürlich reden wir hier von einzelnen Elementarteilchen, die in einem Vakuum aus dem Nichts entstehen und wieder verschwinden könnten. Nach, sagen wir, unglaublich langer Zeit würde das ein Mal passieren. Aber könnte man dann nicht sagen: Wenn wir unendlich viel Zeit zur Verfügung hätten, wirklich unendlich viel, dann würden irgendwann auch komplexere Strukturen entstehen und wieder verschwinden, dieser Tisch zum Beispiel oder dieses Regal? Eine Struktur, die sich so plötzlich selbst bilden und wieder vergehen könnte, wäre auch mein Gehirn. Nicht nur irgendein Gehirn, sondern ein Gehirn, das genau die Einstellungen, die gespeicherten Erinnerungen und Meinungen besitzt, die mein Gehirn jetzt gerade hat.

Das würde allerdings etwas dauern …

Es würde unfassbar lange dauern, bis aus dem Nichts mein Gehirn entsteht, aber die Unendlichkeit ist nun mal unendlich, und irgendwann würde auch das passieren, und einen Augenblick, einen winzigen Augenblick würde es im leeren Kosmos existieren und dann wieder verschwinden. Nach dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik entfernen sich ja nicht nur die Sterne, sondern auch alle Moleküle, alle Atome zunehmend so weit voneinander, dass keine Wechselwirkung mehr möglich ist, bis zum Kältetod des Universums. Aber Quantenfluktuationen würde es immer noch geben, und alle Milliardenmilliardenmilliarden Jahre würde irgendeine Struktur entstehen und sofort wieder verschwinden. Nach ungeheuerlich langer Zeit könnte das auch zum Beispiel dein Gehirn sein, mit deinen Erinnerungen, wie du sie jetzt hast, dieses Gehirn, das gerade der Meinung ist, in diesem Zimmer zu sein und dies und jenes zu tun, und das dann wieder verschwinden würde. Wenn wir aber wirklich unendlich viel Zeit zur Verfügung haben – und das hätten wir ja, weil grundsätzlich sonst nichts mehr geschehen würde im erkalteten All –, würde es letztlich auch unendlich oft vorkommen, dass Gehirne entstehen und wieder verschwinden, und jetzt kommt es: Wenn wir in der Unendlichkeit der Zeit zu denken versuchen, dann ist es wahrscheinlicher, dass dein Gehirn, das in diesem Augenblick hier glaubt, mit mir zu sprechen, in Wirklichkeit ein soeben aus dem Nichts entstandenes Boltzmann-Gehirn ist und gleich wieder verschwinden wird. Das ist viel wahrscheinlicher, als dass wir wirklich in diesem Raum sitzen.

Es fällt mir schwer, mir das vorzustellen.

Aber das ist kein Witz! Das ist in der Quantenphysik – du kannst mal Boltzmann Brains googeln, wenn du mir nicht glaubst – tatsächlich eine Überlegung, über die nachgedacht wird. Eine schlüssige Ableitung dafür, dass wir wahrscheinlich gar nicht hier sitzen, sondern einer von uns sich das nach dem Kältetod des Universums für einen Moment einbildet. So was kann einen doch wahnsinnig machen! Aber es ist auch absolut toll. Man vergisst es nie wieder. Du wirst sehen.

Ich vergesse es nicht, und ich werde es googeln.

Bitte.

Die Figuren in deinen Geschichten denken fortwährend an Fragen wie die nach Boltzmann Brains und werden dann irre an der Situation, in der sie gerade denken – was sie in neue Gedankenschleifen geraten lässt, und so in einem unendlichen Rekurs. Andererseits erinnert mich dieses Wahnsinnigwerden an die Szene, in der meine damals noch kleine Tochter am Abendbrottisch den traurigen Satz sagte, dass wir ja eines Tages alle sterben müssten – sie war in dem Alter, in dem einem das plötzlich klar wird –, und anfing zu weinen und gar nicht zu trösten war; und da sagte ihr drei Jahre älterer Bruder freundlich: »Aber das ist doch noch so lange hin!« Womit die metaphysische Beunruhigung, die meine Tochter bis heute nicht ganz losgelassen hat, für ihren Bruder eigentlich nicht nur suspendiert, sondern erledigt war. Es ist ja auch wirklich lange hin. Und bis einen diese Frage mal wirklich quält, hat sie sich vielleicht einfach aufgelöst und besteht gar nicht mehr. Deine Figuren …

Die sagen das halt nicht!

