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Lovelace Cottage muss unbedingt renoviert werden. Aber seit dem Tod seiner Frau fühlt sich Joel allein gelassen. Sein kleiner Sohn, der Job - da bleibt kaum Zeit sich noch um Haus und Garten zu kümmern. Obwohl der Vater ihrer Töchter sie damals verließ, ist Laurel glücklich. Doch plötzlich ist er wieder da und mit ihm die Gefühle, die sie all die Jahre unterdrückt hat. Und dann kommt Kezzie aus London nach Heartsease. Mit ihrem Enthusiasmus und ihren Ideen bringt sie neuen Schwung in den Ort das Leben ihrer neuen Nachbarn. Doch auch Kezzie hat etwas, wovor sie davonläuft. Aber es ist ja Sommer, eine Zeit des Neubeginns, und vielleicht ist es genau das, was die drei am meisten brauchen - Sommer in ihren Herzen. "Julia schreibt wunderschön, detail- und farbenreich - man muss es einfach lieben. Ein weiteres Buch, was man einfach nicht aus der Hand legen kann. Ich habe jede einzelne Seite genossen. Eine wirklich zauberhafte und charmante Geschichte." (Leserstimme auf blogspot)
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Seitenzahl: 597
Zum Buch:
Lovelace Cottage muss renoviert werden. Aber seit dem Tod seiner Frau fühlt Joel sich verloren. Alles scheint ihm über den Kopf zu wachsen.
Obwohl der Vater ihrer Töchter sie damals im Stich ließ, ist Lauren glücklich. Bis Troy plötzlich wieder da ist und mit ihm die Gefühle, die sie so lange unterdrückt hat.
Und dann kommt Kezzie aus London nach Heartsease. Voller Ideen und Enthusiasmus wirbelt sie in das Leben der beiden. Doch auch Kezzie läuft vor etwas davon. Aber es ist ja Sommer, eine Zeit des Neuanfangs. Und vielleicht ist es genau das, was die drei am meisten brauchen – Sommer in ihren Herzen.
Zur Autorin:
Julia Williams wuchs mit sieben Geschwistern im Norden Londons auf und studierte in Liverpool. Nach einigen Berufsjahren im Verlagswesen widmet sie sich inzwischen ganz dem Schreiben. Während des Studiums lernte sie ihren Mann David kennen. Mit ihm und den vier gemeinsamen Kindern lebt sie mittlerweile in Surrey.
Lieferbare Titel:
Tatsächlich Weihnachten
Julia Williams
Der vergessene Garten
Roman
Aus dem Englischen von
Sonja Sajlo-Lucich
MIRA® TASCHENBUCH
MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann
Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuch
in der HarperCollins Germany GmbH
Titel der englischen Originalausgabe:
The Summer Season
Copyright © 2011 by Julia Williams
erschienen bei: Avon Books, New York
Published by arrangement with
Harper Collins Publishers, New York
Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln
Umschlaggestaltung: büro pecher, Köln
Redaktion: Christiane Branscheid
Titelabbildung: Shutterstock
ISBN eBook 978-3-95649-545-8
www.harpercollins.de
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eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.
In Erinnerung an
Alfred Thomas Clark 1890-1918
Ernest Ophir Clark 1896-1916
und
Jemima Clark 1863-1944.
Wie unglaublich tapfer sie gewesen sein muss.
EDWARD
Edward träumt von Lily. Im Garten kommt sie auf ihn zu, einen kleinen Strauß Stiefmütterchen in der Hand. Es ist Sommer, der Strohhut, den sie trägt, um sich vor der Sonne zu schützen, ist ihr in den Nacken gerutscht.
„Hier, für dich“, sagt sie und hält ihm das Sträußchen hin. „Damit du glücklich bist.“ Sie lacht, und die laue Sommerbrise spielt mit ihren dunklen Locken, die ihr lang über den Rücken fließen. Mit der Lily in seinen Träumen ist es immer Sommer.
Er streckt die Hand aus, will nach ihr greifen, sie fühlen. Will die Gewissheit haben, dass sie noch einmal Wirklichkeit ist, dass sie ihn liebt. Kaum streift er ihre Hand, verwehen die Blütenblätter im Wind, ihre Berührung auf seinem Arm ist nicht viel mehr als eine sanfte Brise. Er will nach ihr greifen, doch sie entzieht sich ihm, kehrt zurück an den Ort, an dem er sie nicht erreichen kann.
Edward träumt von Lily. Als er aufwacht, ist der Ofen erkaltet, er ist alt und einsam, und Tränen laufen ihm übers Gesicht. Eines Tages, schon bald, wird er wieder mit ihr vereint sein, dessen ist er gewiss. Warum kann es nicht schon heute sein?
EDWARD UND LILY 1890-1892
IN DER LENZZEIT KOMMT DIE LIEBE, FLIEGEN HERZ UND PULSE SCHNELLER …
Alfred Lord Tennyson, „Locksley Hall“
Edward, du hast gar nichts davon erwähnt, dass du kommst!“ Seine Mutter erhob sich, um ihn zu begrüßen, als Edward in den Garten trat. Wie so oft saß sie hier mit einigen Gästen zusammen. Nein, er hatte sein Kommen nicht angekündigt, und das Stück Weg vom Bahnhof bis hierher war er gelaufen, um sie zu überraschen. Jetzt ärgerte er sich. Er wollte sie doch für sich allein haben und nicht mit all diesen Fremden teilen müssen, die vor der Sommerhitze geschützt in der Rosenlaube auf der hinteren Veranda saßen und in aller Ruhe an ihren Teetassen nippten.
„Ich wollte dich überraschen“, erwiderte er. Ihre Wiedersehensfreude war ansteckend. Er konnte einfach nicht lange sauer sein. Er war hier, wieder da, wo er hingehörte, zurück in Lovelace Cottage. Das Anwesen war größer, als der Name vermuten ließ. Auf einem guten Morgen Land gelegen, schmiegte es sich in die Hügel von Sussex Down an der Grenze zu Surrey. Die Luft schien ihm hier immer frischer, klarer, weitab von den übel riechenden Dünsten Londons, wo er studierte.
„Komm und setz dich.“ Sie hakte sich bei ihm unter. „Du musst erst etwas essen, ich bestehe darauf.“
„Sie müssen entschuldigen, dass ich einfach so unangekündigt hereinplatze, meine Damen.“ Mit einer leichten Verbeugung lüftete Edward seinen Hut. An einige der Damen in der Gesellschaft seiner Mutter erinnerte er sich vage, alles ehrenwerte Mitglieder der Gemeinde, aber die eine oder andere war ihm doch unbekannt. Schließlich war er für Monate fort gewesen.
„Mrs. Clark hast du noch nicht kennengelernt, nicht wahr?“ Seine Mutter übernahm die Vorstellung. „Sie ist die Frau unseres neuen Vikars. Und wir alle sind so froh, sie bei uns zu haben. Die Blumen in der Kirche waren nie prächtiger.“
„Oh, das ist allein Lilys Verdienst, nicht meiner“, sagte Mrs. Clark. „Meine Tochter hat ein Händchen für Blumen. Schon immer, seit sie ein kleines Mädchen war. Sie hat wahre Wunder im Garten des Pfarrhauses vollbracht.“
„Dann hat sie ja etwas mit Edward gemein“, verkündete seine Mutter. „Sie wissen doch, dass er Botanik studiert, nicht wahr?“
Botanik – ein Fach, für das sein verstorbener und wenig betrauerter Vater nur ein verächtliches Schnauben übriggehabt hatte. John Handford hatte sich gewünscht, der Sohn möge in seine Fußstapfen treten und den Familienbetrieb übernehmen, als Importeur exotischer Waren aus den Kolonien. Ein Geschäft, das Edwards Vater genügend Vermögen eingebracht hatte, um dieses wunderbare Haus mit seiner parkähnlichen Anlage zu erstehen. Doch genau wie er auch Edwards Mutter nur beiläufig akzeptiert hatte, so wusste er nie zu schätzen, was er an diesem Anwesen hatte. Das Haus und der Garten waren für ihn lediglich Zeichen seines Erfolgs gewesen, Besitztümer, mit denen man sich brüsten konnte – genau wie Edwards Mutter. Die Ruhe und der Frieden hier auf Lovelace Cottage hatten ihm nichts bedeutet, nur der Trubel und die Hektik der großen Stadt reizten ihn.
Als er vor fünf Jahren gestorben war, hatte Edwards Vater dem Sohn das Haus vermacht und den Betrieb je zur Hälfte Edward und seiner Mutter. Edward hatte seinen Anteil seinem Cousin Francis verkauft, der besser für die Leitung eines solchen Unternehmens geeignet war als er. Seine Mutter hatte ihre Anteile behalten, um sich ein regelmäßiges Einkommen zu sichern, von dem sie gut leben konnte, während sie das Haus in Edwards Abwesenheit führte. So waren sie beide glücklich mit der Situation.
