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Er kann allem entkommen. Außer seiner eigenen Vergangenheit… Ein Mann, mehr als eine Legende. Ein Mann, über den man nur im Flüsterton spricht. Ein Mann, der genau weiß, wozu er fähig ist . Evan Smoak hat in einem streng geheimen Programm der US-Regierung das Töten gelernt. Sein Deckname: Orphan X. Er war der vielleicht beste Auftragskiller, der je für die Regierung gearbeitet hat. Bis er ausstieg und untertauchte und als „Nowhere Man“ denen half, die keinen Ausweg mehr haben. Mit der Art von Hilfe, die niemand sonst leisten kann. Als Evan wie aus dem Nichts ausgerechnet von der einen Person um Hilfe gebeten wird, die ihn am schlimmsten verletzt hat – seiner eigenen Mutter - beginnt der Albtraum. Denn sie fleht ihn an, einem Mann aus der Klemme helfen, der zur falschen Zeit am falschen Ort war und etwas gesehen hat, das er nicht hätte sehen sollen. Andrew Duran wird seither gnadenlos von einem tödlichen Geschwisterpaar gejagt und nun ist Smoak seine einzige Hoffnung. Doch diese Mission ist für Evan persönlicher, als er jemals hätte ahnen können. Und am Ende steht alles auf dem Spiel - einschließlich seines eigenen Lebens. Denn Blut fließt tief… ORPHAN X is back! Der neue Bestseller von Gregg Hurwitz - voll Adrenalin und Action. „Fühlt sich an wie ein Überschallflug“ DAVID BALDACCI
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Seitenzahl: 620
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Der verlorene Sohn
Weitere Veröffentlichungen von Gregg Hurwitz
Die ORPHAN X-Reihe
Orphan X
Projekt Orphan
Rache der Orphans
Die Spur der Orphans
Das Vermächtnis der Orphans
Tim Rackley-Reihe
Die Scharfrichter
Die Sekte
Die Meute
Der Ausbrecher
Weitere auf deutsch erschienene Werke
Blackout
Tödlicher Fehler
Flieh um dein Leben
Oder sie stirbt
Der verlorene Sohn
Gregg Hurwitz
NEW YORK
Übersetzt von Noah Sievernich und Anton Artes
Die Originalausgabe erschien 2021 in den Vereinigten Staaten unter dem Titel »Prodigal Son: Orphan X, Book 6« bei Minotaur Books, einem Imprint der St. Martin's Publishing Group.
Dies ist ein fiktives Werk. Alle in diesem Roman dargestellten Personen, Organisationen und Ereignisse sind entweder ein Produkt der Fantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet.
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1. Auflage
Deutsche Erstausgabe 2023
Copyright der Originalausgabe Copyright © 2020 by Gregg Hurwitz. All rights reserved.
Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe: Ronin Hörverlag, Heusteg 47, 91056 Erlangen
Umschlaggestaltung: wayan-design.de unter Verwendung von Motiven von Depositphotos © bedya (Oleksandr Bedenyuk), trekandshoot (Richard Klotz), Tinnakorn (Tinnakorn Jorruang)
Redaktion: Noah Sievernich
Satz und E-Book-Konvertierung: wayan-design.de
Druck und Bindung: siblog Gmbh, Körnerstraße 68, 04107 Leipzig
Printed in Germany
ISBN: 978-3-96154-475-2 (Printausgabe)
ISBN: 978-3-96154-375-5 (E-Book)
Für Informationen wende dich an Ronin Hörverlag, Heusteg 47, 91056 Erlangen
www.ronin-hoerverlag.de
Für Marshall Herskovitz
Von ihm habe ich gelernt, dass die Spitze der Alpha-Dominanz-Hierarchie noch unter der niedersten Ebene von dem liegt, was Weisheit ausmacht.
Hast du nur einen Segen, Vater? -Esau, 1. Mose 27:38
Dies Geschöpf der Finsternis erkenn ich für meines an. – Prospero
Inhalt
Der verlorene Sohn
Prolog – Eine neue Art von Gefahr
1 Verlorener Sohn2 Serious Business3 Bis zur Unbrauchbarkeit abgebaut4 Next-Level Deep Shit5 Ein tödliches Werkzeug
6 Ein selbstmörderischer Geist7 Psychologische Kriegsführung wie aus dem Bilderbuch8 Sucker
9 Die Frau
10 Ein echtes Armutszeugnis
11 Einfach nur perfekt12 Menschenkenntnis
13 Eine Prüfung14 Völlig aus dem Zusammenhang gerissen
15 Der Nowhere Man an einer Million Orten
16 Überlange Spitznamen und gut ausgebildete Fähigkeiten17 Der Sozialraum18 Mit Wodka einen Streit anfangen
19 Das Ende der Fahnenstange
20 In schlechter Gesellschaft
21 Kaputte Kreaturen22 Ein ganzes Leben lang
23 Ein Skulpturengarten voller Zombies
24 Eine ungewöhnliche Beziehung
25 Die unendlichen Weiten der heiligen Scheiße
26 Wähle dein Gift
27 Verlorene Jungs
28 Buße
29 Gebrochenes Herz
30 Von einem Nichts zu einem Etwas
31 Die Jagd nach dem Guten
32 Lebensecht33 Suchen und Zerstören
34 Der Geschmack von Kupfer liegt in der Luft
35 Wissenschaft für 200
36 Das Wort mit fünf Buchstaben
37 Fortsetzung folgt38 Roadtrip39 Halt das
40 Richtige Identifizierung41 Ein verdammt düsterer Abgrund
42 Der Fremde
43 Kuschelkuschel
44 Rorschach-Klecks
45 Die wartende Dunkelheit
46 Und sie lachten
47 Weißer Ritter
48 Besser als das echte Leben
49 Ein Niemand
50 Idiotensicher
51 Ein Klecks undefiniertes Nichts
52 Hundehaufen
53 Ein Schlag in der Nacht
54 Dieses beschissene Leben
55 Verlorene Sache
56 Erste Hilfe
57 Eine Art von Nervenkitzel
58 Eine ganz andere Art von Einsamkeit
59 Eine geplatzte Naht
60 Die andere Hälfte
61 Familie62 Deine schmutzigen Teile
63 Das Entsetzliche64 Zieh 'ne braune Hose an
65 Absolute Dunkelheit
66 Eine Alptraum-Symphonie
67 Schlammmonster
68 Stopp
69 Die Liebe, die du verdienst
70 Dunkle Straße
71 Bereit
72 Eine Frage der Zeit
73 Ein winziges Teil
74 Nirgendwo mehr hingehen zu müssen
Danksagungen
Der verlorene Sohn
Ein Aufruhr geht durch das Pride House Group Home und Sekunden später drängen sich jugendliche Gesichter an die von der schwülen Hitze feuchte Fensterfront. Mit seinen zwölf Jahren hat Evan immer noch keinen Wachstumsschub gehabt. Er kämpft um seine Position und verliert, weil Charles Van Scivers Ellbogen ihn ans Ende der Gruppe stößt. Eine winzige Lücke tut sich zwischen Tyrell und Jamal auf, und Evan kann einen flüchtigen Blick auf einen schlanken Mann erhaschen, der hinter dem Zaun der kaputten Basketballplätze auf der anderen Straßenseite verschwindet. Das Getuschel ebbt ab.
»Und? War das der Typ?«
»Ich weiß es nicht, Charles. Sieht aus wie er.«
»Sehr hilfreich, Scheißkerl.«
Die Herde ist unbeaufsichtigt, was nie gut ist. Papa Z, der kräftige Hausvater polnisch-amerikanischer Abstammung, hat sich mit der Baltimore Sun ins Badezimmer zurückgezogen. Dass es sich hierbei um eine Sonntagsausgabe handelt und er unter einer chronischen Verstopfung leidet, legt nahe, dass er für Stunden verschwunden sein könnte.
Van Sciver geht natürlich voran, als die Kinder das heruntergekommene Reihenhaus im Schatten der Hochhaussiedlung Lafayette Courts verlassen. Sobald sie den asphaltierten Park erreichen, verteilen sie sich. Heute sind es nur sieben Kinder.
Danny wurde in den Jugendknast gesteckt und Andre ist seit Freitag verschwunden. Wahrscheinlich aufgebrochen zu einer weiteren sinnlosen Reise auf der Suche nach den Eltern, die er nie kennen gelernt hatte. Es gibt nichts zu sehen außer Backstein, Beton und den üblichen Junkies und Straßenjungen, die sich in den schattigen Ecken der Blocks sammeln wie Schweiß unter ihren Achseln. Hochhäuser versperren die Sicht wie die Zähne eines schiefen Gebisses.
»Ich schwöre, er war‘s wieder!«, sagt Tyrell.
Das Wiederauftauchen des Mystery Man versetzt die Jungs in helle Aufregung. Er taucht in regelmäßigen Abständen auf und beobachtet, wie sie im Park herumtollen, während die Sonne auf seiner goldenen Uhr glitzert. Maskiert mit einer schwarzen Ray-Ban raucht er eine Zigarette nach der anderen. Wenn er sich endlich bewegt, geht er gemächlich und seine Finger gleiten dabei über die Glieder der Metallkette, die den Park umschlingt. Die Theorien sind endlos: Er ist ein Perverser, ein Immobilienmagnat aus Streeterville, der adoptieren will. Ein Kannibale, der sich von jungem Fleisch ernährt.
