Der Verführer - Ernst Weiß - E-Book

Der Verführer E-Book

Ernst Weiß

2,5

Beschreibung

Die Geschichte eines jungen Mannes, der den ausschweifenden Lebensstil des Vaters nachzueifern sucht und dabei an dem Widerspruch zwischen einer idealisierten Liebe und der Realität zu scheitern droht. Seine Sucht nach Liebe, nach Wärme, nach Zugehörigkeit lässt ihn immer wieder für die Wahrheit seiner Existenz blind werden. Ernst Weiß widmete dieses Werk Thomas Mann. "Das Buch gehört zu dem Allerinteressantesten, das mir in Jahren vorgekommen, und während ich las, blätterte ich öfter zurück zur Widmung und freute mich, daß es mir gehört." (Thomas Mann in einem Dankesbrief an Weiß, 22.12.1937) Null Papier Verlag

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Ernst Weiß

Der Verführer

Roman

Ernst Weiß

Der Verführer

Roman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 EV: Zürich, Humanitas-Verlag, 1938 (440 S.) 1. Auflage, ISBN 978-3-962815-73-8

null-papier.de/642

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Ers­ter Teil

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

Zwei­ter Teil

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

Drit­ter Teil

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

29.

30.

31.

32.

33.

34.

35.

Vier­ter Teil

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

29.

30.

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Tho­mas Mann ge­wid­met

Erster Teil

1.

Mein schö­ner, viel zu früh ver­stor­be­ner Va­ter hat­te mich, wie ich glaub­te, be­son­ders in sein Herz ge­schlos­sen. Ich ihn aber noch mehr in das mei­ne. Das wuss­te ich. Ich habe spä­ter nie­mals einen Men­schen so ge­liebt wie ihn. Ja, die Sum­me al­ler Lie­be, die ich spä­ter vie­len Men­schen ge­gen­über emp­fun­den habe, hat das Maß mei­ner Lie­be zu ihm nie­mals ganz er­reicht. Denn ich, sein ein­zi­ger Sohn, leb­te so sehr in ihm und ging so in ihm auf, wie man sich nur in der vol­len Ju­gend hin­gibt, wo al­les noch gren­zen­los ist und man den Tod nicht zu ah­nen ver­mag.

Viel ge­liebt zu wer­den und hin­ter die ›Ge­heim­nis­se‹ zu kom­men, die über­all ver­bor­gen sind für ein Kind, war der Wunsch mei­ner jun­gen Jah­re. Des­halb war ich ei­fer­süch­tig auf je­den, den mein Va­ter freund­lich an­sah. Selbst mei­ner Mut­ter gönn­te ich ihn nicht. Aber dies ver­barg ich gut, seit­dem sie ein­mal dar­über ge­spot­tet hat­te.

Mein ewi­ges Wa­rum, mein nie­mals ganz ge­still­tes Wis­sens­be­dürf­nis durf­te ich nicht im­mer an ihm aus­las­sen, denn er ar­bei­te­te schwer. Des­halb ver­such­te ich, mir vie­le Fra­gen, die mich be­dräng­ten, selbst zu be­ant­wor­ten. Zu Ge­hor­sam war ich nicht ge­neigt. Der ›Geist des Wi­der­spruchs‹ hat mich schon früh be­ses­sen. Mich konn­te nie­mand be­herr­schen, ich füg­te mich zu­erst nur aus Lie­be, – und spä­ter nur aus Not­wen­dig­keit. Selbst ein Kind be­greift die­se Not­wen­dig­keit sehr gut. Mei­ne Mut­ter mach­te sie mir in ih­rer ru­hi­gen, fast ei­si­gen Art im­mer schnell klar. Konn­te sie mich nicht von mei­nem Wi­der­spruch ab­brin­gen, über­ließ sie mich den üb­len Fol­gen mei­nes Un­ge­hor­sams, oder sie brach­te mich durch Iro­nie dazu, den Wi­der­spruch bis zur Lä­cher­lich­keit zu über­trei­ben. Bald füg­te ich mich mei­ner bes­se­ren Er­kennt­nis, denn das Salz, das ich aus Wi­der­spruch statt des Zuckers ge­nom­men hat­te, schmeck­te schlecht. Wenn ich aber et­was Er­reich­ba­res woll­te, er­lang­te ich es fast im­mer, ich brauch­te nicht lan­ge zu bit­ten, sie konn­ten schon mei­nen Bli­cken schwer wi­der­ste­hen. Oft sah mei­ne Mut­ter fort, wenn ich mit ei­ner ›hei­ßen‹ Bit­te zu ihr kam, schwieg eine Wei­le, wand­te sich aber dann doch, mit zu­sam­men­ge­press­ten Lip­pen la­chend, zu mir und ge­währ­te mir den Wunsch durch ein Kopf­ni­cken, das sie mit ei­nem leich­ten Streich auf mei­ne Wan­ge be­glei­te­te, da­mit ich nicht über­mü­tig wür­de.

Mei­ne Mut­ter war vor ih­rer Ver­hei­ra­tung und noch ein oder zwei Jah­re nach­her, um zu den Kos­ten der Wirt­schaft bei­zu­tra­gen, Leh­re­rin an ei­ner Mäd­chen­schu­le ge­we­sen, bis ich dann, als ers­tes Kind, auf die Welt kam. Sie be­saß noch einen Stock, ein grau­es, ab­ge­grif­fe­nes Stäb­chen, von dem sie, um mir zu dro­hen, be­haup­te­te, sie hät­te böse Kin­der da­mit ge­straft. Aber ich er­fuhr bald, na­tür­lich von mei­nem gü­ti­gen Va­ter, dass sie mit dem Stock auf der Land­kar­te den Kin­dern die Städ­te, Mee­re, Lan­des­gren­zen, Flüs­se und Ei­sen­bahn­li­ni­en ge­zeigt hat­te, und da sie den Stab in der letz­ten Schul­stun­de, die sie gab, be­nutzt hat­te, hat­te sie ihn als An­den­ken mit­ge­nom­men. Alle die­se Din­ge konn­te ich mir vor­stel­len bis auf die Mee­re, die ei­nes der vie­len Ge­heim­nis­se wa­ren. – »Vie­le Flüs­se ne­ben­ein­an­der?« frag­te ich. – »Nein, aber so ähn­lich!« sag­te sie bloß, um mich los­zu­wer­den, denn sie hat­te viel im Hau­se zu tun.

Mein Va­ter war Hand­wer­ker, Schuh­ma­cher­meis­ter. Er lieb­te das Schö­ne. Auch sie, mei­ne Mut­ter, war un­ge­wöhn­lich schön, schlank, groß, mit hel­len Au­gen, rei­chem dunklem Haar.

Am liebs­ten hät­te er nur die schma­len, fein­knö­che­li­gen, hoch­span­ni­gen Füße jun­ger, ge­sun­der, schö­ner Men­schen mit herr­li­chen Schu­hen be­klei­det. Aber sein Drang nach Wis­sen und nach Vor­wärts­kom­men in der Welt hat­te ihn noch als Lehr­ling dazu ge­bracht, volks­tüm­li­che Bü­cher über al­ler­lei Wis­sen­schaf­ten und be­son­ders über Me­di­zin zu stu­die­ren. (Für sich selbst brauch­te er sol­che nicht, denn er war bis zu sei­ner letz­ten und ein­zi­gen Krank­heit das Bild der Ge­sund­heit.) Die Ab­bil­dun­gen kran­ker, ver­krüp­pel­ter Füße hat­ten ihn auf den Ge­dan­ken ge­bracht, Schu­he für die­se Füße her­zu­stel­len. Er hat­te die ge­schick­tes­te Hand. Al­les flog nur so von sei­nen Fin­gern. An­fangs hat­te er sich bei ei­nem be­freun­de­ten Ober­wär­ter der Chir­ur­gi­schen Kli­nik, dann bei dem Pro­fes­sor der Or­tho­pä­die Rat ge­holt, spä­ter be­spra­chen die Ärz­te mit ihm ge­mein­sam, wie die Schu­he und Ban­da­gen be­schaf­fen sein soll­ten. Eine Schuh-Ein­la­ge für Platt­fü­ße (ich hielt sie im­mer für Blatt­fü­ße), aus ei­nem be­son­ders elas­ti­schen und wi­der­stands­fä­hi­gen Ma­te­ri­al von ihm er­fun­den, hat­te ihm et­was Geld ein­ge­bracht. Sie soll­te in Ame­ri­ka eben­so pa­ten­tiert wer­den, wie in Eu­ro­pa. Lei­der tat er nichts dazu. Der Be­ruf be­frie­dig­te ihn nicht. – Noch ein schwe­rer Klump­fuß! hör­te ich ihn mur­meln, wenn ein Kun­de mit un­ge­fü­gi­gen Schu­hen wie auf Pfer­de­hu­fen da­her­stap­fend, den La­den ver­ließ. Er, der so vie­len Men­schen, wenn schon nicht Hei­lung, so doch Er­leich­te­rung ge­bracht, der mehr als einen Men­schen auf die Füße ge­stellt hat­te durch sei­ne Wun­der­wer­ke von or­tho­pä­di­schen Schuh-Ap­pa­ra­ten, die aus Kork­hül­sen, Stahl­schar­nie­ren und un­sicht­ba­ren Ein­la­gen un­ter dem Le­der be­stan­den, er hielt sein Werk für ›un­nütz‹. An­de­ren mach­te er es recht, sich selbst nie. Er hat­te ver­zagt, aber nicht für lan­ge, denn am nächs­ten Tag war er der Über­mut selbst, als wäre er in der Zwi­schen­zeit ei­ner Fee be­geg­net. Aber gab es denn noch Feen? Sein Froh­sinn mach­te uns alle glück­lich.

»Flott, flink und fe­der­leicht, Kin­der!« rief er mei­ner Mut­ter und mir bei ei­nem un­se­rer herr­li­chen Sonn­tags­aus­flü­ge in dich­tem Wal­de zu, über ein brei­tes, aus­ge­trock­ne­tes Bett ei­nes Ba­ches hin und her sprin­gend. Ich kann­te kei­ne Furcht, ich sprang ihm nach, zu­erst schlecht, dann bes­ser, mein Va­ter hob mich an den Ar­men in die Höhe, schwang mich im Krei­se und schüt­tel­te la­chend über mei­nem hei­ßen Ge­sicht sei­ne dich­te Mäh­ne, sei­nen blon­den Bart. Mei­ne Mut­ter, einen halb­vollen­de­ten Kranz von Dot­ter­blu­men und Ver­giss­mein­nicht in den Hän­den, sah in ih­ren Schoß, in die or­dent­li­chen Fal­ten ih­res schwar­zen Sei­den­klei­des und schwieg. Mein Va­ter war am Abend vor­her et­was spät heim­ge­kehrt.

Mei­ne Mut­ter hat­te mei­nen Va­ter sehr lieb, denn sonst hät­te sie nicht den ihr so teu­er ge­wor­de­nen, durch vie­le lan­ge Ent­beh­run­gen er­reich­ten Be­ruf ei­ner Leh­re­rin sei­net­we­gen auf­ge­ge­ben. Er lieb­te sie noch viel lei­den­schaft­li­cher, aber nicht in glei­cher Wei­se wie­der. Dar­über freu­te ich mich, denn er ge­hör­te umso mehr mir. Aber es tat mir auch wehe, denn ich sah, dass selbst er manch­mal trüb ge­stimmt war, und alle Auf­for­de­run­gen der Mut­ter, nun sol­le er end­lich la­chen und eine ›son­ni­ge Mie­ne‹ zei­gen, nütz­ten nichts. Ich schmieg­te mich, – wie schwer fiel mir das Schwei­gen, – an die Knie mei­nes Va­ters und er fuhr mir zer­streut durch das Haar und seufz­te.

