Das Geflüster - Ashley Audrain - E-Book
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Das Geflüster E-Book

Ashley Audrain

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Beschreibung

Das Geflüster begann lange vor dem Unfall in der Harlow Street. Denn wo Rauch ist, ist auch Feuer. Wo Freundschaft, Neid. Und hinter jeder Lüge verbirgt sich eine verheerende Wahrheit.

Bevor der Sommer zu Ende geht, versammelt sich die Nachbarschaft der Harlow Street zu einem Gartenfest. Getränke fließen bis spät in die Nacht und alles scheint perfekt – vor allem die Gastgeberin. Bis zu dem Moment, als Whitney vor aller Augen die Fassung verliert, weil ihr neunjähriger Sohn Xavier nicht gehorchen möchte. Die emotionale Entgleisung sorgt für Getuschel hinter vorgehaltener Hand. Als Xavier nur wenige Monate später aus seinem Kinderzimmerfenster stürzt, ist der Skandal unvermeidbar und das Urteil schnell gefällt. Doch in dieser Nachbarschaft ist niemand so vollkommen, wie er vorgibt zu sein. Im Laufe einer Woche spitzen die Dinge sich zu: Während Xavier zwischen Leben und Tod schwebt, müssen sich die Frauen in der Harlow Street ihren eigenen Abgründen stellen.

»Das Geflüster« ist ein mitreißenden Pageturner über vier Frauen, deren Leben sich verändert, als das Undenkbare passiert – und über das, was zerbricht, wenn gute Menschen unverzeihliche Entscheidungen treffen.

»Das Ende dieses Romans ist ein derartiger Hammer, dass Sie es zweimal lesen müssen, um es zu glauben.« New York Times

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Seitenzahl: 423

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Bevor der Sommer zu Ende geht, versammelt sich die Nachbarschaft von Harlow Street zu einem Gartenfest. Getränke fließen bis spät in die Nacht, und alles scheint perfekt – vor allem die Gastgeberin. Bis zu dem Moment, als Whitney vor aller Augen die Fassung verliert, weil ihr neunjähriger Sohn Xavier nicht gehorchen möchte. Die emotionale Entgleisung sorgt für Getuschel hinter vorgehaltener Hand. Als Xavier nur wenige Monate später aus seinem Kinderzimmerfenster stürzt, ist der Skandal unvermeidbar und das Urteil schnell gefällt. Doch in dieser Nachbarschaft ist niemand so vollkommen, wie er vorgibt zu sein. Im Laufe einer Woche spitzen die Dinge sich zu: Während Xavier zwischen Leben und Tod schwebt, müssen sich die Frauen in der Harlow Street ihren eigenen Abgründen stellen.

Ashley Audrain wuchs außerhalb von Toronto auf, studierte Medienwissenschaften und arbeitete viele Jahre im Bereich Public Relations, unter anderem im Verlagswesen. Heute lebt sie als freie Autorin mit ihrer Familie in Toronto. Ihr Debüt Der Verdacht erschien in über 30 Ländern. Das Geflüster ist Audrains zweiter Roman.

»Ich liebe dieses Buch einfach!« Miranda Cowley Heller, Autorin von Der Papierpalast

»Meisterhaft erzählt! Das Ende ist ein derartiger Hammer, dass Sie es zweimal lesen müssen, um es zu glauben.« New York Times

»Ein messerscharfer Pageturner!« Carley Fortune, Autorin von Fünf Sommer mit dir

www.penguin-verlag.de

ASHLEY AUDRAIN

DAS GEFLÜSTER

NIEMAND HAT ES GESEHEN. DOCH ALLE HABEN ETWAS GEHÖRT.

ROMAN

Aus dem Englischen von Lotta Rüegger und Holger Wolandt

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel The Whispers bei Viking Canada, einem Imprint von Penguin Random House Canada.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © der Originalausgabe

by Ashley Audrain Creative Inc. 2023

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024

by Penguin Verlag, München

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: Favoritbüro, München

Covermotiv: © LawrenceSawyer/GettyImages

Redaktion: Lisa Wolf

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-28118-2V002

www.penguin-verlag.de

Für alle Mütter am Rande ihrer Kräfte. Und für all jene Frauen, die keine Mühe scheuen, um Mutter zu werden.

TRIGGERWARNUNG: Dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte zum Thema Fehlgeburten.

Ehe und Mutterschaft gaben mir zunehmend das Gefühl, dass das Leben einer Frau und das Leben einer Feministin unterschiedliche und vermutlich unvereinbare Dinge sind.

Rachel Cusk, Interview in The Globe and Mail, Toronto, 2012

Er hält sich zwei Finger an die Nase und atmet ihren Geruch ein. Seine Pupillen weiten sich in der dunklen Küche. Die Uhr am Herd zeigt 0.03 Uhr. Er verspürt einen Druck auf der Brust. Hat er einen Herzinfarkt? Fühlt sich das so an? Er muss sich bewegen. Also geht er auf den Weißeichendielen auf und ab und fasst alles Mögliche an. Den Hebel des Toasters, den Edelstahlgriff des Kühlschranks, die duftenden Bananen in der Obstschale, die schon weich werden. Er hält nach vertrauten Dingen Ausschau, um zur Normalität zurückzufinden.

Duschen. Er sollte duschen. Wie ein Kleinkind müht er sich die Treppe hinauf.

Er weigert sich, in den Badezimmerspiegel zu schauen.

Seine Haut brennt. Er schrubbt.

Er meint, einen Krankenwagen zu hören. Sind das Sirenen?

Er packt den Duschkopf und lauscht. Nichts.

Bett, er sollte im Bett liegen. Würde er auch, wenn nichts passiert wäre. Wenn es eine ganz gewöhnliche Nacht im Juni wäre. Er trocknet sich ab und hängt das Handtuch an den Haken an der Tür, wo es immer hängt. Wie ein Dekorateur in einem Kaufhaus zupft er den weißen Frotteestoff zurecht, damit er die richtigen Falten wirft. Seine Hände zittern vor ungewohnter Furcht.

Sein Handy. Mit suchendem Blick schleicht er durch das dunkle Haus. Die Sitzbank in der Diele, die Arbeitsplatte in der Küche, das Tischchen an der Treppe? Es steckt in der Tasche seiner Jacke, die auf dem Boden vor der Hintertür liegt. Wo er sie beim Hereinkommen fallen gelassen hat. Immer noch wacklig auf den Beinen, nimmt er das Handy mit nach oben und bleibt vor der Tür ihres Schlafzimmers stehen.

Da kann er nicht hinein.

Er wird im Gästezimmer schlafen. Sachte legt er sich in das Doppelbett, wobei ihm auffällt, mit welcher Sorgfalt die Bettwäsche glatt gestrichen worden ist. Das Handy behält er neben sich. Er sehnt sich danach, sie anzurufen.

Was würde er sagen? Dass er sie vermisst? Dass er sie braucht.

Es ist zu spät.

Trotzdem starrt er auf das Handy, stellt sich den beharrlichen Klingelton vor, während er darauf wartet, dass sie drangeht. Dann schließt er die Augen und sieht wieder das Kind.

Irgendwann später spürt er eine Bewegung. Jemand hat sich neben ihn gelegt. Er wartet auf die Berührung. Aber nein, das Handy vibriert nur. Und noch mal. Und noch mal. Ein orangener Lichtschein dringt ins Zimmer. Er wischt mit dem Daumen über das Spiegelbild seines verschlafenen Gesichts auf dem Handydisplay, um zu antworten.

Der gequälte Ton ihrer Stimme, den er früher schon gehört hat.

»Etwas Schreckliches ist passiert«, sagt sie.

September

Im Garten der Loverlys

Wie sich die Erwachsenen im Garten des teuersten Hauses der Straße gegenseitig mustern und dabei so aufgesetzt freundlich sind, erinnert an das Tierreich. Alle zieht es zu den attraktivsten Gästen. Man hat sich zu einem Familiennachmittag unter Nachbarn versammelt, der Kinder wegen, die sich in ihrer eigenen Welt befinden. Die Männer tragen ihre guten Schuhe und die Frauen Accessoires, die nicht spielplatztauglich sind, und alle unterhalten sich sehr gepflegt.

Das Essen kommt vom Cateringservice. In großen Stahlwannen wird das Craftbeer gekühlt, auf Holzbrettchen sind Miniburger und mit Pommes frites überquellende Papiertütchen angerichtet. Mit breiten Seidenschleifen zugebundene Partytüten liegen bereit. Für jedes Kind eine, erkennbar an den mit Zuckergussnamen beschrifteten Cookies.