„Da wir gerade von Lily sprechen …“, meldete sich Mrs. Clark. „Wo ist sie eigentlich? Es wird Zeit, dass wir uns verabschieden.“
„Ich hatte bemerkt, dass sie sich bei unserer Unterhaltung zu langweilen begann“, sagte Edwards Mutter, „daher habe ich sie hinunter in den Hain geschickt.“
Der „Hain“ war ein Teil des Anwesens, den Edward schon länger verändern wollte, aber bisher hatten sowohl Zeit als auch Mittel gefehlt, um diese Aufgabe anzugehen. Im Frühjahr wuchs hier ein blauer Teppich von Glockenblumen, doch die Bäume waren alt und knorrig und warfen Edwards Meinung nach viel zu viel Schatten auf das Haus. Er plante, sie zurückzuschneiden und einige sogar zu fällen, um mehr Licht und Luft auf das Grundstück zu lassen und einen Formgarten anzulegen. Nach dem Ende seines Studiums hoffte er, Gärten für den Adel zu entwerfen und anzulegen. Und anfangen würde er hier.
„Ich hole sie“, erbot sich Edward, froh, dem Kreis der geschwätzigen Damen für eine Weile entkommen zu können. Die Verandastufen führten auf einen saftig grünen Rasen hinunter, auf dem es für gute siebzig Meter weiter hügelabwärts ging, bis dort unten auf der linken Seite die Bäume standen. Da hier jedoch keine Menschenseele zu sehen war, ging er weiter zwischen den Bäumen hindurch bis zu einer kleinen Lichtung. In deren Mitte, vom Sonnenlicht gebadet, entdeckte er ein zierliches dunkelhaariges Mädchen. Sie trug ein weißes Musselin-Kleid und betrachtete konzentriert die Blumen, die sie auf dem Schoß hielt. Langes braunes Haar fiel ihr in Locken über den Rücken, der Strohhut war in den Nacken gerutscht, große Grasflecken prangten auf dem weißen Kleid, und ihre Hände sahen recht schmutzig aus.
Der erste Eindruck, der sich Edward aufdrängte, war der eines kleinen und zweifelsohne verwöhnten Mädchens. Sofort bereute er seinen Eifer, sie holen zu gehen. Dann hob sie den Kopf und sah zu ihm hin, und Edwards vorschnelles Urteil verpuffte sofort. Erschrocken riss sie ihre grünen Augen auf, der perfekt herzförmig geschwungene Mund formte ein lautloses „Oh“, und ihre schmalen Hände flogen zu diesem Mund, als sie vor Verlegenheit hübsch errötete. Nein, das war kein Kind, sondern ein junges Mädchen an der Grenze zur Frau. Eine solch strahlende Schönheit hatte er nie zuvor gesehen. Dass sie sich dessen offensichtlich überhaupt nicht bewusst war, machte sie noch bezaubernder.
„Hallo“, grüßte sie jetzt, nahm die Margeriten vom Schoß und richtete sich auf. Auch als sie stand, war sie noch immer klein und grazil, aber ihre Figur war weiblich. Er schluckte schwer. „Sind Sie Edward?“
„Ja. Und Sie müssen Lily sein.“ Noch immer konnte er nicht fassen, wie sehr er sich mit seiner ersten Einschätzung geirrt hatte. „Woher wissen Sie …?“
„Oh, Ihre Mutter redet ständig von Ihnen“, sagte Lily. „Edward dies und Edward das. Woher kennen Sie meinen Namen?“
„Ihre Mutter hat mich ausgeschickt, um Sie zu holen“, erklärte er.
„Oh.“ Lily schnitt eine Grimasse. „Ich habe mich hier so wohlgefühlt. Sicherlich wird Papa mich zur Rede stellen, sobald wir zu Hause sind, und mich dafür schelten, dass ich mich so wenig damenhaft verhalten habe.“
Zerknirscht sah sie an sich herab auf ihr beflecktes Kleid. Eine lose Strähne fiel ihr ins Gesicht, abwesend steckte sie sie sich hinters Ohr zurück, erinnerte Edward damit erneut daran, dass er sie zuerst für ein Kind gehalten hatte.
„Werden Sie oft deswegen gescholten?“, fragte er lachend. Da war etwas so Lebendiges und erfrischend Natürliches an ihr, es war unmöglich, nicht von ihr bezaubert zu sein.
„Ständig“, erwiderte sie bedrückt. „Ich weiß nicht, wie es passiert ist, aber ich war so begeistert, die vielen wunderschönen Blumen und Pflanzen hier zu entdecken, da habe ich gar nicht bemerkt, wie schmutzig ich mein Kleid gemacht habe. Wussten Sie, dass hier in Ihrem Wald wilde Stiefmütterchen wachsen? Es scheint mir doch eine solche Schande, dass sie nicht gesehen werden. Wäre es mein Anwesen, dann würde ich die düsteren alten Eichen abholzen und hier einen richtigen Garten anlegen, damit man die hübschen Stiefmütterchen sehen kann.“
„Aha, das würden Sie also tun, ja?“ Edward schwankte zwischen Ärger und Faszination. Sie war wirklich das anmutigste Wesen, das ihm je begegnet war, aber es störte ihn ein wenig, dass sie ihm sagte, was er mit seinem Garten zu tun habe.
„Oje.“ Sie sah untröstlich drein. „Das hätte ich wohl nicht sagen sollen, nicht wahr? Verzeihen Sie, es geht mich nichts an, was Sie mit Ihrem Garten machen. Es ist nur … Gärten sind so etwas wie eine Leidenschaft von mir.“
„Tatsächlich?“ Edward lächelte. „Das trifft sich gut, denn auch meine Leidenschaft gehört den Gärten.“
„Habe ich es richtig gezeichnet?“ Gespannt sah Lily zu Edward auf, der jetzt herüberkam, um sich anzusehen, welche Fortschritte sie mit ihrer Arbeit gemacht hatte. Vor sechs Monaten hatte Edward das Universitätsstudium abgeschlossen, und seither hatte er sich daran gewöhnt, dass Lily ihn bei seinen Expeditionen durch die Landschaft von Sussex als Assistentin begleitete, um Fauna und Flora zu dokumentieren. Ihre Mutter, so hatte Lily ihm gestanden, habe es längst aufgegeben, sie im Hause behalten und ihr das Benehmen einer Dame beibringen zu wollen. Auch wenn es eine eher unkonventionelle Wahl war, so gehörte das Wissen über die Pflanzenwelt doch mit zu Lilys Ausbildung, und so war es ein Leichtes gewesen, Mrs. Clark zu überzeugen, Lily die Erlaubnis zu erteilen, mit Edward auf diese Exkursionen zu gehen – solange Sarah, das Hausmädchen, die beiden als Anstandsdame auf den Ausflügen begleitete. Allerdings war Sarah recht korpulent und träge, und so kam es nicht selten vor, dass das Hausmädchen nur bis zum ersten Feld mitkam, um es sich dort an einem geeigneten Plätzchen gemütlich zu machen und die Rückkehr der beiden abzuwarten. Die Folge war, dass Edward und Lily immer mehr Zeit allein miteinander verbrachten, und Edward war keineswegs traurig darum.
„Es ist perfekt“, antwortete Edward jetzt auf ihre Frage, nachdem er die gezeichnete Klatschmohnblüte genau studiert hatte. Lilys Talent beeindruckte ihn immer wieder. Nicht nur hatte sie die Gabe, Pflanzen zu hegen und zu pflegen, sie besaß auch die außergewöhnliche Fähigkeit, diese biologisch genau abzuzeichnen. Edward gedachte, die gesammelten Materialien in einem kleinen Buch über die Fauna von Sussex zusammenzustellen. Natürlich erhoffte er sich davon Einnahmen, vor allem aber wollte er sich einen Ruf als seriöser Botaniker aufbauen. Sein wahrer Ehrgeiz lag jedoch darin, in ferne Länder zu reisen, um exotische Pflanzen mit zurück in seine Heimat zu bringen, die die Welt bisher noch nicht gesehen hatte.
„Da hör sich das einer an!“, hatte Lily ihn geneckt, als er ihr seinen geheimsten Wunsch anvertraut hatte. „Hältst du dich etwa für einen großen Entdecker, so wie Doktor Livingstone?“
„Nein“, erwiderte er ernst. Lilys Lachen machte ihm immer wieder klar, wie ernst und seriös er manchmal sein konnte. „Ich möchte einfach nur die Wunder sehen, die es dort draußen in der Welt gibt. Stell dir doch nur vor, wie es sein muss, durch die Wälder des Amazonas zu wandern … oder durch die Wüsten des Sudan zu ziehen. Die Welt da draußen ist so riesengroß, ich will hinausziehen und sie erkunden. Ich will eine neue Pflanzenart, etwas bisher nie Gekanntes entdecken. Und dann bringe ich sie zu dir zurück.“
„So so.“ Ihr unbeschwertes Lachen ließ ihn immer an silberne Glöckchen denken. Wenn er mit Lily zusammen war, dann fühlte er sich froh und heiter, es war, als würde überall dort, wo sie war, die Sonne scheinen. „Und was, wenn ich deine übel riechende Pflanze gar nicht haben will? Sie könnte ja giftig sein, wer weiß das schon? Und überhaupt … warum nach dem Unbekannten und Exotischen suchen, wenn doch hier unsere eigenen wunderschönen Blumen wachsen?“
„Ich könnte dich ja mitnehmen“, sagte er. „Ja, ich nehme dich als meine Assistentin mit.“
„Schändlicher, ruchloser Mann“, tadelte sie ihn mit einem koketten Lächeln. „Da wird Sarah mich wohl als meine Anstandsdame begleiten müssen. Aber ich glaube nicht, dass sie auch nur einen Fuß in den Dschungel setzt.“
Ihre hübschen Augen tanzten funkelnd, ihre ungezähmten Locken hatten sich längst aus dem Zopfband gelöst, das sie doch eigentlich züchtig zusammenhalten sollte. Edward umfasste sanft ihr Kinn, hob es an und drückte einen sachten Kuss auf ihre Lippen.
