Der Verdacht - Ashley Audrain - E-Book
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Der Verdacht E-Book

Ashley Audrain

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Beschreibung

Ein spannungsgeladenes Buch über die Zerbrechlichkeit einer Familie. Ashley Audrains Weltbestseller ist voller dunkler Abgründe und ein unvergesslicher Pageturner.

Sie wollte dein Glück von Anfang an zerstören. Und niemand will dir glauben.


Du hattest alles. Doch nun gehört dein Familienglück einer anderen Frau. Du siehst das Licht hinter den Vorhängen aus Leinen, und stellst dir vor, wie sie durch die Flure des Hauses wandelt, das dir gehören sollte. Wie sie in deiner Küche steht, und den Mann anlächelt, der vor Kurzem noch an deiner Seite war. Sie alle halten dich für schuldig. Und niemand will dir glauben, dass sie es war, die euch alle ins Unglück stürzte. Nur du kennst die ganze Wahrheit. Bist du bereit, sie zu erzählen?

»Ein erstklassiger Spannungsroman.« STERN

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Seitenzahl: 406

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Wenn mit dem größten Glück sofort die Angst kommt …

Violet ist ein Wunschkind, und Blythe möchte die liebevolle Mutter sein, die ihr selbst so sehr fehlte. Doch als man ihr das Neugeborene in den Arm legt, fühlt sich alles falsch an. Je älter Violet wird, desto mehr ist sie irritiert, und es geschehen befremdliche Dinge, die sich Blythe nicht erklären kann. Bis sie sich sicher ist, dass das Mädchen absichtsvoll böse ist. Alles nur Einbildung? Ihr Ehemann Fox, der seine Tochter von ganzem Herzen liebt, beobachtet seine Frau mit wachsendem Misstrauen. Bis zu jenem Tag, an dem die Tragödie über die Familie hereinbricht – und Blythe sich ihrer Wahrheit stellen muss.

Wenn man sein Kind bedingungslos lieben möchte, und die Angst das überwältigendere Gefühl ist. Der Verdacht erzählt von schicksalhaften Familienbanden, von Obsession und der Zerbrechlichkeit von Glück – ein zutiefst aufwühlender Roman von großer Sogkraft, erschütternder Klarheit und stilistischer Brillanz.

»Man kann diesen durch und durch originellen Roman nicht mehr weglegen – Der Verdacht zeigt uns die dunkelsten Momente von Mutterschaft auf.« Bestsellerautorin Kristin Hannah

Ashley Audrain wuchs außerhalb von Toronto auf, studierte Medienwissenschaften und arbeitete viele Jahre im Bereich Public Relations. Heute lebt sie als freie Autorin mit ihrer Familie in Toronto. Ihr Debütroman Der Verdacht begeisterte Lektorinnen und Lektoren in aller Welt; lange vor Erscheinen verkauften sich die Übersetzungsrechte in rund 30 Länder.

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Ashley

Audrain

Der

Verdacht

Roman

Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel The Push bei Viking Canada, einem Imprint von Penguin Random House Canada.

Copyright © der Originalausgabe by Ashley Audrain Creative Inc. 2021

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Favoritbuero, München

Covermotiv: Mohnblumenmotiv, Nr. 308636174 © Kovtun Daria / Shutterstock

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978-3-641-27533-4V004

www.penguin-verlag.de

Für Oscar und Waverly

»Es wird oft geäußert, daß der erste Klang, den wir im Schoß der Mutter hören, ihr Herzschlag ist. In Wirklichkeit ist der erste Klang, der in unserem gerade entwickelten Gehör schwingt, der Puls des Blutes in den Venen und Arterien unserer Mutter. Wir schwingen in diesem Urrhythmus, noch bevor wir Ohren haben, um zu hören. Bevor wir empfangen wurden, existierte ein Teil von uns als Ei im mütterlichen Eierstock. Alle Eier, die sich in einer Frau in ihrem Leben entwickeln werden, bilden sich als Eifollikel in ihren Eierstöcken, während sie noch als vier Monate alter Fötus im Bauch ihrer Mutter schwimmt. Dies bedeutet, daß unser zelluläres Leben als Ei im Schoß unserer Großmutter beginnt. Wir alle haben also fünf Monate im Schoß unserer Großmutter verbracht, und sie wurde ihrerseits im Schoß ihrer Großmutter gebildet. Wir schwingen im Rhythmus des Blutes unserer Mutter, noch bevor sie selbst geboren ist.«

Aus Frauen Trommeln von Layne Redmond

Nachts leuchtet dein Haus, als stünde alles darin in Flammen.

Die Vorhänge, die sie für die Fenster ausgesucht hat, sehen aus wie Leinen. Teures Leinen. So locker gewebt, dass ich deine Stimmung meistens gut erkennen kann. Ich kann sehen, wie das Mädchen Hausaufgaben macht und dabei seinen Pferdeschwanz nach hinten schnippt. Ich kann den kleinen Jungen beobachten, der Tennisbälle an die hohe Decke wirft, während deine Frau in Leggings durchs Wohnzimmer wirbelt und wieder aufräumt, was tagsüber in Unordnung geraten ist. Spielzeug zurück in die Kiste. Kissen zurück auf die Couch.

Aber heute Abend habt ihr die Vorhänge offen gelassen. Vielleicht, um den fallenden Schnee zu sehen. Vielleicht, damit deine Tochter nach Rentieren Ausschau halten kann. Sie glaubt schon längst nicht mehr daran, wird aber dir zuliebe so tun als ob. Für dich ist sie zu allem bereit.

Ihr habt euch fein gemacht. Die Kinder, beide in Schottenkaro, sitzen auf dem Lederhocker und werden von deiner Frau mit dem Smartphone fotografiert. Das Mädchen hält die Hand des Jungen. Du hantierst hinten im Raum am Plattenspieler herum, und deine Frau spricht dich an, aber du hebst einen Finger – bist gleich so weit. Das Mädchen springt auf, und deine Frau nimmt den Jungen hoch, und sie drehen sich im Kreis. Du greifst nach deinem Drink, Scotch, trinkst einen Schluck, zwei, und schleichst vom Plattenspieler weg, als wäre er ein schlafendes Baby. Das machst du immer, bevor du anfängst zu tanzen. Du nimmst den Jungen. Er hebt das Gesicht zur Decke. Du kippst ihn mit dem Kopf nach unten. Deine Tochter reckt sich nach einem Küsschen von Daddy, und deine Frau hält dein Glas für dich. Sie geht mit wiegenden Schritten zu dem Baum hinüber und zupft eine Lichterkette zurecht, die nicht ganz richtig hängt. Und dann bleibt ihr alle stehen und beugt euch zueinander und ruft irgendwas im Chor, irgendein Wort, genau getimt, und dann bewegt ihr euch wieder. Ihr kennt diesen Song auswendig. Deine Frau schlüpft aus dem Raum, und der Blick ihres Sohnes folgt ihr automatisch. Ich erinnere mich daran, wie das war. Dieses Gefühl, gebraucht zu werden.

Streichhölzer. Sie kommt zurück, um die Kerzen auf dem geschmückten Kaminsims anzuzünden, und ich frage mich, ob die gewundenen Tannenzweige echt sind, ob sie nach würzigem Harz riechen. Einen Moment lang stelle ich mir vor, dass diese Zweige heute Nacht, wenn ihr alle schlaft, in Flammen aufgehen. Ich stelle mir vor, wie sich das warme buttrig-gelbe Leuchten deines Hauses in heißes knisterndes Rot verwandelt.