Wie se­lig wäre ich ge­we­sen, wenn er mit mir im glei­chen Bet­te oder we­nigs­tens im glei­chen Zim­mer ge­schla­fen hät­te! Ich ahn­te wohl, dass zwi­schen ihm und ihr et­was be­stand, das sie mir ver­schwie­gen. Was? Ein Ge­heim­nis. Aber da­nach frag­te ich nicht. Er, der mir sonst mit En­gels­ge­duld al­les mög­lichst klar ver­ständ­lich mach­te, wo­nach of­fen­bar die meis­ten Kin­der gar nicht fra­gen, wäre viel­leicht böse ge­wor­den über mei­ne boh­ren­de Neu­gier­de, – wie über mei­ne Ei­fer­sucht. Und doch konn­te ich die­se nicht be­herr­schen. Mei­ne Mut­ter ging ru­hig dar­über hin­weg. Sie sag­te nichts da­ge­gen, wenn ich oft spät abends, wenn die bei­den sich schon zu Bett ge­legt hat­ten, an ihre Tür poch­te und bat, sie möch­ten mich ein­las­sen, für ein Stünd­lein, ein Se­künd­lein, (die Mi­nu­ten hat­te ich ver­ges­sen). Mei­ne Mut­ter räum­te nur schnell ei­ni­ge ra­scheln­de Klei­dungs­stücke zur Sei­te, dann öff­ne­te sie in ih­rem fal­ten­rei­chen Nacht­ge­wand die Tür und sag­te mit ih­rer spöt­ti­schen Stim­me: »Und was noch?« Ich sprang, die Säu­me mei­nes lan­gen Nacht­hem­des hoch­he­bend, schnell über die Schwel­le. Flott, flink und fe­der­leicht!

Ich wuss­te wohl, dass es ziem­lich schmerz­haft war, auf den schma­len Kan­ten der ne­ben­ein­an­der­ste­hen­den Bet­ten zu schla­fen. Denn das war mein mir von bei­den an­ge­wie­se­ner Platz. Aber was tat ich nicht al­les, um ihm nahe zu sein! Am Tage hat­te ich so we­nig von ihm! Ich mach­te mich ganz klein und schmal. Und er, in sei­ner großen Güte, gab mir so­gar ein Kopf­kis­sen (und doch schlief er so ger­ne weich!) und be­lohn­te mich durch einen sei­ner sel­te­nen, rau­en und fes­ten Küs­se da­für, dass ich mich in mei­ner lie­ben­den Grau­sam­keit und Ei­fer­sucht zwi­schen ihn und sie ge­drängt hat­te… Und doch war es eine glück­li­che Zeit! Bald schlie­fen wir alle drei ru­hig ne­ben­ein­an­der, und mor­gens wa­ren sie längst auf­ge­stan­den, als ich aus himm­li­schen Träu­men, trotz der schmer­zen­den Kno­chen fast be­täubt von Glück, all­mäh­lich er­wach­te, von ih­rer Stepp­de­cke ein­gehüllt.

2.

Ich er­in­ne­re mich, ich war nicht äl­ter als zwölf Jah­re, als mich mein Va­ter in sei­ner Werk­statt beim Gip­sen mit­hel­fen ließ. Ich hat­te nichts zu tun, als die Bin­den, die mit Gips­staub dick be­streut wa­ren, ins Was­ser zu le­gen, leicht aus­zu­drücken und ihm zu­zu­rei­chen. Ich hat­te einen neu­en blau­en Ma­tro­sen­an­zug an und gab mir Mühe, ihn nicht schmut­zig zu ma­chen. Auf ei­nem ziem­lich ho­hen Stuh­le saß ver­ängs­tigt ein schlan­kes, rot­haa­ri­ges, grün­äu­gi­ges Mäd­chen und hielt mei­nem Va­ter, der auf sei­nem al­ten Schus­ter­sche­mel vor ihr saß, ihr fein ge­schnitz­tes Knie, den Un­ter­schen­kel und ihr klei­nes, aber et­was nach in­nen ge­krümm­tes Füß­chen dar. Mein Va­ter, die lin­ke Hand nach den Gips­bin­den aus­stre­ckend, sprach die Mut­ter des Kin­des mit ›Frau Grä­fin‹ an.

Ich hat­te mir Gra­fen im­mer präch­tig ge­klei­det und nur in Ka­ros­sen fah­rend vor­ge­stellt, also ganz an­ders, als hier Mut­ter und Kind. Die Mut­ter war alt­mo­disch an­ge­zo­gen, in je­der Hand hielt sie, ziem­lich rat­los, einen Schuh ih­rer Toch­ter. Der lin­ke war ei­nes von den Kunst­wer­ken, in de­nen mein Va­ter so groß war, eine kom­pli­zier­te Ma­schi­ne mit Stahl­schar­nie­ren und ho­hem Le­der­schaft, kreuz­wei­se zu schnü­ren. In je­dem der Schu­he, die vom Stra­ßen­schmutz recht mit­ge­nom­men wa­ren, – in ei­ner Kut­sche wa­ren also Grä­fin und Kom­tes­se nicht zu uns ge­kom­men, – stak zu­sam­men­ge­knäu­elt ein dun­kelblau­er, hand­ge­strick­ter Strumpf mit den Ini­tia­len A. v. W. in wei­ßer Wol­le. Mein Va­ter wies stumm nach dem Fuß des ade­li­gen Fräu­leins. Ich soll­te ihn rich­tig hal­ten. Ich fass­te mu­tig den küh­len Fuß an, der weich war wie das Samt­band, das mei­ne Mut­ter mit ei­nem gol­de­nen Kreuz­lein um den Hals trug und das ich ger­ne an­fass­te. Aber es war et­was an­de­res, mei­ner Mut­ter das Samt­band zu lo­ckern und es ihr la­chend un­ter den Hän­den fort­zu­zie­hen, als hier die et­was feuch­te, mit bläu­li­chen Adern durch­zo­ge­ne Haut ei­nes zit­tern­den großen Mäd­chens zu be­rüh­ren. Das Hal­ten ge­nüg­te nicht, ich muss­te, wie mir mein Va­ter halb­laut be­fahl, ihr das Fuß­ge­lenk stark nach au­ßen beu­gen und die Ze­hen, (sie gli­chen mit den klei­nen glän­zen­den Nä­geln win­zi­gen Fin­gern), nach oben drücken. Wäh­rend das Mäd­chen schmerz­haft auf­seufz­te und sich ge­gen den Druck mei­ner Hand wehr­te, leg­te mein Va­ter die ers­ten Gips­bin­den um den ge­lähm­ten oder ver­krüp­pel­ten Fuß. Als mein schö­ner An­zug ein paar wei­ße Fle­cken ab­be­kam, zu mei­nem Schre­cken, lach­te sie mich plötz­lich an, mit ih­ren rei­nen großen grü­nen Au­gen mich um­fas­send und ihre spit­zen, aber kur­z­en Zähn­chen zwi­schen den vol­len Lip­pen zei­gend. Mein Va­ter führ­te die Bin­den wei­ter bis un­ter das Knie. Dann war­te­te er eine klei­ne Wei­le, die Hän­de im Scho­ße auf sei­ner grü­nen Schür­ze, bis die Gips­la­ge er­starr­te, eine ziem­lich star­ke Wär­me ver­brei­tend. Wir schwie­gen alle vier. Bald wur­de der Ver­band tro­cken und hart, er tön­te hell wie dür­res Holz, als mein Va­ter mit dem Griff ei­nes schar­fen klei­nen Mes­sers dar­an klopf­te. Er be­gann den Ver­band vor­ne auf­zu­schnei­den. Das Fräu­lein hat­te die Au­gen ge­schlos­sen, es be­gann lei­se zu zit­tern. Auch ich emp­fand eine selt­sa­me Angst, mein Va­ter kön­ne zu tief schnei­den und durch die Gips­schich­ten hin­durch mei­ne Hand, die im­mer noch die Ze­hen um­klam­mert hielt, oder gar das Mäd­chen selbst ver­let­zen.

Ich fühl­te eine Wel­le von Blut in mir auf­stei­gen. Es war mit­ten im Hoch­som­mer, des­halb stan­den die Fens­ter of­fen. Der Wind hat­te sich in dem blau­en Rock des Mäd­chens ver­fan­gen. Et­was Un­be­schreib­li­ches in mir woll­te et­was und wuss­te nicht was. Aber schon hat­te mein Va­ter das Werk vollen­det. Er hob das schlan­ke ro­si­ge Bein aus der kal­ki­gen Form her­aus, die er dann spä­ter mit Gips aus­füll­te, um auf dem Mo­dell sei­nen Schuh zu bau­en. Sol­cher Mo­del­le gab es eine Un­zahl hier; sie hin­gen an Schnü­ren und be­weg­ten sich in ih­ren Ecken un­ter dem Wind, an­de­re la­gen auf ei­nem Hau­fen, zum Teil noch krei­dig weiß, zum Teil schon schmut­zig ge­wor­den. Die Grä­fin be­gab sich mit mei­nem Va­ter zum Schreib­tisch, wo er in sein Be­stell­buch al­les Nö­ti­ge ein­trug. Ich hör­te sie sa­gen: »Man wird doch nichts se­hen?« Sie woll­te, dass der Schön­heits­feh­ler ih­rer ar­men schö­nen Toch­ter ver­bor­gen blieb. (Ich aber kann­te ihn.) Die al­ten Schu­he hat­te sie jetzt vor uns bei­de, das Fräu­lein und mich, hin­ge­stellt. Das Mäd­chen hat­te sich zu­rück­ge­lehnt und blick­te mich selt­sam an, nicht La­chen nicht Wei­nen, kei­ne Scham, viel eher Stolz, aber dann schlug sie die Au­gen­li­der nie­der, und um ih­ren Mund be­gann es zu zu­cken. Ich mach­te mich dar­an, ihr die St­rümp­fe an­zu­zie­hen, aber kaum hat­te ich ihre Haut be­rührt, als sie mir die St­rümp­fe aus der Hand riss und sich an­zu­zie­hen be­gann. Schäm­te sie sich vor mir? Dann schäm­te sie sich nicht ih­res Ge­bre­chens, nicht ih­rer nack­ten wei­ßen Haut, son­dern der Lö­cher, die in den ade­li­gen St­rümp­fen zu se­hen wa­ren. »Sie kom­men in ein paar Ta­gen zur An­pro­be! Spä­ter brau­chen Sie nur zu schrei­ben, wenn Sie neue Schu­he brau­chen. Vor ei­nem Jahr wächst sich der Fuß noch nicht aus. Aber bis da­hin… oh, bis da­hin! –« sag­te mein Va­ter. Die Grä­fin strahl­te. Dass mein Va­ter ihr eine, wenn auch nur ganz zar­te Hoff­nung ge­macht hat­te, ihr Kind kön­ne von sei­ner Läh­mung in ei­nem Jahr ge­ne­sen sein, hat­te ihr of­fen­bar eine große Freu­de be­rei­tet. »Sol­len wir Ih­nen eine An­ga­be ge­ben?« frag­te sie, ein et­was ab­ge­schab­tes schwar­zes Por­te­mon­naie aus ih­rer Ta­sche zie­hend. Mein Va­ter wink­te ab. Sie gin­gen. Das Mäd­chen wand­te sich an der Schwel­le nach uns oder mir um. In dem blas­sen Ge­sicht­chen leuch­te­ten die dun­kel­ro­ten Lip­pen, von de­nen die Ober­lip­pe vol­ler war als die Un­ter­lip­pe und wie ein klei­nes Flü­gel­chen nach vor­ne stand. Von jetzt an dach­te ich viel an A. v. W. Ich wuss­te nicht wie sie hieß, ich kann­te nur die An­fangs­buch­sta­ben. Ich ver­such­te sie in der Werk­statt ge­le­gent­lich der An­pro­be wie­der­zu­se­hen, ver­ge­bens. Ich träum­te von ihr, wirr und nicht an­ge­nehm. Es scheint, dass ich mir im Trau­me vor­stell­te, das Mes­ser drin­ge ei­nem von uns und dann bei­den zu glei­cher Zeit wirk­lich in die Haut. Ich muss im Trau­me vor Schmer­zen auf­ge­schri­en ha­ben. Und doch war es nicht ein Schmerz wie sonst, eher ein schmerz­haf­tes, star­kes, ban­ges Ent­zücken. Vi­el­leicht habe ich so­gar nachts ge­weint, (und ich wein­te doch im­mer so schwer!) denn mein Kopf­kis­sen war nass.