„Du brauchst nicht als Assistentin mitzukommen“, murmelte er. „Du könntest auch als meine Frau mit mir reisen.“
Eine Ehefrau. Er würde eine Ehefrau haben. Das wäre schon etwas, in der Tat. Edward drehte und wendete das Wort in seinem Kopf. In wenigen kurzen Monaten würde Lily endlich ihm gehören, und nichts würde sie beide mehr trennen können. In der Zwischenzeit hatte er mit dem lang anvisierten Gartenprojekt begonnen, sehr zur Erheiterung seiner Mutter. Er ging dieses Projekt mit neuem Enthusiasmus und viel Schwung an, immerhin sollte es sein Hochzeitsgeschenk für Lily werden.
„Sieh nur!“ Jeden Tag entdeckte er etwas Neues, während er den Kopf über seine Pläne gebeugt hielt und Bücher über altertümliche Gartenanlagen studierte. Die Idee eines Knotengartens im elisabethanischen Stil ließ ihn nicht mehr los. Ein Knotengarten als Symbol seiner Liebe zu Lily.
„Was soll ich mir denn ansehen, Edward?“, erwiderte seine Mutter dann schmunzelnd. Sie freute sich für ihn, das wusste er. Sie hatte Lily sehr gern, und ihrem Sohn wünschte sie alles Glück der Erde.
„Sieh dir das hier an“, sagte Edward und zeigte auf die Bilder im Compleat Gardeners Practice, einem alten Folianten aus dem sechzehnten Jahrhundert, von denen er sich inspirieren ließ, um das Gesehene dann weiterzuentwickeln und zu verbessern. „Wie sie die Pflanzen miteinander verwoben haben, um geometrische Muster zu schaffen. Ich könnte etwas Ähnliches tun. Das wird ein Knotengarten werden, wie die Welt ihn bisher noch nicht gesehen hat. Lily wird ihn lieben.“
„Ich bin sicher, dass sie das tun wird“, antwortete seine Mutter lächelnd. „Wenn ein solches Genie dahintersteckt, wie sollte sie da nicht?“
Edward ging nicht auf den neckenden Ton seiner Mutter ein, konzentrierte sich lieber ganz auf seine Pläne. Er würde eine Begrenzung bauen, dort, wo die alten Eichen standen, und den Knotengarten dann zentral anlegen, mit Kiespfaden, die ihn umschlossen. Von den Rändern der Wege bis zur Mauer würde er Blumenbeete anlegen, die er mit Stauden bepflanzte. Für den Knotengarten selbst würde er Buchs verwenden, durchflochten mit Efeu und Rosmarin würde er ihn in Form zweier ineinander verschlungener Herzen setzen, in deren Mitte die Buchstaben E und L stehen sollten. Dazwischen würde er die Beetpflanzen nutzen, die im Moment in Mode waren: Stiefmütterchen, die hier ja bereits wild wuchsen, Vergissmeinnicht und Gloxinien. Nur die vier Ecken würde er freilassen und sie erst bei der Geburt ihrer Kinder mit Blumen füllen. Erst durch sie würde ihr Glück vollkommen sein. Unablässig arbeitete Edward an seinem Garten, voller Liebe zum Detail und Hoffnung für die Zukunft. Es sollte ein Garten werden, auf den er immer stolz sein konnte.
„Wohin bringst du mich?“ Lily platzte schier vor Neugier, als Edward sie mit verbundenen Augen über den Rasen führte.
„Schh, es ist eine Überraschung.“ In den letzten Monaten hatte er sich solche Mühe gegeben, sein Geheimnis vor Lily zu wahren, hatte behauptet, die Bäume am Ende des Gartens seien zu morsch, dass es gefährlich sei, dorthin zu gehen, nur um Lily von dem Garten fernzuhalten. Er hoffte, dass sie den Garten so sehr lieben würde, wie er es tat, schließlich hatte er sein Herzblut in dieses Projekt gegeben, und er war überzeugt, dass es sein bisheriges bestes Werk war, vielleicht sogar das beste, das er je erschaffen würde.
„Ich mag keine Überraschungen“, beklagte sie sich. „Bitte, lass mich wenigstens einen kurzen Blick riskieren.“
„Nein.“ Edward blieb hart. „Je eher du aufhörst, dich zu sträuben, desto eher wirst du es auch sehen.“
Er nahm sie bei der Hand. „Vorsicht, Stufe“, warnte er, als er sie in den Garten führte. Er stieß das schmiedeeiserne Törchen auf, das er extra hatte anfertigen lassen. „Jetzt darfst du es dir ansehen.“ Er hatte ihr mit dem Schal, mit dem sie sonst immer ihren Sommerhut auf dem Kopf festband, die Augen verbunden. Jetzt löste er den Knoten und ließ die Binde fallen.
„Oh Edward!“ Voller Entzücken klatschte Lily in die Hände, als sie das Ergebnis seiner monatelangen Arbeit vor sich sah. Ein wunderschöner Garten, mit Liebe und Hoffnung geschaffen. Ein Knotengarten aus Herzen, bepflanzt mit Rosmarin, Efeu, Vergissmeinnicht und Gloxinien, begrenzt durch die wilden Stiefmütterchen, die dem Städtchen seinen Namen gegeben hatten.
„Gefällt es dir?“
„Gefallen? Ich liebe diesen Garten.“ Mit ausgebreiteten Armen tanzte sie über die Kieswege. „Hast du das etwa für mich gemacht?“
„Natürlich“, bestätigte er überzeugt. „Ein Knotengarten der Liebe, gewidmet meiner einzig wahren Liebe.“
„Oh Edward, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“ Lily kam zu ihm zurück, schlang die Arme um seinen Hals.
„Sag einfach, dass du mich liebst“, entgegnete Edward bewegt.
„Immer!“, gab Lily zurück. „Auf immer und ewig.“
Er hielt Lily fest an sich gedrückt und drückte einen Kuss auf ihr Haar. Dann führte er sie weiter durch den Garten bis zum gegenüberliegenden Ende. Dort stand die schmiedeeiserne Bank, die er extra hatte anfertigen lassen. In ihre Lehne waren kunstvoll ihrer beider Initialen eingraviert. Nie war er glücklicher und zufriedener gewesen als in diesem Moment. Das hier würde immer ihr ganz eigener spezieller Ort sein. Ein Garten als Symbol ihres gemeinsamen Lebens, eines Lebens, das, mit Lily an seiner Seite, nicht schöner sein könnte.
ERSTER TEIL
EIN COTTAGE FÜR EINEN SOMMER
1. KAPITEL
Kommt schon, Mädels, Zeit zum Aufstehen. Heute ist ein wichtiger Tag.“ Leise betrat Lauren das Zimmer ihrer Zwillingstöchter. Zwei zerzauste Schöpfe drehten sich in den Betten, sahen sich verschlafen um. Zwei funkelnagelneue Schuluniformen hingen über den Fußenden der identischen Betten aus Pinienholz, und langsam krochen ihre Töchter auch unter den mit pinker Bettwäsche bezogenen Bettdecken hervor. Lauren zog die geblümten Vorhänge an den Fenstern auf und sah hinaus in den kleinen Garten, der zu dem gemieteten Cottage gehörte. Nur ein kleiner Flecken Grün, aber die Lobelien, Geranien, die Fleißigen Lieschen und das Steinkraut ergossen sich noch immer mit opulenter Blütenpracht über den Rand der Tontöpfe. Es wirkte heimelig und adrett, genau so, wie Lauren es mochte. Die warme Morgensonne verhieß schon jetzt einen heißen Tag, auch wenn es bereits September war.
Lauren drehte sich zu ihren Töchtern um. Ihr Herz zog sich vor lauter Liebe zusammen. Schon waren sie vier Jahre alt, und heute war für die Zwillinge ihr allererster Tag in der Vorschule. Wo war nur die Zeit geblieben? Ihr schien es wie gestern, dass die beiden auf die Welt gekommen waren, drei Wochen zu früh, an einem brütend heißen Augusttag. Hätten sie das Licht der Welt am ursprünglich berechneten Termin erblickt, dann bliebe Lauren jetzt noch ein volles Jahr mit ihnen. So jedoch würden die beiden wohl die Jüngsten in ihrer Klasse sein.
„Los, Mädels, beeilt euch.“ Lauren setzte sich zu Izzie aufs Bett, schob die Hand unter die Bettdecke und kitzelte ihre Tochter. Izzie war die etwas Langsamere der beiden Schwestern (mit ihrem Asthma war sie es, die Lauren meist einige Sorgen bereitete), aber jetzt lockte ihr Gekicher auch Immie unter der Decke hervor. Die Kleine kam herübergerannt und warf sich auf das Bett, um den Spaß nicht zu verpassen, und so tobten die drei eine Weile lachend zusammen, bevor Lauren sich räusperte und gespielt streng meinte: „Zeit für die Schule.“
Bis sie den beiden beim Anziehen geholfen hatte und sie schließlich alle unten in der gemütlichen Bauernküche mit den bunten Kaffeebechern am Pinienholzbrett mit Haken und dem großen Holztisch angekommen waren, kam auch Joel mit Sam zur Hintertür herein – ausnahmsweise sogar einmal pünktlich.