Van Sciver herrscht sie an: »Kommt hierher! Alle hierher!«
Das blaue Kopftuch ist wie immer um seine Stirn geschlungen. Sein rotblonder Pony fällt über das Band. Er ist einen Kopf größer als alle anderen, bis auf Ramón. Aber weil Ramón wie ein Skelett gebaut ist, verschafft ihm seine Größe nicht viel Respekt. Van Sciver trägt ein ärmelloses Hemd der Washington Redskins, bei dem sein Bizeps wie beabsichtigt zur Geltung kommt. Seine Oberarme sind massig, aber trotzdem so gut definiert, dass man die Adern deutlich pulsieren sieht. Auf seiner Oberlippe befinden sich ein schlecht rasierter Flaum und ein getrockneter Fleck seines morgendlichen Protein-Shakes. Das Pulver dafür stammt aus dem Kanister, für den all sein Geld draufgeht und den die anderen Kinder nicht anzufassen wagen.
Obwohl er nur zwei Jahre älter ist als Evan, könnten sie genauso gut von verschiedenen Spezies stammen. Sie sind nur zweimal aneinandergeraten: Van Sciver hatte Evan die Nase blutig geschlagen, als dieser ihm die Stirn bot, nachdem Van Sciver beim Blackjack betrogen hatte. Später spaltete er ihm die Lippe, weil Evan Tyrell unterstützte, der wieder einmal wegen seiner Schwester tyrannisiert wurde. Sie ist eine Hure. Aber daran muss Tyrell wirklich nicht so oft erinnert werden, wie Van Sciver scheinbar denkt.
Van Sciver war ins Heim gekommen, als sein Vater wegen eines Banküberfalls verhaftet worden war, was ihn in dieser Gegend zum König macht. Ein paar körnige Fotos und ein vergilbter Zeitungsausschnitt bestätigen seine Herkunft.
Evan hingegen hat keine mitreißende Vorgeschichte. Er war einfach aufgetaucht wie am Anfang eines Mythos – Moses in einem Korb geflochten aus pechschwarzen Binsen. Athene, die aus der Stirn des Zeus entsprungen war. Von seinen verschiedenen Sozialarbeitern hatte er nur die dürftigsten Fakten über seine Herkunft erfahren. Als er sechs Tage alt gewesen war, reiste seine leibliche Mutter aus einem anderen Bundesstaat an, um ihn in Maryland zur Adoption freizugeben. Seine erste Adoptivmutter war durch eine Reihe von Schlaganfällen geschwächt gewesen, die sie aber alle geheim gehalten hatte, bis sie und ihr überforderter Ehemann den kleinen Evan in das System zurückgaben. Da Evans leibliche Mutter sich das Recht vorbehalten hatte, seine Adoptivfamilie auszuwählen, wurde Evans Schicksal auf Eis gelegt. Deswegen versuchte das Sozialamt, sie ausfindig zu machen. Aber junge Frauen, die in einen anderen Bundesstaat reisen, um ihr Neugeborenes abzugeben, wollen nicht identifiziert, geschweige denn gefunden werden. Bis sich die Bürokratie soweit entwirrt hatte, dass man Evan ausgesetzt bezeichnen konnte, hatte der schon eine Reihe von Heimen hinter sich gebracht. Schon mit vier Jahren war sein Schicksal besiegelt. Nicht viel mehr als eine blanke Fassade, auf die ein Ehepaar seine Träume projizieren konnte. Der Junge versprühte einen Hauch von Minderwertigkeit – ein weiteres Kind, das nirgendwo hingehört und nirgendwo gebraucht wird.
Die Wohngruppe von Papa Z ist die letzte Station auf dieser Strecke. Ein Abstellgleis. Fünf bis fünfzehn Kinder, die entweder in die Berufsschule, den Knast oder an Jobs mit Schraubenschlüsseln und Namensschildern geraten. Wahlmöglichkeiten gibt es nur wenige. Alle Ergebnisse sind vorherbestimmt, die Weichen für eine düstere Zukunft gestellt. Und genau das ist es, was den Mystery Man und seine goldene Uhr so faszinierend macht. Ganz gleich wie schrecklich seine Absichten auch sein mögen. Er gehört nicht in diese Welt, nicht in dieses Stadtviertel. Dabei steht der Mystery Man nicht nur für eine neue Art von Gefahr, sondern auch für einen neuen Weg – einen Weg ins Unbekannte.
Und jeder Weg, der aus East Baltimore führt, ist ein guter Weg.
Van Sciver raunt: »Ich hab mit Eddie in Pacos Garage gesprochen. Und der hat mit seinem Cousin gesprochen und der sagt, dass der Mystery Man Kinder entführt und sie in etwas verwandelt.«
Aber in was? Der einzig brauchbare Anhaltspunkt, den Evan hat, stammt aus dem Rekrutierungsbüro der Armee in der Mall, gegenüber der Spielhalle.
Zwischen den Runden, in denen sie Wechselgeldschlitze nach vergessenen Münzen durchsuchen, beobachten er und Tyrell die ungepflegten Teenager, die durch die Glastür mit einem Aufkleber der amerikanischen Flagge gehen. Wenn sie wieder herauskommen, wirkt ihre Haltung immer ein wenig strammer.
Sie marschieren als Männer heraus.
Ramóns Stimme durchbricht Evans Träumerei. »Der macht sie zu Sexsklaven und Schwanzlutschern«, sagt er und ein paar Kinder riskieren ein Kichern.
Aber Van Sciver macht unbeirrt weiter. »Eddies Cousin hat gemeint, dass er einen Jungen kennt, der in einem Heim in der Westside aufgewachsen ist – New Beginnings – und der hat gesagt, dass der Mystery Man einen Jungen aus der Gruppe ausgewählt hat. Den besten Jungen. Den Größten. Den Schnellsten. Den Stärksten. Und wisst ihr was? Eines Tages ist der Junge einfach verschwunden.« Er zieht die Pause in die Länge, die Jungen rücken näher zusammen. Atemlos nach ihrem Sprint über die Straße. Dies ist keine Geschichte mehr, sondern eine urbane Legende. Eine Gespenstererzählung am Lagerfeuer, und das macht sie irgendwie noch realer. Evan spürt, dass sich eine dunkle Wahrheit zwischen den ganzen Lügen verbirgt. Van Sciver hat den Cliffhanger lange genug hinausgezögert – verschwörerisch blickt er nach rechts und links, dann wieder zur Gruppe: »Vier Jahre später kam er zurück. Für einen Tag.«
Ein oder zwei Blocks weiter dröhnt ein Auto; Run-D.M.C. mit aufgedrehten Bässen. Der Ton wird leiser. Tyrells Turnschuh kratzt über den Asphalt, als er sich noch näher heranlehnt. »Und?«
»Richtig aufgepumpt«, sagt Van Sciver. »Muskeln wie die hier. Und knallhart. Er hatte 'ne Narbe auf der Wange. Fuhr 'nen Porsche.«
Die Details sind faszinierend. Verlockend. Evans Magen kribbelt vor Aufregung, als wäre er im freien Fall auf einer Achterbahn.
Ein Säufer schlurft vorbei. Van Sciver wirft ihm einen feindseligen Blick zu. »Verpiss dich, Horace.« Er wendet sich wieder an seine hypnotisierten Zuhörer. »Der Typ hat gemeint, er wär in einem Haus gewesen, dem besten Haus überhaupt! Ein richtiges Zuhause, dreimal am Tag warmes Essen, Nintendo und ein Pool. Du bekommst da sogar dein eigenes Zimmer! Und er meinte, die hätten ihn ausgebildet.«
»Um was zu tun?«, fragt Evan. Um ihm in die Augen zu sehen, musste Van Sciver nach unten schauen. »Das weiß keiner.«
65 verdammte Dollar. Mehr braucht es nicht, um dein Leben aus der Bahn zu werfen. Nein. Nicht nur aus der Bahn zu werfen, sondern in die Seite eines Berges zu rammen – wie eine Lokomotive, die entgleist.
Deshalb arbeitete Andrew Duran hier in der Mitternachtsschicht. Auf einem Abschlepphof an der East Side, zusammengepfercht in einer Kabine, die nicht viel größer war als eine Hundehütte. Die Luft war erfüllt von dem überwältigenden Dunst des Old Spice-Deos, mit dem sich Juan, der die Schicht vor Andrew hatte, geduscht haben musste. Mit dem Mindestlohn kam Duran auf 420 Dollar pro Woche, aber wenn er die Abgaben für Sozialversicherung, Krankenkasse und Lohnpfändung abzog, blieben ihm nur noch 300. Das waren etwa 500 Dollar weniger als das, was er für den Unterhalt seines Kindes, Essen und ein Dach über dem Kopf brauchte. Aber er hätte genauso gut abgerauchte Zigarettenstummel in Kalkutta verkaufen können, deshalb beschwerte er sich nicht.
Perspektive. Genau darüber reden sie in all den Selbsthilfe-Podcasts.
Darüber haben sie auch während der Treffen gesprochen. Nur die Gnade Gottes hilft. Schön einen Tag nach dem anderen. Denn nichts ist so schlimm, als dass es ein Drink nicht noch schlimmer machen könnte.
Das waren nur Sprüche, sicher, aber er hatte schon zu viel verloren, um sie nicht zu beachten. Andrew hatte alles verloren.
Er seufzte, starrte durch das fettverschmierte Fenster und war der Herrscher über alles, was er erblicken konnte. Ein Labyrinth aus abgeschleppten Schrottkarren: verrostete VW-Käfer, zertrümmerte Ferraris, verbogene Muscle-Cars. Einige hatten Blutspritzer auf den Kopfstützen, andere Kratzspuren im Lack, da, wo die Drogenspürhunde fündig geworden waren. Ein paar der Wägen fehlten die Räder – sie waren auf einem Anhänger hierhergebracht und zum Sterben zurückgelassen worden.
Durans Aufgabe war es, auf sie aufzupassen und ein Wirrwarr von Formularen zu unterschreiben; etwa wenn Polizisten, Abschleppwagenfahrer oder auf Kaution freigelassene Besitzer kamen, um sie abzuholen.
Das war Kopfarbeit.