… weil sie solche Fragen einfach nicht in Ruhe lassen. Und die Erzähler deiner Geschichten – sofern TyllKehlmann, DanielTyll überhaupt einen fassbaren Erzähler hat –, sind selber solche Figuren. Die sympathisieren nicht nur damit, dass jemanden wie den Müller die Fragen quälen, sie bringen auch selbst fortwährend solche Fragen hervor oder denken sich Figuren aus, die sie stellen.

Weil der Erzähler in letzter Konsequenz natürlich ich bin.

Die Verschwörung der Drachen

Daher also auch diese immer wiederkehrende, mit Abscheu gemischte Neugier auf Figuren, die glauben, dass es einen beruhigenden und endgültig stillstellenden Umgang mit diesen Fragen gibt? Martin, der Priester, zum Beispiel, in FKehlmann, DanielF. Dein Erzähler interessiert sich plötzlich lebhaft für die Abendmahlstheologie, an die Martin selber gar nicht recht glaubt, obwohl er sie praktiziert. Der Erzähler von TyllKehlmann, DanielTyll interessiert sich, wie der arme Müller, für Athanasius KircherKircher, Athanasius und seine Drachentheorien. Und alle Erzähler – und die meisten Figuren – interessieren sich immerfort dafür, dass sich in der vernünftig geordneten Welt ein ganz gewöhnlicher Spuk bemerkbar macht, dass eine Seitentür in der Luft sich öffnet und Geister hereinkommen und wieder verschwinden.

Das kommt von ganz weit her, stelle ich mir vor, so etwas hat schon den zwölfjährigen Kehlmann beschäftigt …

O ja, hat es. Und das werde ich nicht los.

Aber die Lösungsvorschläge verspottest du dann immer. Kommen sie überhaupt jemals vor, ohne ironisiert zu werden? Aber mindestens dazu brauchst du sie immerzu.

Na ja, es gibt immerhin ziemlich unterschiedliche Arten von Lösungen. Es gibt die Wissenschaften, und es gibt die Pseudowissenschaften. Das, was KircherKircher, Athanasius und die Drakontologen in TyllKehlmann, DanielTyll anstellen, ist natürlich methodisch falsch. Nur ist nicht so eindeutig und nicht so offensichtlich zu erkennen, was genau das Falsche daran ist. Ihre Argumente sind auf eine gewisse Art schlüssig, in einer Art von rekursiver Pseudoschlüssigkeit, wie zum Beispiel, sagen wir: die Alternativmedizin sie bis heute gerne verwendet. Oder um etwas Dunkleres zu erwähnen: Verschwörungstheorien. In denen zum Beispiel der Umstand, dass man eine gewisse Deutung weitläufiger Zusammenhänge nicht beweisen kann, als Beweis dafür genommen wird, dass das Geheimnis eben besonders gut versteckt ist. Das ist wie mit den Drachen in TyllKehlmann, DanielTyll: Einen Drachen muss man dort suchen, wo noch nie einer gesehen wurde, weil für den Drakontologen Drachen definiert sind als Wesen, die sich gut verstecken, und wenn man ihn dann nicht findet, dann hat man gewissermaßen bewiesen, dass einer da ist.

»Einen Drachen muss man dort suchen, wo noch nie einer gesehen wurde.«

Das ist die eine Seite, die Pseudowissenschaft. Und die andere?

Auf der anderen Seite steht die echte Wissenschaft, vertreten durch, zum Beispiel, HumboldtHumboldt, Alexander von und GaußGauß, Carl Friedrich. Da lassen sich auch ein paar komische Geschichte darüber erzählen, wie so ein Wissenschaftler sich zur Welt und in der Welt verhält. Aber die wissenschaftliche Methode selbst ironisiere ich nicht. GaußGauß, Carl Friedrich’ Ansatz, die Welt zu verstehen, ist der am besten funktionierende von allen, die die Menschheit hervorgebracht hat. Es gibt einen riesigen Unterschied zwischen dem, was GaußGauß, Carl Friedrich macht, und dem, was bei mir Athanasius KircherKircher, Athanasius macht. Diesen Gegensatz will ich nicht relativieren. Im Gegenteil, ich möchte ihn so deutlich wie möglich herausarbeiten.