„Heute ist der große Tag, nicht wahr, Mädels?“, meinte er, als Izzie und Immie ihm ihre neuen Schuluniformen vorführten. Sie sahen so goldig aus in den grauen Trägerröcken (eine Nummer zu groß, damit sie noch hineinwachsen konnten), den weißen Blusen und grünen Strickjacken. Die blütenweißen Strümpfe waren bis unter die Knie hochgezogen, die schwarzen Lackschuhe – Mary Janes – auf Hochglanz poliert. Das hellblonde Haar der beiden hatte Lauren zu identischen Pferdeschwänzen zusammengebunden, obwohl ihr klar war, dass diese sich noch vor Ende des Tages längst aufgelöst haben würden.
Schüchtern lächelten die Mädchen Joel an, der jetzt Sam in den Hochstuhl setzte und dabei die neuen grünen Schulranzen gebührend bewunderte, die die Mädchen ihm stolz präsentierten.
„Es macht dir doch nichts aus, ein paar Fotos von uns dreien zu schießen, oder?“, bat Lauren. „Das wird ein schönes Andenken für später.“
„Natürlich, kein Problem.“ Und schon holte Joel die Kamera hervor und drückte mehrere Male den Auslöser. „Und? Freut ihr euch schon, Mädels? Aufgeregt?“
„Ja“, kam es von beiden gleichzeitig als Antwort.
„Das kann man wohl sagen“, fügte Lauren auch noch an. „Ich glaube, sie haben die ganze Nacht kein Auge zugetan.“
„Hoppla.“ Joel schnitt eine Grimasse, als er auf seine Armbanduhr sah. „Schon so spät? Da muss ich mich jetzt aber wirklich sputen.“
„Oh ja, sicher.“ Erst jetzt bemerkte Lauren seinen korrekten dunklen Anzug, und still schalt sie sich. Sie hatte vergessen, was für ein Tag heute war. „Viel Glück. Hoffentlich wird es nicht zu schlimm.“ Zögernd legte sie ihm die Hand auf den Arm. Sie war nicht sicher, wie er die tröstende Geste aufnehmen würde. Nach Claires Tod hatte die Trauer sie beide zusammengebracht, manchmal zu eng für Laurens Geschmack. Dann fühlte es sich einfach zu intensiv an, daher achtete sie in letzter Zeit ein wenig mehr auf Abstand.
Joel lächelte ihr gezwungen zu, ein grüblerischer, trauriger Ausdruck stand in seinen Augen. „Aber es muss erledigt werden.“ Er küsste Sam auf die Wange, winkte dann den Mädchen zu. „Einen ganz tollen Tag wünsche ich euch.“
Der arme Joel. Fünfunddreißig war viel zu jung, um schon Witwer zu werden. Lauren wusste, wie schwer es für ihn war, mit Sam allein zu sein. Deshalb sagte sie auch nichts, wenn er es, wie so oft, als selbstverständlich hinnahm, dass sie da war. Lauren hatte das Gefühl, dass sie es Claire schuldete, sich um Joel zu kümmern, er konnte wirklich jede Hilfe und Unterstützung gebrauchen. Und die würde sie ihm geben, selbst wenn er es ihr manchmal nicht leicht machte. Sie merkte, wie die Trauer um Claire auch in ihr wieder aufstieg. Schon ein Jahr war vergangen, und noch immer erwartete ein Teil von ihr manchmal, dass Claire mit Sam auf dem Arm zur Tür hereinkam, so wie sie es vor ihrem völlig unerwarteten, schockierenden Tod getan hatte.
Lauren schickte die Zwillinge zum Zähneputzen, während sie den Frühstückstisch abräumte. Sie stellte die Prinzessinnen-Teller der Mädchen zusammen mit den geblümten Tassen und den Schüsselchen (ein Geschenk von ihrer Mum, sie selbst hätte sich das Geschirr niemals leisten können) in die Geschirrspülmaschine. Sie liebte ihre Küche, hatte sogar noch umgebaut, um mehr Platz zu schaffen, damit ein Esstisch hineingestellt werden konnte. Vollgestopft mit allem möglichen Krimskrams, war die Küche urgemütlich. Die Spielzeuge der Kinder – eine Magnettafel auf einer Staffelei, ein Bobbycar und ein kleiner Tisch mit Kinderstühlen aus Plastik – wetteiferten um Platz mit dem Fichtenholztisch, der Waschmaschine und der großen Kühl- und Gefrierkombination. Zwar gab es nicht so viel Arbeitsfläche, wie Lauren sich gewünscht hätte, und auf der, die es gab, stapelten sich Laurens schwere Kochbücher, aber die Küche war definitiv ihr Lieblingsraum in diesem Haus, der Mittelpunkt und das Herz ihres Zuhauses.
Lauren hob Sam aus dem Hochstuhl und setzte ihn in den Buggy, der hier immer für ihn stand. Es war albern, aber wahrscheinlich war sie nervöser als die Mädchen. Die beiden gingen ja schon fast ein ganzes Jahr in die Kinderkrippe des Städtchens. Dennoch … richtige Schule. Natürlich würde es vorerst nur halbtags sein, schließlich waren sie die Jüngsten. Aber bevor sie noch wusste, wie ihr geschah, würden die beiden den ganzen Tag von zu Hause weg sein, dann würden die Nachmittage mit ihnen wegfallen. Wäre da nicht Sam, auf den sie aufpasste, würden ihre Tage lang und einsam werden. Genau wie ihre Nächte …
Melancholie drohte sie zu überwältigen, als Lauren den kleinen Pfad durch den Vorgarten auf den weißen Lattenzaun mit dem kleinen Törchen zulief. Die Zwillinge hielten sich an den Seiten des Buggys fest und plapperten aufgeregt über den großen Tag, der ihnen bevorstand, malten sich bereits voller Vorfreude aus, was sie alles erleben würden. Nervös schienen sie überhaupt nicht zu sein, im Gegenteil. Nein, es war Lauren, die mit diesem Gefühl von Verlust zu kämpfen hatte, mit der Gewissheit, dass von heute an nichts mehr so sein würde wie früher. Sie schob den Buggy die Straße hinunter und winkte ihrer Nachbarin Eileen zu, die mit ihrem Hund spazieren ging, dann bog sie nach rechts um die Ecke auf die Hauptstraße, die den Hügel hinunter bis ins Zentrum von Heartsease führte. Dort stand die Schule, in der für die Mädchen heute der Ernst des Lebens begann.
Die Septembersonne strahlte warm vom Himmel herab. Es würde einer von diesen trägen goldenen Spätsommertagen werden, die man ausnutzen musste, bevor der Herbst Einzug hielt. Die ersten Anzeichen waren bereits zu erahnen. Das Laub der Bäume begann sich zu verfärben, die Kastanien reiften, und der Wind trieb die ersten gefallenen Blätter vor sich her über den Bürgersteig. Tage wie dieser erinnerten sie an die erste Zeit, nachdem Troy sie verlassen hatte, und seither brachten sie die bittersüßen Erinnerungen immer wieder zurück. Kaum hatte Lauren damals den Schock, dass sie Mutter wurde, verwunden gehabt, war der nächste, noch größere Schock gefolgt. Sie würde ihre Kinder allein aufziehen müssen. Und jetzt, während sie ihre wunderschönen Töchter zum ersten Mal zur Schule brachte, wünschte sie sich mehr denn je, es hätte nicht so sein müssen.
Mit schwerem Herzen glitt Joel hinters Steuer und lenkte seinen Wagen den Hügel hinauf, vorbei an seinem Haus und aus Heartsease heraus. Er fuhr durch die Downs in die Nachbarstadt, nach Chiverton. Die Landstraße wand sich unter hohen alten Bäumen dahin, die sich langsam mit ihrem Herbstkleid schmückten. Er liebte die Landschaft hier, einer der vielen Gründe, weshalb er dem Vorschlag seiner Mutter gerne zugestimmt hatte, ihr Lovelace Cottage abzukaufen, als sie es erbte. Selbst Claire war der Meinung gewesen, dass, wenn man auf einem der vielen Hügelkämme stand und nach Sussex hinuntersah, der Blick einfach fantastisch war. Dabei hatte sie London eigentlich nicht verlassen wollen, um dann „mitten in der Pampa“ zu leben, wie sie es immer genannt hatte.
Claire. Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Heute vor genau einem Jahr. War es wirklich erst ein Jahr her? Vor einem Jahr und einem Tag war er glücklich und zufrieden gewesen. Erfüllt, reich. Er hatte alles gehabt, was er sich je für sein Leben gewünscht hatte, alles, was er je im Leben gebraucht hätte. Damals war er sich dessen überhaupt nicht bewusst gewesen, hatte es nicht zu schätzen gewusst, ja sogar manchmal nicht gewollt. Erst nachdem er Claire verloren hatte und die Welt um ihn herum eingestürzt war, hatte er zu spät erkannt, welches Glück er in Händen gehalten hatte.