Vor dem hinteren Zaun steht eine Reihe großer Bäume, gerade erst gepflanzt und von einem Kran an Ort und Stelle gehoben. Der unerfreuliche Fußweg dahinter, auf dem die Bewohner der vier Straßen weiter gelegenen, bezuschussten Wohnungen unterwegs sind und dessen Gullys bei Regen überfließen, ist nicht zu sehen. Der Rasen ist von einem phänomenalen Grün und mit einem Bewässerungssystem ausgestattet. Die Terrasse vor der Küche aus poliertem Beton wird von sorgfältig arrangierten Buchsbaumkübeln eingefasst. Es gibt einen Schuppen, der eigentlich mehr ist als das, mit einer Schwingtür und ordentlicher Beleuchtung.

Drei Kinder gehören zu diesem hoch aufragenden Haus, das, eigentlich undenkbar in diesem Stadtgebiet, zwei Parzellen beansprucht. Die dreijährigen Zwillinge, ein Junge und ein Mädchen, tragen zueinander passende Kleidung aus gestreiftem Baumwollkrepp. Sie haben der Mutter dieses avantgardistischen Hauses erlaubt, ihnen das Haar ordentlich mit Wasser zu kämmen und zu scheiteln. Der ältere Bruder, neunjährig, behält beharrlich seine Sportsachen vom Vorjahr mit fleckigem T-Shirt an. Die Gäste werden sich fragen, ob Kakao oder Blut. Aber Whitneys Mann hat ihr gut zugeredet, fünfzehn Minuten vor Partybeginn nur die allernötigsten Konflikte auszutragen.

Um 15.30 Uhr ist es ihr endlich gelungen, den Drang, ihm dieses Sportshirt vom Körper zu reißen und ihn in das taubenblaue Polohemd zu stecken, das sie extra für diese Party besorgt hat, abzuschütteln. Und auch die Anspannung, die einen als Gastgeberin befällt, hat sie abgelegt, und nun lässt sie sich von dem Gefühl berauschen, dass alle ihren Spaß haben. Die Gäste sind beeindruckt. Das kann sie ihren Blicken und ihren verstohlenen Gesten entnehmen, mit denen sie einander, so wie sie es erhofft hat, auf Details aufmerksam machen. Sie denkt an die Fotos, die heute Abend in den sozialen Medien auftauchen werden. Die Unterhaltung ist lebhaft, von Gelächter unterbrochen, und diese heitere Atmosphäre erfüllt sie mit Genugtuung.

Mara aus dem Nachbarhaus kommt nicht. Schuld daran ist der Lärm. Die Einladung auf Büttenpapier, die vor einem Monat auch in ihrem Briefkasten lag, ist sofort ins Altpapier gewandert. Sie weiß, dass diese Nachbarn Leute wie sie und Albert eigentlich nicht dabeihaben wollen, weil sie denken, sie hätte im Grunde genommen nichts beizutragen. Ihre über die Jahrzehnte erworbene Weisheit ist diesen Frauen, die bereits alles zu wissen glauben, vollkommen egal. Aber das ist in Ordnung. Durch die Ritzen des Bretterzauns sieht und hört sie alles, was sie wissen muss, während sie in ihrem eigenen Garten beschäftigt ist. Sie jätet Unkraut, bis ihr Kreuz so schmerzt, dass sie sich auf dem vermoosten Gartenstuhl erholen muss. Sie entdeckt etwas in den sattgrünen Blättern ihres Hortensienbuschs und schüttelt ihn. Ein Papierflugzeug trudelt im Sturzflug zu Boden. Wieder eines, das sie übersehen hat. Donnerstagmorgen hat sie mehrere in ihrem Garten gefunden. Als sie sich vorbeugt, hört sie Whitneys Stimme, die ihre Gäste übertönt und das Ehepaar von gegenüber begrüßt.

Dieses Paar, Rebecca und Ben, hat sich mit betonter Zielstrebigkeit auf die Suche nach der Gastgeberin gemacht, denn sie können nur zwanzig Minuten und eine Orchidee im Topf für sie erübrigen. Rebecca muss zur Arbeit. Ben ist Rebecca zuliebe mitgekommen, eigentlich wäre er lieber zu Hause geblieben. Er schweigt, während Whitney und Rebecca Höflichkeiten austauschen. Whitney macht Komplimente und stellt Fragen, tätschelt Rebeccas Hand und ihre Schulter, und Rebecca lässt es sich gefallen. Ganz untypisch für sie, ist sie von der Gastgeberin eingenommen und hofft, dass niemand sie unterbricht.

Bens Haar ist noch feucht von der Dusche, und er duftet frisch. Er fühlt Whitneys Blick auf sich ruhen, während sie sich mit seiner Frau unterhält. Seine Hand steckt in der Gesäßtasche von Rebeccas weißer Jeans, und er zieht sie an sich. Rebecca spürt, dass er ihrer Unterhaltung mit Whitney nicht folgt, nicht wirklich, und tatsächlich sieht er gerade lieber dem Zauberer zu, der ein buntes Halstuch um einen von Whitneys kichernden Zwillingen, dem Mädchen, wirbeln lässt. Sie hat Bens freundliche Augen entdeckt. Erwachsenen gegenüber ist er nicht übermäßig gesellig, aber Kinder fühlen sich immer von ihm angezogen. Er ist der Lieblingslehrer, der Onkel, der immer für Spiele zu haben ist, der Baseballtrainer.

Vom anderen Gartenende aus beobachtet Blair, wie sich Ben und Rebecca, während sie Whitneys Vortrag lauschen, verstohlen berühren, als würden sie einander immer noch vollständig genügen. Sie sind kinderlos, kinderfrei, und haben sich daher noch nicht so sehr verändert wie all die anderen. Sie unterhalten sich in ganzen Sätzen und in einem zivilisierten Tonfall. Wahrscheinlich haben sie auch noch jeden Tag Sex und Spaß dabei. Schlafen eng umschlungen im selben Bett ein. Ohne das Kissen, das ihre Seite des Bettes von seiner trennt, um sich der Illusion hinzugeben, der andere sei nicht da.

Blair beobachtet ihre beste Freundin Whitney, die die Unterhaltung mit Rebecca zu einem Ende bringt und sich unauffällig nach dem nächsten Gast umsieht. Aiden, der laute Mann, der jenseits von Blairs Kissenbarriere schläft, ist deutlich aus einer Ecke des Gartens zu hören. Wie immer hat er Publikum. Gerade steuert er eine Pointe an, die sie bereits kennt, er hat Whitneys Aufmerksamkeit sofort auf sich gezogen, als sie an ihm vorbeiging, und Blair quält das Bewusstsein darüber, dass sie selbst allein dasteht. Sie schaut sich nach Jacob um, Whitneys Mann, und entdeckt ihn bei einem ihr unbekannten Paar. Ein Kleinkind mit streng geflochtenen Zöpfen drängt sich zwischen die Beine der Mutter. Jacob deutet auf das Haus, zeichnet die Form des Dachs mit einem Finger nach und erklärt seine Gestaltung. Wie immer trägt er ein schwarzes T-Shirt, dazu gekrempelte schwarze Chinos und schneeweiße Designer-Sneakers ohne Socken. Sein Haar, seine Brauen, die skandinavische Brille, alles wirkt cool und intensiv, trotzdem ist er ein sehr sanfter Mensch. Er winkt Blair zu. Hallo! Sie errötet, weil sie sich ertappt fühlt. Er ist ein angenehmer Anblick. Suchend sieht er sich wieder nach seiner Frau um.

Whitney unterhält sich mit einigen Müttern aus der Klasse ihres älteren Sohnes Xavier. Es gibt einen Gruppenchat, an dem sich Whitney nur selten beteiligt, weil sie zu Projektarbeiten, dem Speiseplan der Schulmensa und der Deadline für die Klassenfotos selten etwas beizutragen hat. Aber sie ist trotzdem gern dabei. Gelegentlich kommentiert sie mit einem Emoji, wenn sie morgens früh ins Büro kommt, ihre dritte Tasse Kaffee trinkt und die Stille und die Zeit zum Nachdenken genießt. Daumen hoch. Herzchen. Danke für das Update! Nicht weiter hilfreich und eher ironisch. Whitney spürt den wachsamen Blick der Frauen, als sie sich ihren Männern zuwendet, die sofort ihre Gespräche unterbrechen und bei der Begrüßung eine aufrechtere Haltung einnehmen.