Mei­ne Mut­ter sah es, ich log dies­mal. Ich log sel­ten, denn mei­ne El­tern sorg­ten da­für, dass mir das Lü­gen er­spart blieb. Sie stell­ten mich meist nicht auf die Pro­be. Ich sag­te, ich hät­te aus dem Was­ser­glas trin­ken wol­len, das auf dem Nacht­tisch­chen stand und da­bei et­was Was­ser ver­gos­sen. Mei­ne Mut­ter sah so­fort, dass das Glas bis oben voll war, so wie sie es ges­tern Abend hin­ge­stellt hat­te.

In die­sem Au­gen­blick er­schi­en mein Va­ter auf der Schwel­le, mei­ner Mut­ter zuck­ten schon die Lip­pen, als wol­le sie ihm von mei­ner Lüge er­zäh­len, dann aber hob sie mit ih­rem et­was spöt­ti­schen Lä­cheln die Schul­tern, – und schüt­te­te, – das war eben ihre iro­ni­sche Art der Er­zie­hung – jetzt so­viel Was­ser aus dem Glas auf das Kis­sen, dass es noch abends feucht war. Die jun­ge Grä­fin traf ich nicht. Auch im Trau­me woll­te sie mir nicht mehr er­schei­nen.

Aber ihr zar­tes Knie und den ar­men klei­nen Fuß habe ich wie­der ge­se­hen. Vom Knie war nur der An­satz da. Ich habe das schnee­wei­ße, schlan­ke leich­te Ge­bil­de, das ih­ren Na­men und das Da­tum un­se­rer Be­geg­nung trug, mit mei­nen Wan­gen und mit mei­nen Haa­ren ge­streift. Es hing nicht an ei­ner Schnur, es lag auch nicht tot da. Es lehn­te für sich al­lein an der Wand, als sei es aus der Mau­er her­aus­ge­tre­ten, um zu mir zu kom­men. Jetzt durch­rie­sel­te mich das schwe­re, be­klem­men­de, schmerz­haf­te Ent­zücken noch stär­ker als im Traum. Die Werk­statt war leer. Ge­küsst habe ich es nicht. Ich fürch­te­te dies zu sehr. Ich ahn­te un­ser Ge­heim­nis.

3.

Gott, Chris­tus, Him­mel­reich und Höl­le wa­ren große ›Ge­heim­nis­se‹ für mich als Kind. Ich emp­fand eine Art freu­di­ger Neu­gier­de für Gott, kei­ne Angst vor ihm, kei­ne Furcht. Den Tod ver­stand ich noch nicht. Ich leb­te un­end­lich gern. Gott be­deu­te­te für mich Ge­liebt­wer­den, Lie­ben und ewi­ges Ge­heim­nis zu­gleich.

Oft ging ich am Sonn­tag­vor­mit­tag mit mei­nem Va­ter zum Hochamt, wäh­rend mei­ne Mut­ter da­heim blieb. Ab und zu stand mein Va­ter wäh­rend der Mes­se auf und blick­te sich um. Es kam vor, dass er schon lan­ge vor dem Ite Mis­sa est! dem letz­ten dröh­nen­den Or­gel­schall (Gott bläst uns alle aus der Kir­che her­aus, dach­te ich, es war wie ein Sturm) die Kir­che ver­ließ, ohne dass ich ihn be­glei­ten muss­te. Mei­ne Mut­ter emp­fing mich dann nicht im­mer freund­lich. Aber bald kam er nach. Wir trös­te­ten uns, mein Va­ter nahm sei­nen al­ten Han­d­at­las und ver­ließ mit mir noch ein­mal die Woh­nung. Wir gin­gen spa­zie­ren oder wir setz­ten uns im stil­len, küh­len Trep­pen­haus nie­der, auf die Stu­fen, je­der sein Ta­schen­tuch un­ter sich, er hol­te Bon­bons aus sei­ner Ta­sche und teil­te sie mehr als red­lich mit mir. Wir brei­te­ten den At­las über un­se­re vier Knie und mein Va­ter er­klär­te mir die Welt. Die ers­ten Sei­ten des At­las­ses, wel­che die Ster­nen­welt dar­stell­ten, über­schlug er mit sei­ner am Han­drücken samt­ar­tig wei­chen und wei­ßen, aber an den Fin­ger­spit­zen und in dem Han­din­nern et­was schwie­li­gen und gelb­li­chen Hand. Er hat­te auf den frei­en Rück­sei­ten die­ser Kar­ten als jun­ger Mensch Ab­bil­dun­gen der Fuß- und Bein­kno­chen ko­piert und ihre la­tei­ni­schen Na­men mit sei­ner klei­nen, kritz­li­gen Schrift auf­ge­zeich­net. Bald aber er­schi­en mei­ne Mut­ter, halb und halb wie­der ver­söhnt, hör­te mit ih­rem al­ten Lä­cheln sei­ne Er­klä­run­gen an, als wis­se sie es bes­ser. In ih­rer Nähe wur­de mein Va­ter still, er­rö­tend klapp­te er das Buch zu, plötz­lich fiel er mei­ner Mut­ter um den Hals und sie küss­ten ein­an­der wie Kin­der. Ich ging vor­aus in die Woh­nung. Sie spra­chen lei­se und lan­ge auf dem Trep­pen­ab­satz.

Mei­ne Mut­ter lä­chel­te ihm am Nach­mit­tag wie­der viel gü­ti­ger und froh­sin­ni­ger zu, und als sie abends schla­fen gin­gen, hör­te ich trau­rig, wie ei­nes von ih­nen den Rie­gel vor­schob.

Ei­ni­ge Mo­na­te spä­ter kün­dig­te mir mei­ne Mut­ter an, ich sol­le sie auf vier Wo­chen ver­las­sen. Ich reis­te, als ein Jun­ge von drei­zehn Jah­ren ohne Furcht, aber auch ohne die ge­rings­te Freu­de zu mei­nem Groß­va­ter auf das Graf Mins­ky­sche Gut, wo er Ober­gärt­ner war. Mein Groß­va­ter führ­te mich in den Glas­häu­sern um­her. Mein Va­ter schrieb mir eine schö­ne An­sichts­kar­te. Der Groß­va­ter woll­te sie na­tür­lich se­hen, aber ich hat­te sie in mei­ner Ei­fer­sucht längst in klei­ne Stück­chen zer­ris­sen.

Mein Groß­va­ter war ein Meis­ter der Gar­ten­kunst und es ka­men stets Gärt­ner der großen be­nach­bar­ten Gü­ter, um Rat von ihm zu er­ho­len. Er sprach sehr lan­ge und ernst­haft mit ih­nen, nach­her ver­trau­te er mir, un­ter sei­nem di­cken grau­en Bar­te lis­tig schmun­zelnd an, er habe kei­nem Men­schen je­mals sei­ne Ge­heim­nis­se ver­ra­ten, und des­halb lie­be ihn die Guts­herr­schaft und kom­me ihm in al­lem ent­ge­gen. Das be­zog sich auf die ein­zi­ge Lei­den­schaft, die ihn be­herrsch­te, näm­lich die Jagd. Er war ein herr­li­cher Schüt­ze, ver­fehl­te nur sehr sel­ten sein Ziel, aber die Herr­schaft sah es nicht im­mer ger­ne, be­haup­te­te er, wenn er ›Blatt­schüs­se‹ set­ze, (ich ver­stand das Wort falsch und dach­te, es habe et­was mit Blät­tern und Wald zu tun), wäh­rend der Graf die Rehe und Fa­sa­nen so schlecht traf, dass es ihn, den Gärt­ner jam­me­re. Auch sei es schreck­lich, das Ge­zer­re der an­ge­schos­se­nen Fa­sa­nen, das trau­ri­ge Flüch­ten und scheuß­li­che Schwei­ßen der bloß an­ge­schos­se­nen ar­men Jagd­tie­re zu se­hen. Nur des­halb gehe er, der Groß­va­ter, am liebs­ten al­lein mit sei­nem gu­ten Hund, auf den An­stand. Manch­mal ließ er mich sei­ne Flin­te auf dem Hin­weg oder die Jagd­ta­sche auf dem Heim­weg tra­gen. Ich saß auf dem An­stand ne­ben ihm, mit­ten im Duft des Wal­des und im Dunst sei­nes feuch­ten Lo­den­rockes; wir hock­ten stun­den­lang auf dem Holz­ge­rüs­te am Wald­ran­de, das er die Jagd­kan­zel nann­te, und lau­er­ten in der Däm­me­rung auf das Er­schei­nen der Rehe, die mit den Käl­bern und Kit­zen laut­los an­ge­trabt ka­men. Manch­mal be­gnüg­te er sich, sie nur zu vi­sie­ren. Manch­mal aber schoss er. Ich er­in­ne­re mich aber nur ei­ner Jagd auf Fa­sa­nen. Das war­me Le­der der prall ge­füll­ten Jagd­ta­sche schlug beim Heim­weg durch die kah­len Fel­der an mei­ne Knie und wir bei­de, Groß­va­ter und ich, summ­ten vor uns hin. Der alte Graf be­geg­ne­te uns, lach­te uns zu und schlug sich auf die Schen­kel, auf die Jagd­ta­sche an­spie­lend. Der Groß­va­ter fluch­te und nahm mich nicht mehr zur Jagd mit.

Kurz dar­auf kam mein Va­ter an. Er be­grüß­te den Groß­va­ter et­was kühl. Sehr zu mei­ner Freu­de, denn ich woll­te, mein Va­ter sol­le end­lich mir al­lein ge­hö­ren. In­des­sen muss­te ich hö­ren, dass mich da­heim ein ›Ge­schwis­ter­chen‹ er­war­te. Es war mei­ne Schwes­ter Anna, die man An­nin­ka nann­te. Ich staun­te sie sehr an, konn­te mich aber lan­ge nicht an sie ge­wöh­nen.

Mit mei­nen El­tern war ich jetzt viel we­ni­ger als frü­her al­lein. Ich be­gann sehr viel zu le­sen. Ich lag dann am liebs­ten flach auf der Erde, die Arme auf­ge­stützt, die Hän­de an den Wan­gen und die Zei­ge­fin­ger in den Ohren, von wo ich sie nur fort­nahm, um die Sei­ten um­zu­blät­tern. So konn­te mich nie­mand stö­ren. Ich las mit un­er­sätt­li­chem Hun­ger, selbst auf dem Heim­weg aus der Schu­le, im ge­hen. Aber am liebs­ten in ei­ner be­stimm­ten Ecke mei­nes Zim­mers, bei of­fe­nem Fens­ter, wenn der Wind die Vor­hän­ge hin­ein­bau­sch­te. Alte Zeit­schrif­ten, Koch­bü­cher, Traum­bü­cher (die­se von un­se­rer gu­ten Magd Mar­thy ge­lie­hen), Ei­sen­bahn­fahr­plä­ne, Ge­dich­te und Ro­ma­ne, Po­stal­ma­nachs mit blö­den Scher­zen und al­ten Wit­zen, Schlos­sers Welt­ge­schich­te, die Bi­bel, Sa­gen und Mär­chen, die Schul­bü­cher mei­ner Mut­ter, mo­ra­li­sche Er­zäh­lun­gen aus der Schul­bi­blio­thek, Goe­the und Schil­ler, oft vie­les ne­ben­ein­an­der, ohne im­mer den In­halt zu ver­ste­hen. Aber ich merk­te mir man­che Sät­ze, oft gan­ze Sei­ten, dach­te spä­ter in Ruhe, vor dem Schla­fen­ge­hen dar­über nach, brach­te sie mit mei­nem al­ten Wa­rum in Zu­sam­men­hang. Ich schlug ein klei­nes Le­xi­kon nach, da ich vie­le Fremd­wör­ter nicht ver­stand, den At­las blät­ter­te ich fast täg­lich abends durch. Es war im­mer Neu­es in ihm zu fin­den.