Aber gerade der Empiriker Alexander von HumboldtHumboldt, Alexander von stößt in deiner Geschichte doch ständig, und ohne es selber überhaupt zu bemerken, auf Wiedergänger, auf lebende Tote, Zombies, in einem fernen Land, in dem dergleichen – wenn man der Literatur glauben will – an der Tagesordnung zu sein scheint. Warum gönnst du den Geistern diese Wiederkehr, wenn sie doch gar nicht Teil von HumboldtsHumboldt, Alexander von Weltsicht sind? Sie sind im Roman, wenn man den Erzähler für allwissend halten und ihm Glauben schenken will, objektiv vorhanden. Aber der HumboldtHumboldt, Alexander von in seiner wissenschaftlichen Empirieversessenheit schaut an den Geistern vorbei.

Der allererste Einfall, das, woraus später mal Die Vermessung derWeltKehlmann, DanielDie Vermessung der Welt wurde, war eigentlich ein Bild, das ich noch gar nicht richtig zuordnen konnte. Das Bild findet sich wirklich im Roman wieder, allerdings lesen die meisten drüber hinweg. Es war das Bild von einem großen Schiff und einem Mann, einem Forschungsreisenden, der an Deck steht, und in der Ferne blicken die drei Köpfe eines Seeungeheuers aus dem Wasser. Und ich dachte mir, der Mann sieht dieses Seeungeheuer, aber beschließt zugleich, es nicht zu sehen. Und ich hatte noch keine Ahnung, wo dieses Bild überhaupt auftauchen würde, aber daraus wurde schließlich Die Vermessung derWeltKehlmann, DanielDie Vermessung der Welt.

Das finde ich schön. Es ist eine schöne Vorstellung, dass eine solche Szene die Keimzelle des Romans ist und nicht das biographische Interesse …

Nein, überhaupt nicht!

»Ich werde die Geister und Ungeheuer nicht los.«

… und auch nicht der Versuch, irgendwelche Klassik- oder Anti-Klassik-Modelle zu verhandeln.

Nein, die Keimzelle war einfach dies: Ein Forschungsreisender sieht ein Seeungeheuer und weiß im gleichen Moment schon, dass er es nicht sehen will. Er weiß, dass er das Gesehene ignorieren muss. So wie man einen Geist besser ignoriert. Ich habe keine Ahnung, was genau dahintersteht, aber ich werde die Geister und Ungeheuer nicht los. In jeder meiner Geschichten, jedem meiner Romane gibt es doch irgendwie in irgendeiner Form, außer in Ich undKaminskiKehlmann, DanielIch und Kaminski, Geister, überall. In RuhmKehlmann, DanielRuhm auch nicht – glaube ich –, aber sonst eigentlich überall.

Selbst in RuhmKehlmann, DanielRuhm gibt es doch, wenn man ein bisschen sucht, Szenen, in denen einem die Welt nicht ganz geheuer ist, und zwar in fast konventionell romantischer, schauerromantischer …

Das Doppelgängermotiv.

… das Doppelgängermotiv, ja. Man ist im Kopf eines anderen; jemand erlebt etwas nach, das schon mal ein anderer erlebt hat, verwechselt die Zeiten, findet nach dem Aufwachen nur die falsche Tür zurück in den Alltag, und durch diese einmal geöffnete Tür kommen dann wieder andere herein, die gar nicht vorgesehen waren.

Ich habe Gespenstergeschichten immer geliebt. Es ist nicht wirklich eine Entscheidung, sondern es ist so, dass sich die Geister in alles, was ich schreibe, hineindrängen. Dass sie das tun, liegt nicht in meiner Entscheidung. Und das wundert mich selbst, weil ich ja eigentlich Rationalist sein möchte. Bei TyllKehlmann, DanielTyll musste ich mich wirklich zusammennehmen, weil ich es da im Hintergrund halten wollte … Also da funktioniert ja auch ein Zauberspruch, den KircherKircher, Athanasius anwendet, tatsächlich. Und natürlich wird Tyll am Ende in gewisser Weise unsterblich, obwohl das nicht ausgesprochen wird.