Wie er vom eigenen Haus – auch wenn es ein Bungalow in El Sereno gewesen war – ausgerechnet hier landen konnte, würde er nie erfahren. Warte, streich das. Er wusste es genau.
65 verdammte Dollar. Für einen beschissenen Strafzettel, der ihm für zwanzig Sekunden unbezahlter Parkzeit aufgedrückt wurde, als er für Wechselgeld in einen Schnapsladen rannte. Das war vor 18 Monaten, auf dem Weg zu seinem Kumpel im Kern Valley State Prison in Bakersfield. Zwanzig Sekunden – länger hatte er nicht gebraucht.
Duran konnte den Strafzettel nicht begleichen, weil er Brianna versprochen hatte, in diesem Monat den Unterhalt für Sofia zu zahlen. Sie wurde elf Jahre alt und brauchte dringend bessere Kleidung für die Mittelschule. Das hatte sie auch verdient, dafür, dass sie im Leben eine Niete gezogen und ihn als Vater bekommen hatte.
Also konnte er wenigstens versuchen, Bri dabei zu helfen, ihr ein paar Hemden von Walmart, statt wie üblich von der Heilsarmee, zu besorgen. Vielleicht würden sich die anderen Kinder dann nicht so über seine Tochter lustig machen, wie er es seine ganze verdammte Kindheit lang über sich hatte ergehen lassen müssen.
Also gab er die 65 Dollar für seine Tochter aus, anstatt für die Verkehrsbehörde von Bakersfield. Als er ein paar Wochen später wegen eines kaputten Rücklichts angehalten wurde (25 Dollar Bußgeld, 2 Dollar Aufschlag, 35 Dollar Gebühr für die gerichtliche Entlassung, 115 Dollar für Ersatzteile und den Aufwand, das Scheißteil tatsächlich zu reparieren), erlebte er eine weitere Überraschung, als der Polizist das Kennzeichen überprüfte: Ein offener Haftbefehl. Es stellte sich heraus, dass Johnny Mac, Durans Vorgesetzter bei der Dachinspektion, ein halbes Dutzend Strafzettel kassiert hatte, als er sich Durans Auto für die Mittagspause ausgeliehen hatte. Und er hatte jeden Einzelnen davon zerrissen, wie der irische Kobold, der er war. Zu allem Überfluss erfuhr Duran, dass er bereits einen Gerichtstermin verpasst hatte, von dem er nicht einmal gewusst hatte, dass er ihn gehabt hatte und das Nichterscheinen war eine ernste Angelegenheit, selbst wenn es eigentlich um Johnny Macs Strafzettel ging.
Der Polizist hatte jede einzelne Verspätungsgebühr aufgeschrieben, jeden Bußgeldbescheid und jeden Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung. Und die aufgelaufenen Bußgelder verdreifachten sich, bis sie mehr Nullen hatten als das Staatsdefizit.
Duran hatte gespürt, wie er auf dem Fahrersitz zusammensackte – wie ein Boxer nach einem sauberen rechten Harken. »Das ist doch Schwachsinn!«, hatte er gestammelt. »Ich war gerade auf dem Weg, das Ding zu reparieren.«
»Du bist einer von der Sorte, was?«, hatte der Polizist entgegnet. »Nie an etwas Schuld, ist doch so?«
»Nein«, hatte Duran erwidert. »Ich mache Fehler, genau wie jeder andere auch. Aber Typen wie ich kriegen einfach keine Pause, wenn sie sie brauchen.«
Ungerührt hatte der Polizist das Bündel Tickets abgerissen und sie durch das Fenster gereicht, sein Atem roch stark nach Tic Tacs. »Ah, verstehe.«, sagte er und grinste ihn mit seinem makellosen Gebiss an. »Lass mich raten. Ich bin ein Rassist, richtig?«
»Nein«, war Durans Antwort. »Ich bin ziemlich sicher, du bist Arschloch genug, um das auch mit reichen weißen Typen zu machen.« Das kam nicht so gut an.
Der Gerichtssaal war bis auf den letzten Platz gefüllt und roch nach Körperwärme und Arbeitsmüdigkeit. Die Richterin hämmerte sich durch ihren Terminkalender. Durans Fall war der siebzehnte in nur einer Stunde.
Er hatte ein paar gekritzelte Notizen vorbereitet – das Ergebnis nächtlicher Online-Recherchen, aber schon seit seiner Kindheit machten ihn Gerichtssäle ziemlich nervös. Die Richterin war erschöpft und ungeduldig, aber er konnte es ihr nicht einmal verübeln. Er stotterte wie ein Idiot – bis zur Mittagspause waren noch etwa eine Million Fälle abzuarbeiten.
Sie hatte ein zivilrechtliches Urteil verhängt und die Anklage von einem Kavaliersdelikt zu einem Vergehen hochgestuft. Die einzige Möglichkeit, den Haftbefehl aufzuheben, bestand darin, ins Gefängnis zu gehen. Aber wie sich zusätzlich herausstellte, musste man in dieser Gegend für den Gefängnisaufenthalt bezahlen – 100 Dollar Buchungsgebühr plus weitere 50 Dollar für jede Nacht. Das war eine fette Hotelrechnung, die sich auf die zwischenzeitlich hinzukommenden Strafzinsen aufschlug. Und nebenbei so viele verpasste Termine, dass Johnny Mac ihn gleich mehrmals feuern konnte.
Als Duran dann schließlich entlassen wurde, suchte er nach Arbeit und nahm dabei alles, was er finden konnte. Sie pfändeten seinen Lohn, aber er schwor sich, dass Sofia nicht diejenige sein durfte, die darunter zu leiden hatte. Um Geld zu verdienen, vermietete er sein winziges Haus in El Sereno an einen koreanischen Geschäftsmann, der kaum da war, dessen Schecks aber nie platzten. Dann verkaufte Duran sein Auto und mietete ein nicht allzu großes Zimmer über einer chinesischen Küche. Jeden Monat schickte er Brianna einen Scheck mit dem Hinweis, das Geld gut für sein kleines Mädchen zu verwenden.
Um sie selbst zu besuchen, schämte er sich zu sehr.
Außerdem lebte er an einem Ort, den kein Sozialarbeiter jemals für Besuche genehmigen würde. Er zog sich an wie ein Bettler. Aber das schlimmste war, mit dem Gestank von General Tso‘s Hühnchen durchräuchert zu sein, der zu jeder Zeit durch die Dielen nach oben drang. Er konnte es nicht aushalten, in den Spiegel zu schauen. Auch wagte er es nicht, sich vorstellen, wie sein Anblick auf Sofia wirken würde. Andrew hatte schon viel durchgemacht, doch wenn sein kleines Mädchen ihn mit Abscheu oder – schlimmer noch – mit mitleidsvollem Blick ansehen würde, würde ihn das zerstören.
Sofia bettelte darum, ihn zu sehen, und Bri weinte bei ihren monatlichen Telefonaten um ihn. Nichts auf der Welt wollte er mehr, als sie zu sehen. Aber irgendetwas verwehrte ihm diesen Wunsch. Eine unsichtbare Hand auf seiner Schulter, die ihn davon abhielt, einen Schritt nach vorne zu machen. Die zunehmend vertraute Stimme in seinem Ohr, die ihm zuflüsterte: »Du bist nicht gut genug. Du hast es nicht verdient.«
Nicht bevor er die letzten 775 Dollar Bußgeld bezahlt hatte. Nicht bevor er wieder in sein Haus eingezogen war, als ein freier Mann, und seinem kleinen Mädchen ein richtiges Bett zum Schlafen eingerichtet hatte. Nicht bevor er genug gespart hatte, um mit einem ordentlich verpackten Spielzeug aufzutauchen und sie zum Essen auszuführen, ohne sich Gedanken darüber machen zu müssen, ob sie eine Limonade oder eine Vorspeise bestellen würde.
Aus sechs Monaten war ein Jahr geworden und nun ein Jahr und ein paar Zerquetschte und Duran ertappte sich bei der Frage, ob er seinem kleinen Mädchen überhaupt noch gegenübertreten konnte – falls sie überhaupt noch ein kleines Mädchen war. Er fragte sich, was seine Scham und sein Stolz ihn schon alles gekostet hatten. Sofia konnte ja nicht wissen, dass er sich abrackerte und seine Laken mit Handseife in der Spüle wusch, um den Unterhalt zahlen zu können. Sie konnte auch nicht wissen, dass er jede wache Minute des Tages an sie dachte.
Seine Tochter fühlte sich wahrscheinlich im Stich gelassen. Und das zu Recht.
Auch er kannte dieses Gefühl in seinem Bauch. Es war das alte Lied, das ihn vom Ufer aus zu den zerklüfteten Felsen lockte.
Sein Magen knurrte. Ein Three Musketeers-Riegel aus dem Schrank kostete fünfzig Cent (immerhin gab es Mitarbeiterrabatt). Das meiste Geld bewahrte er in einer Reißverschlusstasche auf, wegen der scheiß Geldautomatengebühren. Duran ließ den Öffner durch die Plastikzähne des Reißverschlusses fahren, zählte das Wechselgeld ab und legte es in die Schüssel. Er wusste auswendig, wie viel er in der Tasche hatte: 147 Dollar und 85 Cents – minus einen Three Musketeers-Riegel. Blieben ihm also noch 147 Dollar und 35 Cents.
Er kaute auf dem schokoladigen Nougat und dachte an den Geruch von Sofias Kopf, als sie ein Neugeborenes gewesen war. Wie er sie im Krankenhaus als Erster im Arm gehalten hatte, weil Bri vom Kaiserschnitt noch ganz benommen war. Sofia hatte genau in seine Arme gepasst, der warme kleine Körper hatte sich zwischen Ellbogen und Handgelenke geschmiegt, als er sie auf seinem Schoß vor sich hielt. Als er seine Tochter angesehen hatte, dachte er, dass er in diesem Leben endlich einmal das Richtige getan hatte.