Die Stern­kar­te fes­sel­te mich, die Ster­ne reg­ten mich auf. Ich fand sie ge­treu auf dem Him­mel wie­der. Aber auf dem Him­mel wa­ren sie gleich­sam weiß auf schwarz, auf der Kar­te schwarz auf weiß. Ein­mal lieh ich mir von mei­ner Mut­ter ih­ren neu­en Bril­lant­ring, den sie an­läss­lich An­nin­kas Tau­fe er­hal­ten hat­te, und sah nachts vor dem Schla­fen durch das Rund des Rin­ges den kla­ren wol­ken­lo­sen Him­mel an. Aber je län­ger ich durch den Ring hin­durch­sah, de­sto zahl­rei­cher wur­den die Ster­ne, es war, als kämen sie aus ei­ner Wand laut­los und leuch­tend her­vor. Ei­nen großen grün­gol­de­nen, den ich im­mer fand, be­leg­te ich mit Be­schlag und nann­te ihn nach mei­nem Va­ter, einen zwei­ten nach ei­ner an­de­ren Per­son. Ich selbst war ein ziem­lich klei­ner, der zwi­schen bei­den war. Ihre Stel­lung ge­gen­ein­an­der blieb stets die glei­che, wor­über ich sehr staun­te, und was ich als die Ord­nung Got­tes be­wun­der­te. Von A­me­ri­ka ge­se­hen soll­te dies an­ders sein, be­haup­te­te mei­ne Mut­ter. Aber sie hat­te un­recht, ob­gleich sie frü­her Leh­re­rin ge­we­sen war. Ich sag­te es ihr nicht. Manch­mal hat­te sie ge­röte­te Au­gen, so sehr sie sich mit mei­nem Schwes­ter­chen freu­te. (Nun hat­te mei­ne Mut­ter von je­her schwa­che Au­gen. Aber es war mir noch nie so auf­ge­fal­len.) Ich über­rasch­te sie ein­mal, als sie sehr be­trübt in ih­ren Schoß sah, wo mein Schwes­ter­chen, fast nackt und eben­falls sehr still, da­saß. (Ich habe es kaum drei­mal wei­nen ge­hört; wenn es lach­te, tat es dies schüch­tern, in Ab­sät­zen, im­mer wie­der in­ne­hal­tend, als stot­te­re es beim La­chen.) Nun hat­te ich eine na­se­wei­se Fra­ge an mei­ne Mut­ter, ein Wa­rum, für das es kein Da­rum gab. Aber ich hät­te nie­mals ge­dacht, dass sie mir des­halb böse sein kön­ne. Ich frag­te sie näm­lich warum man Fin­ger hut sage und nicht Fin­ger schuh, da man doch von Hand schuh und nicht von Hand hut rede. Sie blick­te über­rascht auf, aus al­len ih­ren Ge­dan­ken ge­ris­sen und da sie glaub­te, ich ma­che mich über sie und ihre ›Leh­re­rin­nen­weis­heit‹, wie sie es nann­te, lus­tig, schlug sie mir fest mit der ge­ball­ten Hand ins Ge­sicht. Mein Schwes­ter­chen schrie auf. Ich nicht. Ich frag­te von jetzt an viel we­ni­ger, und mei­ne Mut­ter selbst war es, die mir ihre Un­ge­duld ab­bat. Ich küss­te sie nur, ohne zu ant­wor­ten.

Mei­ne Ju­gend war über­voll von Glück. In der Schu­le kam ich gut vor­wärts trotz mei­ner Le­se­wut, denn ich brauch­te eine Sei­te nur ein­mal gut zu le­sen, um sie mir zu mer­ken. Ich war sehr er­staunt, dass nicht je­der Mensch dies konn­te, selbst mei­ne El­tern konn­ten es kaum. Ich hat­te vie­le gute Ka­me­ra­den in der Schu­le, ob­gleich ich mich mit un­sin­ni­gem Stolz nie­mals ganz auf glei­che Stu­fe mit ih­nen stel­len woll­te. Ich soll­te ih­nen im­mer der Rich­ter sein, wenn sie Strei­tig­kei­ten mit­ein­an­der hat­ten. Aber das Rich­ter­amt en­de­te meist in ei­ner all­ge­mei­nen Prü­ge­lei. Dann woll­ten sie mei­ne ›Tra­ban­ten‹ wer­den. Das heißt, sie woll­ten mir ihre Diens­te wid­men, mir zum Bei­spiel im Turn­saal die Schu­he aus­zie­hen, die Turn­schu­he knüp­fen, mir den Blei­stift spit­zen, die Schul­ta­sche tra­gen usw. Ich tat dies aber na­tür­lich viel lie­ber selbst. Ich brauch­te sie nicht. Des­halb hin­gen sie mir viel­leicht so sehr an. – Mit im­mer stär­ke­rer, aber nur noch stil­ler­er Lie­be woll­te ich bei mei­nem Va­ter sein. Sein Tra­bant zu sein, war mein Traum. Er aber ahn­te nichts da­von, und mei­ne Mut­ter sag­te mir da­mals mit ei­ner Art Tri­umph, ich müs­se als großer Jun­ge end­lich ler­nen, mit mir selbst fer­tig zu wer­den. Ich ver­stand dies schwer, aber end­lich ver­stand ich es, ich be­herrsch­te mich so sehr, dass er ein­mal, ver­le­gen, die schö­ne Hand in sei­nem dich­ten Bart, zu mir kam, und mich, bei je­dem Wort auf mei­ne Schul­ter klop­fend, frag­te: »Bist du mir böse?« Wäre er doch im­mer so ne­ben mir, über mir ge­stan­den.

4.

Um die­se Zeit ver­kauf­te mein Va­ter ge­gen den Rat mei­ner Mut­ter sei­ne Werk­statt an sei­nen äl­tes­ten Ge­hil­fen, und mei­ne El­tern über­leg­ten lan­ge, was man be­gin­nen soll­te. Die Stadt ent­wi­ckel­te sich sehr schnell, klei­ne Dör­fer, die in der Um­ge­bung la­gen, wur­den ein­ge­mein­det, selbst Wäl­der, Wie­sen und un­be­bau­te Grund­stücke. Vie­le Men­schen wur­den schnell reich. Mein Va­ter dach­te dar­an, ein Grund­stück­bü­ro zu er­öff­nen.

Mein Va­ter muss jetzt noch mehr be­schäf­tigt ge­we­sen sein als frü­her. Er kam oft spät heim, ein­mal hat­te er eine be­reits et­was wel­ke, sel­te­ne Blu­me im Knopf­loch, manch­mal war er noch nicht da­heim, wenn es neun Uhr ge­wor­den war und die Schlaf­mü­dig­keit mir die Au­gen schwer mach­te. Mei­ne Mut­ter riet mir, ich sol­le ru­hig auf­blei­ben und die An­kunft mei­nes Va­ters ab­war­ten und noch mit ihm einen Bis­sen es­sen, sie zeig­te mir so­gar, wo die Spei­sen stan­den. Rech­ne­te sie mit mei­nem Wi­der­spruchs­geist, das heißt da­mit, dass mir das er­laub­te Auf­blei­ben kei­nen Spaß ma­chen wür­de? Ich ließ mich nicht stö­ren und blieb. End­lich knarr­te die En­tree­tür lei­se, mein Va­ter kam heim, sei­ne Au­gen leuch­te­ten in merk­wür­di­gem Glanz, in sei­ner Ta­sche klin­gel­te et­was Me­tall­geld. Er hat­te einen star­ken, sü­ßen und dump­fen Ge­ruch an sich.

Er sag­te, er sei beim Fri­sör ge­we­sen und die­ser hät­te zu viel Par­füm ge­nom­men. Aber sein Haar, das hat­te ich beim Kuss ge­merkt, roch eher nach Rauch, Zi­gar­ren­ge­ruch, das Par­füm kam von un­ten, aus sei­ner Rock­ta­sche. Wir sa­ßen ein­an­der ge­gen­über, er hat­te ein mü­des, aber ei­gent­lich glück­li­ches Ge­sicht. Er fass­te jetzt et­was ver­le­gen in sei­ne Rock­ta­sche, dann gab er mir die Zei­tung zu le­sen, die ich sonst nur heim­lich mit größ­tem Ge­nus­se ver­schlang.

Ich tat, als ob ich lese, als er sich aus dem Fens­ter her­aus­beug­te, ein klei­nes wei­ßes Ta­schen­tuch her­aus­zog, es an sei­ne Schlä­fe, an sei­nen Mund hielt, und es dann, zu ei­nem klei­nen Knäu­el zu­sam­men­ge­ballt, aus dem Fens­ter warf. Er sah ihm nach. Der Wind hob sei­nen blon­den Bart fort von sei­nem wei­ßen glän­zen­den Hals­kra­gen. In die­sem Au­gen­blick trat mei­ne Mut­ter in ih­rem Nacht­kleid ein, un­er­war­tet von uns bei­den. Er wand­te sich er­rö­tend um, nahm mir die Zei­tung aus der Hand und hieß mich schla­fen ge­hen. Jetzt ge­horch­te ich ihm, ohne Zö­gern, ohne Be­sin­nung. Bei ihm emp­fand ich den Wi­der­spruchs­geist nicht, denn ich woll­te ihm ge­hö­ren. Es war mir trau­rig, dass er ein neu­es Ge­heim­nis vor mir hat­te. An der Schwel­le zu mei­nem Schlaf­raum blieb ich ste­hen und sah em­por. Vi­el­leicht woll­te ich den lie­ben Gott um et­was be­son­ders Gu­tes und Fro­hes für ihn bit­ten, denn da­mals stell­te ich mir Gott im­mer über mei­nem Kop­fe, in die so­ge­nann­te Ewig­keit und Unend­lich­keit hin­ein­ra­gend vor. Er miss­ver­stand aber die­sen Blick. Er lach­te mei­ner Mut­ter zu und zeig­te ihr, die ganz und gar nicht hin­hör­te, son­dern mir stumm wink­te, ich möge doch end­lich ge­hen, zwei Rin­ge in der De­cke ein­ge­las­sen, wel­che die frü­he­ren Mie­ter der Woh­nung zum Auf­hän­gen von Zim­mer­turn­ge­rä­ten be­nützt hat­ten. Ich ver­beug­te mich vor mei­nen El­tern und ging schla­fen, ich hör­te sie so­fort sehr schnell und lei­se re­den, aber nicht so lei­se, dass ich nicht et­was da­von hät­te auf­fan­gen kön­nen. Das aber woll­te ich um kei­nen Preis. Ich stopf­te mir die Fin­ger in die Ohren und schlief ein. Na­tür­lich lie­ßen die Fin­ger bald nach und mein gan­zer Kör­per lös­te sich in dem (auch an die­sem Abend se­li­gen) Ge­fühl der Mü­dig­keit, des sich Ver­lie­rens, des sich An­ver­trau­ens, des an Gott, den un­end­li­chen und ewi­gen Va­ter Glau­bens, des sich an ih­n und das ewi­ge freu­di­ge Le­ben Da­hin­ge­bens.