Der Junge hat nach einem eisernen Schürhaken gegriffen, und das Mädchen nimmt ihm den aus der Hand, ehe du oder deine Frau es bemerken. Die gute Schwester. Die Helfende. Die Beschützende.

Normalerweise sehe ich nicht so lange zu, aber ihr seid heute Abend alle so schön, dass ich mich nicht losreißen kann. Der Schnee, die pappige Sorte, mit der sie morgen früh einen Schneemann bauen wird, um ihrem Bruder eine Freude zu machen. Ich schalte die Scheibenwischer ein, stelle die Heizung höher, und dabei springt die Uhr von 19.29 auf 19.30 um. Früher hättest du ihr jetzt Der Polarexpress vorgelesen.

Deine Frau sitzt nun in ihrem Sessel und schaut euch dreien zu, wie ihr im Zimmer herumhüpft. Sie lacht und streicht ihre langen lockigen Haare zur Seite. Sie schnuppert an deinem Drink und stellt ihn weg. Lächelt. Du hast ihr den Rücken zugewandt, deshalb kannst du nicht sehen, was ich sehe, dass sie nämlich eine Hand auf ihren Bauch legt, dass sie ihn sanft streichelt und dann nach unten schaut, ganz in Gedanken bei dem, was in ihr wächst. Es sind Zellen. Aber sie sind alles. Du drehst dich um, und ihre Aufmerksamkeit wird zurück auf das Zimmer gelenkt. Auf die Menschen, die sie liebt.

Sie wird es dir morgen sagen.

Ich kenne sie noch immer so gut.

Ich blicke nach unten, um mir die Handschuhe überzustreifen. Als ich wieder aufschaue, steht das Mädchen an der offenen Haustür. Ihr Gesicht wird von der Lampe über deiner Hausnummer schwach erhellt. Der Teller in ihrer Hand ist voll mit Möhren und Keksen. Du wirst Krümel auf dem Fliesenboden in der Diele verstreuen. Du wirst mitspielen und sie auch.

Jetzt sieht sie mich in meinem Wagen sitzen. Sie fröstelt. Das Kleid, das deine Frau ihr gekauft hat, ist zu klein, und ich kann erkennen, dass ihre Hüften breiter werden, ihre Brüste knospen. Mit einer Hand zieht sie sich sorgsam den Pferdeschwanz über eine Schulter, und die Geste ist eher fraulich als kindlich.

Zum ersten Mal in ihrem Leben denke ich, dass unsere Tochter mir ähnlich sieht.

Ich öffne das Seitenfenster und hebe die Hand, ein Hallo, ein heimliches Hallo. Sie stellt den Teller auf den Boden und richtet sich auf, sieht mich erneut an, bevor sie sich umdreht und ins Haus geht. Zu ihrer Familie. Ich rechne damit, dass die Vorhänge jäh zugezogen werden, dass du an die Tür kommst, um zu fragen, warum zum Teufel ich vor deinem Haus parke, an einem Abend wie diesem. Und was könnte ich dann antworten? Ich war einsam? Ich habe sie vermisst? Ich hätte es verdient, die Mutter in deinem leuchtenden Haus zu sein?

Stattdessen tanzt sie zurück ins Wohnzimmer, wo du deine Frau überredet hast, sich aus dem Sessel zu erheben. Während ihr zusammen tanzt, eng, deine Hände hinten über ihre Bluse streichen, nimmt unsere Tochter die Hand des Jungen und zieht ihn mitten vors Wohnzimmerfenster. Eine Schauspielerin, die ihre Markierung auf dem Boden ansteuert. Sie sind exakt eingerahmt.

Er sieht aus wie Sam. Er hat seine Augen. Und diese Haarwelle, die in einer Locke endet, die Locke, die ich mir immer wieder um den Finger wickelte.

Mir wird schlecht.

Unsere Tochter starrt aus dem Fenster, sieht mich an, ihre Hände auf den Schultern deines Sohnes. Sie beugt sich vor und küsst ihn auf die Wange. Und dann noch mal. Und dann noch mal. Der Junge mag diese Zärtlichkeit. Er ist sie gewohnt. Er zeigt auf den fallenden Schnee, aber sie wendet den Blick nicht von mir ab. Sie reibt seine Oberarme, als wollte sie ihn wärmen. Wie eine Mutter das machen würde.

Du kommst ans Fenster und gehst in die Hocke, auf Augenhöhe mit dem Jungen. Du schaust hinaus und dann nach oben. Dein Blick fällt nicht auf mein Auto. Wie dein Sohn zeigst du auf die Schneeflocken und malst mit dem Finger einen schwungvollen Bogen in den Himmel. Du redest über den Schlitten. Über die Rentiere. Er späht in die Nacht, will sehen, was du siehst. Du tippst ihm verspielt aufs Kinn. Ihre Augen ruhen noch immer auf mir. Unwillkürlich lehne ich mich auf dem Sitz nach hinten. Ich schlucke und wende den Blick endlich vom Haus ab. Sie gewinnt jedes Mal.

Als ich wieder hinsehe, steht sie noch immer da, beobachtet mich.

Ich denke, gleich wird sie die Vorhänge schließen, aber sie tut es nicht. Diesmal weiche ich ihrem Blick nicht aus. Ich nehme den dicken Papierstapel neben mir vom Beifahrersitz und spüre das Gewicht meiner Worte.

Ich bin gekommen, um dir das hier zu geben.

Das ist meine Version der Geschichte.

1

Du hattest deinen Stuhl näher herangeschoben und klopftest mit dem Ende deines Bleistifts auf mein Lehrbuch, und ich starrte auf die Seite, wollte nicht aufblicken. »Hallo?«, sagte ich, als würde ich einen Anruf entgegennehmen. Du musstest lachen. Und dann saßen wir da, kicherten, zwei Fremde, die dasselbe Wahlfach belegt hatten, zusammen in einer Unibibliothek. In der Vorlesung müssen Hunderte Studierende gewesen sein – ich hatte dich vorher noch nie gesehen. Dein lockiges Haar fiel dir über die Augen, und manchmal wickeltest du es um deinen Stift. Du hattest so einen seltsamen Namen. Später am Nachmittag begleitetest du mich nach Hause, und wir schwiegen zusammen. Du machtest keinen Hehl daraus, wie hingerissen du warst, lächeltest mich immer wieder an. Noch nie hatte mir jemand eine solche Aufmerksamkeit zuteilwerden lassen. Vor meinem Wohnheim gabst du mir einen Handkuss, und prompt mussten wir erneut lachen.

Bald waren wir einundzwanzig und unzertrennlich. Uns blieb noch ein knappes Jahr bis zu den Abschlussprüfungen. Wir verbrachten es damit, in meinem breiten Wohnheimbett miteinander zu schlafen und gemeinsam auf der Couch zu lernen, an entgegengesetzten Enden, die Beine ineinander verschlungen. Wir gingen auch mit deinen Freunden in die Kneipe, waren aber immer früh wieder zu Hause, im Bett, genossen die neuartige Erfahrung unserer warmen Körper. Ich trank kaum, und du hattest die Partyszene satt – du wolltest nur mich. In meiner Welt schien das niemanden groß zu stören. Ich hatte nur wenige Freunde, die eigentlich eher Bekannte waren. Ich war so damit beschäftigt, die für mein Stipendium erforderlichen Noten zu halten, dass ich für das typische Studentenleben weder Zeit noch Interesse hatte. Im Grunde hatte ich in den Jahren zu niemandem ein engeres Verhältnis aufgebaut, jedenfalls nicht, bis ich dich kennenlernte. Du botst mir etwas anderes. Wir verließen unseren sozialen Orbit und waren glücklich, waren füreinander alles, was wir brauchten.