Auf einmal zeigten die Sicherheitsmonitore an der Nordwand des Hundehütten-Verschlags nur noch weißes Rauschen an.
Sie hatten noch nie das Signal verloren. Er klopfte ein paar Mal auf die Seite des nächstgelegenen Monitors, als würde es irgendwas bringen. Dann beugte er sich vor und überprüfte die Kabelverbindungen, aber die sahen alle gut aus.
Er war so abgelenkt, dass er die beiden Personen nicht bemerkte, die zum Service-Fenster gegangen waren und nun direkt vor ihm standen.
Der Kerl hatte einen dünnen, gepflegten Bart und trug einen unglaublich schicken Anzug aus Samt mit dunkelblauen Streifen an den Revers und dazu ein passendes Einstecktuch. Durans zwei Nummern zu große Sicherheitsuniform, die durch diesen Kontrast noch demütigender wirkte, juckte, als er den Mann betrachtete. Der Kerl sah aus, als gehöre er auf einen roten Teppich und nicht auf einen Abschlepphof an der East Side. Er war auch gut gebaut – kein schlaffer Gefängniskörper, eher wie jemand der viel Zeit in einem dieser CrossFit-Fitnessstudios verbringt, in denen Leute wie Zirkusäffchen herumhüpfen und Kettlebells schwingen.
Die Frau an seiner Seite sah hier genauso deplatziert aus wie der Mann selbst. Glänzend und neu. Das Ordnungsprinzip in ihrem Leben schien an der Farbe Rot ausgerichtet zu sein. Rote Nägel, ein rotes Haargummi, rote Pumps, roter Lippenstift, eine rote Schnalle an ihrer Aktentasche. Blondes Haar, flauschig wie Zuckerwatte.
Duran war so verblüfft, dass er einen Moment brauchte, um seine Stimme wiederzufinden. »Kann ich helfen?«
»Das hoffe ich doch.« Die Stimme des Mannes war etwas zu hoch, fast schon weiblich, und sie passte so gar nicht zu seinem Alphatiergehabe oder der Art, wie er den Anzug ausfüllte. »Wir versuchen, den Mann zu finden, dem dieser Truck gehört.« Was er sagte, war nicht ungehobelt, aber es lag ein Straßenton in seinen Worten, den Duran nur zu gut kannte. Es klang so, als ob der Kerl ein paar reiche Leute im Fernsehen gehört hatte und nun sein Bestes tat, sie zu imitieren.
Beiläufig nickte er einem Bronco am Ende der nächsten Reihe zu. Zerknitterter Kühlergrill, zertrümmerte Frontverkleidung. Kabel ragten aus der zerschmetterten Öffnung des Scheinwerfers.
Duran zog die Augenbrauen hoch. Aus den Augenwinkeln konnte er die schwarz-weißen Punkte auf den Sicherheitsmonitoren tanzen sehen. »Du siehst nicht aus wie einer vom Marshals Service.«
»Ich weiß«, sagte die Frau mit sympathischer Sanftheit. »Das ist der Punkt.«
Sie war voll geschminkt und sah auf den ersten Blick attraktiv aus, aber Duran hatte das Gefühl, dass sie wie ein anderer Mensch aussah, wenn die Maske erst einmal abgewischt war.
»Jake Hargreave ist sein Name«, sagte Mr. Slick. »Der Mann, dem der Bronco gehört. Es gab eine Schießerei auf der 110ten und er hat das Fahrzeug verlassen. Du verstehst also, warum wir unbedingt mit ihm reden müssen.«
Der Mann holte einen Ausweis hervor und hielt ihn Duran hin, aber dieser wusste nicht, worauf er achten sollte. Also zupfte er einfach an seinem Kinn und runzelte die Stirn, als ob dies alles beantworten würde.
Die Frau schnallte ihre Aktentasche ab und nahm einen Umschlag heraus. »Wir bezahlen unsere vertraulichen Informanten«, sagte sie. »Für Tipps.«
Sie zählte auf den Tresen zehn Hunderter aus dem Umschlag ab und fächerte sie auf wie ein Cashier die Karten an einem Pokertisch. Duran spürte, wie sich seine Augen weiteten. Ein Tausender bedeutete, dass er von den Krediten erlöst sein würde. Frei und sauber. Dass er den Weg zurück in sein Haus finden würde. Und dann zu seiner Tochter.
Die Frau sammelte die Scheine ein, klopfte sie einmal auf den Tresen, um sie auf Linie zu bringen, und steckte sie wieder in den Umschlag. Ein netter kleiner Zaubertrick, um das ganze Geld verschwinden zu lassen.
Der Mann strich sich mit Daumen und Zeigefinger über den Mund und glättete die glänzenden, kastanienbraunen Haare in seinem Gesicht. »Jeder Besitzer braucht hier einen Termin, um sein Fahrzeug abzuholen, ist das richtig?«
Duran antwortete: »Ich weiß nicht, ob das vorgeschrieben ist, aber so ziemlich jeder ruft vorher an, um sich zu vergewissern, dass sein Auto da ist, ja.«
»Wenn der Mann seinen Termin für die Abholung des Wagens festlegt, wären wir für eine Vorwarnung dankbar«, sagte die Frau. Sie hob den Umschlag an, schüttelte ihn überdeutlich und steckte ihn zurück in ihre Aktentasche. »Von da an können wir dann selbst weitermachen.«
»Warum schaut ihr nicht einfach in die Akten?«, fragte Duran. »Wenn ihr vom Marshals Service seid …«
»Das haben wir«, sagte der Mann mit dieser merkwürdig dünnen, gespaltenen Stimme, die jedes Mal unerwartet kam. »Er ist untergetaucht. Aber er braucht seinen Truck.« Er lächelte wieder, als wäre er der netteste Mensch der Welt. »Und wir brauchen ihn.«
Duran merkte, dass er schwitzte. Als ob sein Körper etwas wusste, was sein Verstand noch nicht begriffen hatte.
Der Mann legte den Kopf schief. Er begegnete Durans Blick nicht, sondern fokussierte eine tiefere Stelle in seinem Gesicht. Der gerade verpasste Augenkontakt verunsicherte Duran. »Du hast dir den Kiefer gebrochen«, sagte der Mann zu ihm. »Als du noch ein Kind warst.«
Durans Hand hob sich reflexartig und berührte die Stelle, an der der Schlag den Knochen gebrochen hatte. Es war nur ein Haarriss, der mit einer Tüte gefrorener Erbsen und einem Pappbecher, in den man sabbern konnte, behandelt worden war. Er hatte nicht einmal sichtbare Schäden hinterlassen. Zumindest hatte Duran das immer gedacht.
»Eine geschlossene Fraktur«, fuhr der Mann fort, die Augen starr auf die Stelle gerichtet. »Oben am Kiefergelenk. Das muss schrecklich wehgetan haben.«
Duran gefiel das Funkeln in den Augen des Mannes nicht. Als ob er hungrig wäre. Duran musste schlucken, seine Kehle war plötzlich trocken. Schließlich brach der Mann seinen Blick ab, notierte sich eine Telefonnummer auf einen leeren Zettel und reichte ihn Duran. »Zuckerbrot oder Peitsche«, sagte er zu Duran mit einem freundlichen Lächeln. »Du hast die Wahl.«
Sie drehten sich um und gingen vom Hof.
Sobald sie den äußeren Zaun hinter sich gelassen hatten, blinkten die Sicherheitskanäle wieder auf. Entweder besaßen diese Deputy Marshals technische Fähigkeiten auf Hackerniveau oder es war ein verdammter Zufall. Duran betrachtete die Monitore, die nichts weiter zeigten als einen leeren Parkplatz und den hereinbrechenden Mitternachtsnebel. Dieser wurde immer dichter, bis die Lichter der Stadt erloschen und die Scheinwerfer der Autos wie verirrte Glühwürmchen umherschwirrten. Er kaute auf seiner Lippe und dachte an die seltsame Frau und den Kerl, der ihm mit diesem merkwürdigen Gesichtsausdruck auf den Kiefer gestarrt hatte. Er dachte daran, was der U.S. Marshals Service mit ihm machen könnte, wenn er nicht kooperierte. Er dachte an die tausend Dollar.
Sie brauchten seine Hilfe. Nein – sie hatten sie gefordert. Okay, dachte er. Warum nicht?, dachte er. Was kann schlimmstenfalls passieren?
Eine Woche später wird Evan von einem Fuß in seiner Brust geweckt. Es ist nichts Persönliches. Als kleinstes Kind schläft er auf der Matratze zwischen den Etagenbetten und genau das passiert halt, wenn man im Gang liegt. Als er die Augen öffnet, sieht er eine Stampede in Zeitlupe. Andre, zurück von einer weiteren erfolglosen Elternsuche, ist der Einzige, der sich die Mühe macht und eine Entschuldigung flüstert.
Die anderen eilen leise zur Tür und spähen aufgekratzt um den Pfosten herum. Der Rahmen selbst ist mit unzähligen Höhenmarkierungen schraffiert, die Papa Z diesen Sommer mit seinem Taschenmesser eingekerbt hat. Evan krabbelt hinüber; der einzige noch freie Platz am Türrahmen ist auf Bodenhöhe.
Aus der Froschperspektive sieht er Papa Z, der in einem ehrwürdigen Sessel sitzt und seine fleischige Faust um einen Coors-Tallboy gepresst hat. Gesicht und Hals sind rot und fleckig; das ist nicht das erste Bier des Abends.
Eine gedämpfte Stimme ertönt aus dem Raum ihm gegenüber, drüben bei dem scheißbraunen Kordsofa mit dem fehlenden Kissen. »- kann im Moment nur einen aufnehmen. Sicher ist es ein Ausweg. Aber er muss zeigen, dass er leistungsfähig ist.«
»Charles ist das«, bestätigt Papa Z. Er setzt die Dose an, sein faustgroßer Kehlkopf gluckert auf und ab.