Am nächs­ten Abend kehr­te mein Va­ter schon um sechs Uhr heim, er setz­te sich zu mir, sah mir über die Schul­tern in mei­ne Schul­auf­ga­ben, zog dann ein No­tiz­heft her­aus und schrieb mei­ne Auf­ga­be, – (es war dar­stel­len­de Geo­me­trie mit ver­wi­ckel­ten Zeich­nun­gen), in sei­nem Hef­te nach. Es war, als wol­le er noch ein­mal in die Schu­le ge­hen. Das Gym­na­si­um, das ich, als wäre es et­was Selbst­ver­ständ­li­ches, be­such­te, war der große Traum sei­ner Kind­heit ge­we­sen. Mei­ne Mut­ter war sehr froh über sein frü­hes Heim­kom­men. Das Par­füm schweb­te noch um ihn, wie die letz­te Erin­ne­rung an einen Traum. Mei­ne El­tern tran­ken Wein, von de­nen sie mir ei­ni­ge Trop­fen in mein großes Was­ser­glas schüt­te­ten.

Nach der Mahl­zeit, als mei­ne Mut­ter die klei­ne Schwes­ter zur Ruhe ge­bracht hat­te, schlepp­te mein Va­ter ein großes, in blau­es dickes Pack­pa­pier gehüll­tes Pa­ket her­ein. Es ent­hielt Turn­ge­rä­te, eine Schau­kel aus gel­bem glat­ten Holz, ein Reck, zwei Rin­ge aus Ei­sen, mit hel­lem Le­der be­spannt, und die dazu ge­hö­ri­gen Sei­le und ei­ser­nen Schnal­len. Mei­ne Mut­ter schüt­tel­te den Kopf, plötz­lich et­was ernst ge­wor­den. Vi­el­leicht fürch­te­te sie, mein Va­ter wol­le durch die­ses Ge­schenk et­was gut­ma­chen. Aber jetzt schoss ge­ra­de­zu eine fröh­li­che Flam­me in den gold­brau­nen schö­nen Au­gen mei­nes Va­ters auf, als er mei­ner Mut­ter den Rücken strei­chel­te, und auf ih­ren blo­ßen wei­ßen Na­cken hin­flüs­ter­te: – »Lie­bes! Nicht er, son­dern du musst es zu­erst ver­su­chen! Du musst schau­keln!« Wie hät­te sie ihm wi­der­ste­hen kön­nen? Ich und er hat­ten das Turn­ge­rät oben mit Hil­fe der Kü­chen­lei­ter be­fes­tigt. Um es zu er­pro­ben, hat­te sich mein Va­ter an die fri­schen, knar­ren­den Sei­le ge­hängt. Jetzt hob er mei­ne er­rö­ten­de Mut­ter sanft auf die Schau­kel, strich ihr zärt­lich die Haus­schür­ze über den Kni­en zu­recht, und schau­kel­te sie lind hin und her, bis sie ihm, als wäre sie schwind­lig ge­wor­den, mit bei­den Ar­men um den Hals fiel. Jetzt durf­te ich tur­nen. Wel­ches Ent­zücken war es für mich, als ich, vom par­ket­tier­ten Fuß­bo­den mich mit Kraft ab­sto­ßend, zu­erst von der Erde auf­stieg, und dann, durch An­ein­an­der­zie­hen der Hal­te­sei­le die Schau­kel in im­mer sau­sen­de­re Schwün­ge ver­setz­te! – Un­ten sa­ßen die Mei­nen und tran­ken sich zu, mein Va­ter spiel­te mit sei­ner von Rin­gen blit­zen­den Hand in den dicht und streng ge­floch­te­nen Haa­ren mei­ner Mut­ter, die still vor sich hin sah, ich aber flog fast zur De­cke, die Au­gen schlie­ßend, tief at­mend und wie be­rauscht, ih­nen ent­ge­gen, dann nie­der zur Erde, und zu­rück schwang ich in den dunklen küh­len Schlaf­raum.

Mein Va­ter hat­te jetzt ein schö­nes Büro in der Stadt, aber dort sah er uns, mei­ne Mut­ter, mich und mei­ne Schwes­ter (die jetzt schon flei­ßig lief und die eben­so um mei­ne Freund­schaft warb, wie die Tra­ban­ten in der Schu­le), – nicht ger­ne, wenn wir ihn un­an­ge­sagt be­such­ten. Aber ge­ra­de das woll­te mei­ne Mut­ter. Ein­mal kam sie mit uns, ließ uns aber vor der Tür war­ten. Nach­her aber eil­te sie mit bit­te­rem blas­sem Ge­sicht, mich mit der rech­ten, mei­ne Schwes­ter mit der lin­ken Hand hal­tend, die Trep­pe hin­ab und at­me­te schwer, ih­ren ge­stick­ten Schlei­er lüf­tend, als be­drücke er sie. Zwei äl­te­re, sehr kost­bar und doch nicht schön ge­klei­de­te Her­ren, die Zi­gar­ren im Mund, mit di­cken gol­de­nen Uhr­ket­ten und Bril­l­an­ten­na­deln in den auf­fal­len­den Kra­wat­ten, schnauf­ten eben an uns vor­bei die Trep­pe hin­auf. Sie grüß­ten mei­ne Mut­ter, die kaum dank­te und uns so stür­misch her­un­ter­führ­te, dass mei­ne Schwes­ter, die noch nicht ge­nug Be­scheid wuss­te mit ih­ren dün­nen Bein­chen, bei­na­he ge­stürzt wäre. Mei­ne Mut­ter fing sie ge­ra­de noch auf. Sie ließ mei­ne Hand los, und hob die eben zum Wei­nen an­set­zen­de An­nin­ka an ihre Brust.

Wir gin­gen dann auf der Stra­ße schnell wei­ter. Ich hat­te den Ein­druck, dass ein Fens­ter im Büro mei­nes Va­ters jetzt ge­öff­net wur­de, und dass er uns et­was nachrief. Sie hör­te nicht hin und eil­te mit uns heim. »Ver­sprich mir, dass du nie­mals spielst!« rief sie mir atem­los zu, als wir da­heim vor un­se­rem Hau­se an­ge­langt wa­ren. Als wir aber im Kin­der­zim­mer wa­ren, sag­te sie, den Schlei­er von ih­rem Hut ab­rei­ßend: »End­lich! … So, Kin­der, spielt!« Ich hät­te jetzt nach dem Wa­rum fra­gen sol­len. Vi­el­leicht hät­te mir mei­ne Mut­ter et­was von ih­rem Kum­mer mit­ge­teilt. Aber ich woll­te nichts wis­sen. Üb­ri­gens über­sie­del­ten wir bald da­nach in eine et­was grö­ße­re Woh­nung, für die neue Mö­bel be­schafft wer­den muss­ten. Vie­les von der al­ten Ein­rich­tung wur­de ver­schenkt, aber die Turn­ge­rä­te nah­men wir na­tür­lich mit …

5.

Am schwers­ten fiel mir in der Schu­le die Ma­the­ma­tik, Geo­me­trie, Al­ge­bra. Aus Wi­der­spruchs­geist gab ich mir bald die größ­te Mühe ge­ra­de mit die­sen Ge­gen­stän­den. Die ver­wi­ckel­ten Auf­ga­ben in im­mer kür­ze­rer Zeit, auf im­mer we­ni­ger Um­we­gen, im­mer kla­rer zu lö­sen, ›e­le­gan­ter‹, wie es im Schul­jar­gon heißt, das war nur der An­fang. Die schwers­te, wich­tigs­te Schu­le be­stand aber für mich dar­in, die Be­wei­se der Lehr­sät­ze, die Ablei­tun­gen der For­meln selbst zu fin­den. We­der auf den Pro­fes­sor zu war­ten, der sie vor­trug, noch in dem Lehr­buch nach­zu­se­hen, wo alle Be­wei­se sich be­reits ge­druckt vor­fan­den. Die Ka­me­ra­den glaub­ten der Au­to­ri­tät, sie lern­ten aus­wen­dig. Ich woll­te (auch dies ein Grö­ßen­wahn der Ju­gend) selbst mei­ne Au­to­ri­tät sein, ich lern­te in­wen­dig. Un­nüt­ze Zeit­ver­schwen­dung?

Und doch brach­te ich mit Stolz eine hal­be Nacht da­mit zu, die Ablei­tung für den bi­no­mi­schen Lehr­satz in mei­nem Geist, in mei­ner Lo­gik, in mei­ner Kom­bi­na­ti­on zu fin­den. Nicht nur un­nütz, son­dern die­ses – wie vie­le an­de­re Male – ver­geb­lich! Die Won­ne ver­wan­del­te sich in Mü­dig­keit und Gram. End­lich er­kann­te ich, dass mein Grü­beln mich nur ver­wirr­ter ma­che. Ich woll­te aber nicht ver­zwei­feln. Ich konn­te mich nicht ge­schla­gen ge­ben. Ich kam lie­ber ›un­vor­be­rei­tet‹ in die Schu­le, wur­de ge­ra­de an die­sem Tage ge­prüft, und wenn ich mich auch der un­sin­ni­gen Hoff­nung hin­ge­ge­ben hat­te, vor der schwar­zen Schul­ta­fel den Be­weis zu fin­den, so muss­te ich doch vol­ler Be­schä­mung, die Krei­de zer­brö­ckelnd, schwei­gen. Mei­ne Ka­me­ra­den, die bis jetzt mei­nen geis­ti­gen Hoch­mut be­wun­dert hat­ten, statt ihn, wie ich es spä­ter selbst tat, zu be­lä­cheln, flüs­ter­ten mir die Lö­sung zu. Ich war nicht im­stan­de, ih­nen die lan­ge ge­such­te Wahr­heit ab­zu­lau­schen. Ich kam mit ei­ner schlech­ten Note heim, aber an mei­ner Ener­gie zwei­fel­te ich we­ni­ger denn je. Ich er­zähl­te die­se ko­mi­schen Aben­teu­er mei­ner Mut­ter. Sie als frü­he­re Leh­re­rin be­griff so­fort das Un­sin­ni­ge dar­an, sie warn­te mich. Mein Va­ter kam hin­zu, lä­chel­te zer­streut. Er sag­te nichts. Ich glaub­te mich da­mals weit von ihm ent­fernt (seit dem Be­such in sei­nem Büro), aber in Wahr­heit wa­ren wir uns nä­her denn je. Denn auch er hing un­nüt­zen Spe­ku­la­tio­nen nach, die über sei­ne Kraft gin­gen, wenn auch in ganz an­de­rer Wei­se. Ich grü­bel­te über den bi­no­mi­schen Lehr­satz, der längst von großen Ge­nies ge­fun­den war, er grü­bel­te über sei­ne Kom­bi­na­tio­nen, die ihm Mil­lio­nen ver­schaf­fen soll­ten, ein Palais, den Adel, einen Sitz im Ge­mein­de­rat … Er setz­te al­les, was er hat­te, und viel­leicht noch et­was mehr auf eine Kar­te. Für wen? Nicht für uns! Das hat­te ich er­kannt, als ich vor sei­ner Tür ver­ge­bens auf ihn ge­war­tet hat­te.

Er stu­dier­te den Stadt­plan, um zu se­hen, nach wel­cher Rich­tung sich die Stadt aus­brei­ten wür­de. Hier und da in der Pro­vinz kauf­te er un­be­bau­te Grund­stücke, sich schlecht ren­tie­ren­de Zins­häu­ser, ver­las­se­ne Vil­len, Gär­ten und Fel­der auf. Er hielt sich nicht lan­ge mit Über­le­gun­gen auf: »Flott, flink und fe­der­leicht!« wie­der­hol­te er oft. Aber glaub­te er an sein Glück, an sei­nen Stern? Er ver­kauf­te die ›Grün­de‹ wei­ter, oder er ließ sich die Rea­li­tä­ten hoch be­leh­nen, er tausch­te sie ge­gen an­de­re um, oft muss­te er sie aus ei­ner ›schwa­chen Han­d‹ wie­der zu­rück­neh­men.