Die Geborgenheit, die ich bei dir fand, war überwältigend – ich hatte nichts, als ich dir begegnete, und so wurdest du mühelos mein Ein und Alles. Womit ich nicht meine, dass das nichts bedeutete – du bedeutetest mir alles. Du warst sanft und rücksichtsvoll und eine Stütze. Du warst der erste Mensch, dem ich anvertraute, dass ich Schriftstellerin werden wollte, und du sagtest: »Ich kann mir bei dir auch nichts anderes vorstellen.« Ich genoss es, wie andere Frauen uns ansahen, als hätten sie Grund, neidisch zu sein. Nachts sog ich den Duft deines weichen Haars ein, wenn du schliefst, und morgens fuhr ich mit dem Finger über dein Stoppelkinn, um dich zu wecken. Du warst eine Sucht.

Für meinen Geburtstag schriebst du hundert Dinge auf, die du an mir liebtest. 14. Ich liebe dein leises Schnarchen, wenn du gerade eingeschlafen bist. 27. Ich liebe die wunderbare Art, wie du schreibst. 39. Ich liebe es, meinen Namen auf deinen Rücken zu malen. 59. Ich liebe es, auf dem Weg zum College mit dir einen Muffin zu teilen. 72. Ich liebe die Stimmung, in der du sonntags aufwachst. 80. Ich liebe es, dich zu beobachten, wenn du ein gutes Buch ausgelesen hast und es dir noch kurz an die Brust drückst. 92. Ich liebe es, dass du eines Tages eine gute Mutter sein wirst.

»Wieso glaubst du, dass ich eine gute Mutter sein werde?« Ich legte die Liste aus der Hand und hatte für einen Moment das Gefühl, dass du mich vielleicht überhaupt nicht kanntest.

»Wieso solltest du keine gute Mutter sein?« Du gabst meinem Bauch einen spielerischen kleinen Stups. »Du bist fürsorglich. Und lieb. Ich kann’s kaum erwarten, kleine Babys mit dir zu haben.«

Mir blieb nichts anderes übrig, als ein Lächeln aufzusetzen.

Mir war zuvor noch niemand mit einem so begierigen Herzen wie deinem begegnet.

»Eines Tages wirst du das verstehen, Blythe. Die Frauen in dieser Familie … wir sind anders.«

Noch immer kann ich den orangeroten Lippenstift meiner Mutter am Zigarettenfilter vor mir sehen. Die Asche, die in den Becher fällt, im letzten Rest meines O-Safts schwimmt. Der Geruch von verbranntem Toast.

Du hast nur wenige Male nach meiner Mutter Cecilia gefragt. Ich habe dir die reinen Fakten erzählt: 1. Sie ist fortgegangen, als ich elf Jahre alt war, 2. danach habe ich sie nur noch zweimal gesehen, und 3. ich habe keine Ahnung, wo sie ist.

Du wusstest, dass ich dir etwas verschwieg, aber du hast nicht nachgehakt – du hattest Angst davor, was du hören würdest. Ich verstand das. Wir alle haben das Recht, gewisse Erwartungen an andere und an uns selbst zu haben. Mutterschaft gehört dazu. Wir alle erwarten, gute Mütter zu haben, zu heiraten und zu sein.

1939–1958

Etta wurde genau an dem Tag geboren, als der Zweite Weltkrieg begann. Sie hatte Augen wie der Atlantische Ozean und war von Anfang an rotgesichtig und pummelig.

Sie verliebte sich in den ersten Jungen, den sie kennenlernte, den Sohn des Arztes in der kleinen Stadt. Er hieß Louis, und er war höflich und wortgewandt, ganz anders als die anderen Jungen in ihrer Klasse, und es machte ihm nichts aus, dass Etta nicht das Glück gehabt hatte, mit einem hübschen Gesicht auf die Welt gekommen zu sein. Von ihrem ersten bis zum letzten Schultag begleitete Louis sie zur Schule, immer eine Hand auf den Rücken gelegt. Und so etwas fand Etta bezaubernd.

Ihre Eltern hatten eine Getreidefarm mit Hunderten Morgen Land. Als Etta achtzehn wurde und ihrem Vater eröffnete, dass sie Louis heiraten wollte, bestand er darauf, dass sein neuer Schwiegersohn Landwirtschaft lernte. Er hatte keine eigenen Söhne, und Louis sollte die Farm übernehmen. Aber Etta glaubte, der Vater wollte dem jungen Mann nur etwas beweisen: Landwirtschaft war schwere und ehrbare Arbeit. Nichts für Schwächlinge. Und ganz sicher nichts für einen Intellektuellen. Etta hatte sich für jemanden entschieden, der so ganz anders war als ihr Vater.

Louis wollte Arzt werden wie sein Vater, und er hatte ein Stipendium fürs Medizinstudium bekommen. Aber Etta zu heiraten war ihm wichtiger als die Approbation. Obwohl Etta ihren Vater anflehte, Louis zu schonen, ließ er ihn bis zum Umfallen schuften. Um vier Uhr morgens stand er auf und arbeitete auf den taufrischen Feldern. Von vier Uhr morgens bis es dunkel wurde, und das, ohne sich je zu beklagen, wie Etta anderen gegenüber gern betonte. Louis verkaufte die Arzttasche und die Lehrbücher, die sein Vater ihm vermacht hatte, und steckte das Geld in eine Spardose, die in der Küche auf der Arbeitsplatte stand. Er sagte Etta, das wäre der Grundstock des Studiengeldes für ihre zukünftigen Kinder. Etta fand, dass das viel darüber aussagte, was für ein selbstloser Mann er war. Eines Tages im Herbst wurde Louis vor Sonnenaufgang vom Häcksler eines Silagewagens zerfleischt. Er verblutete, allein auf dem Maisfeld. Ettas Vater fand ihn und schickte sie mit einer Plane aus der Scheune los, um den Leichnam abzudecken. Sie nahm Louis’ abgetrenntes Bein mit zum Farmhaus und warf es ihrem Vater an den Kopf, während er gerade einen Wassereimer füllte, um das Blut von dem Silagewagen abzuwaschen.

Sie hatte ihrer Familie noch nichts von dem Kind erzählt, das in ihr wuchs. Sie war eine dicke Frau mit dreißig Kilo Übergewicht, weshalb ihr die Schwangerschaft nicht anzusehen war. Das Baby, Cecilia, wurde vier Monate später inmitten eines Schneesturms auf dem Küchenboden geboren. Während Etta das Baby aus sich herauspresste, starrte sie die Spardose auf der Arbeitsplatte an.

Etta und Cecilia führten ein ruhiges Leben im Farmhaus und trauten sich nur selten in die Stadt. Wenn sie sich doch mal dazu durchrangen, hörten sie unweigerlich das Getuschel über die Frau, die »es mit den Nerven hat«. In der damaligen Zeit wurde nicht viel mehr gesagt – nicht viel mehr vermutet. Louis’ Vater versorgte Ettas Mutter regelmäßig mit Beruhigungsmitteln, die sie Etta nach ihrem Gutdünken verabreichte. Daher verbrachte Etta die meiste Zeit in dem schmalen Messingbett ihres Kinderzimmers, und ihre Mutter kümmerte sich um Cecilia.