»Ich habe Gespenstergeschichten immer geliebt.«

Aber das lässt sich doch beruhigenderweise als metaphorisch oder allegorisch wegrationalisieren, oder?

Doch, ja. Kann man machen. Es lässt sich symbolisch deuten, wenn man unbedingt will. Aber wo ich mich wirklich zusammennehmen musste, wo ich mir selber verordnen musste, diesmal keine Magie einzusetzen, das waren die Szenen, in denen es um den Hexenprozess geht. Da wäre es natürlich naheliegend gewesen zu zaubern: Es findet ein Hexenprozess statt gegen jemanden, der wirklich ein Hexer ist, also könnte ich Claus’ Sprüche doch in irgendeiner Form wirken lassen. Wenn ich jetzt darüber nachdenke – vielleicht lasse ich wirklich offen, ob sie nicht vielleicht doch ein bisschen wirken. Aber das Wesentliche ist, dass ich in diesen Szenen das Gefühl einer echten moralischen Gefahr hatte. Immerhin hatte ich mich ein ganzes Jahr mit den historischen Hexenprozessen beschäftigt. Ich habe mich so viel damit beschäftigt, dass ich dachte, wenn ich jetzt nicht aufhöre, wird das Ganze ein Roman über nichts als Hexenprozesse. Und man ist schon, vorsichtig gesagt, verblüfft, wie dieses gewaltige historische Unrecht, dass hunderttausend gänzlich unschuldige Menschen auf brutalste Weise hingerichtet wurden, in der folgenden europäischen Kulturgeschichte folklorisiert wurde, mit Hexenhäuschen und »Knusper, knusper, knäuschen« …

Und kennst du diese kleinen Hexenpüppchen, die man im Harz am Blocksberg kaufen kann? Niedlich.

O ja, und wenn du hier in Berlin im Legoland bist und mit der Grottenbahn, oder wie die heißt, fährst, dann kommst du auch an einem niedlichen kleinen Hexenhäuschen vorbei. Aber es ist ein gewaltiges Unrecht, ein historischer Massenmord, der überall verniedlicht und folklorisiert wird. Und ich dachte, das darf ich nicht. Anderswo im Roman dürfen Zaubersprüche vielleicht wirken, aber der Hexenprozess muss als das Unrecht beschrieben werden, das er war. Es gab keine Hexen, es gab keine Teufelsbündler. Es gab nur eine Hysterie ohne Basis. Da habe ich mir strikten Realismus auferlegt. Wobei es ein wichtiger Schritt war, davon aus der Sicht eines Täters, eines Richters, zu erzählen und nicht aus der Perspektive des Opfers.

Aus der Sicht von Richtern, die ihrerseits ja in einer beklemmenden Weise gefangen sind in Vorstellungen, an die sie glauben wollen, weil sie als das einzige erscheinen, was ihnen in dieser chaotischen Welt ein vertrauenswürdiges Ordnungsversprechen gibt.

Ja, und weil sie auch glauben, die Schwächeren zu sein. Sie sind ja schließlich überzeugt, dem Teufel gegenüberzustehen. Man kann in gewissen Grenzen Empathie mit diesen Richtern empfinden, die glauben, auf der schwächeren Seite zu stehen. Empathie ist ja immer die Aufgabe des Romanautors. Aber es bleibt trotzdem ein unverzeihliches Unrecht.

Es ist die Empathie mit Leuten, die glauben, dass elend ertrinkende Flüchtlinge im Mittelmeer in Wirklichkeit nur besonders tückisch verkleidete Kämpfer sind, die das Abendland übernehmen wollen.

Der Vergleich ist nicht überzogen! Es ist eine Art und Weise, sich in ein falsches, aber scheinbar schlüssiges System zu begeben, das einem dann jede natürliche Regung von Mitleid verbietet.