Van Sciver ist in der Tür erstarrt. Evan kann ihn über sich spüren, angespannt wie ein Hund, der seine Beute beobachtet.
Jamal flüstert: »Ist das...? »
»Der Mystery Man«, bestätigt Ramón, bevor Van Sciver sie ungehalten zum Schweigen bringt.
»Charles scheint am wahrscheinlichsten«, sagt die leise Stimme. »Oder der andere. Andre.«
Andre zieht seinen Kopf leicht zurück. Unten im Flur wischt sich Papa Z die Lippen ab. »Was ist mit Evan?«
Sie bemühen sich, die Stimme des Mystery Man zu verstehen. »Der Kleine?«
»Ja.«
»Zu klein.«
»Aber eigensinnig«, sagt Papa Z. »So eigensinnig.«
»Nein«, sagt der Mystery Man. »Der Kleine ist nicht gut.« Gedämpfter Spott regnet auf Evan herab. Sie verstummen augenblicklich, als die Dielen des Wohnzimmers knarren. Der Mystery Man tritt ins Blickfeld, das Profil eines Gesichts über knochigen Schultern.
Zwei schlanke Finger umklammern eine Visitenkarte, die Papa Z entgegengestreckt wird. Die goldene Uhr funkelt. Er trägt die Ray-Ban. Sogar drinnen. Sogar in der Nacht.
»Charles Van Sciver soll mich anrufen«, sagt er.
Die Jungs schleichen zurück ins Bett, vollgepumpt mit Adrenalin. Geflüsterte Theorien und schmutzige Witze fliegen hin und her.
»Ich werd's tun«, sagt Van Sciver. »Was auch immer es ist, ich werd‘s tun.«
»Was ist mit Andre?«, fragt Ramón. »Der Mystery Man hat auch ein Auge auf ihn geworfen.«
»Oh, nein, Sir«, sagt Van Sciver. »Andre wird bei seiner Mutter und seinem Vater einziehen. Sobald er sie gefunden hat. Stimmt‘s, Andre?«
»Was sagst du dazu, Dr. Dre?«, sagt Tyrell. »Hast du deinen Daddy dieses Mal gefunden?«
Gelächter von allen Seiten.
Andre macht sich nicht die Mühe, von seinem Spiralheft aufzublicken, in das er ständig Superhelden, Soldaten und kurvige Mädchen zeichnet.
Er hasst es, Dr. Dre genannt zu werden, fast so sehr wie er es hasst, wenn sie ihn Dre-Dre. nennen oder seinen zweiten Vornamen benutzen. Ein verrücktes biblisches Wort, das auf seiner Geburtsurkunde steht und von dem nicht einmal er weiß, wie man es ausspricht. Das Heim ist ein ständiges Testgelände, auf dem jede Schwachstelle aufgedeckt und ausgenutzt wird, bis es dich kaputt macht oder du es kaputt machst.
»Wenigstens ist meine Schwester keine Hure«, sagt Andre.
Tyrells Augen weiten sich. Das Weiß hebt sich von seiner glänzenden schwarzen Haut ab. »Wenigstens weiß ich, wer meine Eltern sind, du Wichser.«
Ramón lacht und klatscht leise in die Hände. Seine Ärmchen sind so dünn, dass sie beim Zusammentreffen zu brechen drohen. »Es ist immer gut, genau zu wissen, wer dich nicht will.«
»Wartet nur ab, ihr Dummköpfe«, sagt Andre. Seine Hand wird nicht langsamer, der Bleistift kratzt beruhigend über das Papier. »Mystery Man wird sich für mich entscheiden, denn er weiß, wer es in sich hat. Dann fahre ich einen fetten Cadillac und ziehe nach Kalifornien – Palmen und so ein Scheiß und blonde Mädchen mit saftigen Hintern, die den ganzen Tag im Bikini Inliner fahren.«
Evan denkt an Kalifornien und Palmen und Inliner-Blondinen. Andres Fantasie verwebt sich mit seiner, bis sie zu einem großen Wandteppich wird, der unerreichbar hoch hängt.
Er wartet schweigend, bis die Stimmen verstummen, bis die Atemgeräusche gleichförmig werden, bis der Raum still ist.
Dann schleicht er sich aus dem Bett, den Flur hinunter zu dem dröhnenden Fernseher. Papa Z schnarcht opernhaft, sein letztes Coors im Schritt. Evan schaut auf die Visitenkarte, die auf der Armlehne des Stuhls neben der Fernbedienung liegt. Zuerst versteht er sie nicht.
Die Karte ist komplett schwarz.
Dann unterbricht ein Werbespot die Wiederholung von Doogie Howser und das wechselnde Licht lässt die Pappe schimmern. Erst jetzt werden zehn Ziffern sichtbar, mattschwarz, leichte Erhebungen auf glänzendem Schwarz. Eine versteckte Telefonnummer.
Evan lehnt sich für einen besseren Winkel vor, die Hände auf den Knien, und prägt sich das Bild ein.
Er dreht sich zurück in den Flur, wobei sein Gesicht fast mit Van Scivers Brust zusammenstößt.
Der um zwei Köpfe größere Junge steht ganz still da, die Arme verschränkt, das blaue Kopftuch perfekt in Position. »Denk nicht mal dran«, sagt er. Seine Lippen bewegen sich, aber seine Zähne bleiben zusammengebissen und eine schlangenhafte Ader schwillt an der Seite seines Halses an.
Papa Z rührt sich. »Jungs? Wo ist das Problem?« Van Sciver zeigt sein breites Grinsen. »Überhaupt kein Problem, Sir.«
»Wer ist da?«
»Nicht Charles Van Sciver.«
»Das dachte ich mir. Was willst du? Woher hast du diese Nummer?«
»Von der Karte, die Sie hinterlassen haben.«
»Ich habe ihm gesagt, dass er sie niemandem weitergeben soll.«
»Hat er auch nicht. Ich habe heimlich einen Blick darauf geworfen.« Stille. Dann: »Der Park um den Block mit den Outdoor-Handballplätzen. Der letzte auf der Südseite. Hinter der Mauer. Morgen um 12 Uhr.« Klick.
Evan umrundet die Handballwand, das Gewicht eines Schattens fällt auf ihn. Der Mystery Man steht am Zaun und raucht, während sich seine schlanken Finger in den Maschendraht krallen. Er blickt auf und sein Gesicht flackert verächtlich. »Du?«
Er schlendert hinüber. Plötzlich wird Evan bewusst, wie abgeschieden sie hier sind, hinter dem letzten Hof auf der Südseite ... Sie blicken auf eine von Glassplittern übersäte Gasse und eine Brandruine. Jalilahs Oma war beim Kiffen eingepennt, was dem Gebäude zum Verhängnis geworden war. Das einzige Anzeichen von Zivilisation ist eine schwarze Limousine, die am Rand der Asphaltfläche parkt. Ihre Scheinwerfer starren Evan an. Alle Scheiben sind getönt. Sogar die Windschutzscheibe. Er vermutet, dass dies das Auto des Mystery Man ist, obwohl niemand den Kerl je hat fahren sehen.
Andererseits war auch noch nie jemand dem Mystery Man so nah gewesen. Fahle Gesichtszüge, strähniges Haar. Das Gesicht so unrasiert, dass es wie ein Statement wirkt, nicht wie ein Versehen. Mit geübter Hand schnippt er seine Kippe weg, als er sich Evan nähert.
Evan spürt, wie sich sein Puls beschleunigt. Sein Herz randaliert in seinem Brustkorb, schlägt durch die Rippen panisch gegen sein abgewetztes T-Shirt. In den sich nähernden Gläsern der Ray-Ban sieht er seine Zwillingsspiegelbilder, klein und erbärmlich. Er räuspert sich, will etwas sagen.
Der Mystery Man gibt ihm eine Rückhand.
Nicht mit voller Wucht, aber er hält sich auch nicht zurück. Der Schlag reißt Evans Kopf in den Nacken und schleudert ihn schmerzhaft auf alle Viere, wobei eine Schnur aus purpurrotem Sabber seine Unterlippe mit dem Asphalt verbindet.
Die Stimme kommt von hinten. »Lektion eins: Sei bereit. Und jetzt verpiss dich hier.«
Die betrunken tanzenden Irrlichter verschwinden allmählich aus Evans Sicht. Er steht auf und wischt sich die Lippe ab. »Was ist Lektion zwei?«
Der Mystery Man schluckt überrascht. Er blickt zu der dunklen Limousine hinüber, und zum ersten Mal spürt Evan Nervosität in seiner Körpersprache und versteht: Das Auto gehört nicht dem Mystery Man.
Der Mann zögert, als würde er versuchen, die dunkle Windschutzscheibe zu lesen. Dann schüttelt er angewidert den Kopf. »Na gut. Du willst noch einen Versuch? Morgen. Selbe Uhrzeit, selber Ort.«
Als Evan nach Hause läuft, überwältigt ihn die Scham, ihre Spuren ziehen sich über sein Gesicht. Van Sciver wartet im Schlafzimmer, sonst niemand. Es hat sich herumgesprochen. Seine Faust ist um die Enden seines Gürtels geballt.
Er sagt: »Wir haben unser Gespräch von gestern Nacht nicht beendet.«
Zwei Wochen später hatte Duran die beiden Deputy Marshals fast vergessen, die um Mitternacht bei ihm aufgetaucht waren und ihn gebeten hatten, den Besitzer des verbeulten Broncos im Auge zu behalten. Der Typ mit der piepsigen Stimme und die Frau mit den langen roten Fingernägeln und den voluminösen Haaren – ihm war, als hätte er sie sich ausgedacht.
Ein Anruf rüttelte sein Gedächtnis wieder wach.