Doch allmählich wurde Etta klar, dass sie nie einen anderen Mann kennenlernen würde, wenn sie immer nur benebelt im Bett lag. Sie raffte sich auf und schaffte es schließlich, sich wieder selbst um Cecilia zu kümmern, schob sie im Kinderwagen durch die Stadt, während das arme Kind nach seiner Großmutter schrie. Etta erzählte den Leuten, sie hätte unter entsetzlichen chronischen Bauchschmerzen gelitten und monatelang nichts essen können, deshalb sei sie so dünn geworden. Kein Mensch glaubte das, aber Etta interessierte sich nicht für das Gerede der Leute. Sie hatte gerade Henry kennengelernt.

Henry war neu in der Stadt, und sie gingen in dieselbe Kirche. Er war der Personalchef von sechzig Mitarbeitern einer Süßwarenfabrik. Er behandelte Etta vom ersten Moment an einfühlsam – er liebte Babys, und Cecilia war ganz besonders goldig, daher erwies sie sich nicht als das Problem, für das alle sie gehalten hatten.

Bald kaufte Henry für sie drei mitten in der Stadt ein Haus im Tudor-Stil mit minzgrünen Verzierungen. Etta verließ endgültig das Messingbett und legte all die Kilos wieder zu, die sie verloren hatte. Sie stürzte sich regelrecht in die Aufgabe, für ihre Familie ein Zuhause zu schaffen. Es gab eine robuste Veranda mit einer Schaukel, Gardinen an jedem Fenster, und ständig waren Schokoladenkekse im Ofen. Eines Tages wurden die neuen Wohnzimmermöbel an das falsche Haus geliefert, und die Nachbarin ließ alles vom Lieferanten in ihrem Keller aufbauen, obwohl sie die Möbel gar nicht bestellt hatte. Als Etta Wind davon bekam, rannte sie in ihrem Morgenrock und mit Lockenwicklern im Haar laut fluchend hinter dem Lastwagen her. Das fanden alle zum Brüllen komisch, nach einer Weile sogar Etta.

Sie versuchte mit aller Macht, die Frau zu sein, die von ihr erwartet wurde.

Eine gute Ehefrau. Eine gute Mutter.

Es schien, als würde alles gut.

2

Dinge, die mir einfallen, wenn ich über unseren Anfang nachdenke:

Deine Eltern. Für andere wäre das vielleicht nicht wichtig gewesen, aber mit dir ging eine Familie einher. Meine einzige Familie. Die großzügigen Geschenke, die Flugtickets, damit ihr alle zusammen irgendwo in der Sonne Urlaub machen konntet. Ihr Haus roch nach warmer frischer Wäsche, immer, und wenn wir sie besuchten, wollte ich gar nicht wieder weg. Wenn deine Mutter sanft meine Haarspitzen berührte, wäre ich ihr am liebsten auf den Schoß geklettert. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie mich genauso sehr liebte wie dich.

Ihre fraglose Akzeptanz, dass mein Vater nicht gegenwärtig war, und das Verständnis, als er ihre Einladung über die Feiertage ablehnte, erfüllten mich mit Dankbarkeit für ihre Güte. Über Cecilia wurde selbstverständlich nie gesprochen. Du hattest deine Eltern, umsichtig wie du bist, vorgewarnt, ehe du mich das erste Mal mit zu ihnen nach Hause nahmst. (Blythe ist wunderbar. Wirklich. Aber nur damit ihr’s wisst …) Meine Mutter war niemand, über den ihr untereinander gelästert hättet. Niemand von euch hatte Freude an irgendwas Unangenehmem.

Ihr wart alle so perfekt.

Du nanntest deine kleine Schwester »Darling«, und sie vergötterte dich. Du riefst jeden Abend zu Hause an. Ich lauschte von der Diele aus und hätte nur allzu gern gehört, womit deine Mutter dich so zum Lachen brachte. Du fuhrst jedes zweite Wochenende zu ihnen, um deinem Dad bei irgendwelchen Arbeiten rund ums Haus zu helfen. Ihr umarmtet einander. Du passtest auf deine kleinen Cousins und Cousinen auf. Du kanntest das Bananenbrotrezept deiner Mutter. Du schicktest deinen Eltern jedes Jahr zum Hochzeitstag eine Glückwunschkarte. Meine Eltern hatten ihre Hochzeit nie auch nur erwähnt.

Mein Vater. Er reagierte nicht auf meine Nachricht, dass ich in dem Jahr nicht zu Thanksgiving nach Hause kommen würde, aber ich log dich an und sagte, er freue sich, dass ich jemanden gefunden hatte, und lasse deine Familie herzlich grüßen. In Wahrheit hatten wir kaum ein Wort gewechselt, seit ich dich kennengelernt hatte, sondern hauptsächlich über unsere Anrufbeantworter miteinander kommuniziert, und selbst das war zu einer Serie von fadem, nichtssagendem Gestammel geworden, das mir peinlich gewesen wäre, wenn du es gehört hättest. Ich weiß bis heute nicht, wie es so weit mit uns kommen konnte, mit ihm und mir. Die Lüge war notwendig, wie all die anderen Lügen, die ich dir auftischte, damit du keinen Verdacht schöpftest, wie kaputt meine Familie in Wirklichkeit war. Familie war dir zu wichtig – keiner von uns beiden konnte das Risiko eingehen, dass du mich mit anderen Augen sehen würdest, wenn du die ganze Wahrheit über meine Familie wüsstest.

Unsere erste Wohnung. Ich liebte dich am meisten, wenn es Morgen war. Deine Art, die Decke wie eine Kapuze über dich zu ziehen und noch ein bisschen zu schlafen, dein starker jungenhafter Geruch auf den Kissenbezügen. Ich wachte damals früh auf, meistens noch vor Sonnenaufgang, um hinten in der schmalen Küche zu schreiben, in der es immer so verdammt kalt war. Ich trug deinen Bademantel und trank Tee aus einer Keramiktasse, die ich in irgendeinem Töpferladen für dich bemalt hatte. Später dann riefst du meinen Namen, wenn der Boden wärmer geworden war und genug Licht durch die Jalousien hereinfiel, um alle Nuancen meines Körpers sehen zu können. Dann zogst du mich wieder ins Bett, und wir experimentierten – du warst forsch und souverän und verstandst früher als ich, wie lustvoll ich sein konnte. Du fasziniertest mich. Dein Selbstbewusstsein. Deine Geduld. Das primitive Verlangen, das du nach mir hattest.

Abende mit Grace. Sie war die einzige College-Freundin, mit der ich nach unserem Abschluss noch Kontakt hielt. Ich ließ mir nicht anmerken, wie sehr ich sie mochte, weil du offenbar ein wenig eifersüchtig auf ihre Zeit mit mir warst und meintest, wir würden zu viel trinken, obwohl ich ihr nur sehr wenig von dem bot, was Frauenfreundschaften eigentlich ausmacht. In dem Jahr, als sie solo war, kauftest du uns beiden Blumen zum Valentinstag. Ich lud sie etwa einmal im Monat zum Essen ein, und du setztest dich auf dem umgedrehten Mülleimer zu uns an den Tisch. Immer hattest du auf dem Nachhauseweg von der Arbeit noch schnell eine gute Flasche Wein besorgt. Wenn wir dann anfingen, über andere abzulästern, wenn sie ihre Zigaretten herausholte, entschuldigtest du dich höflich und nahmst dir ein Buch. Eines Abends hörten wir dich auf dem Balkon mit deiner Schwester telefonieren, während wir drinnen rauchten (unfassbar!). Sie machte gerade eine Trennung durch und hatte ihren Bruder angerufen, ihre Vertrauensperson. Grace fragte mich, was für Macken du hättest. Schlecht im Bett? Jähzornig? Irgendwelche Schwachstellen musstest du doch haben, weil kein Mann so perfekt war. Aber da war nichts. Damals. Nicht, dass ich das richtig begriff. Ich verwendete das Wort Glück. Ich hatte Glück gehabt. Ich hatte nicht viel, aber ich hatte dich.