Rebecca wendet sich Blair zu. Jetzt sind sie mit den Höflichkeiten an der Reihe. Blair fällt nur das Wetter ein, immer dieses ewige Thema, wie schnell es jetzt abends abkühlt, und dann die aufreibenden Stunden, die Rebecca im Krankenhaus verbringt. Ihre Schicht beginnt in fünfundvierzig Minuten. Aber Rebecca liebt diese aufreibenden Stunden. Die beiden Frauen verbindet nichts, außer dass sie Nachbarinnen sind. Rebecca bietet sich an, Blair jederzeit mit ihrem medizinischen Wissen auszuhelfen und jede erdenkliche Frage zu beantworten. Ausschläge, Keuchhusten, juckendes Trommelfell oder auch grau verfärbte Kacke. Solche Dinge können Blair tagelang beschäftigen. Sie überlegt sich, wie es wohl ist, so zielstrebig zu sein. Und wie man nur weiße Jeans zu einer Grillparty mit Kindern anziehen kann.

Alle paar Sekunden fällt Rebeccas Blick auf Blairs siebenjährige Tochter. Sie kann sich kaum von ihrem Anblick losreißen und überlegt sich, wie es wohl wäre, mit einer eigenen Tochter hier zu sein. Sie verliert sich in diesem Gedankenstrang einer möglichen Zukunft, er wird länger und länger, wie das Halstuch, das der Magier aus seinem Zylinder hervorzaubert. Das Mädchen malt mit den Zwillingen, die darauf warten, mit dem Kaninchen an die Reihe zu kommen, mit Kreide auf den Terrassenboden aus Beton. Jetzt betrachten die beiden Frauen Blairs Tochter gemeinsam und tun so, als fänden sie die Kinder ungemein interessant.

Whitney gesellt sich mit einem neuen Drink zu ihnen, und Blair und Rebecca tauen spürbar auf. Whitney legt Blair eine Hand auf die Schulter und versucht, sich nicht anmerken zu lassen, dass die kreideverschmierten Handflächen der Zwillinge sie stören. Süß, wie sie zusammen spielen, sagt Whitney gedehnt, wie gut Chloe auf die Kleinen eingeht. Unauffällig tritt sie einen Schritt zurück, um möglichen Kreideflecken auf ihrem Kleid zu entgehen.

Rebecca versucht nachzuvollziehen, was an der Gastgeberinnenrolle und diesem Zur-Schau-Stellen so toll sein soll. Sie hat noch drei Minuten, und ihr Gehirn wird die gesamten hundertachtzig Sekunden damit beschäftigt sein, denn das ist nun mal ihre Art. Auch sie kommentiert Chloes Gutmütigkeit, während die Sekunden verstreichen.

Rebecca gebraucht das Wort »reizend«. Blair lächelt und spielt die Perfektion ihres einzigen Kindes herunter, verspürt aber eine Freude, die nur ein solcher Kommentar auslösen kann. Egal, wie pflichtschuldig die Äußerung auch gewesen sein mag.

Bei dem Wort »reizend« drängt sich Whitney plötzlich die Frage auf, wo wohl ihr ganz und gar unreizender Sohn stecken mag. Sie kann ihn nirgends im Garten entdecken. Blair meint, ihn zuletzt vor einer halben Stunde gesehen zu haben, als er durch den Zaun zu Mara hinüberschaute. Nie ist er da, wo er sein soll. Whitney hat ihn ermahnt, sich anständig zu benehmen, nett zu sein und sich um die jüngeren Kinder zu kümmern. Nur dieses eine Mal. Für sie. Eigentlich sollte er im Garten sein. Der Zauberer ist mit seiner Nummer fast fertig.

Vielleicht wollte er einfach nur einen Moment allein sein, meint Blair leise und beschwichtigend und fragt sich, ob sie besser schweigen sollte.

Aber nein. Whitney wird ihn finden.

Kann er nicht einfach mal das machen, worum sie ihn bittet? Ein bisschen mehr wie Blairs Tochter sein? Sie denkt an seine ewig schmollende, fast mürrische Miene. Die Leute fragen, was ihm über die Leber gelaufen ist, dabei ist das einfach nur sein gewöhnlicher Gesichtsausdruck. Verdrossen. Er bräuchte dringend einen neuen Haarschnitt, weigert sich aber. Sie geht schnell durchs Haus und ruft nach ihm. Diele. Wohnzimmer. Spielzimmer im Keller. Dabei hat sie bei einer Gartenparty mit gut fünfzig Gästen wirklich Besseres zu tun. Versteckt er sich etwa? Hat er sich wieder heimlich das iPad genommen? Xavier! Warum muss er sie immer provozieren? Sie eilt in den zweiten Stock und öffnet die Tür zu seinem Zimmer. Da ist er! Auf seinem Bett, um sich herum die Partytüten für die Kinder. Er hat sie alle geleert. Jede einzelne. Sein Gesicht und die Bettwäsche sind mit Schokolade verschmiert. Er leckt gerade den Zuckerguss von einem Cookie mit dem Namen eines anderen Kindes.

»XAVIER! VERDAMMT! WASSOLLDERSCHEISS?« Sie reißt ihm den abgeleckten Cookie aus den Händen. Er schreit und weicht zurück. »BISTDUVOLLKOMMENÜBERGESCHNAPPT?«

Xaviers Gesicht fällt in sich zusammen, und seine Unterlippe verzieht sich wie bei einem halb so alten Kind. Sie wird ihm das nervenzerrende, sich steigernde Geheul, bei dem ihr am liebsten die Hand ausrutschen würde, nicht gestatten. »NEIN!«, brüllt sie und packt seinen Arm. Wimmernd gibt er jeden Widerstand auf, was sie nur noch wütender macht. »STEHAUF, DUKLEINERSCHEISSER!«

Dann lässt sie ihn los. Weil ihr auffällt, dass es im Garten totenstill geworden ist. Das fröhliche Geplauder ist verstummt. Die Party ist zum Stillstand gekommen.

Whitney hört nur das Klopfen ihres wütenden Herzens in den Ohren. Und der gewohnte Nachhall ihres eigenen mörderischen, giftigen Gebrülls. Das vertraute Echo ihrer Wut. Eine Furcht vor dem, was sein könnte, beschleicht sie. Und dann fällt es ihr auf. Das weit geöffnete Fenster. Alle haben sie gehört.

Die Scham zwingt sie förmlich in die Knie. In das Nest aus achtlos beiseitegeworfenen Seidenschleifen, deren Enden an die gespaltenen Zungen von Schlangen erinnern.

Jetzt ist ihr klar, was sie verloren hat.

Neun Monate später

1

Blair

Donnerstagmorgen

Es ist halb sechs Uhr morgens an einem Donnerstag im Juni. Blair Parks nippt an ihrem Kaffee und stellt sich vor, wie ihr Ehemann die Schenkel einer anderen Frau weit wie Schmetterlingsflügel spreizt.

Sie stellt sich vor, wie er ihren Geruch einatmet, wie er sie schmeckt, seine Zunge kreisen lässt.

Blair legt die Hand auf den Mund und stellt ihre Tasse beiseite.

Sie kann nicht schlafen. Es ist ihr zur Gewohnheit geworden, sich morgens diesen obszönen Gedanken hinzugeben. Keine gute Art, den Tag in Angriff zu nehmen, aber so stillt sie ihre zwanghafte Unruhe, um sich dann anderen Dingen zuwenden zu können. Andernfalls überwältigen sie diese Gedanken, wenn es ihr gerade gar nicht passt. Beispielsweise wenn sie im Supermarkt vor den Fleckenentfernern steht, die in der Fernsehwerbung von entsexualisierten Hausfrauen mittleren Alters präsentiert werden, und sich plötzlich den Mund einer Jüngeren vorstellt, der mit der Samenflüssigkeit ihres Mannes gefüllt wird.

Sie gießt sich eine zweite Tasse Kaffee ein, die nicht so gut schmecken wird wie die erste, und denkt darüber nach, wie sehr sie sich nach etwas anderem sehnt. Wie das andere aussehen könnte, weiß sie selbst nicht. Das Problem ist nicht nur die Langeweile. Oder eine melancholische Sehnsucht. Auch nicht die routinierte zehnjährige Ehe oder die Uhr, die tickt bis zur totalen Belanglosigkeit. Ist das normal? Geht es anderen Frauen ihres Alters genauso?