Auf dieses Verhältnis von Spielen mit Logik und Magie auf der einen Seite, Empathie und Moral auf der anderen Seite möchte ich gern zurückkommen. Lass uns aber noch einen Moment bei den Spukerscheinungen und Geistern, beim magischen Realismus und der Schauerromantik bleiben. Meine Lieblingsszene in TyllKehlmann, DanielTyll – eigentlich habe ich da sonst überhaupt keine Lieblingsszene, weil sie alle so grausam und albtraumhaft sind –, also die einzig wirklich schöne Szene des Romans ist das Sterben des letzten Drachens auf Jütland. Du bist schon öfter danach gefragt worden. Und du hättest die Szene ja ohne Folgen für das Geschehen einfach weglassen können.

Dazu wäre es fast gekommen.

Dass sie jetzt aber drinsteht, ist für mich ein möglicher Dreh- und Angelpunkt des Buches. Weil sie zwischen der grausamen, grauenhaften Wirklichkeit einerseits und den genauso grauenhaften Deutungsversuchen, den Verschwörungstheorien, den barbarischen Zwangssystemen und Zwangsneurosen andererseits eine Tür in ein Drittes öffnet: in eine Märchenwelt, in der ein seufzender, seines langen Lebens ein bisschen müder Drache ungesehen, nur von uns Lesern geahnt …

… denn es hat ihn ja noch nie jemand gesehen in seinen siebzehntausend Jahren …

»Man hat ja manchmal auch Erlebnisse beim Schreiben.«

… leise stirbt. Für einen Augenblick sehen wir ihn als einen Unsichtbaren im, entschuldige für einen Moment das Pathos, Glanz eines reinen, sich selbst genügenden Zaubers der literarischen Phantasie. Und das ist der einzige Ausweg aus Tylls Geschichte. Es ist das einzige Mal, dass sich in deinem Roman ein Fenster öffnet in eine Welt, die unschuldig wie der Drache erscheint, denn dieser Drache hat niemals jemandem etwas getan. Und ihm hat auch niemand etwas getan, außer, natürlich, ihn zu ignorieren.

Ja, richtig. Er hat niemandem etwas getan. Und sein Auftritt war auch überhaupt nicht geplant. Das Sterben des Drachens war ein echtes Erlebnis – man hat ja manchmal auch Erlebnisse beim Schreiben –, denn ich hatte geplant, dass das ganze Drachenjagd-Kapitel komödiantisch bleiben sollte. Es ist ja ein komödiantisches Kapitel. Aber als Überschrift trägt es den Titel des Hauptwerks von Athanasius KircherKircher, Athanasius über die Optik, Die große Kunst von Licht undSchattenKircher, AthanasiusDie große Kunst von Licht und Schatten (Ars magna lucis et umbrae), ein so wunderbarer Titel, dass ich schon ganz früh gedacht habe, den muss ich irgendwie verwenden. Ars magna lucis etumbraeKircher, AthanasiusDie große Kunst von Licht und Schatten (Ars magna lucis et umbrae).

»Das sage ich mir oft: Schreib’s doch einfach, weil: später streichen ist ja leicht.«

Du könntest das eigentlich als die Formel für dein eigenes Lebensschreibprojekt in Betracht ziehen.

Große Kunst von Licht und Schatten, das hat mich bezaubert! Dieses Kapitel ist das einzige eigentlich genuin komödiantische Kapitel im Roman, ziemlich stark beeinflusst vom Geist der ShakespeareschenShakespeare, William Komödien. Diese Diskurse der Gelehrten untereinander, in der Kutsche auf der Suche nach einem Drachen, den es nicht gibt, das sind reine Komödiendialoge. Die Komik entsteht daraus, dass die Suche ein vergebliches Unterfangen ist, weil es natürlich keine Drachen gibt. Das ist die Prämisse, von der das ganze Kapitel lebt, von der Komik einer Drachensuche auf der Grundlage falscher Argumente zu sinnlosen Zwecken. So war es geplant, und ich wollte, dass das Kapitel aufhört mit dem Vorausblick auf Neles Tod, der meiner Meinung nach das Traurigste ist, was ich je geschrieben habe, also die Tragik nach der Komödie. Und dann kam ich also dorthin, und dieser Tod von Nele sollte eigentlich den Schluss setzen. Und dann, ich weiß noch, saß ich in meinem Büro in der New York Library und dachte zu meiner eigenen Verblüffung: So, und jetzt kommt der Drache!