Unsere Arbeit. Wir sprachen nicht oft darüber. Ich war neidisch auf deinen wachsenden Erfolg, und du wusstest das – du registriertest genau die Unterschiede in unserem beruflichen Werdegang, unseren Einkommen. Du brachtest Geld nach Hause, und ich träumte. Seit dem Studium hatte ich bis auf ein paar kleine freiberufliche Projekte praktisch nichts verdient, aber du zahltest großzügig für alles und gabst mir eine Kreditkarte, sagtest bloß: »Benutze sie, wenn du irgendwas brauchst.« Inzwischen warst du in dem Architekturbüro fest angestellt und zweimal befördert worden, während ich in derselben Zeit lediglich drei Short Storys zustande gebracht hatte. Unveröffentlichte. Wenn du morgens zur Arbeit gingst, sahst du aus, als gehörtest du zu jemand anderem.

Meine Ablehnungsschreiben kamen, als müsste es so sein – das gehört dazu, beruhigtest du mich, freundlich und oft. Es wird passieren. Dein grenzenloser Glaube an mich fühlte sich magisch an. Ich wollte mir unbedingt beweisen, dass ich so gut war, wie du mich einschätztest. »Lies mir vor, was du heute geschrieben hast. Bitte!« Ich ließ dich immer erst betteln, und dann lachtest du, wenn ich genervt tat und nachgab. Unser albernes kleines Spiel. Nach dem Essen legtest du dich müde auf die Couch, noch in deinen Büroklamotten. Du hörtest mir mit geschlossenen Augen zu, während ich meinen Text vorlas, und bei meinen besten Sätzen lächeltest du.

An dem Abend, an dem ich dir meine erste veröffentlichte Geschichte zeigte, zitterte deine Hand, als du die dicke Zeitschrift nahmst. Daran habe ich oft gedacht. Wie stolz du auf mich warst. Diese zitternde Hand sollte ich Jahre später erneut sehen, als sie ihren winzigen nassen Kopf hielt, beschmiert mit meinem Blut.

Doch davor:

Machtest du mir an meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag einen Heiratsantrag.

Mit einem Ring, den ich manchmal noch immer an der linken Hand trage.

3

Ich habe dich nie gefragt, ob dir mein Hochzeitskleid gefiel. Ich kaufte es gebraucht, ich hatte es im Schaufenster eines Vintage-Ladens gesehen. Und es wollte mir nicht mehr aus dem Kopf gehen, während ich mit deiner Mutter teure Boutiquen durchstöberte. Anders als manche entflammten Bräutigame, die verschwitzt am Altar von einem Bein aufs andere treten, hast du nicht Du siehst wunderschön aus geflüstert. Du hast mein Kleid nicht erwähnt, als wir uns hinter der Mauer am Ende des Anwesens versteckten und darauf warteten, in den Hof zu schweben, wo unsere Gäste Champagner tranken und über die Hitze stöhnten und sich fragten, wann wohl das nächste Kanapee gereicht würde. Du konntest den Blick kaum von meinem strahlenden rosa Gesicht losreißen. Du konntest meine Augen kaum loslassen.

Du warst die attraktivste Version deiner selbst, und ich kann jetzt die Augen schließen, dich als Sechsundzwanzigjährigen sehen, wie glänzend deine Haut aussah und dein Haar sich noch bis in die Stirn lockte. Ich schwöre, du hattest letzte Reste Babyspeck in den Wangen.

Wir drückten uns den ganzen Abend hindurch die Hände.

Wir wussten damals so wenig über einander, über die Menschen, die wir sein würden.

Wir hätten unsere Probleme an den Blütenblättern des Gänseblümchens in meinem Brautstrauß abzählen können, doch es sollte nicht mehr lange dauern, bis wir uns auf einer ganzen Gänseblümchenwiese verirrten.

»Es wird keinen Tisch für die Familie der Braut geben.« Ich hatte mitbekommen, wie die Hochzeitsplanerin das leise zu dem Mann sagte, der die Klappstühle und Platzkarten aufstellte. Er nickte ihr diskret zu.

Deine Eltern gaben uns die Eheringe vor der Zeremonie. Sie überreichten sie uns in einer silbernen Muschelbox, die deine Urgroßmutter von dem Mann geschenkt bekommen hatte, den sie liebte, der in den Krieg gezogen und nicht mehr zurückgekehrt war. Innen war ein Versprechen eingraviert, das er ihr gegeben hatte: Violet, du wirst mich immer finden. Du hattest gesagt: »Was für einen schönen Namen sie hatte.«

Deine Mutter, mit einem zinnfarbenen Tuch um die Schultern, sprach einen Toast aus: »Ehen können auseinanderdriften. Manchmal merken wir erst, wie weit wir uns entfernt haben, wenn das Wasser plötzlich bis zum Horizont reicht und wir das Gefühl haben, es nicht mehr zurückzuschaffen.« Sie hielt inne und sah nur mich an. »Horcht auf den Herzschlag des anderen in der Strömung. Ihr werdet euch immer finden. Und dann werdet ihr immer das Ufer erreichen.« Sie nahm die Hand deines Vaters, und du standst auf, um dein Glas zu erheben.

In der Hochzeitsnacht liebten wir uns, weil es nun mal dazugehörte. Wir waren hundemüde. Aber es fühlte sich so real an. Wir hatten Eheringe und die Rechnung vom Catering und Adrenalin-Kopfschmerzen.

Ich nehme dich, meinen besten Freund und Seelenverwandten, zu meinem Lebensgefährten, durch alles Gute und alles Schwere und die zigtausend Tage, die irgendwo dazwischenliegen. Du, Fox Connor, bist der Mensch, den ich liebe. Ich binde mich an dich.

Jahre später sah unsere Tochter zu, wie ich das Kleid in den Kofferraum deines Wagens stopfte, um es zu demselben Laden zurückzubringen, in dem ich es entdeckt hatte.

4

Ich weiß noch genau, wie das Leben in der Zeit danach war.

In den Jahren, bevor unsere eigene Violet kam.