Allein die Vorstellung, diese Gedanken auszusprechen, irgendjemandem anzuvertrauen, raubt ihr den Atem. Mehr als sonst. Es ist besser, den Kopf zu heben und sich gelassen der Stunde zu stellen, die da schlägt. Und der darauffolgenden Stunde. Damit niemand auf den Gedanken kommt, es ginge ihr schlecht. Mit ihrer Gleichgültigkeit hilft sie allen, das weiß sie. Wenn sie einfach weitermarschiert, ohne Energie auf die Frage zu verschwenden, was sie wirklich will. Oder was sie wirklich fühlt, wenn morgens der Wecker klingelt.

Sie sollte an ihrer Verletzlichkeit arbeiten, auch das ist ihr bewusst. Heutzutage wird von Frauen erwartet, sie wie einen Muskel zu trainieren. Bücher, Podcasts und Coaches weisen sie darauf hin. Sie versucht, jene Frauen zu bewundern, die zugeben, Fehlentscheidungen getroffen zu haben, und lautstark versichern, sich bessern zu wollen. Aber diese Art radikaler Veränderung ist nichts für sie. Sie kann sich kein anderes Leben vorstellen. Und sie kann sich einfach nicht von dem Schamgefühl, das sie bei dem Gedanken erfüllt, alles falsch gemacht zu haben, lösen.

Eine weitere Tasse später quietscht im Obergeschoss die Zimmertür ihrer Tochter. Ihre Schritte tänzeln über den Holzboden. Die Spülung rauscht in ihrem einzigen Badezimmer, und das Wasser zischt durch die Rohre. Blair fährt sich mit der Hand über ihr müdes Gesicht.

Im Laufe der Zeit war es dann einfach bequem geworden, Aiden die Schuld für ihre Lebenslage zuzuschieben. Er ist ein zuverlässiges Behältnis für ihre Wut. Sie entlädt und entlädt und entlädt sich, ohne dass er überläuft. Ihrer Auffassung nach spielt das keine große Rolle – sie sind verheiratet, und eine Trennung kommt für Blair nicht infrage. Der Zerfall, die allumfassende Veränderung. Die Wahrnehmung. Die Auswirkungen auf ihre Tochter dort oben. Unermesslich.

Im Badezimmer läuft Wasser. Sie hört, dass Chloe den Spiegelschrank öffnet, in dem ihre drei Zahnbürsten in einem Becher stehen. Sie toastet einen Bagel für das Frühstück ihrer Tochter. Den Frischkäse hat sie bereits aus dem Kühlschrank genommen, damit er, so wie Chloe es mag, Zimmertemperatur hat.

Ihr Unglück der schlecht funktionierenden Ehe zuzuschreiben, ist bis vor anderthalb Wochen, als sie den Fitzel einer Folienverpackung in Aidens Jeanstasche fand, hilfreich gewesen. Kleiner als zwei Quadratzentimeter. Jede andere Person, der er beim Umdrehen der Jeans auf den Fußboden der Waschküche gefallen wäre, hätte ihn für Abfall gehalten. Aber sie erkannte die geriffelte Struktur der Folie und die smaragdgrüne Farbe, die an die Verpackung der Kondome erinnert, die sie vor Jahren selbst benutzt haben. Jeden Morgen, seit sie die Folie gefunden hat, öffnet sie die Schublade, in der sie sie aufbewahrt, nimmt sie in die Hand und überlegt.

Sie könnte von zahllosen anderen Dingen stammen. Einem Müsliriegel. Einem Pfefferminzbonbon nach einem Geschäftsessen.

Aber noch mehr als irgendeinen handfesten Beweis hat sie ein Gefühl.

Ein Gefühl, das jemand einmal als »Geflüster« bezeichnet hat – das dir mitteilen will, dass etwas nicht stimmt. Problematisch ist nur, dass ihm manche Frauen nicht lauschen. Sie hören das Geraune erst, wenn sie die Vergangenheit Revue passieren lassen. Dann fühlen sie sich überrumpelt und wollen unbedingt die Wahrheit erfahren.

Vielleicht ist sie einfach nur paranoid. Zu viel Zeit zum Nachdenken!

Sie hört Chloes Schritte auf der Treppe und verteilt den Frischkäse mit Sorgfalt. Die weit gespreizten Schenkel kommen ihr wieder in den Sinn. Aidens Finger öffnen die engen, rasierten Schamlippen der Frau. Seine Zärtlichkeit danach. Vielleicht bringt sie ihn zum Lachen. Die Härchen sträuben sich auf Blairs Armen. Sie erinnert sich daran, dass Aiden beim einzigen Mal, als sie im letzten Monat Sex hatten, nicht gekommen ist, und daran, dass er häufiger als sonst auf sein Handy schaut.

Chloe ist am Fuß der Treppe angelangt. Blair schließt die imaginären Schenkel und klappt die Bagelhälften zusammen. Dann dreht sie sich um und zwingt sich zu einem Lächeln, damit Chloe wie jeden Morgen als Erstes das strahlende Gesicht ihrer Mutter sieht.

2

Rebecca

Einige Stunden früher

Die Assistenzärztin informiert sie, während sie mit quietschenden Sohlen durch die Automatiktür des Reanimationsraums stürmen. Sie spürt die feuchte Luft, die von draußen hereindringt, noch ehe sie die Sanitäter sieht, die die Trage an ihr Team übergeben. Ein zehnjähriger Junge, bewusstlos aufgefunden um 23.50 Uhr. Verdacht auf schweres Schädelhirntrauma nach einem Sturz, jedoch ohne äußere Verletzungen. Der Pfleger tritt zur Seite, als Rebecca blaue Handschuhe überstreift und sich über den Patienten beugt, um seine Augenlider hochzuziehen.

Überrascht zieht sie die Hände zurück. Es ist das Gesicht des Kindes. Sie sieht die Schwester an, die ihr gegenübersteht.

»Ich kenne ihn. Das ist Xavier. Er wohnt gegenüber von uns, auf der anderen Straßenseite.«

»Wollen Sie …«

»Nein.« Sie schüttelt ihre gefühllosen Beine. Jetzt ist Zeit für ihren Einsatz. »Ich bin okay. Alles gut. Die Werte? Los geht’s.«

Ihre Hände liegen auf dem kleinen Jungen, als sie ihre Anweisungen erteilt. Die über Jahre eingeübte Choreografie sitzt. Intubieren. Venenkatheter. Anordnen eines CT-Status. Ihre Zeit mit einem Kind im Reanimationsraum ist immer kurz, aber jede Minute ist kostbar und durchdacht, und das Potenzial jeder Sekunde wird ausgeschöpft, und dennoch schaut sie am Ende, wenn alles getan ist, was getan werden konnte, auf diese Minuten als eine Zeitspanne zurück, die entweder zu dem einen oder dem anderen Ergebnis führte.

»Die Eltern? Sind die hier? Wo sind sie?« Sie streift ihre Handschuhe ab und wirft sie in den Abfalleimer. Dann betrachtet sie Xaviers graues Gesicht. Sein Mund wird von dem Schlauch, den sie ihm in die Luftröhre geschoben hat, offen gehalten. Sie streicht ihm eine feuchte Strähne aus dem Gesicht. Der Boden, auf dem er aufschlug, war sicher noch nass vom gestrigen Regen. Sie berührt seine Wange.

Hunderte Eltern haben auf diesen Plastikstühlen auf sie gewartet. Die Leichtigkeit, mit der ihr die passenden Worte über die Lippen kommen, macht ihr gelegentlich Sorgen. Dass sie ihre Patienten kennt, ist noch nie vorgekommen. Noch nie hat sie ihnen zuvor beim schaumreichen Autowaschen zugesehen, noch nie hat sie gewusst, dass sie ein kobaltblaues Fahrrad mit neongrünen Lenkergriffen besitzen. Noch nie hat sie einer Freundin eröffnen müssen, dass ihr Kind möglicherweise nie mehr gesund wird.

Ihr Adrenalinpegel normalisiert sich, während sie den Reanimationsraum verlässt. Das Licht der Neonröhren spiegelt sich im Boden des Korridors. Ihre Sinne erwachen wieder: Der Pager des Lungenspezialisten piepst, ein Kind im Wartezimmer weint, es riecht nach Jod. Sie zieht ihr Handy aus der Tasche, um Ben anzurufen, seine ruhige Stimme zu hören, aber der schläft natürlich schon. Und Whitney wartet.