Der Tag heute würde schwierig und anstrengend werden. Joel hatte zugesagt, Claires Eltern zum Friedhof auf der anderen Seite von Chiverton zu begleiten. Anschließend wollten sie zusammen etwas essen gehen. Er war nicht sicher, ob er diesen traurigen Tag mit ihnen durchstehen konnte. Nicht, dass Marion und Colin unsympathisch oder nicht hilfsbereit wären, im Gegenteil. Obwohl sie über eine Stunde Fahrt weit entfernt lebten, waren sie immer sofort bereit, wenn er Hilfe mit Sam brauchte. In der schweren Zeit am Anfang hatten sie ihm so viel Kraft gegeben, hatten ihn unterstützt, wo sie nur konnten, obwohl sie doch selbst auch trauerten. Nein, es lag nicht an Marion und Colin, dass der Tag anstrengend werden würde, sondern an Joels Schuldgefühl. Was er getan hatte … und wie er Claire im Stich gelassen hatte.
Jeden einzelnen Tag des letzten Jahres hatte er sich in Gedanken bei ihr entschuldigt. Und heute würde er Freesien auf ihr Grab legen. Es waren ihre Lieblingsblumen, für die er ein kleines Vermögen ausgegeben hatte, und wieder würde er sich bei ihr entschuldigen. Aber es würde nicht reichen. Niemals.
Joel blinzelte Tränen fort, als er beim Friedhof ankam. Heute war ein sonniger, warmer Septembertag, ganz anders als am Tag von Claires Beerdigung. Damals war es ein trüber und verregneter Herbsttag gewesen. Er hatte das Gefühl gehabt, noch nie einen düstereren erlebt zu haben. Die Kirche war voll gewesen, so viele Menschen hatten ihm ihr Beileid und Mitgefühl bekundet. Er jedoch war kaum in der Lage gewesen, sich für das entgegengebrachte Mitgefühl zu bedanken, hatte reagiert wie ein Roboter, war wie betäubt gewesen. Inzwischen wusste er, dass er unter Schock gestanden hatte. Selbst heute, ein Jahr später, erschütterte ihn Claires jäher Tod noch immer. Wie konnte ein Mensch, der so heiter gewesen war und so voller Lebensfreude gesteckt hatte, an einem Tag noch hier sein und am nächsten schon für immer verschwunden? Bis zu seinem letzten Atemzug würde er sich diese Frage stellen und vergeblich versuchen, einen Sinn darin zu finden.
Joel war froh, dass er früher bei Claires Grab ankam als ihre Eltern, so konnte er eine Weile allein stille Zwiesprache mit ihr halten. Er ging zu ihrem Grab, und erneut konnte er nicht begreifen, dass es tatsächlich ihr Name sein sollte, der da in den Stein eingraviert stand.
CLAIRE HARRIET LYLE 1975-2010
Geliebte Ehefrau, Mutter und Tochter
Viel zu früh wurdest Du uns genommen
Das alles schien ihm so surreal, er konnte sich auch nicht vorstellen, dass er je darüber hinwegkommen würde. Claire sollte jetzt bei ihm sein, sollte miterleben, wie Sam die ersten Schritte tat, die ersten Worte sprach, sollte Joel dabei helfen, das Haus und die Gärten zu restaurieren, so wie sie es gemeinsam geplant hatten. Sie sollte nicht hier liegen, metertief in der Erde in den Hügeln von Sussex. Der Schmerz fuhr wie ein Messer mitten durch sein Herz, so scharf, dass ihm die Luft wegblieb. Claire war nicht mehr da, und jetzt hatte es keinen Sinn, sich noch zu entschuldigen.
Kezzie saß inmitten von halb gepackten Kartons in ihrem kleinen Wohnzimmer und weinte sich die Augen aus dem Kopf. Sie hatte das Gefühl, als säße sie schon seit Ewigkeiten heulend hier, seit dem Moment, in dem sie die Entscheidung getroffen hatte, dass es Zeit war, weiterzuziehen. Es war nur wenige Wochen her, im Hochsommer, dass sie voller Aufregung mit dem Packen begonnen hatte, um ihr kleines Apartment in Finsbury Park aufzugeben und zu Richard zu ziehen. Den Landschaftsgärtnerkurs hatte sie abgeschlossen, hatte ihre Kündigung als Webdesigner akzeptiert. Sie hatte diesen Job gehasst. Es hatte ein völlig neues Leben vor ihnen gelegen. Sie wollte das Design der Gärten übernehmen, Richard die Gebäude, und zusammen würden sie Chelsea und Hampton Court im Sturm erobern. Nichts davon würde jetzt noch passieren. Der letzte Monat war der schrecklichste, schmerzhafteste und lächerlichste ihres ganzen Lebens gewesen.
Ob sie Richard noch einmal anrufen sollte? Kezzie ließ sich auf die Fersen zurücksinken und sah sich in dem Chaos um, das in ihrem Wohnzimmer herrschte. Sie war ernsthaft versucht. Fast eine Woche war seit diesem unmöglich peinlichen Gespräch vergangen, und noch immer klammerte sie sich an die Hoffnung, dass er es irgendwie über sich bringen und ihr für das, was sie getan hatte, vergeben könnte. Unwillkürlich zuckte sie zusammen, als sein Gesicht wieder vor ihrem geistigen Auge auftauchte und sie die kalte Verachtung sah, die bei ihrem letzten Treffen in seinem Blick gelegen hatte. „Du hast mich enttäuscht, Kezzie. Ich kann dir nicht mehr vertrauen.“ Die Szene lief immer und immer wieder in ihrem Kopf ab, wie in einer Endlosschleife, egal, wie sehr sie sich auch bemühte, sie zu vergessen. Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, begann es wieder von vorn. Die mahnende Erinnerung an das, was sie getan und was sie verloren hatte.
Aber all ihre vergeblichen Anrufe und unbeantworteten Nachrichten ließen sie allmählich unsicher werden. Selbst Flick, die liebste und verständnisvollste Freundin der Welt, hatte ihr bereits sanft, aber bestimmt mitgeteilt, dass es unter ihrer Würde war, ihn anzubetteln, sie zurückzunehmen.
„Lass ihm Zeit, Kez“, hatte sie gesagt. „Wenn du so weitermachst, verlierst du ihn auf jeden Fall.“
Natürlich hatte Flick recht, das war Kezzie auch klar. Aber die Versuchung, ihm spätabends nach einem Glas Rotwein eine E-Mail zu schreiben oder am Telefon seine Stimme zu hören, war immer wieder zu stark gewesen, als dass sie ihr hätte widerstehen können. Beim letzten Mal allerdings wäre sie vor Scham am liebsten im Boden versunken. „Kezzie, meine Eltern sind zu Besuch bei mir. Bitte, mach jetzt keine Szene.“ Sie hatte sofort die Verbindung unterbrochen. Und in diesem Moment auch endlich erkannt, dass sie sich nur immer tiefer reinritt. Sie brauchte einen Tapetenwechsel, musste weg aus London, damit gar nicht erst die Chance bestand, Richard zufällig zu begegnen, damit sie nicht an jeder Straßenecke Dinge sah, die sie unweigerlich an ihn erinnerten.
Und an diesem Punkt war Tante Jo auf den Plan getreten. Unangemeldet war sie auf der Durchreise durch London bei Kezzie vorbeigeschneit. Ein Blick auf ihre geliebte Nichte, und Jo hatte entschieden verkündet, dass Kezzie dringend ein Schlupfloch brauchte. „Und wie das Schicksal es gerade so will, habe ich den perfekten Ort für dich, Liebes. Ich kann dir mein Haus anbieten.“
„Wie meinst du das?“, hatte Kezzie verwirrt nachgefragt.
„Na ja, ich werde das ganze Jahr mit Mickey“ – das war ihr aktueller Lover – „auf Weltreise gehen. Du erinnerst dich doch noch an ihn, oder? Wir wollen uns selbst finden, und vielleicht heiraten wir ja sogar in Thailand.“ Sie kicherte aufgeregt. „Du kannst in meinem Cottage bleiben, solange du willst. Falls nötig, das ganze Jahr.“
„Wirklich?“ Kezzie schluckte die Tränen hinunter. Das klang besser als jede Lösung, die ihr bisher eingefallen war. Sie musste aus London raus, weg von dem ganzen Chaos, das sie angerichtet hatte und das zu diesem schrecklichen Ende ihrer Beziehung geführt hatte. Sie brauchte Zeit und Abstand, um sich wieder zu sammeln und einen klaren Kopf zu bekommen. Hierzubleiben und im Elend zu versinken, tat ihr gewiss nicht gut. Richard würde nicht zu ihr zurückkommen, und wenn sie sich vor Sehnsucht nach ihm verzehrte, zog sie den Prozess nur unnötig in die Länge.
Und deshalb saß sie jetzt hier und hatte ihre Habseligkeiten in Kisten und Kartons verstaut. Jedes einzelne kleine Ding erinnerte sie an die letzten beiden wunderbaren Jahre mit Richard, angefangen von der gerahmten Urkunde, die bestätigte, dass sie den Landschaftsgärtnerkurs, für den sie sich auf Richards Vorschlag hin eingeschrieben hatte, erfolgreich beendet hatte, bis hin zu dem Foto, das sie beide auf der Wanderung durch den Lake District zu Beginn des Jahres zeigte, wo er sie gebeten hatte, zu ihm zu ziehen. Dann waren da die Gartenhandschuhe, die er ihr zu Weihnachten geschenkt hatte, und die silbernen Ohrringe, die ein Geburtstagsgeschenk von ihm gewesen waren. In London würde sie ständig an Richard denken müssen. Die Stadt zu verlassen war die einzige Chance, die sie hatte, wenn sie je über ihn hinwegkommen wollte.