Jake Hargreave rief an, um nach seinem Truck zu fragen. Er hatte eine heisere Stimme, in der etwas Hinterhältiges lag. Duran konnte verstehen, warum er den Marshals Service auf den Fersen hatte. Und ja, er wollte jetzt kommen, um halb zwei morgens. Was für einen Kerl, der seinen Wagen zurückfordern wollte, eine echt merkwürdige Zeit war.
Duran prüfte den Papierkram. »Okay«, sagte er. »Aber keine Ahnung, wie du den Wagen hier rausfahren willst. Vorausgesetzt, er springt überhaupt an.
»Lass das meine Sorge sein«, sagte Hargreave und legte auf.
Duran öffnete seine Tasche – 128,95 Dollar – und nahm die Telefonnummer heraus, die der Deputy mit der hohen Stimme aufgeschrieben hatte. Er starrte sie an und kaute auf seiner Unterlippe. Irgendetwas fühlte sich falsch an. Aber es fühlte sich genauso falsch an, nicht anzurufen.
Nach allem, was Duran wusste, war Hargreave ein gesuchter Straftäter und der einzige Weg, ihn davon abzuhalten, ein Einkaufszentrum in die Luft zu jagen oder eine Frau in einem Kellerschacht zu töten, war, die Behörden zu kontaktieren.
Und die tausend Dollar.
Das war so ziemlich alles, was zwischen ihm und seinem kleinen Mädchen stand, das mit jedem Tag, an dem er es nicht auf die Reihe bekam, weniger klein wurde.
Er wählte.
Eine Frau nahm ab. »U.S. Marshals Service.« Im Hintergrund hörte er Musik, Rihanna, die irgendeinen Glückspilz aufforderte, sich unter ihren Regenschirm zu stellen, ella, ella.
»Hallo ... äh ... Ich wurde gebeten, diese Nummer anzurufen ...«
Rihanna wurde abrupt unterbrochen. Dann sagte die Frau: »Ja, das waren wir.«
Jetzt erkannte er die Stimme: Ms. Red.
Ihm fiel auf, dass keiner der beiden ihm einen Namen genannt hatte. Als er auf den Papierfetzen hinunterblickte, fragte er sich, warum sie keine offizielle Visitenkarte hinterlassen hatten.
Aber das Gespräch ging schon ohne ihn weiter. »Und?«, wiederholte sie ungeduldig. »Tut mir leid, was?«, berappelte er sich. »Ich sagte, hat der Besitzer des Broncos angerufen?«
Duran dachte darüber nach, wie die Sicherheitskameras beim Auftauchen der Deputies auf Rauschen umgeschaltet und sich dann auf magische Weise wieder eingeschaltet hatten, nachdem sie den Hof verlassen hatten.
»Mr. Duran«, sagte sie fest.
Er spürte, wie er schwitzte. Er hatte ihr seinen Namen nicht genannt. Ms. Red hatte offensichtlich in den Datenbanken des Bundes geforscht.
»Ja«, hörte er sich selbst sagen. »Ja, das hat er.«
»Kommt er jetzt rein, um ihn zu holen?«
»Ja, genau.« Die Verbindung wurde unterbrochen.
Der Schweiß kühlte Durans Gesicht. Er legte das Telefon auf den Tresen und starrte es an. Die Kälte des Hofes kroch in den Verschlag, das Fenster beschlug. Novemberwind kam auf und heulte durch den Rumpf eines ausgebrannten Mustangs.
Von seinem Platz in der ersten Reihe starrte der Bronco zu ihm zurück.
Er erinnerte sich an die Worte des Deputies: Er braucht seinen Truck. Und wir brauchen ihn.
Warum brauchte Jake Hargreave seinen Truck?
Duran stieg aus dem Verschlag und trat auf den mit Glasscherben übersäten Boden. Die Spitze seines Turnschuhs blieb an einem zerbrochenen Flaschendeckel hängen und ließ das Ding über den Asphalt schießen.
Als er sich dem Truck näherte, leuchtete er mit seiner Taschenlampe durch die zerstörte Windschutzscheibe. Das Armaturenbrett war mit Sicherheitsglas übersät. In seiner Plastikhülle hing ein Parkausweis über dem Rückspiegel, dekoriert von einem Strauß Little Tree-Lufterfrischer. Ein dunkler Fleck auf dem schwarzen Gurtband des Sicherheitsgurtes – getrocknetes Blut?
Die Fahrertür war eingedrückt aber die Hintere gab knarrend nach. Duran durchsuchte die Rückbank, den Laderaum und den Teppichboden – nichts außer ein paar weiteren stumpfen Glasstücken und einer verirrten Münze. Er kroch hindurch, um das Handschuhfach zu überprüfen. Leer.
Jemand war gründlich gewesen. Duran ging zurück, ging in die Hocke und kaute auf seiner Lippe. Er fühlte sich aufgerieben, ein Schneesturm aus Instinkten und Eindrücken toste in ihm, wollte sich nicht beruhigen. Jedes Mal, wenn er nach einem Gedanken griff, wirbelte er davon und verlor sich in den Böen.
Sein Rücken knackte, als er aufstand. Duran beschloss, ein bisschen auf dem Grundstück zu patrouillieren, um einen klaren Kopf zu bekommen. Er kam an einem Motorrad mit einem verbeulten Vorderrad vorbei, das zweifellos ein oder zwei Menschenleben gekostet hatte. Daneben eine Vierzigzentiliter-Flasche King Cobra. Eine zerknitterte Papiertüte hatte sich wie ein Rock um das Glas gelegt. Er kam an dem Loch im Maschendrahtzaun vorbei, durch das die Opossums immer eindrangen; blasse Vagabunden mit marmornen Augen.
Hinter ihm im Verschlag schaltete sich das Licht mit dem Bewegungssensor aus und tauchte den Parkplatz in Halbdunkel. Er zog die Maglite aus seiner Tasche und schaltete sie ein. Die Taschenlampe leuchtete über die Wracks, während er sich durch die labyrinthartigen Wege des dunklen Außenbereichs schlängelte. Zerbrochene Windschutzscheiben teilten den Lichtstrahl und ließen ihn wie durch ein Kaleidoskop über die Reihen der verbeulten Autos gleiten. Oben auf dem Maschendrahtzaun blickten in regelmäßigen Abständen Sicherheitskameras auf ihn herab und zeichneten seinen Weg auf. Die ganze Szene wirkte unheimlich und unwirklich, wie aus einer dystopischen Zukunft.
Er fragte sich, was für ein Deputy Marshal um 2:30 Uhr nachts wach war und Rihanna hörte.
Keine Visitenkarten. Die Frau, die am Telefon sehr unverbindlich geantwortet und ihm immer noch keinen Namen genannt hatte. Der Kerl mit der verrückten Stimme und dem noch verrückteren Anzug. Duran hatte schon viele Deputy Marshals gesehen, aber noch nie einen, der so gekleidet war.
Endlich hatte er den Verdacht, der unter all dem Lärm aufflatterte, fest im Griff.
Was, wenn sie gar keine Deputy Marshals waren?
Duran hielt am äußersten Rand des Parkplatzes an und knipste seine Taschenlampe aus. Er blieb in der Dunkelheit stehen, um das ganze Gewicht seiner Bedenken auf sich wirken zu lassen.
Er verfluchte sich dafür, nicht schon früher tiefer gegraben zu haben. Hatte er wirklich nicht zugeben wollen, dass etwas nicht stimmte? Immerhin hatten sie ihm tausend Gründe geliefert, sich selbst zu täuschen.
Er nahm den Zettel aus seiner Tasche und starrte auf die Ziffern. Er wollte nicht nachsehen. Ganz und gar nicht.
Aber er musste es tun.
Er rief die Auskunft an und bat darum, mit dem Büro des Marshals Services in der Innenstadt verbunden zu werden.
Die Zentrale meldete sich; eine Frau, deren Stimme nicht ganz wach klang.
»Ja, hallo«, sagte er. »Ich habe eine Telefonnummer von einem Deputy bekommen, der vielleicht gar kein Deputy war. Wenn ich sie vorlese, können Sie mir dann sagen, ob ... äh, ob sie echt ist?«
»Ich kann keine Telefonnummern von Bundesbediensteten herausgeben«, sagte sie müde. »Genau. Das habe ich verstanden. Ich gebe Ihnen ja eine Nummer.« Er ratterte sie schnell herunter, bevor sie ihn unterbrechen konnte. »Ich muss nur wissen, ob es jemand ist, der sich für einen von ihnen ausgibt. Bevor ich irgendwelche geheimen Informationen preisgebe.«
Sie grunzte. Sagte nichts. Aber er konnte die Tastatur klappern hören. In der darauffolgenden Pause fuhren die Scheinwerfer auf den Parkplatz, krochen über das Labyrinth der Autowracks und warfen wilde Schatten auf das verbogene Metall. Das Fahrzeug selbst konnte er nicht sehen, nur die gebrochenen Strahlen, die durch die Dunkelheit drangen.
Er spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte, in seinem Nacken stellten sich die Härchen auf. Das Fahrzeug schlich sich in das Innere des Hofes.
»Es tut mir leid, Sir, aber diese Nummer ist nicht bei der Behörde registriert«, sagte die Frau. »Und sie ist auch nicht in der Datenbank als persönliche Nummer für einen unserer Mitarbeiter aufgeführt...«
Er legte auf, sog einen Atemzug kalter Nachtluft ein.
Die Scheinwerfer fuhren auf den Verschlag zu, hielten an. Ein helles Geräusch signalisierte eine geöffnete Tür.
Duran schob sich aus einer Reihe von Autos heraus und spähte den Korridor zwischen den Wracks hinauf.
Ein Prius war neben dem zerstörten Bronco geparkt. Die Fahrertür stand aufgeklappt und verlassen, die Kuppel unter dem Dach leuchtete gelb. Zuerst konnte Duran niemanden sehen.