Abends vor dem Fernseher guckten wir Nachrichten mit Anderson Cooper und aßen dabei scharf Gewürztes vom Imbiss auf dem schwarzen Marmorcouchtisch mit den gefährlich spitzen Ecken. An den Wochenenden tranken wir schon um zwei Uhr nachmittags spritzigen Wein, und dann schliefen wir, bis wir Stunden später vom Lärm der Leute geweckt wurden, die draußen in Richtung Bar gingen. Sex fand statt. Haarschnitte fanden statt. Ich las den Reiseteil der Zeitung und hielt das für Recherche, realistische Recherche für die Orte, die wir als nächste besuchen würden. Ich durchstöberte teure Geschäfte mit einem warmen schaumigen Getränk in der Hand. Im Winter trug ich teure italienische Lederhandschuhe. Du gingst mit Freunden Golf spielen. Ich interessierte mich für Politik! Wir kuschelten miteinander in dem dicken Polstersessel und fanden es schön, zusammen zu sein, einander ganz nah. Filme waren etwas, das ich mir anschauen konnte, etwas, das mich von dem Ort ablenkte, an dem ich war. Das Leben war nicht so anstrengend. Gedanken waren klarer. Worte kamen müheloser! Meine Periode war leicht. Du legtest laute Musik auf, neues Zeug, Künstler, von denen dir irgendwer beim Bier in einer Bar erzählt hatte. Das Waschmittel war nicht bio, deshalb roch unsere Kleidung künstlich bergfrisch. Wir fuhren in die Berge. Du fragtest mich, wie es mit dem Schreiben lief. Ich sah nie einen anderen Mann an und fragte mich auch nicht, wie es wäre, mal mit einem anderen zu vögeln. Du fuhrst jeden Tag ein extrem unpraktisches Auto, bis es das vierte oder fünfte Mal in dem Jahr schneite. Du wolltest einen Hund haben. Wir schauten die Hunde auf der Straße an, blieben stehen und kraulten ihnen den Hals. Der Park war nicht meine einzige Atempause von der Hausarbeit. Die Bücher, die wir lasen, waren nicht bebildert. Wir machten uns keine Gedanken über die Auswirkung von Fernsehbildschirmen auf das Gehirn. Uns war nicht klar, dass Kindern gerade die Dinge, die für Erwachsene hergestellt wurden, am besten gefielen. Wir dachten, wir würden einander kennen. Und wir dachten, wir würden uns selbst kennen.

5

Der Sommer, als ich siebenundzwanzig war. Zwei verwitterte Klappstühle auf dem Balkon über der Gasse zwischen uns und dem Nachbarhaus. Durch die weiße Lampionkette, die ich aufgehängt hatte, war der schleichende Geruch des miefigen Abfalls unter uns irgendwie noch präsenter geworden. Wir tranken kühlen Weißwein, und da sagtest du zu mir: »Fangen wir an, es zu versuchen. Heute Nacht.«

Wir hatten schon darüber geredet, oft. Du platztest förmlich vor Freude, wenn ich die Babys anderer Leute im Arm hielt oder mich hinkniete, um mit ihnen zu spielen. Du bist ein Naturtalent. Aber ich war es, die es sich vorstellte. Mutterschaft. Wie das sein würde. Wie es sich anfühlen würde. Steht dir gut.

Ich würde anders sein. Ich würde wie die ganz normalen Frauen sein, denen das ganz leichtfiel. Ich würde alles sein, was meine eigene Mutter nicht war.

In der Zeit damals kam sie mir kaum in den Sinn. Dafür sorgte ich. Und wenn sie sich doch mal ungebeten hereinschlich, pustete ich sie weg. Als wäre sie die Asche, die in meinen O-Saft fiel.

In dem Sommer mieteten wir in einem Haus mit einem sehr langsamen Aufzug eine größere Wohnung, die ein Zimmer mehr hatte. Unsere alte Wohnung ohne Aufzug wäre mit Kinderwagen nicht praktikabel gewesen. Wir machten uns mit kleinen Stupsern, nie mit Worten, auf Babysachen aufmerksam. Winzige schicke Outfits in Schaufenstern. Kleine Geschwister, die sich brav an den Händen hielten. Es gab Vorfreude. Es gab Hoffnung. Monate zuvor hatte ich begonnen, genauer auf meine Periode zu achten. Auf meinen Eisprung. Ich hatte die Daten in meinem Terminkalender angestrichen. Eines Tages entdeckte ich kleine Smileys neben meinen Kringeln. Deine Aufregung war liebenswert. Du würdest ein wunderbarer Vater sein. Und ich würde die wunderbare Mutter deines Kindes sein.

Ich schaue zurück und staune über die Zuversicht, die ich damals empfand. Ich sah mich nicht mehr als die Tochter meiner Mutter. Ich sah mich als deine Frau. Jahrelang hatte ich so getan, als sei ich perfekt für dich. Ich wollte, dass du glücklich bist. Ich wollte anders sein als die Mutter, von der ich stammte. Und deshalb wollte auch ich ein Baby.

6

Die Ellingtons. Sie wohnten drei Türen weiter von dem Haus, in dem ich aufwuchs, und ihr Rasen war der einzige in der Nachbarschaft, der in den trockenen, erbarmungslosen Sommern grün blieb. Mrs Ellington klopfte, exakt zweiundsiebzig Stunden nachdem Cecilia mich verlassen hatte, an unsere Tür. Mein Vater schnarchte noch immer auf dem Sofa, auf dem er das ganze letzte Jahr jede Nacht geschlafen hatte. Ich hatte erst eine Stunde zuvor begriffen, dass meine Mutter diesmal nicht mehr nach Hause kommen würde. Ich hatte in ihrer Kommode nachgesehen, in den Schubladen im Bad und an den Stellen, wo sie ihre Zigarettenstangen bunkerte. Alles, woran ihr etwas lag, war weg. Damals war ich schon so klug, meinen Vater nicht zu fragen, wohin sie verschwunden war.

»Hättest du Lust auf einen schönen Sonntagsbraten bei uns, Blythe?« Ihre Ringellöckchen waren glänzend und hart, frisch vom Friseur, und ich antwortete ihnen unwillkürlich mit einem Nicken und einem Dankeschön. Ich ging schnurstracks in den Wäscheraum und zog meine schönsten Sachen – einen dunkelblauen Trägerrock und einen bunt gestreiften Rollkragenpulli – aus der Waschmaschine. Ich hatte überlegt, sie zu fragen, ob mein Vater mitkommen könnte, aber ich kannte niemanden, der bessere Manieren hatte als Mrs Ellington, und ich dachte mir, wenn sie ihn nicht mit eingeladen hatte, musste es einen Grund dafür geben.

Thomas Ellington junior war mein bester Freund. Ich weiß nicht mehr, wann ich ihm dieses Prädikat verlieh, aber als ich zehn Jahre alt war, gab es außer ihm niemanden, mit dem ich gern spielte. Andere Mädchen in meinem Alter machten mich unsicher. Mein Leben war anders als ihres mit ihren Spielzeugküchen, ihren selbst gemachten Haarschleifen, ihren sauberen Söckchen. Ihren Müttern. Ich lernte sehr früh, dass es kein schönes Gefühl war, anders als sie zu sein.

Aber bei den Ellingtons fühlte ich mich wohl.

Das Seltsame an Mrs Ellingtons Einladung war, dass sie irgendwie gewusst haben musste, dass meine Mutter sich vom Acker gemacht hatte. Weil meine Mutter mir nämlich nicht mehr erlaubte, bei den Ellingtons zu essen. Irgendwann hatte sie beschlossen, dass ich jeden Tag um Viertel vor fünf zu Hause sein musste, obwohl dort nichts auf mich wartete: Der Herd war immer kalt und der Kühlschrank immer leer. Zu der Zeit aßen mein Vater und ich an den meisten Abenden Fertighaferbrei. Er brachte kleine Tütchen mit braunem Zucker zum Drüberstreuen mit nach Hause, die er in der Cafeteria des Krankenhauses, wo er das Reinigungspersonal leitete, stibitzt hatte. Er verdiente damals ganz anständig, zumindest im Vergleich zu anderen in unserer Gegend. Aber so lebten wir nun mal.

Ich hatte irgendwo gelernt, dass es höflich war, ein Geschenk mitzubringen, wenn man zum Essen eingeladen war, also hatte ich eine Handvoll Hortensien von dem Busch vor unserem Haus gepflückt, obwohl die weißen Blütenblätter Ende September größtenteils vertrocknet waren. Ich band die Stiele mit meinem Haargummi zusammen.