Sie nahm das Telefon und wählte Richards Nummer. Das war das letzte Mal – das wirklich allerletzte Mal, dass sie das tun würde.
Der Anrufbeantworter sprang an. „Hi, Richard hier. Im Moment bin ich nicht zu Hause, aber hinterlassen Sie Namen und Nachricht, und ich rufe Sie so bald wie möglich zurück.“
Sie legte auf, wählte die Nummer erneut, nur um seine Stimme zu hören. Sie konnte einfach nicht anders. Irgendwann wurde ihr schließlich klar, dass sie sich damit keinen Gefallen tat. Es wurde höchste Zeit, dass sie mit diesem Unsinn aufhörte und den nächsten Schritt tat.
Sie holte tief Luft und ignorierte das verräterische Zittern in ihrer Stimme. „Hi, Richard, Kezzie hier. Ich verlasse jetzt die Stadt, du wirst also nichts mehr von mir hören.“
Sie bebte wie Espenlaub, als sie das Telefon ablegte, Tränen strömten ihr über die Wangen. Es war vollbracht. Kezzie sah sich in dem chaotischen Zimmer um, dann begann sie, die Kartons vernünftig umzupacken. Es gab keine andere Option. Der Sommer war vorbei, der Herbst hatte Einzug gehalten.
2. KAPITEL
Es war eine völlig andere Geräuschkulisse.
Kezzie kam zu dem Schluss, dass das der größte Unterschied war, wenn man auf dem Land lebte. Es war hier keineswegs totenstill, so wie sie sich das eigentlich vorgestellt hatte. Gestern Abend zum Beispiel hatten die Vögel in der Abenddämmerung einen Höllenlärm in der Hecke veranstaltet, und als dann das letzte Licht geschwunden war, hatte sie das Fiepen der Fledermäuse hören können. Heute war sie zu dem Tschilp-Konzert der Vögel im Morgengrauen aufgewacht. Auch wenn es schon September war, war es trotzdem ein strahlend heller Morgen gewesen. Aus dem herbstlich trüben London herauszukommen und den pinken Sonnenaufgang hier zu beobachten, hatte ihre Laune definitiv schon mal ein ganzes Stück gehoben.
Es hatte sie einen ganzen Tag gekostet, ihre Sachen zusammenzupacken, in den gemieteten Transporter zu laden und damit zu Jos Cottage in dem hübschen Städtchen Heartsease an der Grenze zwischen Surrey und Sussex zu fahren und sich einzurichten. Schon bei ihren früheren Besuchen hatte sie sich in die Gegend hier verliebt. Natürlich hätte sie Flick und die anderen bitten können, ihr zu helfen, doch das hatte ihr der Stolz verboten. Klar wusste Flick von ihr, dass sie und Richard sich getrennt hatten, aber den wahren Grund hatte sie ihr nicht genannt. Sie brachte es nicht über sich, nicht einmal gegenüber der besten Freundin, zuzugeben, was passiert war. Zum Teil stammte das Bedürfnis nach Flucht auch daher, dass sie sich ihr Leben noch einmal ganz genau ansehen musste. Alkohol, Drogen … das Gefühl, immer am Rand des Abgrunds zu stehen. Bis sie Richard getroffen hatte, war das alles gewesen, was sie gewollt hatte. Außerdem hatte sie es genossen, ihn zu schockieren, ihn, der so seriös und überkorrekt war. Doch seit ihrer Trennung war sie sich nicht mehr so sicher, was ihren Lebensstil anbelangte. Inzwischen fragte sie sich, ob es wirklich so gut war, immer spontan, immer auf dem Sprung zu sein. Früher einmal hatte es Spaß gemacht, aber inzwischen … Leider gehörten auch Flick und ihre anderen Freunde mit zu diesem Leben. Vielleicht würde sie ja hier Ruhe und Muße haben, um herauszufinden, wer sie wirklich war, und dann könnte sie ihr Leben neu planen. Vielleicht.
Aber immer schön einen Schritt nach dem anderen. Gestern Abend, erst kurz bevor sie ins Bett gefallen war, war Kezzie eingefallen, dass sie weder Tee noch Milch mitgebracht hatte. Und Tante Jo, so lieb und fürsorglich sie auch war, hatte den Kühlschrank vor der großen Reise geleert und nicht daran gedacht, ihn für die Nichte wieder zu füllen. Angesichts der Tatsache, dass Jo nur mit einem Rucksack und dem Nötigsten zu ihrer Selbstfindungsreise aufgebrochen war, war das wahrscheinlich nicht weiter verwunderlich.
Kezzie streckte sich genüsslich in dem großen Bett ihrer Tante. Jo hatte sich von einem Beduinenzelt inspirieren lassen. Dafür hatte sie einen Rahmen unter die Decke gehängt, von dem aus Vorhänge um das Bett herum hinabfielen. Kezzie hatte das Gefühl, aus einem Kokon zu schlüpfen, auf jeden Fall war dieses Bett das perfekte Versteck. Sie zog ihren Morgenmantel über und tappte nach unten. Um ins Bad zu kommen, musste sie erst die Küche durchqueren. Selbst an einem warmen Tag wie heute war es hier kühl und wenig einladend, mit den Steinfliesen und der Tür aus Holzplanken, die nicht ganz bis auf den Boden reichten. Im Winter würde es so richtig ungemütlich und zugig werden. Das Bad war der einzige Raum, den Tante Jo noch nicht modernisiert hatte, und die Dusche erwies sich als mehr als unzuverlässig. Sie spuckte abwechselnd kochend heißes und eiskaltes Wasser aus. Kezzie beeilte sich mit Duschen und Anziehen, dann verließ sie das Cottage. Auf der engen Straße begegnete sie einer Frau mittleren Alters, die mit ihrem Border Collie Gassi ging.
„Entschuldigung, könnten Sie mir vielleicht sagen, wo ich Tee und Milch kaufen kann?“, sprach sie die Frau an.
„Am Ende der Straße rechts und dann weiter bergab. An der Kreuzung der Madans Avenue und der High Street, keine fünf Minuten von hier. Oder wenn Sie mehr Zeit haben, dann gehen Sie bis zum Ende der High Street und biegen nach rechts, und dann sehen Sie schon unseren kleinen Supermarkt. Bei Macey’s müssten Sie eigentlich alles finden, was Sie brauchen.“
„Vielen Dank.“
„Sie sind bestimmt Jos Nichte“, sagte die Frau. „Ich heiße Eileen Jones und wohne direkt gegenüber.“
„Oh, hi, ich bin Kezzie Andrews. Nett, Sie kennenzulernen.“ Damit ging sie weiter, folgte der gewundenen, von mächtigen Eichen und hohen Birken gesäumten Straße hügelabwärts durch das hübsche Städtchen. Genau wie Eileen beschrieben hatte, stand sie nach nur fünf Minuten am Ende der Straße vor „Alis Kaufhaus“, wie das Schild hochtrabend verkündete. Allerdings handelte es sich eher um einen Tante-Emma-Laden. Nichtsdestotrotz, hier gab es Tee – wenn auch keine große Auswahl – und Milch.
„Sie müssen Jos Nichte sein“, meinte der Mann hinter dem Tresen, vermutlich Ali. „Nett, Sie kennenzulernen.“
„Ja, bin ich“, erwiderte Kezzie. „Äh … gleichfalls.“
Auf dem Rückweg schüttelte sie vor sich hin lächelnd den Kopf. Sie war noch keine vierundzwanzig Stunden in diesem Städtchen, aber schon hatte sie mehr Leute begrüßt als jemals in ihrer Nachbarschaft in London.
Nach einer belebenden Tasse Tee beschloss Kezzie, zu einem Spaziergang durch die Downs aufzubrechen. Von ihren früheren Besuchen hier erinnerte sie sich an eine wunderbare Wanderung mit Jo, aber das war schon ewig her. Ein langer Spaziergang würde ihr auf jeden Fall helfen, einen klaren Kopf zu bekommen. Danach würde sie sich an die Pflichten machen – auspacken und sich überlegen, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte. Eine Weile konnte sie gut von ihrer Abfindung leben, aber sie wusste schon jetzt, dass sie vor Langeweile eingehen würde, wenn sie nicht irgendetwas Nützliches zu tun fand, und zwar bald. Auch wenn ihr die Arbeit nicht gefiel … sie hatte noch genügend Kontakte in der Branche, dass sie ein paar freiberufliche Webdesign-Aufträge annehmen konnte, wenn das mit dem Landschaftsbau nicht auf Anhieb etwas wurde.