Rebecca stößt die Tür des kleinen Zimmers auf, in das Whitney gebracht wurde. Sie sitzt an einem runden Tisch, starrt auf eine Schachtel Kleenex und schaut nicht hoch.

»Whitney, es tut mir unendlich leid.«

Mit der Langsamkeit eines Roboters, dessen Akku fast leer ist, bewegt Whitney den Kopf. Sie schweigt. Rebecca setzt sich neben sie und legt ihre Hand auf die ihrer Nachbarin. Das tut sie immer. Sie legt den Eltern eine Hand auf den Arm oder auf die Schulter, damit ihre Worte persönlicher und weniger gewohnheitsmäßig klingen. Vor Jahren hat sie sich diese emotionale Routine zurechtgelegt. Die Empathie ist ihr früher schwerer gefallen als jetzt. Andere Aspekte ihrer Arbeit lagen ihr dafür damals mehr, exakt messbare Vorgänge, Einschätzungen ihrer Fähigkeiten.

Whitney schließt die Augen, als sie den Mund öffnet. Ihre Stimme klingt angestrengt. Ansätze von Wörtern, die sie nicht mehr zu bilden weiß.

»Kannst du mir sagen, was passiert ist?«

Rebecca erwartet, dass Whitney wiederholt, was die Sanitäter berichtet haben. Dass sie noch mal bei ihm reingeschaut hat, bevor sie schlafen gegangen ist. Dass er nicht im Bett lag und das Fenster offen stand. Dass sie runtergeschaut hat und er dort auf dem Rasen lag. Dass sie keine Ahnung hat, was passiert ist. Komm schon, Whitney, erzähl mir genau das.

Sie denkt an den Garten, an das rechteckige, sorgfältig gemähte Rasenstück, von dem ihn die Sanitäter auf die Trage gehoben haben. Rebecca war zuletzt im September dort. Bei der Gartenparty für die Nachbarn.

An Whitneys Wut an besagtem Nachmittag will sie nicht denken. Oder an das laute Weinen des Jungen, als sie ihn angeschrien hat.

»Ich möchte mit dir über Xaviers Verfassung reden.«

Whitney bedeckt ihr Gesicht mit der Hand. »Sag mir einfach, ob er stirbt.« Ihre Stimme ist eine Oktave zu hoch und kaum zu hören.

Rebecca streckt ihre Hand nach Whitneys aus. Ihre Finger sind kalt und zur Faust geballt. Whitney zieht sie zurück, aber Rebecca drückt sie, bis sie nachgibt. Rebecca lässt sich nicht so leicht einschüchtern, aber Whitney hatte so eine Art, als sie sich zum ersten Mal begegnet sind. Dieses Kraftvolle, Geschliffene, Scharfsinnige.

Mit der Zeit, als sich ihre Wege immer wieder beiläufig kreuzten, verlor sich diese Wirkung. Angesichts der Vielzahl potenzieller Koordinaten auf diesem Planeten wird einem eine Person, die ihr Leben in nächster räumlicher Nähe verbringt, sehr vertraut. Whitney und sie atmen die Luft desselben Winkels dieser Erde. Sie sieht jeden Mittwoch ihre Mülltonnen vor dem Haus stehen und weiß, dass sie nicht sonderlich gründlich recyceln. Sie weiß, dass sie gern shoppt, vor der Haustür türmen sich regelmäßig die Kartons teurer Marken und Sendungen von Kurierdiensten, die von der Nanny ins Haus gebracht werden. Sie weiß, dass jemand an Schlafstörungen leidet, entweder Whitney oder Jacob. Rebecca sieht, wie das Licht in der Küche angeht, wenn sie mitten in der Nacht nach Hause kommt. Ihr fallen die leeren Weinflaschen in den durchsichtigen blauen Recyclingsäcken auf.

Sie hat Whitney nicht nur an der Gartenparty brüllen hören. Die erhobene Stimme einer Mutter, die die Nase voll hat, dringt mühelos durch die riesigen Fensterflächen ihres Hauses. Jedes Mal verspürt sie Unbehagen, wie bei dieser Grillparty, in Verlegenheit gebracht durch das Gehörte. Was sich sonst in diesem Haus abspielt, weiß sie nicht, aber diese Überlegungen sind ihr unangenehm. Sie ist Ärztin und bevorzugt Fakten. Fakten haben etwas Tröstliches.

»Xavier ist schwer verletzt. Seine Kopfverletzung bereitet uns Sorgen. Er liegt jetzt auf der Intensivstation und wurde in ein künstliches Koma versetzt, damit sich sein Gehirn erholen kann. Die Ärzte dort werden dir sagen können, was demnächst ansteht, okay? In Fällen dieser Art entscheidet sich sehr viel in den ersten zweiundsiebzig Stunden. Ich weiß, das ist jetzt hart, Whitney, aber es besteht die Möglichkeit, dass er das Bewusstsein nicht wiedererlangt.«

Whitney reagiert nicht.

Rebecca hält inne und fährt dann mit sanfterer Stimme fort: »Hast du das verstanden?«

Sie spürt, dass Whitney zittert, und betrachtet ihr attraktives Gesicht. Den straffen Glanz ihrer Stirn. Ihre gezupften Brauen. Diese äußerliche Perfektion.

»Ist Jacob bei den Zwillingen?«

Whitney schließt die Augen und schüttelt den Kopf. »London. Geschäftlich. Unser Kindermädchen hat sich sofort auf den Weg gemacht, aber ich musste auf sie warten.« Ihre Stimme bricht. »Ich war im Krankenwagen nicht bei ihm.«

Rebecca erklärt Whitney, dass sie jetzt gemeinsam zu ihm gehen werden, dass er intubiert ist und Schwellungen zu sehen sind. Das kann einschüchternd wirken, aber er verspürt keine Schmerzen. Eine Kollegin wird ihr alles Weitere erklären. Die Tür öffnet sich, und Rebecca erblickt eine Krankenschwester mit zwei Polizeibeamten.

Sie werden Whitney befragen wollen. Das ist Routine. Rebecca verspürt ein Unbehagen, obwohl die Fragen nicht sie betreffen, jedenfalls nicht direkt. Rebecca schüttelt den Kopf. Bitte nicht jetzt, noch nicht. Die Schwester geleitet die Polizisten wieder hinaus.

»Untersuchungen belegen, dass Patienten in diesem Zustand spüren, dass Familienangehörige bei ihnen sind. Du kannst seine Hand halten und mit ihm sprechen, als ob er wach wäre. Okay?«

Whitney steht auf und hält sich an dem Saum ihres Sweatshirts fest. Sie lässt sich, gestützt von Rebeccas starkem Arm, den Korridor entlangführen. Dann erstarrt sie, wendet sich Rebecca zu, und ihre Blicke trafen sich zum ersten Mal.

»Hast du deswegen keine Kinder?«

Rebecca hält inne. Sie weiß nicht, was sie sagen soll. Die Arbeit? Die Klinik? Die ständige Angst, dass etwas schiefgehen könnte? Der unerträgliche Schmerz, wenn dem so wäre?

Sie denkt an die Stunden, die sie auf dem Boden des Badezimmers gelegen hat. Blutklumpen, die im Wasser der Kloschüssel versinken, tanzende Schlieren blutigen Schleims. Das Gewicht des Handtuchs im Schoß auf dem Weg in die Klinik.

Warum sie keine Kinder hat? Weil sie ihre eigenen nicht am Leben erhalten kann.

3

Blair

»Guten Morgen, Liebling! Gut geschlafen?«

Chloe legt ihre Arme um Blairs weiche Taille und umarmt sie. Jeden Morgen ist sie von Neuem ein unbeschriebenes Blatt. Blair nimmt eine Banane aus der Obstschale und legt sie zusammen mit einem Muffin, den sie gestern Nachmittag gebacken hat, als es in Strömen regnete, auf Chloes Teller. Weil Mittwoch war, weil sie mittwochs immer backt. Die Muffins, frische Bettwäsche, das Auswischen der Waschmaschinentrommel mit Essig und Natron. Manchmal beschleicht sie das peinliche Gefühl, auf der Stelle zu treten.

Chloe leckt herausquellenden Frischkäse von ihrem Bagel und macht ein zufriedenes Geräusch.