»Du bist so eine aufmerksame junge Lady«, sagte Mrs Ellington. Sie tat die Blumen in eine blaue Vase und stellte sie behutsam auf den Tisch, mitten zwischen die dampfenden Schüsseln.

Thomas’ kleiner Bruder Daniel himmelte mich an. Nach der Schule spielten wir mit seiner Holzeisenbahn auf dem Wohnzimmerboden, während Thomas mit seiner Mutter Hausaufgaben machte. Ich fing mit meinen immer erst nach acht Uhr an, wenn Cecilia entweder ins Bett ging oder schon losgezogen war, um die Nacht in der Stadt zu verbringen. Das machte sie oft – und kam erst am nächsten Tag wieder. Die späte Erledigung meiner Hausaufgaben war für mich eine Möglichkeit, die Zeit zu überbrücken, bis meine Augen müde wurden. Der kleine Daniel faszinierte mich. Er redete wie ein Erwachsener und konnte schon mit fünf Jahren multiplizieren. Ich fragte ihn das Einmaleins ab, während wir auf dem kratzigen orangefarbenen Teppich der Ellingtons spielten, und staunte, wie schlau er war. Mrs Ellington kam manchmal herein, hörte kurz zu und strich uns beiden über den Kopf, ehe sie wieder ging. Schön macht ihr das, ihr zwei.

Auch Thomas war intelligent, aber anders. Er dachte sich die unglaublichsten Geschichten aus, und wir schrieben sie in kleine Spiralhefte, die seine Mutter uns aus dem Eckladen mitbrachte. Dann malten wir Bilder passend zu jeder Seite. Für jedes Büchlein brauchten wir Wochen – wir erörterten ausführlich, zu welchem Teil der Geschichte wir was malen würden, und dann spitzten wir in aller Ruhe sämtliche Buntstifte im Malkasten an, ehe wir anfingen. Einmal ließ Thomas mich ein Heft mit nach Hause nehmen, eine Geschichte, die ich besonders mochte. Sie handelte von einer Familie mit einer schönen, liebevollen Mutter, die an einer seltenen Art von tödlichen Windpocken erkrankt. Sie wollen ein letztes Mal alle zusammen Urlaub machen und reisen auf eine ferne Insel, wo sie im Sand einen winzigen Zwerg mit Zauberkräften finden, der George heißt und nur in Reimen spricht. Er gewährt ihnen die Gabe einer besonderen Superkraft, wenn sie ihn dafür in ihrem Koffer mit nach Hause auf die andere Seite der Welt nehmen. Sie stimmen zu, und er gibt ihnen das, was sie sich gewünscht haben – Eure Mom wird ewig leben und immer bei euch sein. Und seid ihr einmal traurig, singt diesen kleinen Reim! Der Zwerg wohnt von nun an in der Tasche der Mutter, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Ich hatte die Familie sorgfältig auf die Seiten dieses Heftes gemalt – sie schauten aus wie die Ellingtons, aber mit einem dritten Kind, einer Tochter, die anders als sie eine buntstiftrosa Haut hatte wie ich.

Eines Morgens sah ich meine Mutter auf meiner Bettkante sitzen und das Heft durchblättern, das ich ganz unten in einer Schublade versteckt hatte.

»Wo kommt das her?«, fragte sie, ohne mich eines Blickes zu würdigen, und dann verharrte sie bei der Seite, wo ich mich als Teil der schwarzen Familie gemalt hatte.

»Das hab ich gemacht. Mit Thomas. Bei ihm zu Hause.« Ich griff nach dem Heft in ihren Händen, meinem Heft. Es war ein zaghafter Versuch. Sie riss ihren Arm weg, und dann warf sie mir das Heft an den Kopf, als wäre sie angewidert von den spiralgebundenen Seiten und allem, was darauf war. Eine Ecke traf mich am Kinn, und das Heft landete zwischen uns auf dem Boden. Ich starrte darauf, schämte mich. Für die Bilder, die ihr nicht gefielen, für die Tatsache, dass ich das Heft vor ihr versteckt hatte.

Meine Mutter stand auf, den dünnen Hals gereckt, die Schultern gestrafft. Sie schloss die Tür leise hinter sich.

Am nächsten Tag brachte ich das Heft zurück zu den Ellingtons.

»Warum willst du es denn nicht behalten? Du warst doch so stolz darauf, was ihr beide gemacht habt.« Mrs Ellington nahm es mir aus der Hand und sah, dass es ein paar Knicke hatte. Sie strich sanft über den Umschlag. »Ist schon gut«, sagte sie kopfschüttelnd, sodass ich nicht antworten musste. »Du kannst es hier aufbewahren.«

Sie legte es auf ein Bücherregal im Wohnzimmer. Als ich an dem Tag gerade gehen wollte, sah ich, dass sie die letzte Seite des Heftes aufgeschlagen und wie ein Bild aufrecht hingestellt hatte – die fünfköpfige Familie, mich eingeschlossen, die Arme umeinander gelegt, und aus der lächelnden Mutter in der Mitte kam eine Explosion von winzigen Herzen.

Nach dem Essen an dem Sonntagabend, kurz nachdem meine Mutter verschwunden war, bot ich an, Mrs Ellington beim Aufräumen in der Küche zu helfen. Sie legte eine Musikkassette ein und sang ganz leise vor sich hin, während sie den Tisch abräumte und die Arbeitsplatte abwischte. Ich spülte das Geschirr und beobachtete sie dabei schüchtern aus dem Augenwinkel. Plötzlich hörte sie auf und nahm den Topfhandschuh von der Arbeitsplatte. Dann stülpte sie ihn über ihre Hand, hob ihn dicht neben ihr Gesicht und sah mich mit einem verschmitzten Lächeln an.

»Miss Blythe«, sagte sie mit einer lustigen, quietschigen Stimme, wobei sie die Hand in der Handschuhpuppe bewegte. »Wir stellen allen unseren prominenten Gästen hier in der abendlichen Ellington-Talkshow ein paar persönliche Fragen. Also. Verraten Sie uns – was machen Sie gern in Ihrer Freizeit? Zum Beispiel ins Kino gehen?«

Ich lachte verlegen, war unsicher, wie ich mitspielen sollte. »Ähm, ja. Manchmal?« Ich war noch nie im Kino gewesen. Ich hatte auch noch nie mit einer Handpuppe geredet. Ich schaute nach unten und schob ein paar Teller in der Spüle hin und her. Thomas kam in die Küche gerannt, schrie: »Mommy macht wieder die Talkshow!«, und prompt kam Daniel hereingesaust. »Frag mich was, frag mich!« Mrs Ellington stand da, eine Hand auf die Hüfte gestemmt, während die andere Hand plapperte, und quetschte ihre Stimme aus dem Mundwinkel. Selbst Mr Ellington schob den Kopf herein, um zuzuschauen.

»Also, Daniel, was isst du am liebsten, und sag nicht Eis, das gilt nicht!«, quietschte die Puppe. Daniel hüpfte ein paarmal auf und ab, während er über seine Antwort nachdachte und Thomas Vorschläge rief. »Kuchen! Ich weiß es, Kuchen!« Mrs Ellingtons Topfhandschuh keuchte auf. »KUCHEN! Doch wohl nicht Rhabarberkuchen, oder? Davon muss ich pupsen!«, und die Jungen brüllten vor Lachen. Ich hörte ihnen weiter zu. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Die Spontaneität. Die Albernheit. Die Geborgenheit. Mrs Ellington sah mich von der Spüle aus zuschauen und winkte mich mit einem Finger zu sich. Sie schob mir den Topfhandschuh auf die Hand und sagte: »Ein Gastmoderator heute Abend! Wie schön!« Und dann flüsterte sie mir zu: »Los, frag die Jungs, was sie lieber machen würden. Würmer essen oder die Popel von jemand anderem.« Ich kicherte. Sie verdrehte die Augen und lächelte, als wollte sie sagen: Glaub mir, die finden das toll, diese albernen Jungs.