Wie hast du auf sein Kommen reagiert?

Ich habe mir sofort gesagt, dass das ein Unsinn ist, aber dann dachte ich, ach, schreib’s doch einfach; das sage ich mir oft: Schreib’s doch einfach, weil: später streichen ist ja leicht. Das sieht doch erst mal keiner, dachte ich, und dann habe ich diesen Absatz, so wie er jetzt dasteht, hingeschrieben von dem letzten Drachen des Nordens und seinem Tod. Und ich habe die ganze Zeit vor mich hin gelacht. Ich war wirklich glücklich.

Ich habe dann nachher die ersten Leser des Manuskripts – ich war schon sehr unschlüssig – allesamt gefragt, ob ich das drin lassen soll oder nicht. Ich hätte es ja, wie du sagst, ersatzlos streichen können, schon weil es überhaupt nicht eingeplant war. Die Rückmeldungen waren widersprüchlich. Manche haben mir dringend empfohlen, das zu streichen, weil es dem ganzen Kapitel die Prämisse wegnimmt.

Aber genau das wäre ja die Kehlmannsche Denkfigur: einem Kapitel, das sich vollkommen folgerichtig entwickelt, anschließend die Prämisse wegzunehmen, die ganze Erzählung kippen zu lassen.

Ja, und dann dachte ich auch: Es ist ja ein Eulenspiegel-Roman. Mein TyllKehlmann, DanielTyll selbst ist keine lustige Figur, Tyll spielt keine witzigen Streiche – er ist keine lustige Person. Nur sein Name steht für Lustigkeit. Die Komik und auch die Unberechenbarkeit des Narren müssen also von woanders herkommen. Die Erzählung selbst muss das übernehmen, wenn Tyll es nicht tut.

Du hast zu dieser Frage in einem Interview gesagt, dein Buch sei nicht wie GrimmelshausensGrimmelshausen, Hans Jakob Christoffel vonSimplicissimusGrimmelshausen, Hans Jakob Christoffel vonDer abenteuerliche Simplicissimus Deutsch ein Schelmenroman in dem Sinne, dass der Roman von einem Schelm erzähle; vielmehr sei der Roman der Schelm. Das Erzählen ist tückisch, es schlägt Haken, verstellt sich, lügt.

Ja, der Roman selbst ist der Schelm. Ich war übrigens fast ein bisschen schockiert, als mich die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung eingeladen hat, um während einer Tagung über Schelme aus meinem sogenannten »Schelmenroman« vorzulesen. Ich fand das ein großes Missverständnis. TyllKehlmann, DanielTyll ist ein Roman über einen Schelm, aber kein pikaresker Roman.

Findest du es eigentlich abwegig, wenn ich bei Tyll an Charles de CostersCharles de CostersUlenspiegel denke?

Oh nein, ein ganz wichtiges Buch für mich! Ich habe es mit ungefähr sechzehn gelesen, und es klang dann immer nach. Vielleicht war es für Tyll so wichtig, dass ich es zu selten erwähnt habe. Anxiety of influence eben.

Eines Tages, lieber Daniel, wird in den Unendlichkeiten der Zeit aus dem Nichts ein Drache emanieren, BoltzmannBoltzmann, Ludwig Eduard und die Quantenphysik stellen das in Aussicht. Und der wird dann sagen, der Kehlmann hat damals ein kleines Fenster geöffnet, hat gelacht und gemeint, einen Scherz zu machen, und er war der einzige, der damals in den Zweitausenderjahren einen Drachen wie mich gesehen hat. Also einen unsichtbaren Drachen.

Geister in der Kälte

Diese Spiele, die deine sorgsam austarierten, kalkulierten logischen und empirischen Prämissen wieder außer Kraft setzen – die gibt es in allen deinen Büchern, und sie tragen, finde ich, wesentlich zum Unterhaltungscharakter bei. Das ist deine höhere, benutzen wir das böse Wort: intelligente Komik, diese Komik der Intelligenz. Sie kann ziemlich gruselig werden, sagen wir in deiner Schauergeschichte über das verfluchte Haus, the shunned mansion, also in Du hättest gehen sollenKehlmann, DanielDu hättest gehen sollen