Blair fragt sich, ob Aiden überhaupt auffällt, dass sie jeden Tag eine Liste abarbeitet. Oder welche Termine sie in den Küchenkalender einträgt. Sie fragt sich, ob ihm überhaupt klar ist, dass eine elf Jahre alte Waschmaschinentrommel gereinigt werden muss. Vielleicht sollte sie heute Abend die schmutzigen Putzlumpen in seine Betthälfte legen, damit er wenigstens erfährt, wie eine elf Jahre alte Waschmaschine riecht.

Aber jetzt ist Donnerstag. Das Badezimmer. Chloes Bücher aus der Bücherei sind fällig. Blair hat sie gestern Abend zu der Bento-Lunchbox, den gewaschenen Sportsachen und einem Zettel, dass sie ihre Tochter lieb hat, in ihren Rucksack gepackt. Vorher hat sie noch alle Krümel und den Sand vom Pausenhof in die Spüle gekippt. Später hat sie dann zwei Advil gegen ihre Kopfschmerzen geschluckt und ist früh zu Bett gegangen. Aiden wird heute Überstunden machen, um eine Präsentation vorzubereiten. Das hat er angekündigt. Er musste bereits im Fitnessstudio sein, als sie aufstand. Offenbar ist er heute früh dran. Sie kann sich nicht erinnern, ihn nachts neben sich im Bett bemerkt zu haben. Manchmal schläft er im Gästezimmer, um sie nicht zu wecken, wenn es spät wird.

Sie reißt das Papier von ihrem Vollkornmuffin und erlaubt sich die Frage: War er überhaupt hier?

Sie schiebt sich ein Stück Muffin in den Mund, stellt sich vor, wie Aiden nach Hause kommt und ihrer schlafenden Tochter mit einem von einer anderen Frau besudelten Mund einen Kuss gibt. Sie kriegt den Muffin nicht runter und spuckt den Bissen in den Mülleimer.

»Mantel und Schuhe, Chloe, es ist Zeit!«

Chloe ist ein gutes Kind, clever, ein Einzelkind, das Regelmäßigkeit und gewaschenes Haar liebt und immer Bitte und Danke sagt. Und dennoch vereinnahmen ihre Bedürfnisse Blair vollständig. Oder Blair hat das Bedürfnis, sich vereinnahmen zu lassen. Früher einmal hatte sie das Gefühl, als Einzige das Richtige für ihre Tochter tun zu können. Deswegen hat sie in den acht Jahren seit Chloes Geburt auch nicht wieder ernsthaft gearbeitet. Und jetzt befindet sie sich an diesem Punkt. Sie fühlt sich unbedeutend. Sie ist vierzig Jahre alt, und immer mehr Möglichkeiten scheint sie verpasst zu haben.

An der Tür küsst Blair Chloe zum Abschied und kehrt dann in ihr leeres Haus zurück. Morgens geht Chloe immer zusammen mit ihrem besten Freund Xavier in die Schule, die nur vier Blocks entfernt liegt. Blair muss sich jeden Tag gut zureden, dass sie auch sicher dort eintreffen wird. Dass sie nicht im Lieferwagen eines Pädophilen landen wird. Wenn ihr Telefon morgens klingelt, dann ist ihr erster Gedanke immer: Die Schule! Sie ist dort nie angekommen! Diese mütterliche Sorge ist ein Dauerzustand.

Im Obergeschoss hält sie ihre Nase ins Waschbecken und spürt dem Pfefferminzgeruch seiner Zahnpasta nach, die er ausgespuckt hätte, wenn er am Morgen zu Hause gewesen wäre. Aber es riecht nur ganz leicht nach dem Himbeeraroma von Chloes fluoridfreier Zahncreme. Sein weißes Handtuch hängt trocken an der Tür. Das ist allerdings nicht weiter ungewöhnlich. Wenn er ins Fitnessstudio geht, duscht er auch dort.

Für alles lässt sich eine Erklärung finden.

Doch wenn man es zulässt, springen einem die Fakten ins Gesicht.

Sie nimmt den Chlorreiniger unter dem Waschbecken hervor und besprüht die Kacheln. Sie hört auch dann nicht auf, als ihr die Dämpfe in den Augen brennen. Die Fragen lähmen sie. Wen fickt er? Wie fickt er sie? Wo wird gefickt? Chlor strömt in Rinnsalen die Wand herunter. Die Einzelheiten erscheinen ihr wichtiger als das, was diese Affäre eigentlich für ihr Leben bedeutet. Es ergibt keinen Sinn, das weiß sie, aber das menschliche Gehirn hat die Tendenz, dem Unvorstellbaren auf den Grund zu gehen. Wir können den Tod eines anderen erst akzeptieren, wenn wir Erklärungen über das Wie, Wann und Wo erhalten haben.

Aber dies ist auch eine Methode, sich von einer Tatsache abzulenken, die ihr mehr Angst einflößt als die Möglichkeit einer Affäre und ihrer Folgen: dass sie überhaupt nichts dagegen unternehmen würde.

Dass sie das Geflüster unterdrücken und den Fitzel wegwerfen würde. Dass sie sich einreden würde, er sei im Fitnessstudio oder in einer Besprechung, wenn er nicht abhebt. Dass sie sich für ein Leben mit blechern-weißem Rauschen im Hintergrund entscheiden würde, weil die Alternative unakzeptabel ist.

Und niemand müsste etwas davon erfahren.

Die Einsamkeit, die sie umfängt, ist demütigend.

Sie starrt gerade auf einen Schimmelfleck, als Chloes Rufe sie von unten aufschrecken.

»Mom? Xavi ist nicht zu Hause.«

»Was soll das heißen?«

»Niemand öffnet auf mein Klingeln. Ich habe ewig gewartet.«

Blair eilt die Treppe hinunter, denkt an die Uhrzeit und befürchtet, dass Chloe zu spät kommen könnte.

Chloe schaut stirnrunzelnd auf die Uhr. Sie hat gerade erst gelernt, die Zeiger zu lesen. »Komme ich zur ersten Stunde zu spät?«

»Vielleicht ist er heute zum Schach und hat vergessen, dir Bescheid zu geben?«

Was ungewöhnlich wäre. Whitney ist sicher früh zur Arbeit gegangen, und Jacob ist auf Reisen, aber da ist ja noch Louisa, das Kindermädchen, die eigentlich immer die Stellung hält und die Kinder durch den Tag bringt.

»Es ist Juni, Mom, Schach ist vorbei. Kannst du Whitney schreiben und sie fragen, wo er ist?«

»Mach ich, aber wir müssen los, ich begleite dich.«

Sie tippt die Nachricht, während sie in ihre Sneakers schlüpft, deren Schnürsenkel noch zugebunden sind. Sie ist zufrieden, während sie den Bürgersteig entlanghastet – denn sie war verfügbar und einsatzbereit. Seht her, meine Tochter braucht mich! Sie liebt es, im Stillen Reden über Dinge zu halten, die ihr Ehemann hören sollte.

Morgens herrscht auf der Harlow Street rege Geschäftigkeit. Eltern bringen ihre Kinder in den Kindergarten. Stadtkinder lärmen auf Rollern zur Schule. Junge Fahrradfahrer auf dem Weg zu unterbezahlten Marketing-Jobs, wie sie einmal einen hatte, weichen den Autos aus. In diesem bunt gemischten Teil der Stadt wohnten früher junge portugiesische Familien, die sich anderswo kein Haus leisten konnten. Inzwischen haben sie ihre Häuser zu Preisen verkauft, von denen man vor fünfzig Jahren nur träumen konnte. Blairs und Aidens Hypothek ist so riesig, dass ihnen die Zahl geradezu unwirklich vorkommt.

Sie marschieren an Häusern vorbei, die wie die Zähne eines Monsters aufgereiht sind, sehr unterschiedlich und schief, Neubauten für eine Million stehen zwischen vernachlässigten viktorianischen Häusern aus bemalten Ziegeln, die noch überdauert haben. Die Vogue hat die Gegend als das zweitcoolste Wohnviertel der Welt beschrieben, was von Käufern gern zitiert wird, um zwei Millionen für eine Doppelhaushälfte mit feuchtem Keller und originaler avocadofarbener Toilette zu rechtfertigen. Sie biegen rechts von der Harlow Street ab und kommen an der heruntergekommenen Bäckerei und den wenigen Läden vorbei, die einmal Kleider aus Lissabon importiert haben. Die langfristigen Mietverträge laufen bald aus, und dann werden sich diese Fassaden eine nach der anderen an die Bedürfnisse der Wohlhabenden anpassen. Kleine Hotels, in denen der Kaffee drei Dollar die Tasse kosten wird. Kitschige Blumenläden, vegane Lebensmittelhändler und überteuerte Kinderkleiderboutiquen. Blair arbeitet zweimal wöchentlich jeweils fünf Stunden in so einem Geschäft. Heute ist so ein Tag, und in einer Stunde wird sie den Laden öffnen. Ihre Chefin Jane ist siebenundzwanzig Jahre alt und deckt die Betriebskosten mit einem Kredit ihrer Eltern, den sie nie zurückzahlen wird. Sie verkaufen Leinenhäubchen und Holzspielzeug, Sachen, die den Eltern besser gefallen als den Kindern.