Aber er er­zähl­te nur von den Ge­win­nen. Te­le­gra­fen­bo­ten ka­men, fürst­li­cher Trink­gel­der ge­wiss, auch nachts, die mür­ri­schen, ab­ge­schab­ten und stren­gen Steu­er­be­am­ten such­ten ihn mor­gens auf, er hat­te sei­nen An­walt. Alte, aber noch gute Häu­ser ließ er nie­der­rei­ßen und mach­te mit Archi­tek­ten oder Grup­pen küh­ne Ver­trä­ge. Zum Bau­en ge­hör­te viel Mut, aber noch mehr Geld. Die Archi­tek­ten stürm­ten un­se­re Woh­nung, mein Va­ter konn­te sich we­der in sei­nem Büro noch bei uns vor ih­nen ret­ten. Hat­te er aber das Geld be­sorgt, dann muss­te er hin­ter ih­nen bei Tag und bei Nacht her sein. Er stand in sei­nem hel­len Man­tel den gan­zen Tag auf dem Bau, trieb die Po­lie­rer und Mau­rer bis zum letz­ten Ta­ge­löh­ner und ›Zie­gel­schup­fer‹ an, und alle wa­ren froh, dass sie für ihn ar­bei­ten konn­ten. Er spar­te nicht, denn spa­ren brin­ge kein Glück sag­te er, Glück aber war die Haupt­sa­che. Kaum wa­ren die Mau­ern et­was aus­ge­trock­net, als die ers­ten Mie­ter ein­zie­hen muss­ten. Dann ka­men die Ter­mi­ne, vier im Jahr, und wir zit­ter­ten alle um die Mie­ten, denn auch un­ter den vie­len neu­en Mie­tern gab es man­che schwa­che Hän­de.

»Wenn die ers­te Jah­res­mie­te bis mor­gen Glo­cken­schlag zwölf nicht da ist, rich­tet mich die Bank zu­grun­de.« Das Wort ver­lor sich dumpf, un­heim­lich in sei­nem Bart. Wie sehr zit­ter­te ich bei die­sem Un­glücks­laut, wie blass wur­de mei­ne Mut­ter, selbst mein ah­nungs­lo­ses zar­tes Schwes­ter­chen ver­kroch sich in eine Ecke mit den Spiel­sa­chen, die sie von mir ge­erbt hat­te. Und doch schi­en er eine ge­wis­se Wol­lust bei die­sem Wor­te zu­grun­de zu emp­fin­den.

Ei­nes Ta­ges sand­te er die gan­ze Fa­mi­lie in die Kir­che. – »Be­tet! Be­tet um Son­nen­schein!« Wie meist, wie bis jetzt noch im­mer hat­ten wir Glück, die Re­gen­zeit hör­te auf und der Bau kam noch vor dem Herbst un­ter Dach und Fach. Ein an­de­res­mal hat­te er mit dem Grund­was­ser nicht ge­rech­net. Die Fun­da­men­te sack­ten nach ei­nem Ge­wit­ter zu­sam­men. Wo war jetzt: Flott, flink und fe­der­leicht? Nur durch ein Wun­der konn­ten wir vor dem ›Zu­grun­de‹ ge­ret­tet wer­den. Und wur­den ge­ret­tet. Auch hier frag­te ich mich nicht nach dem Wa­rum. Ich war sehr froh und alle mit mir. Wa­ren das Ge­bet, der Him­mel, der Hei­land (den ich mir als jun­gen Men­schen, we­nig äl­ter als ich vor­stell­te), die Ret­tung? Ver­dank­ten wir der Hil­fe Got­tes, des All­mäch­ti­gen, das Wun­der? Nein, mei­ne Mut­ter klär­te mich heim­lich auf, die Ret­tung kam vom grü­nen Tisch, vom grü­nen Ra­sen. Mein Va­ter spiel­te, er setz­te auf jun­ge, drei­jäh­ri­ge Pfer­de, er setz­te auf Sieg und auf Platz. Ein­mal nahm er mich sonn­tags heim­lich gleich nach dem Es­sen zum Ren­nen mit, er er­klär­te mir al­les wie sei­nem Freund. Er hat­te aber nicht den Mut, den Aus­gang der Ren­nen ab­zu­war­ten, und viel­leicht zu­zu­se­hen, da der Name ei­nes ›frem­den‹ Pfer­des am To­ta­li­sa­tor hoch­ge­zo­gen wür­de. – »Nie wie­der!« sag­te er beim Fort­ge­hen, halb lus­tig, halb ver­zwei­felt lä­chelnd, als wir vor dem ver­las­se­nen Aus­gang stan­den.

In ei­ner vor Hit­ze knis­tern­den Holz­bu­de zähl­te ein eis­grau­er al­ter Be­am­ter den Er­lös der Ein­tritts­kar­ten. Der Tee auf dem Da­che glänz­te in der pral­len Son­ne, über den ge­mäh­ten Wie­sen flirr­te die Luft. Dann ging mein Va­ter. Man hör­te die Glo­cke klin­geln. Das Her­an­rau­schen der Huf­schlä­ge auf der Erde, das Ru­fen und Klat­schen der Zuschau­er und ihr Ver­stum­men. Plötz­lich dach­te ich an A. v. W. Da be­gann es von neu­em auf der Erde zu trom­meln. Die Pfer­de ka­men zum zwei­ten Male vor­bei. Es war noch nicht ent­schie­den.

Er war schon fern. Sei­ne hohe Ge­stalt hob sich kaum von der strah­len­den wei­ßen stau­bi­gen Land­stra­ße ab, die sich zwi­schen den kurz­ge­schnit­te­nen, weiß be­pu­der­ten He­cken in ge­ra­der Li­nie hin­zog. Ich kehr­te zu dem Sat­tel­platz zu­rück, für den wir die zwei teu­ren Kar­ten ge­löst hat­ten. Mich reiz­te das Ge­win­nen nicht. Ich ver­stand vom Geld noch zu we­nig. Herr­lich fand ich die pracht­vol­len Pfer­de mit den bun­ten Jockeys. Es war ein wol­ken­lo­ser, aber schon et­was mü­der Tag, am Ende des Som­mers. Un­se­re Pfer­de ge­wan­nen. Wa­rum hat­te sich mein Va­ter die­se Freu­de ver­sagt? Er hat­te rich­tig ge­setzt. Er hat­te un­ge­wöhn­li­ches Glück. Er? Wir alle! Wir hat­ten die Sieg-Quo­ten 26 : 1,5 : 1 und zwei­mal we­nigs­tens Platz.

Ich soll­te ihm die Nach­richt in sein Kaf­fee­haus brin­gen. Ich hat­te noch nie­mals eine so rie­si­ge Sum­me in der Hand ge­habt. Atem­los vor Stolz, Freu­de und Auf­re­gung kam ich an, aber er wink­te mir ab, müde und bleich in sei­nem wei­ßen Lei­nen­rock, der nicht in die schmie­ri­ge Um­ge­bung her­ein­pass­te … Ich habe nie­mals ge­wagt, über ihn zu ur­tei­len wie über an­de­re Men­schen.

Ich muss­te die großen Bank­no­ten eine nach der an­de­ren aus der Hand ge­ben. Er war dau­ernd im Ver­lust. Mei­nen Bli­cken wich er aus. Ich hock­te hin­ter ihm, hielt den Atem an und wünsch­te nur ei­nes: Wäre er we­nigs­tens glück­lich ge­we­sen! Ich schwei­ge über un­se­ren Heim­weg. Er muss­te doch je­man­dem Vor­wür­fe ma­chen. Mich mach­te auch dies glück­lich.

Un­ser al­tes Dienst­mäd­chen, der treue Geist, sie, die seit zehn Jah­ren an einen Ka­min­fe­ger ›ver­sag­t‹ war und den­noch mei­ne Mut­ter und uns ›ar­me Kin­der‹, wie sie uns nann­te, nicht ver­las­sen woll­te, fand am nächs­ten Mor­gen die blut­ro­ten Ein­tritts­kar­ten zum Renn­platz in mei­nen Ta­schen. Auf eine hat­te ich mit Ko­pier­stift ein A ge­schrie­ben. Mar­thy zeig­te sie mei­ner Mut­ter, die sie im Kü­chen­herd ver­brann­te.

Mich nahm er seit­dem nie mehr zum Ren­nen mit. Er war nicht mehr der alte. Oft kehr­te er am Vor­mit­tag noch ein­mal zu­rück in un­se­re Woh­nung, mit ganz ver­lo­re­nem lee­ren Blick, to­ten­still, klein ge­wor­den. Um den Tag zum zwei­ten Mal zu be­gin­nen, leg­te er sich zu Bett, aber er stand bald nach­her flott und fe­der­leicht ein zwei­tes­mal auf, den Blick wie­der leb­haft, die Stim­me klang­voll, ein Bild der Ju­gend und Ge­sund­heit wie im­mer.

6.

In ei­nem die­ser schö­nen Som­mer mach­ten wir fast je­den Sonn­tag Aus­flü­ge. Es war mei­ner Mut­ter ge­lun­gen, mei­nen Va­ter da­von ab­zu­hal­ten, uns Kin­der mit ihr aufs Land zu schi­cken, wie er es in den frü­he­ren Jah­ren ge­tan hat­te, um al­lein in der hei­ßen Stadt zu­rück­zu­blei­ben.

Wir fuh­ren ge­wöhn­lich ge­gen 2 Uhr von un­se­rem Bahn­hof ab, des­sen Glas­ve­ran­da mit wil­dem Wein be­wach­sen war, und wo ei­ser­ne Net­ze zwi­schen den Ge­lei­sen ge­spannt wa­ren, um zu ver­hin­dern, dass die Rei­sen­den die­se über­quer­ten. Wenn wir in der klei­nen Sta­ti­on an­ge­kom­men wa­ren, gin­gen wir den zu­erst ge­ra­den, brei­ten und stau­bi­gen, aber bald schma­ler und schat­ti­ger wer­den­den, in Win­dun­gen ver­lau­fen­den Weg zur Ort­schaft. Die Hüh­ner lie­fen über die hol­pe­ri­gen, mit Gras durch­wach­se­nen Pflas­ter­stei­ne der ein­zi­gen Dorf­stra­ße, flat­ter­ten uns über die Füße, ma­ge­re Hun­de gähn­ten, den Kopf zu­rück­beu­gend und mit der lan­gen Zun­ge plötz­lich Flie­gen schnap­pend. Aus ei­ner of­fe­nen Wirt­schafts­tür drang der Ge­ruch von ab­ge­stan­de­nem Bier, auf ho­hen Dün­ger­hau­fen pa­ra­dier­te ein bun­ter Hahn, ein halb­nack­tes Kind sprang mit we­hen­den schmut­zi­gen Hemd­zip­feln aus ei­nem schwar­zen Haus­flur, und rann­te, bis zu den Knö­cheln im Stau­be, ei­ner feu­er­far­be­nen Kat­ze nach, die in wei­ten Sprün­gen ga­lop­pier­te. Bald wa­ren wir an dem mit grü­nem Un­kraut be­deck­ten Dorf­teich vor­bei, wo die bun­ten En­ten trä­ge da­hin­schwam­men, bis­wei­len tau­chend und ihre un­schö­nen Füße nach oben keh­rend, wäh­rend die schnee­wei­ßen glat­ten Gän­se auf den ge­mäh­ten Wie­sen, von ei­nem schläf­ri­gen Jun­gen ge­hü­tet, das von der Hit­ze schon bräun­lich ge­wor­de­ne Gras ab­knab­ber­ten, bis sie, von ei­ner un­ter ih­nen ge­warnt, mit lau­tem Zi­schen und ge­r­eck­ten of­fe­nen Schnä­beln sich uns in den Weg stell­ten. Nach ei­ner klei­nen Stei­gung ka­men wir zu ei­ner ver­las­se­nen Gna­den­ka­pel­le. Aus der Ka­pel­le hauch­te der Ge­ruch der frisch ge­tünch­ten Wän­de, des noch am Mor­gen ver­brann­ten Weih­rauchs und des al­ten wurm­zer­fres­se­nen gold­brau­nen Ge­stühls. Wir stan­den im Schat­ten et­was still. Von den na­hen Lin­den duf­te­te es heiß und zart zu­gleich. Im Wind ra­schel­ten die Pa­pier­blu­men auf dem ver­las­se­nen Al­ta­re und die him­melblaue, mit Sil­ber ge­stick­te Pro­zes­si­ons­fah­ne bausch­te sich in ei­nem Win­kel der Ka­pel­le.