An dem Abend begleitete sie mich nach Hause, was sie vorher noch nie getan hatte. In unserem Haus waren alle Lichter aus. Sie blieb bei mir stehen, während ich die Tür aufschloss, um sich zu vergewissern, dass die Schuhe von meinem Dad in der Diele standen. Und dann zog sie das Heft über den zaubermächtigen Zwerg aus der Tasche und gab es mir.

»Hab mir gedacht, dass du das jetzt zurückhaben willst.«

Und ob. Ich fächerte die Seiten mit dem Daumen auf und dachte zum ersten Mal an diesem Abend an meine Mutter.

Ich bedankte mich noch mal für das Essen. Als sie schon am Ende unserer Einfahrt war, drehte sie sich um und rief: »Nächste Woche um dieselbe Zeit! Falls ich dich nicht schon vorher sehe.« Ich vermute, sie wusste, dass sie mich vorher sehen würde.

7

Ich wusste es, sobald du in mir kamst. Deine Wärme füllte mich, und ich wusste es. Ich konnte verstehen, dass du mich für verrückt hieltst – wir hatten es seit Monaten probiert –, aber knapp drei Wochen später lagen wir zusammen auf dem Badezimmerboden und lachten wie betrunkene Narren. Alles hatte sich verändert. Du machtest an dem Tag blau, weißt du noch? Wir guckten im Bett Filme und ließen uns, wenn wir Hunger hatten, etwas zu essen liefern. Wir wollten einfach nur zusammen sein. Du und ich. Und sie. Ich wusste, dass es ein Mädchen war.

Ich konnte nicht mehr schreiben. Meine Gedanken flogen in alle Richtungen, sobald ich es versuchte. Dahin, wie sie wohl aussehen und wer sie werden würde.

Ich fing an, Schwangerschaftsgymnastikkurse zu besuchen. Zu Beginn jedes Kurses setzten wir uns in einen weiten Kreis, stellten uns vor und sagten, im wievielten Monat wir waren. Ich war fasziniert davon, was auf mich zukam, wenn ich die Bäuche der anderen Frauen im Spiegel sah, während wir Aerobic-Übungen machten, die kaum der Mühe wert schienen. Mein eigener Körper war noch unverändert, und ich konnte es kaum erwarten, dass sie anfing, sich Platz zu schaffen. In mir. In der Welt.

Auch einfach durch die Stadt zu gehen, um einzukaufen, war nun anders. Ich hatte ein Geheimnis. Ich rechnete halb damit, dass die Leute mich anders wahrnahmen. Ich wollte meinen noch immer flachen Bauch berühren und sagen: Ich werde Mutter. Das bin ich jetzt. Ich war völlig erfüllt.

Eines Tages war ich in der Bibliothek und blätterte stundenlang in Büchern aus der Abteilung Schwangerschaft und Entbindung. Mein Babybauch war noch kaum zu erkennen. Eine Frau ging an mir vorbei, las die Buchrücken auf der Suche nach einem bestimmten Band. Schließlich zog sie einen abgegriffenen Schlafratgeber aus dem Regal.

»Wie weit sind Sie?«

»Sechster Monat.« Sie ließ einen Finger über die Zeilen des Inhaltsverzeichnisses gleiten, blickte dann erst auf meinen Bauch, ehe sie mir ins Gesicht sah. »Und Sie?«

»Einundzwanzigste Woche.« Wir nickten einander zu. Sie sah aus, als ob sie früher zu Hause Kombucha angesetzt hätte und morgens um sechs zum Spinning-Kurs gegangen wäre, sich aber jetzt mit Püree vom Vortag und einem Spaziergang zum Supermarkt begnügen würde, um Windeln zu kaufen. »An Schlafprobleme hab ich noch gar nicht gedacht.«

»Ihr erstes?«

Ich nickte und lächelte.

»Das ist mein zweites.« Die Frau hielt das Buch hoch. »Ehrlich, wenn Sie das mit dem Schlafen hinkriegen, kommen Sie klar. Alles andere ist Nebensache. Beim ersten Mal hab ich das wirklich verkackt.«

Ich lachte gequält und dankte ihr für den Tipp. Kindergeschrei gellte durch die Bibliothek, und sie seufzte.

»Das ist meins.« Sie deutete nach hinten über ihre Schulter, und dann zog sie ein zweites Exemplar desselben Buches, das sie gesucht hatte, aus dem Regal. Sie hielt es mir hin, und mir fiel auf, dass sie rosa Filzstiftflecke an den Händen hatte. »Viel Glück.«

Sie wirkte von hinten drall und feminin, als sie wegging, ihre breiten Hüften, das schulterlange Haar ganz matt von dem wenigen Schlaf, den sie gefunden hatte. Sie kam mir so offensichtlich wie eine Mutter vor. Lag es an der Art, wie sie aussah oder sich bewegte? Lag es daran, dass sie anscheinend mehr hatte, worum sie sich kümmern musste, als ich? Wann würde mir das passieren, diese Verwandlung? Wie würde ich mich verändern?

8

»Fox, guck dir das an.« Es war das dritte große Paket, das deine Mutter uns schickte, seit wir ihr von dem Baby erzählt hatten. Ihre Freude war schier grenzenlos, und sie rief jede Woche an, um zu fragen, wie es mir ging. Ich zog niedliche Wickeltücher und gestrickte Babymützchen und winzige weiße Schlafanzüge heraus. Ganz unten war ein kleineres Päckchen, auf das sie »Fox’ Babysachen« geschrieben hatte. Es enthielt einen abgegriffenen Teddybär mit Knopfaugen und eine Flanelldecke mit Seidensaum, die schon bessere Zeiten gesehen hatte und einmal elfenbeinfarben gewesen war. Die zarte Porzellanfigur eines kleinen Jungen, der auf einem Mond saß, mit deinem Namen in filigraner Goldschrift. Ich hob den Teddy an meine Nase und dann an deine. Du schwelgtest in Erinnerungen. Ich hörte mit einem Ohr zu, war aber mit den Gedanken woanders, stöberte in meiner Vergangenheit nach ähnlichen vertrauten Andenken wie Decken und Plüschtieren und Lieblingsbüchern, jedoch ohne fündig zu werden.

»Glaubst du, wir schaffen das?«, fragte ich dich an dem Abend beim Essen, während ich lustlos auf meinem Teller herumstocherte. Seit ich schwanger war, konnte ich Fleisch kaum noch runterkriegen.

»Was schaffen?«

»Eltern sein. Ein Kind großziehen.«

Du griffst lächelnd über den Tisch und spießtest mein Stück Rindfleisch mit deiner Gabel auf.

»Du wirst eine gute Mutter sein, Blythe.«

Du maltest ein Herz auf meinen Handrücken.

»Aber … Meine Mutter war nicht … sie ist abgehauen. Sie war ganz anders als deine.«

»Ich weiß.« Du verstummtest. Du hättest mich bitten können, mehr dazu zu sagen. Du hättest meine Hand nehmen, mir in die Augen sehen und mich bitten können, weiterzureden. Du trugst meinen Teller zur Spüle.