Dann lenkte eine Bewegung seine Aufmerksamkeit auf den Bronco. Ein breitschultriger Mann – Hargreave – hatte sich durch das zertrümmerte Fenster in die Beifahrertür des Trucks geduckt und lehnte sich über das Armaturenbrett.
»Hey!«, rief Duran. »Hey!«
Der Mann rutschte aus dem Bronco, ging ein paar Schritte vor den laufenden Prius und stand im Schein des Abblendlichts wie ein perfekter schwarzer Ausschnitt. Er hatte die Hände an den Seiten und legte den Kopf schief - neugierig oder besorgt.
Duran joggte ein paar Schritte auf ihn zu. »Du solltest von hier verschwinden. Diese Typen sind hinter dir her. Sie haben mich reingelegt. Es tut mir leid, aber ...«
Ein leises Brummen erregte seine Aufmerksamkeit, die Quelle befand sich etwa dreißig Meter von Hargreave entfernt. Abrupt blieb Duran im Schatten des Verschlags stehen.
Hargreave drehte sich um, die Hälfte seiner Silhouette wurde von den Hofscheinwerfern erfasst, eine senkrechte Naht, von einer Schattennadel durchstochen, spaltete seinen Körper.
Das Brummen wurde lauter, die Tonlage wurde schrill. Hargreave zuckte einmal heftig zusammen. Es gab einen kurzen Moment der Ruhe. Und dann schoss ein Strahl aus seinem Hals, einen halben Meter hoch. Duran brauchte einen Moment, um zu begreifen, was er da sah. Blut. Halsschlagader. Als ob Hargreave mit einem Skalpell gestochen worden wäre. Nur dass es kein Skalpell gab. Und auch niemanden, der es halten konnte. Hargreave presste eine Handfläche an die Seite seines Halses, seine Finger auf den Strahl. Es war wie bei einem undichten Damm, drei Ströme spritzten durch die Ritzen. Hargreaves Knie knickten ein. Er sackte auf den Boden und sein Körper rollte sich in Fötusstellung zusammen. Die Gelenke zuckten wild, schlugen den Asphalt, einmal, zweimal. Dann regte er sich nicht mehr. Ein nasser Kreis breitete sich unter seinem Kopf aus, schimmernd wie ein Ölfleck. Die Scheinwerfer legten eine Decke aus Licht über seine gekrümmte Gestalt.
Niemand war in seiner Nähe gewesen. Nichts hatte ihn berührt. Es gab keinen Schuss, kein Projektil, keinen Knall einer Explosion. Es war unmöglich und doch hatte Duran es mit eigenen Augen gesehen. Er war die einzige Person auf dem Parkplatz. Er war der einzige Mensch auf den Sicherheitsvideos. Er war der Einzige, dem man die Schuld geben konnte.
Aus der Dunkelheit starrte er auf die schlaffe Gestalt, seine Haut kribbelte. Es war unglaublich, wie schnell ein Leben ausgelöscht werden konnte. Ein ruckartiges Einatmen ließ ihn erschaudern. Seine Sinne arbeiteten auf Hochtouren. Seine Haut brannte. Die Brise kühlte die Nässe in seinen Augen. Selbst auf dreißig Meter Entfernung konnte er schwören, Blut riechen und das Eisen in der Luft schmecken zu können. Er stellte sich vor, wie die beiden falschen Hilfssheriffs mit ihrer gut gekleideten Zuversicht die Sicherheitsmonitore in perfektem Zusammenspiel ausgeschaltet hatten, ein Fingerschnippen eines technischen Genies … oder dunkler Magie. Und jetzt lag Hargreave auf dem Boden, seinen Mageninhalt in den Jeans, niedergestreckt von einer unsichtbaren Hand. Duran konnte das Brummen aufgrund des Pochens in seinen Ohren kaum hören, aber er spürte es deutlich. Ein Vibrieren in seinen Zähnen. Es lag immer noch in der Luft, wie die Stimme eines Bauchredners, es schwebte über Hargreaves Körper und schwirrte dann um den Verschlag herum. Und dann – im Inneren – ein schwaches Geräusch, das sich zwischen den engen Wänden verstärkte.
Auf der Suche. Auf der Suche nach ihm. Er machte einen Schritt hin zu dem Verschlag, zerknüllte den Zettel in seiner Faust, seine Handfläche war schweißnass. Die nächsten Schritte kamen quälend langsam, seine wackeligen Beine drohten nachzugeben. Als er es in die Deckung eines zerlegten Minivans geschafft hatte, holte er ein paarmal tief Atem. Die knisternde Unruhe in der Luft schien sich immer noch im Inneren des Verschlags zu bewegen.
Er sprang vor, rannte zum Verschlag und schlug die Tür zu, kramte den Schlüssel aus seiner Tasche, schloss einmal ab. Dann bäumte er sich auf und trat gegen den Türknauf. Er brach ab und verschwand klirrend in der Dunkelheit.
Duran rannte auf die Absperrung zu.
Er wartete auf das Geräusch des Brummens, lauschte, ob es ihn verfolgte, aber er hörte nichts außer dem Rauschen seines Atems in seinen Ohren.
Hastig rutschte er unter dem Zaun hindurch, schob sich durch das Opossum-Loch. Dabei schürfte er sich die Handflächen auf und zerriss den Knieaufnäher seiner beschissenen Sicherheitshose. Die zerfressenen Stacheln des Maschendrahts bohrten sich in seine Wirbelsäule.
Als er sich losriss, warf er einen Blick über die Schulter, konnte aber durch die Rauten des Zauns nicht mehr erkennen als die dunkle Weite des Parkplatzes.
Sie hatten sein Gesicht gesehen. Sie kannten seinen Namen. Seine Schulter streifte den rauen Ziegelstein, als er sich in eine anliegende Seitengasse stürzte. In seinem Kopf wirbelten die Möglichkeiten und Ergebnisse durcheinander. Er begann zu begreifen, wie sehr er in der Klemme steckte. In einen Mord verwickelt. Auf der Flucht.
Niemand, an den du dich wenden kannst.
Schweiß kühlte seine nackte Brust. Evan sah zu, wie sie eindöste, während er mit seinen Fingern durch ihr lockiges Haar fuhr.
Sie lag nackt im blassblauen Licht – ästhetisch wie ein Gemälde. Das Mondlicht, das durch das Fenster fiel, ließ ihre makellose Haut platinfarben erscheinen. Ein Bein hatte sie so angezogen, dass ihre Hüften leicht schräg lagen und ihre Taille anmutig in den Brustkorb überging. Die Laken um sie herum so glatt wie der Zuckerguss auf einer Torte. An ihren Schultern waren Striemen zu sehen – Spuren seines festen Griffs.
Aus diesem speziellen Blickwinkel, in dem gedimmten Licht und mit abgewandtem Gesicht, hätte sie auch jemand anderes sein können. Für einen kurzen Moment ließ sich Evan von seinen Augen täuschen.
Doch dann hob sie ihren Kopf und schmiegte sich an seine Brust. Ihre Gesichtszüge wurden klar, die großen Augen, die karamellfarbene Haut, die breite Stupsnase.
Dies war nicht Mia Hall, die alleinerziehende Staatsanwältin, die in seinem Haus wohnte und auch viel Raum in seinen Gedanken einnahm.
Dies war Jeanette-Marie, eine Frau, die er an diesem Abend in der Polo Lounge des Beverly Hills Hotels kennengelernt hatte. Sie hatte an einem Cîroc genippt, einem durchaus ordentlichen Wodka. Als er sich neben sie gesetzt und einen Jewel of Russia Ultra bestellt hatte, erregte das ihre Aufmerksamkeit. Genau wie Evan war sie Mitte Dreißig – und genau wie er hatte sie die nötige Souveränität und Anmut, um das zu zeigen.
Ein Grinsen verzog ihren Mund. »Das war ... verdammt geil.« Sie blies sich eine Korkenziehersträhne aus dem Auge. »Wie heißt du noch mal?«
»David.«
»Wirst du mich anrufen?« Evan streichelte ihr weiter träge über das Haar, ihr Nacken glühte unter seinen Fingerspitzen. »Nein«, sagte er neutral. »Schon in Ordnung.« Sie streckte sich katzenartig, zufrieden. »Ich habe diesen verlogenen Scheiß so satt. Danke, dass du ehrlich bist.«
»Danke, dass ich Zeit mit dir verbringen durfte.« Sie legte den Kopf schief. »Du bist ein komischer Typ, David. Höflich und ... hm, formell, würde ich sagen. Ich mein, versteh mich nicht falsch. Mir gefällt‘s.« Sie rutschte hoch und zog sich ein Spitzenhemd an, das an dem Bettgestänge baumelte. »Möchtest du etwas essen?«
»Nein, danke«, sagte er. »Ich kann mich selbst hinausbegleiten.«
»Bist du sicher? Nicht einmal 'nen Espresso oder so?«
Sie senkte den Kopf. »Tut mir leid. Fuck … es ist nur ... wir Frauen sind es gewohnt, uns nützlich machen zu müssen.«
»Das hast du nicht nötig. Du bist entzückend, wenn du nur daliegst.«
Er war jetzt auf den Beinen und suchte auf dem weißen Carrara-Marmorboden nach seinen Boxershorts. Sein RoamZone, das er neben ihrem weggeworfenen einzelnen High Heel abgelegt hatte, zeigte einen verpassten Anruf an.
Dieselbe Nummer wie bei den letzten drei Anrufen, beginnend mit der Landesvorwahl von Argentinien.
Ein einziges Mal hatte er abgehoben. Was dann zu hören war, hatte ihm gar nicht gefallen.