Jane hat früher in Ferienlagern gearbeitet und glaubt sich mit Kindern auszukennen, aber von Müttern hat sie keine Ahnung. Blair streicht in den Katalogen die Waren an, die sich tatsächlich verkaufen lassen, und führt der Laufkundschaft Gegenstände vor, von denen sie nicht gewusst haben, dass sie sie brauchen. Die Idee, hier zu arbeiten, war ihr gekommen, als sie nach einem Geburtstagsgeschenk für Chloe Ausschau hielt. Sie hatte sich vorgestellt, mit wie viel Freude sie die Regale mit den richtigen Dingen bestücken würde. Und wie sie den Kunden ein besseres Einkaufserlebnis bieten könnte. Matt glänzendes Papier in hübschen Pastellfarben mit langen übertriebenen Schleifen für die Geschenke. Die Schaufenster nach Themen dekoriert und die Tische nach Farben. Große geflochtene Körbe für saisonale Angebote, die die Mütter zu Spontankäufen verlocken sollen. Ganz gegen ihre Art waren ihr die Worte ohne langes Nachdenken über die Lippen gekommen.

»Ich greife ihr ein wenig unter die Arme«, erklärt sie ihren Freundinnen, wenn diese sich nach ihrer Arbeit erkundigen. Als täte sie es umsonst.

»Das tut dir bestimmt gut«, hatte Aiden kommentiert, als sie ihren Schritt beim Nachhausekommen beinahe schon wieder bereute. Als wäre sie im Altersheim und hätte sich gerade für das wöchentliche Bingo eingetragen.

Whitney hatte sie sehr ermuntert und sie mit einem für sie eher untypischen Enthusiasmus an den Händen gefasst. »Na, das ist ja toll! Sie kann sich glücklich schätzen, eine Helferin mit so viel Erfahrung zu bekommen!«

Blair umarmt Chloe vor dem Schultor, als es zur ersten Stunde klingelt, und ist erleichtert, dass sie es rechtzeitig geschafft haben. Da entdeckt sie ein paar Mütter, die sie kennt. Eine von ihnen fängt Blairs Blick auf. Also muss sie auf sie zugehen und sie fröhlich begrüßen.

Sie tragen Absätze, sorgfältig frisierte Haare und hippe Mäntel. Eine Anwältin, eine Psychiaterin und eine stellvertretende Geschäftsführerin. Eine hat zwanzig Kilo abgenommen und handelt wieder mit Immobilien, nachdem sie zehn Jahre lang ausgesetzt hat. Sie bezeichnet das als ihre »Midlife-Wiedergeburt« und behauptet, nie glücklicher gewesen zu sein. Sie reden von der Blüte ihres Lebens und darüber, dass sie die Dinge in ihren Vierzigern im Griff haben. Blair beobachtet sie, stellt sich ihr Leben vor, versetzt sich insgeheim in ihre Rollen.

»Wie läuft’s bei dir?«, fragen sie immer, weil es nichts Konkretes gibt, wonach sie sich erkundigen könnten.

Morgens die Kinder abliefern und gelegentlich irgendwo freiwillig mithelfen ist gerade mal das, wozu sie sich aufraffen können. Blair hingegen ist immer einsatzbereit. Sie sammelt Kinder ein, hilft beim wöchentlichen Pizza-Lunch, bei jeder Geburtstagsparty, bei jedem Konzert und jedem Büchertisch mit. Und bei jeder verdammten Elternratsversammlung.

Anfangs war sie mit dieser Entscheidung mehr als zufrieden. Die Fürsorglichkeit und Aufmerksamkeit, die ihr das abverlangte, lag ihr weitaus mehr, als Werbetexte für Schokoriegel und Waschpulver zu verfassen. Das geschäftige Großraumbüro fehlte ihr weniger als erwartet. Auch auf die unausgesprochene Kleiderordnung, betont leger mit einem Hauch von Business, was aufwendiger ist, als man erwarten würde, konnte sie gut verzichten. Sie weiß nicht mehr, ob ihre Arbeit sie je intellektuell erfüllt hat. Aber irgendwann muss es doch so gewesen sein. Sie hatte es geliebt, diesen Mix aus Kreativität und Marketing und das Austüfteln stimmiger Formulierungen und Konzepte. Sie war außergewöhnlich gut in ihrem Job und wurde für fünf ihrer Kampagnen mit Preisen geehrt. Manchmal fühlte sie sich wie ein Genie, ein Wort, das ihr Chef verwendet hatte, als er bei den Brainstorming-Sitzungen aufgesprungen war, ihre Idee mitten auf das Whiteboard geschrieben und fünfmal unterstrichen hatte, während sie versuchte, sich ihre Freude nicht anmerken zu lassen.

Aber diese Karriere spricht ihr nicht mehr aus der Seele, nicht, seit sie Mutter geworden ist. Nur Chloe allein ist ihrer Zeit, ihrer Energie und ihrer vollen Aufmerksamkeit wert. Das Baby erfüllte sie in jenen ersten Monaten mit einem noch nie dagewesenen Hochgefühl. Während sie sie nachts stillte und dabei in die Dunkelheit starrte, überlegte sie, wie sie jemals wieder Interesse für einen gelungenen Werbespruch aufbringen sollte. Von ihr wurde erwartet, alles zu wollen und alles zu erobern. Sich in der Mutterrolle zu verlieren, war nicht vorgesehen. Aber in ihrem Inneren gab es nur Platz für das Baby und nichts anderes.

Sie hatte nie das Gefühl, ein Opfer zu bringen. Die Rolle der Mutter und Hausfrau erfüllte sie mit Glück. Unermesslichem Glück. Wenn nur nicht das andere damit einhergehen würde, ihre eigene Wandlung und die ihres Selbstwertgefühls und ihrer Ehe. Langsam und daher fast unmerklich. Das einstige Gefühl der Bereicherung, das ihr die Mutterschaft vermittelte, wich einem Gefühl der Entmachtung. Sie kann die Liebe, die sie für ihre Tochter empfindet, nicht mit den Beschränkungen, die das Privileg der Mutterschaft nach sich ziehen, in Einklang bringen.

Sie hasst sich selbst, wenn sie sich dieser Gefühle bewusst wird. Niemals würde sie sich anderen gegenüber zu ihnen bekennen.

»Es wäre so nett, wenn du auch dabei sein könntest«, sagt eine der Frauen und schultert ihre schicke Umhängetasche. Sie haben sich über ein Mütterwochenende auf dem Land unterhalten, im Juli. Ein Ferienhaus in den Berkshire Mountains. Den seltenen Reisen, die Blair ohne Aiden und Chloe unternimmt, gehen immer größte Ängste voraus. Danach aber ist das Gefühl der Freiheit umso berauschender. Beides verunsichert sie gleichermaßen. Die anderen Frauen trinken dann immer zu viel Wein, tratschen über die Kinder anderer Leute und sind sich über jeden Trend einig, der in den Medien gerade angesagt ist. Es gab einmal eine Zeit, in der Blair das Gefühl hatte dazuzugehören. Jetzt kann sie mit den Dingen, die anderen wichtig zu sein scheinen, nichts mehr anfangen.

»Ich würde wirklich gern mitkommen, aber an diesem Samstag feiern wir einen Geburtstag. Das nächste Mal dann wieder.«

Sie ist die Erste, die sich aus der Gruppe löst, indem sie sich vage mit einer zu erwartenden Kuriersendung entschuldigt. Heute fehlt ihr die Kraft, eine Rolle zu spielen und sich ihren Respekt zu erkämpfen. Als die Hausfrau mit nur einer Tochter, die Märtyrerin. Manchmal wünscht sie sich, sie hätte mehr Kinder, was rechtfertigen würde, dass in ihrem Leben so wenig passiert.