Vom Cottage aus ging sie nach rechts, den Hügel weiter hinauf, bis die Straße sich gabelte. Vor ihr lag ein Bauernhof, und der Weg zu ihrer Linken führte wohl wieder ins Städtchen zurück. Also hielt sie sich weiterhin rechts und hoffte, dass sie damit die richtige Richtung einschlug. Ungefähr fünf Minuten war Kezzie den von Bäumen gesäumten Weg entlanggegangen, als sie auf eine hohe Mauer aus rotem Backstein traf. Durch die mächtigen gelb und rot leuchtenden Laubkronen schimmerte sanft das Sonnenlicht und ließ die Farben strahlen. Sie fragte sich vage, was hinter dieser Mauer liegen mochte, und folgte dem Weg schließlich daran entlang, bis er um die Ecke herum auf die Hauptstraße führte. Jetzt sah sie die alte Eiche. Ihre Wurzeln waren am Fuß der Mauer bereits durch die Steine gebrochen und hier hing auch ein Ast tief, sodass sich Kezzie daran hochziehen und über die Mauer lugen konnte.
„Wow!“, entfuhr es ihr perplex. Sie war davon ausgegangen, dass sich dahinter ein einfacher Garten verbarg, aber was sie hier sah, überwältigte sie. Es war ein versunkener Garten. Auf der ihr gegenüberliegenden Seite führten steinerne Stufen von einem schmiedeeisernen Tor hinab zu dem Geviert in die Mitte, das von schmalen Kieswegen umgeben war. Ganz in Kezzies Nähe, an der Mauer, stand eine rostige alte Bank. Irgendwann einmal musste dieser Garten liebevoll gehegt und gepflegt worden sein. Obwohl Efeu, Rosmarin und Buchsbaum jetzt über die Wege wuchsen, konnte man noch immer erkennen, dass sie einst ein Muster gebildet hatten. Allerdings war durch das hoch stehende Unkraut unmöglich zu erkennen, um welches Muster genau es sich handelte. Vorsichtig kletterte Kezzie wieder auf den Boden. Was für ein wunderbarer Ort – ein vergessener Garten. Sie stieg weiter den Hügel aufwärts, entlang der Mauer. Als sie am Ende um die nächste Ecke bog, bot sich ihr der Anblick eines großen, aber verfallenen Backsteinhauses. Die hohen Fenster wirkten dunkel und seelenlos, die Farbe blätterte von den Rahmen, die Vorhänge, die noch hingen, wirkten alt und zerschlissen. Die große Haustür war dunkelgrün gestrichen, und in ihrem oberen Bereich waren hübsche bunte Bleiglasfenster eingelassen, doch auch hier waren einige der Glaseinsätze gesprungen, und die Ligusterhecken und der Blauregen, die vor den beiden großen Erkerfenstern gepflanzt worden waren, hatten sowohl den verwitterten Weg als auch die Eingangstür überwuchert. Das Haus schien genauso vernachlässigt und verwahrlost zu sein wie der Garten.
„So eine Schande“, murmelte Kezzie in sich hinein. „Da sollte wirklich jemand etwas unternehmen.“ Jemand? Plötzlich kamen Kezzie ihre frühen Guerilla-Gärtnertage in den Sinn, als sie, Flick und Gavin, Flicks Freund, sich die drei Musketiere genannt und es sich zur Aufgabe gemacht hatten, verwahrloste Gärten wieder in Schuss zu bringen. Hatte sie nicht nach einer sinnvollen Beschäftigung gesucht? Vielleicht hatte sie hier soeben genau das Richtige für sich gefunden.
Montagmorgen, und wie üblich war Joel spät dran. Seit dem schmerzlichen Besuch auf dem Friedhof zusammen mit Claires Eltern war jetzt über eine Woche vergangen. Wie immer war er sich bei ihrer mitfühlenden Herzlichkeit wie der größte Betrüger aller Zeiten vorgekommen, und weil er sich so schuldig fühlte, hatte er auch Marions Angebot, am Wochenende auf Sam aufzupassen, dankend abgelehnt. Stattdessen hatte er Eileen Jones gefragt – um dann gleich darauf ein noch schlechteres Gewissen zu haben, weil er den Großeltern den Enkel vorenthielt. Sein Abend im Pub des Städtchens, dem Labourer’s Legs, war dann recht bizarr verlaufen. In einem Augenblick geistiger Umnachtung hatte er sich mit Suzanne Cawston, einer der Kassiererinnen im Macey’s, verabredet. Die Frau hatte eindeutig ein Auge auf ihn geworfen, und außerdem bemitleidete sie ihn. Warum er sich darauf eingelassen hatte, war ihm noch heute unklar, trotzdem hatte er an diesem Abend also mit ihr zusammen im Pub gesessen und sich von Lauren nicht nur einen vorwurfsvollen Blick eingefangen, während sie ihnen die Getränke servierte. Natürlich hatte sie keinen Ton gesagt, aber er hatte das Gefühl, Lauren war der einzige Mensch im Städtchen, der etwas dagegen hatte, dass er mit anderen Frauen ausging. Oder lag es einfach nur daran, dass sie ihn immer an Claire erinnerte, sobald er sie anblickte?
Joel hatte schnell herausgefunden, dass er mit Suzanne absolut nichts gemeinsam hatte. Mit zweiundzwanzig Jahren war sie viel zu jung für ihn. Um nicht gelangweilt und unhöflich zu erscheinen, hatte er mehr getrunken, als gut für ihn war. Als er sich schließlich in einer peinlichen Fummelei im Dunkeln vor dem Pub wiederfand und Suzanne ihm zuflüsterte, zu ihr könnten sie nicht gehen, weil ihre Eltern zu Hause seien, hatte er sich daran erinnert, dass er das hier wirklich nicht tun sollte. Er hatte eine Entschuldigung gemurmelt und war geflohen. Auf ihr enttäuschtes „Wir sehen uns aber doch wieder oder?“ hatte er gar nicht mehr reagiert, sondern war eiligst den Hügel hinaufmarschiert.
Den Sonntag hatte er mit seiner Mutter verbracht. Über die Frauen in seinem Leben sprach er mit ihr nie. Vermutlich dachte sie sich ihren Teil, aber sie stellte keine Fragen, es sei denn, er brachte das Thema von sich aus auf. Zum Mittagessen hatte er sie und Sam in ein nettes, gemütliches Lokal in Chiverton ausgeführt, wo seine Mutter in einer betreuten Seniorenwohnung lebte. Wie immer war sie ganz hingerissen von ihrem Enkel, und erst gegen Ende des Essens fragte sie ihren Sohn behutsam: „Joel, ist alles in Ordnung mit dir? Du bist so still. Ich weiß, die letzte Woche muss schwer für dich gewesen sein.“
„Mir geht’s gut, ehrlich. Sicher ist es schwer, aber wir schaffen das schon, was, Sammy?“ Damit kitzelte er Sam unterm Kinn und ignorierte die Hand, die seine Mutter ihm hinhielt. Während des restlichen Abends vermied er das Thema, und erst als er seine Mum zu Hause absetzte und sich mit einem Kuss verabschiedete, sagte er ihr noch, dass sie sich zu viele Sorgen mache.
Später, als er selbst wieder zu Hause war und Sam bereits in seinem Bettchen lag und schlief, hatte er genügend Zeit zum Grübeln. Während er allein mit seinem Drink auf dem Sofa in dem halb renovierten Wohnzimmer saß und durch die Fernsehkanäle zappte, wusste er, dass seine Mum sich zu Recht Sorgen um ihn machte.
Dieses Haus hing ihm wie ein Mühlstein um den Hals. Was einst als aufregendes Projekt für ein ganzes Leben gedacht war, war zur Last geworden. Ohne Claire, mit der er die Arbeit teilen konnte, ohne ein Ziel, das sie ihm immer wieder gegeben hatte, war es sinnlos, diesen alten, verwahrlosten Kasten wieder herzurichten. Sein Enthusiasmus war zusammen mit Claire gestorben. Und was den geheimen Garten anging, der ihn so fasziniert hatte, als Claire und er das erste Mal hier gewesen waren … seit Monaten schon war er nicht mehr dort gewesen. Selbst der alte Schreibtisch seines Ur-Urgroßvaters, den er mit dem Haus übernommen hatte, stand unbeachtet in dem kleinen Arbeitszimmer. Eigentlich hatte er ihn liebevoll restaurieren wollen und bereits mit dem Abschleifen begonnen. Jetzt hing Joel in der Luft, konnte weder vor noch zurück. Nein, es ging ihm ganz und gar nicht gut.
Am folgenden Morgen wurde es auch nicht besser. Sam war schlecht gelaunt, und so landete der Frühstücksbrei überall, nur nicht in seinem Mund. Joel waren die Nerven durchgegangen, er war laut geworden, und natürlich hatte Sam sofort zu weinen begonnen. Joel fühlte sich miserabel. Was für ein Rabenvater war er, wenn er seinen siebzehn Monate alten Sohn anbrüllte? Und wie immer in solchen Situationen schoss ihm derselbe Gedanke durch den Kopf: Was würde Claire jetzt tun? Er seufzte schwer, wusch Sam und zog ihn um, und dann fiel ihm auf, dass er selbst auch mit Babybrei beschmiert war. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er darauf keine Rücksicht nehmen konnte. Er rannte zum Auto, schnallte Sam im Kindersitz an und fuhr dann wie der Teufel den Hügel hinab zu Laurens Haus.
Er verstand sich gut mit Lauren. Nach Claires Tod hatte sie ihm so viel Kraft gegeben. In der ersten Zeit ohne Claire war sie einer der wenigen Menschen gewesen, die er um sich herum hatte ertragen können. Sie verlangte nichts von ihm, bombardierte ihn nicht mit Fragen, wie es ihm ging und wie er sich fühlte, sondern bot stummen Trost und Hilfe an. Sie konnten zusammen um Claire trauern.