Jetzt nahm uns alle der Wald auf. Mei­ne El­tern la­ger­ten sich mit mei­ner Schwes­ter auf dem al­ten wei­chen schat­ti­gen Platz. Ich er­kun­de­te stun­den­lang für mich al­lein den tie­fen küh­len Wald, kehr­te aber im­mer, von ei­nem In­stinkt ge­führt, zu den Mei­nen zu­rück, die schon un­nö­ti­ger­wei­se in Sor­ge wa­ren. Dann mach­te sich mei­ne Mut­ter von neu­em an ihre Hand­ar­beit, mei­ne Schwes­ter hielt den Garn­knäu­el und wehr­te mit ei­nem Zei­tungs­blatt die Flie­gen und an­de­ren In­sek­ten ab, wel­che die Obstres­te her­an­ge­lockt hat­ten. Ich und mein Va­ter gin­gen dann schwim­men.

Ein­mal ver­fing ich mich beim Schwim­men mit dem lin­ken Fuß in die tief am Grund wur­zeln­den schlei­mi­gen Al­gen.

Wir schwam­men sonst im­mer ne­ben­ein­an­der, mein Va­ter und ich, und zwar zu­erst ge­gen den Strom, dem Mühl­wehr zu. Ich hät­te viel­leicht zu An­fang et­was schnel­ler schwim­men kön­nen als er, ich ließ ihn aber im­mer vor. Er wand­te sich la­chend nach mir um, spritz­te, laut at­mend, ge­röte­ten Ge­sichts, den Bart im Was­ser, mit sei­ner reich be­ring­ten Hand Was­ser nach mir, als wäre ich nicht nass ge­nug ge­wor­den. Nun konn­te ich ihm plötz­lich nicht nach. Ich ru­der­te mit den Ar­men, schlug mit den Bei­nen um mich. Al­les wur­de einen kur­z­en Au­gen­blick lang dun­kel um mich, so heiß stürz­te mir das Blut von der An­stren­gung in die Au­gen. Ich hat­te kei­ne Angst. Ich, in mei­nem Grö­ßen­wahn des Glücks, hielt mich ja für be­son­ders von Gott be­güns­tigt. Ich hät­te ihn jetzt schon noch um Hil­fe an­ru­fen kön­nen, mei­nen Va­ter – auf Er­den. Aber ich dach­te dar­an, dass auch er sich in den Al­gen und See­ro­sens­ten­geln ver­fan­gen kön­ne, und ihn wür­den sie si­cher­lich zu Bo­den zie­hen. Ich sah ihn also vor­ne im fun­keln­den Was­ser im­mer klei­ner wer­den, und end­lich ver­schwand sein Kopf bei der Bie­gung, die der Fluss ein paar hun­dert Me­ter wei­ter auf­wärts mach­te.

War ich im­mer noch so ru­hig? Hat­te ich im­mer noch kei­ne Angst vor dem Un­ter­gang? Blitz­ar­tig schos­sen zwei Ge­dan­ken durch mei­nen Kopf, der eine war der Ge­dan­ke an das Zu­grun­de­ge­hen, das ge­schäft­li­che, das mein Va­ter im­mer in sei­nem Pes­si­mis­mus ge­fürch­tet hat­te und das ich viel­leicht un­mög­lich mach­te, wenn ich selbst un­ter­ging. Denn wie soll­te der all­ge­rech­te Gott mei­nen El­tern zwei Un­glücke auf ein­mal be­sche­ren, ohne dass sie schuld wa­ren?

Der zwei­te Ge­dan­ke war aber ganz an­de­rer Art. Der Be­weis des bi­no­mi­schen Lehr­sat­zes trat vor mei­nen Geist mit ab­so­lu­ter Klar­heit. Ich hat­te das stol­ze Ge­fühl, als hät­te ich die sich lo­gisch ent­wi­ckeln­de For­mel selbst­stän­dig ge­fun­den. Dies war na­tür­lich ein Irr­tum. Aber es er­füll­te mich mit ei­nem kal­ten und doch glü­hen­den Stolz, dass ich in Le­bens­ge­fahr, – ich merk­te end­lich, wie es mich mit al­ler Ge­walt, lang­sam, aber zähe und un­ent­rinn­bar, nie­der­zog zum Grun­de –, dass ich selbst jetzt noch an die Wis­sen­schaft, an das ewi­ge Wa­rum den­ken konn­te.

Jetzt war al­les still, denn, von mei­ner Kraft ver­las­sen, er­lah­mend, fast atem­los, von un­ten ge­packt, schlug ich nicht mehr um mich. Die Was­sero­ber­flä­che brei­te­te sich in der bron­ze­far­be­nen Spät­nach­mit­tags­son­ne glim­mernd vor mei­nen Au­gen aus. In der Stil­le hör­te ich deut­lich das Dröh­nen der Müh­len­rä­der und vom Dorf her das dün­ne Krä­hen ei­nes al­ten Hah­nes und das Läu­ten der Glo­cke in der Ka­pel­le.

Ich dach­te jetzt – an eine To­ten­glo­cke. Aber nur einen flüch­ti­gen Au­gen­blick lang. Dann wall­te in mir mei­ne gan­ze Ju­gend­kraft auf. Ich woll­te nicht ster­ben. Ich wuss­te jetzt, dass ich nicht ster­ben konn­te, be­vor ich mich nicht er­gab. Mein ›Wi­der­spruchs­geist‹ wehr­te sich, es war mein Le­bens­wil­le, der mir neue Kräf­te gab. Und vor al­lem gab er mir die not­wen­di­ge Klar­heit. Ru­fen hat­te kei­nen Sinn. Der klei­ne Fluss­weg am Ufer war sonn­tags ver­las­sen. Nie­mand konn­te mich hö­ren. Vi­el­leicht kehr­te mein Va­ter von ei­ner Ah­nung ge­trie­ben aus ei­ge­nem zu­rück? Noch län­ger war­ten? Vi­el­leicht fehl­te ich ihm, und er ver­miss­te mich? Nein, sich selbst hel­fen, in der Not den bes­ten, den ein­zi­gen Halt an sich fin­den. Kein un­nüt­zes kräf­te­ver­geu­den­des sich Auf­bäu­men mehr. Aber das al­lein war zu we­nig. Was also noch? End­lich durch­zuck­te mich der ret­ten­de Ge­dan­ke. Wes­halb war ich im­mer noch ge­gen die Strö­mung ge­wandt, statt um­ge­kehrt? Ich ließ mich also vor al­lem im Halb­kreis in die Fluss­rich­tung zu­rück­trei­ben. An mei­nem Knö­chel zerr­te es und es schmerz­te ziem­lich stark. Plötz­lich sah ich die klei­ne Grä­fin vor mir mit ih­rem lin­ken Fuß, dem zar­ten Knö­chel, ihre schwel­len­de Hüf­te, ih­ren lan­gen wei­ßen Hals. Es kann so­gar sein, dass ich jetzt schon über mei­ne Angst er­ha­ben war. Ich tat näm­lich das Not­wen­di­ge. Ohne kla­re Über­le­gung, ich ge­ste­he es. Vi­el­leicht aus ani­ma­li­schem In­stinkt, um das nack­te Le­ben zu ret­ten. Über Was­ser war mir nicht zu hel­fen. Ich muss­te un­ter Was­ser an die Wur­zeln ge­hen. Ich tauch­te, nach­dem ich die Lun­ge so weit wie nur mög­lich mit Luft ge­füllt hat­te. Ich ver­such­te die Al­gen mit der Hand zu er­rei­chen, aber ich sah sie ja nicht und sie ent­glit­ten mir. Halb tot tauch­te ich auf.

Die Welt er­schi­en mir viel dunk­ler. Der Him­mel viel nied­ri­ger, wie zu­sam­men­ge­drückt. Al­les muss ster­ben. Das wuss­te ich und es dröhn­te mir in den Ohren. Jetzt fass­te ich mir noch­mals ein Herz. Noch­mals ge­taucht, aber dies­mal mit of­fe­nen Au­gen. Das Was­ser war schön klar, sma­ragd­far­ben, die Luft­bla­sen aus mei­nem Haar rie­sel­ten sil­bern nach oben, nur aus mei­nen Nüs­tern ka­men kei­ne, ich spar­te mit der Luft. Jetzt sah ich die See­ro­sens­ten­gel so klar vor mir, als hät­te ich sie schon. Sie hat­ten mein Knie um­klam­mert. Sie wa­ren aber wei­ter ent­fernt und viel zä­her, als ich dach­te. Ich muss­te mich wie einen Bo­gen zu­sam­men­pres­sen, und das Herz stieß mir schmerz­haft in der Herz­gru­be und in der Keh­le. In den Ohren dröhn­te es, und vor den Au­gen wall­te es pur­purn. Aber ich blieb un­ten, ich hat­te end­lich die Sten­gel ge­fasst mit der rech­ten Hand, mit der lin­ken ru­der­te ich, um nicht ab­ge­trie­ben zu wer­den, so gut als es eben noch ging. Ich riss an den Sten­geln und sie ris­sen an mir. Sie schnit­ten mir ins Fleisch, und es ka­men Wol­ken von Rot von mei­ner Hand her. Die Luft fehl­te mir, fürch­ter­lich gier­te ich nach oben, es dräng­te mich, mei­ne Lun­gen zu fül­len, ein­zuat­men … Aber ich wuss­te, das war der Tod durch Er­trin­ken. Wenn ich mich we­nigs­tens hät­te ge­ra­de stre­cken kön­nen! Aber erst muss­ten die Strän­ge ge­ris­sen sein, und eben be­gan­nen sie zähe zu wei­chen, ich brauch­te nicht mehr so ge­bückt im Was­ser zu blei­ben, ich durf­te und muss­te mich stre­cken. Jetzt kam ich los. Die Hand noch um ein paar un­schein­ba­re schlei­mi­ge Strän­ge ge­klam­mert, tauch­te ich end­lich wie­der auf. Jetzt at­me­te ich mich wie­der hin­ein in die herr­li­che, wun­der­ba­re und himm­li­sche Luft! Und jetzt stieß ich ab von dem ge­fähr­li­chen Ort mit ei­nem ge­wal­ti­gen Schwimm­stoß, auf der Flan­ke lie­gend, den rech­ten Arm mit der im­mer noch blu­ten­den Hand kraft­voll nach vor­ne wer­fend. Jetzt trug mich das Was­ser, wo­hin ich nur woll­te. Den Fluss­lauf hin­ab, die rech­te Wan­ge und das Ohr im Was­ser, zu den Wei­den am rech­ten Ufer. Hier kam ich an Land, hun­dert Me­ter un­ter der Ab­fahrt­stel­le. Atem­los leg­te ich mich auf die gra­si­ge Bö­schung. Mei­nen Na­men hör­te ich von wei­tem ru­fen und ein klei­nes Echo dazu. War aber zu müde, zu ant­wor­ten. Ich sah die Som­mer­luft mit den sil­ber­grü­nen Wei­den­blät­tern spie­len. Von mei­nem Haupt­haar tropf­te es kühl mein Rück­grat ent­lang. Mei­ne Hand blu­te­te noch et­was in das dich­te kur­ze Gras hin­ein, mei­ne Knie nicht mehr. Die Son­ne stand noch hoch. Ich war sehr froh zu le­ben.

7.