Auf dem Heimweg schaut sie auf ihr Handy, aber Whitney hat nicht geantwortet. Whitney ist viel beschäftigt. Erledigt die Aufgaben, die sich arbeitenden Menschen stellen, hat den Kopf voller gewichtiger Lösungen für gewichtige Probleme in einer Welt, die Blair fremd ist.

Trotzdem achtet Whitney immer darauf, Blairs Nachrichten zu beantworten und so mit ihr im Gespräch zu bleiben. Sie melden sich regelmäßig beieinander und treffen sich öfters auf ein Glas Wein. Blair hat Alkohol nie etwas abgewinnen können, aber es ist eine Art, den Kontakt zu halten. Sie spürt, dass sich etwas in Whitney verändert, wenn sie sich am Ende des Tages gegenübersitzen und Zeit mit den Kindern verbringen. Whitney wirkt dann deutlich entspannter und scheint sich auf Blairs Worte konzentrieren zu können, statt anderen Gedanken nachzuhängen, und irgendwann geht ihr der Lärm der Kinder auch nicht mehr auf die Nerven. Das liegt am Wein, natürlich liegt das am Wein, aber Blair möchte gern glauben, dass ihre Gesellschaft auch dazu beiträgt.

Whitney hingegen übt auf Blair die gegenteilige Wirkung aus. Blair entspannt sich nicht in ihrer Anwesenheit, sondern wird von neuer Kraft erfüllt. Der Gedanke, dass Whitney den Verdacht hegen könnte, sie sei der Höhepunkt von Blairs Woche, hat etwas Demütigendes. Weil es nicht viel aus ihrem Leben zu erzählen gibt, bläst sie Belanglosigkeiten auf, was sie anschließend immer bereut. Whitney kümmert es nicht, wer was in einer Mail geschrieben hat und den Schatzmeister des Elternbeirats damit verwirrte und was Blair unternommen hat, um die Angelegenheit zu entschärfen, bevor die Benefizveranstaltung abgesagt wurde.

Das alles ist unwichtig.

Aber Whitney zeigt sich freundlicherweise interessiert. Geduldig hört sie sich eine Stunde lang Blairs Bericht über den verdammten Kuchenverkauf an, der nicht einmal zweihundert Dollar im Jahr einbringt.

Manchmal, wenn sie sich in irgendwelchen Details verliert, spürt sie, dass Whitney sie mustert. Als würden ihre Augen nach etwas suchen, das ihr selbst fehlt. Blair ist sich nicht sicher, ob das stimmt oder ob sie sich das nur einredet. Aber da sind diese Augenblicke, in denen sie deutlich spürt, dass Whitney ergründen will, wie es wohl sein mag, Dingen Bedeutung beizumessen, die Blair wichtig sind. Das eigene Kind anzuschauen und sich zu fühlen, wie Blair sich fühlt, wenn sie ihre Tochter anschaut. Sie hebt ihr Kinn. Zumindest bleibt ihr diese kleine Genugtuung.

4

Mara

Mara Alvaro, die auf einem Klappstuhl auf der Veranda vor ihrem Haus sitzt, schlägt die Beine übereinander und lehnt sich zurück. Irgendetwas an diesem Donnerstagmorgen ist nicht, wie es sein soll. Niemand war zu Hause, als Blairs Tochter nebenan klingelte, nicht einmal das Kindermädchen, das sonst an jedem gottverdammten Tag da ist.

Aber diese Mütter haben viel zu tun, das weiß sie. Es ist ach so viel los, obwohl eigentlich gar nichts geschieht. Dringlichkeiten werden ohne Anlass geschaffen, und so hetzen sie durchs Leben. Sie verstehen sich nicht auf das Sein und gestatten sich nicht, über das Hier und Jetzt nachzudenken.

Und darüber, wie schnell ihnen alles genommen werden kann.

Außerdem kann Mara nicht begreifen, weswegen Blair jeden Tag diese grauenhaften schwarzen Leggings trägt und Whitney mit diesem gelb gefärbten Haar immer in diesen männlichen Anzügen steckt und mit riesigen hässlichen Taschen herumläuft. Nicht der geringste Hauch Eleganz. Es ist eine Schande, wie die Frauen heutzutage aussehen.

Sie überlegt, ins Haus zu gehen und ihren Frühstücksteller abzuspülen. Und sich selbst für den Tag präsentabel zu machen, obwohl sie es damit in den letzten Jahren immer weniger genau nimmt. Das letzte Avon-Produkt, den Toasted-Rose-Lippenstift, den sie seit Jahrzehnten benutzt, hat sie vor neun Monaten aufgebraucht. Zum ersten Mal hat sie sich nicht die Mühe gemacht, ihn zu ersetzen.

Was spielt das auch für eine Rolle? Sie ist zweiundachtzig. Im Unterschied zu ihren Nachbarn hat sie kaum noch Freunde in der Gegend. Alle sind entweder tot oder im Pflegeheim. Die Glücklicheren fallen ihren Kindern in irgendwelchen Vorstädten zur Last. Es gab eine Zeit, da konnte sie nicht einmal die Zeitung holen, ohne dass jemand stehen blieb, um sich kurz mit ihr zu unterhalten. Jetzt wird sie nur noch von den vielen Veränderungen überwältigt: den aufgemotzten Häusern, den protzigen Autos, die in ihrer Straße parken, und den jungen Familien mit ihrem Lärm, ihren Sachen, ihrem Überfluss. Sie wollen in der Großstadt leben, sich wichtig fühlen, aber Mara kann ihnen ein Geheimnis verraten: Das Ende ist für alle gleich.

Bei jedem Zuzug hat sie ihre nachbarschaftlichen Pflichten geschultert. Sie hat den neuen Familien Pastéis de Nata vorbeigebracht und sie über die Termine der Müllabfuhr informiert. Monatelang hat sie angeboten, Pakete entgegenzunehmen und ein Auge auf ihre Häuser zu haben, wenn sie verreisen. Sie hat ihnen Ratschläge gegeben, wie sie die Ameisen auf den Pfingstrosenbüschen bekämpfen können. Im Winter hat sie ihnen hausgemachte Canja gebracht. Über diesen unnötigen zweiten Stock, der ihrem kleinen Gemüsegarten die Sonne raubt, hat sie kein Wort verloren, genauso wenig wie über den zwei Jahre andauernden Lärm dieses selbstgefälligen Umbaus. Und dazu das ständige Gebrüll der Kinder. Dieses Rumgebrülle. Das Knallen der Hintertür.

Anfangs war man den offensichtlichen Unterschieden zum Trotz freundlich gewesen. Die Nachbarn schien zu interessieren, dass sie schon so lange in der Straße wohnte. »Da müssen Sie im Laufe der Jahre aber viele Veränderungen miterlebt haben!« Als sei das so wunderbar. Kein Eingeständnis, dass die Veränderungen auch ein Problem darstellen könnten. Die Gottesdienste in der St. Helen’s Portuguese Church an der Ecke sind immer leer. Die Verbliebenen der Gemeinschaft, die ihre eigenen Leute im Laufe einer ganzen Generation mühevoll aufgebaut haben, sind zu Schandflecken im Viertel der anderen verkommen. Sie warten nur darauf, sich die wenigen Häuser, die noch alten Leuten wie ihr gehören, unter den Nagel zu reißen. Können es nicht abwarten, bis die letzten portugiesischen Lebensmittelläden aufgeben. Ihnen allen ist ein fußläufig erreichbarer verdammter Mermaids Coffee Shop wichtiger.

Seit dem ersten Austausch von Höflichkeiten hat sich kaum mehr jemand für sie interessiert. Für ihr Leben. Dafür, wie es sie hierher verschlagen hat. Nur die Kinder winken ihr zu. Und Rebecca. Sie mag Rebecca. Erfolgreiche Ärztin mit ernst zu nehmender Arbeit. Und eine natürliche Schönheit.

Für Mara gibt es also keinen Grund, sich heute oder überhaupt zu schminken. Stattdessen macht sie es sich auf ihrem Stuhl bequem, dessen Segeltuch knarrt.

»Mara!«

»Auf dem Tisch, Albert!«, ruft sie. Wie immer, hätte sie hinzufügen können. Wie jeden Morgen. Durch das Fliegengitter des Küchenfensters hinter sich hört sie, wie er seinen Stuhl über das abgetretene Linoleum schleift. Sie hasst es, ihm dabei zuzusehen, wie er seine Wurst isst, über einen fettigen Teller gebeugt, Essen, das nicht gut für ihn ist, nicht bei seinen Herzproblemen und hohen Cholesterinwerten.