Er war froh, dass sie tagsüber auf Sam aufpasste. Zum Glück hatte dieses Arrangement schon vor Claires Tod bestanden, trotzdem hatte er Lauren gegenüber oft ein schlechtes Gewissen. Es war eine Sache, ständig zu spät zu seiner Ehefrau nach Hause zu kommen, die sich nie beschwerte, doch es war etwas ganz anderes, Laurens Ärger zu spüren, wenn er wieder einmal viel zu spät aus dem Büro weggekommen war. Er tat wirklich sein Bestes, aber mittlerweile fühlte es sich an, als ob er in jedem Bereich seines Lebens nur noch ein Besucher war. Er scherzte schon, dass er die „Hausfrau und Mutter“ im Büro war, die wegen der Kinder früher nach Hause musste. Erst jetzt begann er zu begreifen, wie schwer Claire es gehabt haben musste, als sie wieder angefangen hatte zu arbeiten.
„Tut mir leid, dass ich zu spät komme“, sagte er, als er Sam in Laurens ausgestreckte Arme übergab. Die Zwillinge lugten hinter ihrem Rücken hervor, beide steckten bereits in ihren Schuluniformen. Wie schaffte Lauren das nur, fragte Joel sich. Sie hatte zwei Kinder, es war nicht einmal acht Uhr morgens, aber die beiden waren gestriegelt und gespornt und bereit für den Tag. Selbst nach einem ganzen Jahr fühlte er sich noch immer unzulänglich, kam noch immer kaum mit den häuslichen Pflichten zurecht.
„Nicht schlimm“, sagte Lauren leichthin, aber er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie verärgert war. Obwohl sie immer mitfühlend und nett zu ihm war, war sie sich nicht zu schade, ihm von Zeit zu Zeit mal den Kopf zurechtzurücken. Bei mehr als nur einer Gelegenheit hatte sie ihn deutlich wissen lassen, dass sie nicht seine Sklavin sei und er endlich mehr Verantwortungsbewusstsein zeigen müsse. „Nur weil Claire es mit dir ausgehalten hat, muss ich mir das noch lange nicht von dir gefallen lassen.“ Nun, gesagt hatte sie das so nie, aber Joel konnte sich bestens vorstellen, wie oft es ihr auf der Zunge lag. Ihm war auch klar, dass er es verdient hätte. Er wusste, um Laurens willen sollte er sich mehr bemühen. Sie ging großartig mit Sam um und füllte die Leere, die Claire hinterlassen hatte, so gut sie konnte. Joel wollte das alles nicht als selbstverständlich ansehen, aber manchmal überwältigte ihn das Leben einfach, und dann lehnte er sich stärker an Laurens Schulter, verließ sich mehr auf sie, als er eigentlich durfte. Lauren liebte Sam fast genauso sehr wie ihre eigenen Kinder. Ja, Joel konnte von Glück sagen, dass er sie hatte.
Mit einem Seufzer drückte Lauren hinter Joel die Tür ins Schloss. Manchmal war dieser Mann so frustrierend, dass es sie halb in den Wahnsinn trieb. Er schien überhaupt kein Zeitgefühl zu haben, das Konzept von Pünktlichkeit war ihm offenbar komplett fremd. Genauso wenig war ihm offensichtlich klar, dass ihr Leben sich keineswegs nur um Sam und ihn drehte. Die meiste Zeit hatte sie größtes Verständnis für ihn, es war schwer, ein Kind alleine großzuziehen. Sie wusste, wovon sie sprach. Aber in letzter Zeit fing es an, sie zu nerven. Ihr war auch nichts geschenkt worden, sie hatte mit zwei kleinen Babys im Arm dagestanden und gar keine andere Wahl gehabt, als zurechtzukommen. Jeder in Heartsease bewunderte Joel dafür, was für ein großartiger Dad er doch sei, und natürlich war er das auch. Aber Lauren wusste von Claire, dass er sie nach Sams Geburt nicht so sehr unterstützt hatte, wie sie es gebraucht hatte. Egal, wie viel Verständnis sie auch für Joel aufbrachte, manchmal konnte sie den Ärger über ihn nicht gänzlich unterdrücken.
„Es ist schwer für ihn“, hatte Claire ihn immer wieder in Schutz genommen. Sosehr Lauren ihre Freundin auch liebte, es regte sie maßlos auf, dass Claire Joel alles nachsah, obwohl Lauren deutlich sehen konnte, dass er Claire nicht genügend unterstützte. Claire. Sie fehlte Lauren so sehr. Noch immer überwältigte sie die Trauer um ihre Freundin ab und zu, es traf sie dann wie ein Schlag in den Magen. Claire hatte sich mit Joels Launen arrangiert, weil sie den Mann geliebt hatte. Vielleicht sollte Lauren versuchen, sich einfach daran zu gewöhnen.
Nur fiel es Lauren extrem schwer, sich damit abzufinden, wie schnell Joel sich nach Claires Tod wieder mit anderen Frauen verabredete. Es kam ihr so vor, als wäre Claire noch nicht einmal unter der Erde gewesen, als sie Joel das erste Mal mit einer anderen Frau im Labourer’s Legs gesehen hatte. Einige Abende in der Woche kellnerte sie dort. Zugegeben, es war Jenny Hunter, die Dorfschlampe, gewesen, und sie hatte sich an ihn herangemacht. Sie war bekannt dafür, dass sie sich jedem an den Hals warf, also traf Joel wohl nicht allein die Schuld. Aber auf Jenny war gleich darauf Mary Stevens gefolgt, die Grundschullehrerin, und dann Kerry Adams, die Apothekerin.
Wüsste Lauren es nicht besser – schließlich hatte Joel sich in der ersten Zeit nach Claires Tod mehr als nur einmal an ihrer Schulter ausgeweint –, würde sie behaupten, dass Claire ihm völlig egal gewesen war. Erst am Samstag hatte sie ihn mit Suzanne Cawston knutschen sehen. Sein Verhalten zerrte wirklich an ihrer Geduld. Claire hätte sich niemals so benommen, wäre die Situation andersherum gewesen. Lauren war wütend, dass Joel so leicht Ersatz für Claire gefunden hatte. Trotzdem war das kein Grund, es zum Bruch mit Joel kommen zu lassen. Sie passte gerne auf Sam auf, und wenn sie ehrlich war, brauchte sie auch das Geld.
Für Joel zu arbeiten lohnte sich also in vieler Hinsicht. Er zahlte ihr einen Aufschlag, wenn er zu spät kam, trotzdem ärgerte es sie, dass er dadurch die Zeit beschnitt, die ihr mit ihren eigenen Mädchen blieb. Außerdem hasste sie den Stress, wenn die Minuten vergingen und sie von vornherein wusste, dass sie (mal wieder!) zu spät zu ihrer Schicht im Pub kommen würde. Es war beinahe so, als müsste man sich mit all den Problemen in einer Ehe herumschlagen, und das ohne den Sex!
„Na komm, Sammy, ein Mal schmusen, bevor wir die Mädchen zur Schule bringen.“ Sam liebte es, gekitzelt zu werden und wenn man schon am frühen Morgen mit ihm spielte. Vielleicht lag es daran, dass Joel nicht wirklich wusste, wie so etwas ging … Aber trotz aller Kritik, die Lauren vorzubringen hatte, konnte sie gleichzeitig auch sehen, wie sehr Joel Sam liebte. Er hatte einfach nur keine Erfahrung damit, sich um ein Kleinkind zu kümmern.
„Vielleicht sollten wir es ihm beibringen, was meinst du?“, sagte Lauren und wurde mit einem breiten Lachen belohnt, als sie den Jungen am Kinn kitzelte. „Zeigen wir deinem dummen Daddy, was er alles verpasst, hm?“
3. KAPITEL
Es war dunkel, genau wie sie es mochte. Kezzie hatte schon vergessen, wie aufregend und berauschend Guerilla-Gärtnern sein konnte. Ein altvertrautes Prickeln lief ihr den Rücken hinunter, während sie hier mitten im Nichts stand. Das Mondlicht war ihre einzige Lichtquelle. Seit sie den geheimen Garten letzte Woche zufällig entdeckt hatte, stand ihr Entschluss fest: Sie wollte dem Besitzer, wer immer das sein mochte, eine Lektion erteilen. Wie konnte man einen so wunderbaren Ort einfach verkommen lassen? Derjenige, dem dieser Garten gehörte, wusste offensichtlich nicht zu schätzen, was er hier hatte.
Sie fand die Eiche, von der sie letztens über die Mauer gesehen hatte. Mit klopfendem Herzen zog sie sich auf den tief hängenden Ast. Kurz hielt sie inne, bevor sie ihre Beine über die Mauer schwang und so leise wie möglich auf die andere Seite der Mauer sprang. In ihrem Rucksack kramte sie nach ihrer Taschenlampe, entschied dann aber, dass sie sie nicht brauchte. Der Mond schien so hell, dass sie die Ränder der einst gepflegten Rabatten deutlich sehen konnte. Jetzt mochte der Garten ja voller Unkraut stehen und überwachsen sein, aber noch immer ließ sich erkennen, dass hier jemand vor langer Zeit viel Liebe und Mühe hineingesteckt hatte.