Ich hock­te lan­ge noch an der Ufer­bö­schung und lug­te nach mei­nem Va­ter aus. Er glitt end­lich, ohne Schwimm­stö­ße, ohne An­stren­gung, den Fluss­lauf hin­ab, auf dem Rücken lie­gend, sein schö­nes ge­röte­tes Ge­sicht von dem schwim­men­den fä­cher­för­mi­gen Bart um­ge­ben, die Au­gen ge­schlos­sen, dem Him­mel zu­ge­wen­det. Ich rief ihn an, denn er nä­her­te sich der Stel­le, wo sich die flot­tie­ren­den Al­gen (ich nen­ne sie Al­gen, aber es wa­ren auch Sten­gel von See­ro­sen dar­un­ter) be­fan­den. Er schreck­te auf, warf sich her­um auf die Brust und kam mit ei­ni­gen Schwimm­be­we­gun­gen zu mir. Er frag­te mich, wäh­rend er nach un­se­ren Sa­chen Um­schau hielt (sie be­fan­den sich wei­ter fluss­auf­wärts), warum ich ihn so er­schreckt hät­te. Ich woll­te da­mit be­gin­nen, ihm mei­ne blu­ti­gen Hän­de zu zei­gen und ihm mei­nen Kampf um mein Le­ben zu er­zäh­len und hat­te den ers­ten, iro­ni­schen, mich selbst tap­fer ver­spot­ten­den Satz schon auf den Lip­pen, da be­sann ich mich. Er hör­te höchst un­gern vom Tode re­den. Er nann­te ihn nicht oft beim Na­men, son­dern be­zeich­ne­te ihn, wenn er schon da­von spre­chen muss­te, als das na­tür­li­che Le­bens­en­de oder die trau­ri­ge Be­stim­mung von uns arm­se­li­gen Men­schen, nie nann­te er un­serei­nen sterb­lich, im­mer nur ver­gäng­lich, nie war ei­ner tot, stets nur ›von uns ge­gan­ge­ne‹ dort­hin, wo­her man nicht wie­der­kehrt, er war ab­ge­schie­den. Am liebs­ten schwieg er da­von.

Ich er­klär­te ihm mei­nen War­nungs­ruf lie­ber nicht. Ich lieb­te ihn so und war so un­ge­heu­er ge­wiss auch sei­ner Lie­be, dass mir sein Mit­leid wehe ge­tan hät­te. – »Un­ge­schickt wie im­mer!« mein­te er, als er die blu­ti­gen Schram­men an mei­ner Hand und un­ter mei­nem Knie sah, er woll­te aber ei­gent­lich nicht wis­sen, wie ich dazu ge­kom­men war.

Jetzt wa­ren wir an der Stel­le an­ge­kom­men, wo un­se­re Klei­der la­gen. Sie wa­ren tro­cken und warm und dienten uns wun­der­bar als Kopf­kis­sen. Hier, schon am Ran­de des schwel­lend fri­schen grü­nen Laub­wal­des, dem noch nichts von der Dür­re des Hoch­som­mers an­zu­se­hen war, und wo noch we­ni­ger ein fal­len­des, ra­scheln­des Bu­chen­blatt das Kom­men des Herbs­tes ver­kün­de­te, leg­ten wir uns hin. Hier wa­ren wir noch im Be­reich der Son­ne, und un­se­re Kör­per trock­ne­ten schnell.

Ein leich­ter Wind hat­te sich bald von neu­em er­ho­ben. Ich merk­te es am Ra­scheln der Bü­sche, am Wie­gen der Zwei­ge, so­gar an dem deut­li­cher wer­den­den Rau­schen des Flus­ses, dass der Wind auf uns zu­kam. Er strich dann über sei­ne und dann über mei­ne Brust hin­weg, die sich fast im glei­chen Tak­te ho­ben und senk­ten. An sei­nem Bart und auf sei­ner Brust glit­zer­ten die letz­ten Trop­fen. Un­ter sei­ner Ach­sel sah ich das Blut pul­sie­ren, denn die bläu­li­chen Adern schim­mer­ten durch sei­ne wei­che, mäd­chen­haf­te Haut, die der der jun­gen Grä­fin äh­nel­te. Er hat­te jetzt sei­ne Arme un­ter den Kopf ge­legt, lä­chel­te in sei­nen Bart, wie in Er­war­tung ei­ner schö­nen Stun­de, summ­te ver­lo­ren vor sich hin, bald be­gann er ein­zu­schla­fen, sein Ge­sicht drück­te aber eine Er­war­tung, eine freu­di­ge Span­nung aus, die sich all­mäh­lich lös­te in den tie­fen Atem­zü­gen des Schlum­mers, in sei­nem wie ver­klär­ten, fro­hen, aber et­was fremd wer­den­den Ge­sicht. Der Wind kam dann von Os­ten in fri­schen Stö­ßen, als wol­le er ihn we­cken. Ich knie­te jetzt ne­ben ihm und deck­te ihn mit mei­nen Sa­chen zu. Er schlug die Au­gen auf, sag­te aber nichts mehr. Im Schat­ten war es kühl. Sein Arm war wie aus Ala­bas­ter, kein Haar, kei­ne Fal­te. Mich durch­lief es kalt. Ich stand auf, und lief auf dem Ufer­weg da­hin, die Arme an die Brust ge­presst wie im Turn­saal und er­wärm­te mich schnell. Mei­ne Wun­den hat­ten sich längst ge­schlos­sen, al­les heil­te bei mir sehr schnell.

Wäh­rend ich lief, ohne mich um das schmerz­haf­te und doch süße, auf­re­gen­de, sinn­li­che Ge­fühl zu küm­mern, das die Stei­ne auf dem Trei­del­weg auf mei­nen nack­ten Soh­len ver­ur­sach­ten, fiel mir ein, dass ich kei­ne Impf­nar­ben an sei­nem lin­ken Arm ge­se­hen hat­te. Ich nahm mir vor, ihn da­nach zu fra­gen. Denn es gab in un­se­rer Stadt im­mer wie­der ver­ein­zel­te Fäl­le von Po­cken, die man bei uns ›schwar­ze Blat­tern‹ nann­te. Man sah auch ab und zu auf der Stra­ße Men­schen, son­der­ba­rer­wei­se meist Män­ner, de­ren Ge­sicht die tie­fen Nar­ben tru­gen, als ob der Teu­fel Erb­sen ge­dro­schen hät­te, nach Mar­thys Wor­ten, die ihr mei­ne Mut­ter stets ver­wies. Ich er­in­ner­te mich an einen blat­ter­nar­bi­gen, kahl­köp­fi­gen, scheuß­lich häss­li­chen Bett­ler, der an un­se­rer Ecke stand und blind war. An ihm hat­te ich er­fah­ren, was Mit­leid heißt. Erst vor ei­nem Jahr ist er ver­schwun­den, und er hat mir so­gar ge­fehlt.

Ich kam jetzt schnell zu mei­nem Va­ter zu­rück. Er war er­wacht, auf sei­ner jetzt bläu­li­chen, leicht mar­mo­rier­ten Haut sah ich die Wir­kung der Käl­te, und er war wohl ih­ret­we­gen er­wacht. Ich frag­te ihn, warum er nicht ge­impft sei. Er sag­te ir­gend­was, aber er wich mir aus, – wie so oft auf ihm un­an­ge­neh­me Fra­gen, denn Imp­fen hing mit Krank­heit und Krank­heit mit Tod zu­sam­men. Und Tod an ei­nem so herr­li­chen Tag? Ich, der eben ei­ner Le­bens­ge­fahr ent­ron­nen war und jetzt ahn­te, was ster­ben be­deu­ten könn­te, nahm sei­ne bei­den Hän­de in die mei­nen. Er mach­te sich aber er­staunt los. Ich bat ihn, stot­ternd in mei­ner Un­ge­duld, er möge sich imp­fen las­sen, uns zu­lie­be! Mir zu­lie­be! Er schüt­tel­te den Kopf, sein Ge­sicht war eher fins­ter. Ich sag­te also nichts mehr. Er stand auf, reck­te sich mit sei­ner ho­hen, breit­schult­ri­gen Ge­stalt, sein Hemd hin- und her­schwin­gend im Win­de, um die Feuch­tig­keit dar­aus zu ent­fer­nen, die sein nas­ses Haar zu­rück­ge­las­sen hat­te. Sei­ne gol­de­nen Man­schet­ten­knöp­fe leuch­te­ten hell. Er schi­en mir jetzt viel grö­ßer als ich, denn er sah über mich hin­weg nach et­was Wei­tem. Aber die Vor­freu­de, die er vor ei­ner hal­b­en Stun­de ge­habt hat­te, war nicht mehr an ihm zu se­hen, nur das Zer­streu­te, das Ver­lo­re­ne …

Mei­ne Mut­ter rief uns mit ih­rer et­was schar­fen, hei­se­ren Stim­me, mei­ne Schwes­ter tat mit ih­rem hel­len, piep­sen­den Stimm­chen das glei­che. In den Ge­bü­schen reg­ten sich über­all Vö­gel, sie ka­men von den Bu­chen, Bir­ken und Wei­den, flat­ter­ten, sich ja­gend und flie­hend und er­rei­chend, im Zick­zack­flug über den klei­nen Fluss, um am jen­sei­ti­gen Ufer in den Rü­ben- und Kar­tof­fel­fel­dern zu ver­schwin­den. Ich nahm mei­ne Sa­chen und zog mich in ei­nem von jun­gen Laub­ge­wäch­sen dicht um­ge­be­nen, dunklen, moo­si­gen Fleck­chen mit­ten im Wal­de wie­der an. Auf dem Bo­den wuch­sen Erd­bee­ren. Ich pflück­te wel­che und brach­te sie den Mei­nen. Es war schon et­was spät im Jahr für Erd­bee­ren, sie wa­ren dun­kel­rot und zu­sam­men­ge­schnurrt. Nie­mand woll­te sie neh­men. Sie duf­te­ten aber noch sehr süß. Sie hat­ten ja den gan­zen lan­gen Som­mer in sich. Alle rie­ten mir, sie fort­zu­wer­fen. Aus Wi­der­spruchs­geist aß ich sie, sie schmeck­ten wie ro­tes Lösch­pa­pier.

Mei­ne Schwes­ter bat mei­nen Va­ter, er sol­le ihr Holz­löf­fel­chen für die Pup­pen­stu­be schnit­zen. Mei­ne Mut­ter sah auf ihre gol­de­ne, mit klei­nen Bril­lan­ten ein­ge­fass­te Uhr. Aber nicht sie, er dräng­te zum Auf­bruch.

Wir hat­ten viel Zeit, die Tage wa­ren noch sehr lang. Im Wes­ten stand eine halb­mond­för­mi­ge oder kahn­för­mi­ge Wol­ke bläu­lich und un­be­weg­lich über den vom Wind be­weg­ten Bäu­men. Eine Wol­ke, und doch war ihr Blau so zart, so himm­lisch, so vol­ler freu­di­ger Zu­ver­sicht. Aber es war kein Stück Him­mel. Die Son­ne sank all­mäh­lich hin­ter das Ge­wölk, die Bäu­me nah­men eine kal­te stein­grü­ne Fär­bung an, der zwie­bel­för­mi­ge schwar­ze Kirch­turm des großen Dor­fes, dem wir nun alle vier zu­streb­ten, lag wie zum Grei­fen nahe vor uns, wie stets vor ei­nem Re­gen. Hier wa­ren die Fel­der schon ab­ge­ern­tet, die Stop­peln stan­den rostrot und matt glim­mernd in dem von klei­nen Fur­chen zer­ris­se­nen Bo­den, in wel­chen sich Heuschre­cken und Ei­dech­sen ver­steck­ten und aus de­nen bald, mit sin­ken­dem Abend, die Gril­len zu schril­len be­gan­nen. Wir aßen im Gast­hof des Or­tes un­ter den Nuss­bäu­men vor ei­nem großen Bau­ern­ho­fe al­ler­hand Ge­koch­tes, Ge­ba­cke­nes und Ge­bra­te­nes auf di­cken Stein­gut­tel­lern. Ich hat­te nicht acht, was es war. Ich hat­te ge­wal­ti­gen Hun­ger, es wühl­te ge­ra­de­zu in mir. Ich kann­te das Ge­fühl noch nicht …