Es gab eine Zeit, in der ein verpasster Anruf bei 1-855-2-NOWHERE Grund zur Sorge gewesen wäre. Aber jetzt führte er ein normales Leben – oder wenigstens eine unausgereifte Vorstellung davon. Ein Leben, in dem es die Polo Lounge gab, Frauen mit breiten Skisprungnasen und Abende ohne Gewalt.
Evan atmete tief aus und knackte den Nacken durch. Er sog den Geruch von Parfüm und Schweiß ein. Dann streckte er seine Schultern und nahm die Wärme der Einrichtung in sich auf. Jeannette-Maries luxuriöser Bungalow thronte über den Hollywood Hills. Ihr riesiges Bett stand in der Mitte des großen Raums zwischen zwei Kerzenständern, die jeweils den Durchmesser von Panzerrohren hatten. Die offene Küche wirkte modern und schick mit marokkanischen Fliesen, salbeigrünen Schränken und einem grob gesägten Bauernhoftisch. Ein weißer, ordentlich verknoteter Plastikmüllsack lehnte an einem holzgetäfelten Kühlschrank. Ein großes Panoramafenster gab den Blick frei auf den Sunset-Strip mit seinen Ampeln und hohen Werbetafeln, die It-Girls und -Boys wie überlebensgroße Juwelen – und verderbliche Waren – präsentierten.
Der verpasste Anruf lenkte ihn ab. Die Frau, die ihn getätigt hatte, war hartnäckig. Was zum Teufel wollte sie? Wer hatte sie geschickt?
Jeanette-Marie musterte ihn aufmerksam. Ihre Augen funkelten. »Okay, lass mich raten: Du bist ein ... Sous-Chef.«
Amüsiert antwortete er: »Klar.«
Um nicht aufzufallen, behielt Evan eine durchschnittliche Statur. Ein ganz normaler Kerl, nicht allzu gutaussehend. Seine Muskeln hielt er straff, aber nicht ausgeprägt. Trug er Alltagskleidung, war schwer zu erkennen, wie fit er eigentlich war.
Aber jetzt war er nackt.
Jeanette-Marie hatte ihn zwar schon aus der Nähe gesehen, aber nun betrachtete sie ihn noch einmal aus einer anderen Perspektive. »Nein – warte.« Sie schnippte mit den Fingern. »Ein Trainer! Warte mal; nein – ein Physiotherapeut?«
»Klar«, sagte Evan.
»Okay. Ein Sous-Chef-Trainer-Physiotherapeut. Das war‘s dann auch schon.« Ihr Lächeln strahlte mädchenhaft. »Was denkst du, was ich mache?«
»Ich denke, du bist Malerin und hast am Royal College of Art studiert. Du arbeitest lieber mit Ölfarben und unterrichtest in Teilzeit an der UCLA.« Sie presste die Lippen zusammen und runzelte ungläubig die Stirn.
»Ähm. Wie ...?« Er fand seine Boxershorts unter einem Deko-Kissen, das heute Abend nur den Fußboden dekoriert hatte. »Du hast Schwielen an der Seite deines linken Mittelfingers in der Nähe des Gelenks, vermutlich weil du einen dünnen Pinsel gehalten hast. Dein Hemd hat Farbflecken am Ärmel. Acrylfarben funktionieren auf Wasserbasis, sie wären schon längst ausgewaschen. Also: Öl. In der Polo Lounge hast du mit einer Bruin-Fakultätskreditkarte bezahlt, nachdem ich dir keinen Drink spendieren durfte.«
Sie schürzte die Lippen und brauchte einen Moment, um das zu begreifen. »Okay, gut. Aber das Royal College?«
»Du hast ein Lieblingscafé in der Prince Consort Road in London erwähnt, das ist gleich um die Ecke.«
Sie saß jetzt aufrecht auf der Matratze, die Hände im Schoß. »Wow. Du passt tatsächlich auf.«
Er kramte einen seiner Stiefel unter ihrer ausgebeulten Jacke hervor. »Manche Leute sind es wert, dass man ihnen seine volle Aufmerksamkeit schenkt.«
»Gott«, sagte Jeanette-Marie. »Du bist das Gegenteil von meinem Ex. Du bist der Anti-Ex. So, wie die Sache mit ihm geendet hat, bist du genau das, was ich für diese Nacht gebraucht habe.«
»Es ist wohl nicht gut ausgegangen?«
»Mal schauen: Ich habe das Haus, das ist schonmal gut. Aber er hat die komplette Kohle bekommen – und das war nicht wenig. Ein I-Banker, ein Harvard-Arschloch, du kennst den Typ. Ganz anders als wir Royal-College-Arschlöcher.« Noch einmal hellte dieses Grinsen ihr Gesicht auf. »Gegensätze ziehen sich an … bis sie es nicht mehr tun.«
Evan dachte an die verstreuten Sommersprossen auf Mias Nase. Das Muttermal an ihrer Schläfe. Den Geruch ihres Halses.
»Genau.«
»Aber wenn du dich in jemanden verliebst, wird es diesmal etwas Anderes, richtig? Jedes Mal. Und dann ist es doch nicht anders. Es ist nie anders.« Sie zog ihre Locken nach hinten und das Mondlicht fiel in ihren Nacken. Evan hielt noch einmal inne, um sie zu bewundern.
»Aber ich war Teil davon«, fuhr sie fort. »Also sollte ich Donnie nicht die ganze Schuld geben. Ich meine; in der Theorie? In der Theorie war Donnie der Traummann. Ich denke, ich habe mich in mein Bild von ihm verliebt. Und dieses Bild ist noch stärker als die Liebe zu einem echten Menschen, denn was man alles tun muss, um einem Bild den Glanz zu nehmen …« Sie schüttelte den Kopf. »Im Grunde ist er harmlos. Nur ein Betrüger und ein Arschloch. Ich wusste das schon länger, als ich es wissen wollte. Aber allein sein? Das ist doch das Schlimmste, oder?«
»Genau.«
»Das ist es, was ich vermisse. Noch mehr als den Sex. Jemanden, der ... du weißt schon, ab und zu Abendessen kocht und den Müll rausbringt.«
Bevor er antworten konnte, hörte er das metallische Kraxeln eines Schlüssels, der in das Schloss der Vordertür geschoben wurde.
»Oh, Scheiße«, sagte sie.
Der Riegel zog sich lautstark zurück und die Tür schwang auf.
Ein Mann in einem zerknitterten Anzug schlenderte über die Schwelle. In seinem Rücken drei Männer mit blitzenden Augen – flirrende Feindseligkeit, gemildert durch einen Hauch von Verunsicherung. Sie sahen gut geschmiert aus, ihre Bewegungen waren vom Alkohol gelockert, sie stanken nach Tequila. Billiges Gesöff.
»Verdammt noch mal. Donnie!«, sagte Jeanette-Marie. »Das ist nicht mehr deine Wohnung. Raus jetzt. Und gib mir deinen Schlüssel oder ich tausche die Schlösser aus.«
Donnie warf seine Arme weit aus. »Na sieh mal an, was wir hier haben. Meine verdammte Frau in meinem verdammten Haus mit einem nackten verdammten Kerl.« Er sprach mit der holprigen Artikulation eines sehr betrunkenen Mannes.
»Hattest du 'ne schlechte Nacht im Stripclub?«
Er starrte sie an.
»Ich sagte, gib mir den Schlüssel, Donnie. Sofort!«
Doch er antwortete nicht. Die Haustür war offen, der Wind trug das Wummern einer Bassgitarre aus einem Club weit unten auf dem Strip herein. Der Geruch von abgestandenen Zigarren kam von den Kleidern der Männer und vergiftete den Duft des nachtblühenden Jasmins.
Sie sah Evan an und er beobachtete, wie die Sorge auf ihrem Gesicht in Angst umschlug. »Es tut mir wirklich leid.«
Evan zuckte mit den Schultern.
»Entschuldige dich nicht bei ihm!«, sagte Donnie. »Sieh mich an! Sieh mich an, du verdammte Hure!«
Evan zog eine Grimasse. So viel zu Abenden, die keine Gewalt versprachen.
»Hör zu«, sagte Jeanette-Marie zu Donnie, jetzt etwas vorsichtiger. »Er wollte gerade gehen. Lass ihn in Ruhe – und wir beide reden morgen früh weiter.«
Donnie runzelte die Stirn und überlegte. »Weißt du was? Du hast Recht. Okay!« Er hob die Hände und zog sich zur Haustür zurück. Dann hielt er inne. Sein Kiefer arbeitete, die glänzende, glatt rasierte Haut seiner Wange pulsierte. »Scheiß drauf«, sagte er und klappte die Tür zu.
Er drehte sich wieder zu ihnen um, sein Mund bewegte sich nach links und rechts.
Jeanette-Marie wandte sich an die anderen. »Eric? Jim? Rich? – Kommt schon. Das seid nicht ihr. Das wisst ihr doch. Was wollt ihr tun? Einen Typen verprügeln, den ihr gar nicht kennt? Was soll das bringen?«
Evan schlug mit seinem nackten Fuß eine Ecke der Bettdecke beiseite und fand seine Jeans. Normalerweise trug er Cargohosen, aber als Zugeständnis an die Polo-Lounge war er auf dunkle 501er umgestiegen.
»Hey, Arschloch!«, sagte Donnie. »Hey, du. Bist du gerne in meinem Bett? Gefällt es dir, in meiner Frau zu sein?«
Evan hob seine Jeans auf und setzte sich auf das Bett. »Willst du wirklich, dass ich darauf antworte?«
Donnies Lachen verwandelte sich in ein Stottern. Er machte einen Schritt nach vorne, seine Freunde verteilten sich hinter ihm. »Du bist ein Idiot. Wir sind zu viert.«
»Das sehe ich«, sagte Evan. »Soll ich warten, während du mehr holst?« Sie blinzelten ihn an. Der größte des Quartetts, Rich, zog sein Jackett aus. »Für dich sind wir allemal genug.«