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Leah, die Tochter eines erfolgreichen Hollywoodproduzenten, gerät in den Bann einer Psychosekte und bricht den Kontakt zur Außenwelt ab. Ihr Vater setzt alles daran, sie den Fängen des charismatischen Gurus zu entreißen, und bringt US Marshal Tim Rackley dazu, in dem Fall zu ermitteln. Rackley schleust sich mit falscher Identität in die Sekte ein und entdeckt schon bald, dass der Tod reiche Ernte einfährt: Wer aufbegehrt, wird ermordet. Als seine Tarnung auffliegt, steht Rackleys Leben auf Messers Schneide...
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Seitenzahl: 768
Dies ist ein fiktives Werk. Alle in diesem Roman dargestellten Personen, Organisationen und Ereignisse sind entweder ein Produkt der Fantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet.
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Die englische Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel »The Program« bei William Morrow.
An Imprint of Harper Collins Publishers, New York.
Deutsche Ausgabe 2024
Copyright © 2004 by Gregg Hurwitz
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2024 Ronin Hörverlag: Ronin Hörverlag, Heusteg 47, 91056
Erlangen
Die Rechte an der Nutzung der deutschen Übersetzung von Wibke Kuhn liegen bei der Verlagsgruppe Droemer
Knaur GmbH & Co. KG Maria-Luiko-Str. 54, 80636 München
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E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH
ISBN: 978-3-98955-027-8 (E-Book)
Für Informationen wende dich an Ronin Hörverlag, Heusteg 47, 91056 Erlangen
www.ronin-hoerverlag.de
DIE SEKTE
Gregg Hurwitz
Aus dem Amerikanischen von Wibke Kuhn
Für Delinah, das reinste Herz
Es gibt nur zwei Dinge auf der Welt – das Nichts und die Semantik.
Werner Erhard
Gregg Hurwitz ist Anfang fünfzig und wuchs in der Nähe von San Francisco auf. Er studierte Englisch und Psychologie an der Harvard University sowie in Oxford/Großbritannien, wo er seine Magisterarbeit über Shakespeares Tragödien schrieb. Er hat Aufsätze in akademischen Zeitschriften publiziert, Drehbücher verfasst und bereits mehrere Spannungsromane veröffentlicht, die von der US-Kritik und Schriftstellerkollegen einhellig gelobt wurden. Mit Das Tribunal, dem ersten Band der Tim-Rackley-Reihe, gelang ihm in den USA der Durchbruch als Thrillerautor. Die Sekte ist der zweite Roman dieser Serie. Gregg Hurwitz lebt in Los Angeles.
Die Sekte
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
Danksagung
Weitere Titel von Gregg Hurwitz
Ratlos beobachteten die Touristen und eine Grundschulklasse, die von einem beleibten Lehrer gehütet wurde, wie die Frau sich neben dem über vier Meter großen Mammut niederkauerte und anfing zu urinieren. Sie klammerte sich an dem Maschendrahtzaun fest, der den großen Lake Pit umgab, die Hauptattraktion der Teerseen von La Brea. Ihr Gesicht war glatt und ohne jedes Fältchen, sie konnte gut und gerne noch als Teenager durchgehen.
Ein paar Kinder lachten. Ein untersetzter Mann mit weißem Spitzbart und einem Nadelstreifenhemd hörte auf, lethargisch auf seinen Bongos herumzutrommeln, sammelte die Scheine zusammen, die sich in seinem umgedrehten Strohhut angehäuft hatten, und huschte davon. Eine Touristin um die fünfzig gab ein missbilligendes Geräusch von sich und presste ihre umgehängte Kamera zur Sicherheit fest an den Körper. Ihr Mann konnte seinen Blick nicht abwenden, den Mund leicht geöffnet, als könnte er sich nicht recht entscheiden, ob diese Vision nun Wirklichkeit war oder ein Vorgeschmack auf seine kommende Senilität.
Die junge Frau starrte durch den Zaun die Fiberglasfamilie kolumbianischer Mammuts an, die lebensgroßen Requisiten der prähistorischen Todesfalle. Dass ihre Füße dabei nass wurden, schien sie nicht zu bemerken. Das Mammutbaby stand im Schatten seines Vaters am Ufer und sah zu, wie seine Mutter in der erstarrten Oberfläche des flüssigen Gesteins versank. Die panische Mutter war schnappschussgerecht auf halbem Wege steckengeblieben, mit zappelnden Füßen und hochgerecktem Rüssel. Weiter draußen auf dem See ging die Teerkruste in eine trübe braune Flüssigkeit über und setzte in blubbernden Eruptionen Methangas frei. In dem Matsch unter der Oberfläche befand sich die weltweit größte Ansammlung von Fossilien aus der Eiszeit. Ein dicker, drückender Gestank durchdrang die ganze Umgebung – zu gleichen Teilen Schwefeldioxid und gebackener Nevada Highway.
Die Frau drehte sich um, so dass sie die Menge direkt ansah, und die Leute erstarrten, als trüge das spindeldürre Wesen eine Sprengladung am Leib. Ihre umgekrempelte Unterhose lag immer noch dort, wo sie sie hingekickt hatte, ganz oben auf dem Kleiderstapel links neben ihr. Die Rückseiten ihrer Arme waren violett verfärbt, als hätte sie Quetschungen vom Ellbogen bis zur Schulter.
»Warum hilft ihr denn niemand?«, flehte die nackte Frau die Gaffer an. »Sehen Sie denn nicht? Sehen Sie denn nicht, was hier passiert?«
Der Lehrer blies in eine Trillerpfeife, die er an einer Schnur um den Hals trug, und führte seine Klasse zur Picknick-Fläche in der Nähe der Toiletten. Zwei Männer vom Sicherheitsdienst kamen auf einem elektrischen Golfcart herangefahren und bahnten sich ihren Weg durch die wachsende Menge der Schaulustigen. Der Fahrer sprang mit schweißglänzendem Gesicht heraus. Sein Partner blieb im Golfcart sitzen und trommelte nervös mit den Fingern. Eine nackte Frau, die auf öffentliche Flächen pinkelt – das war definitiv ein anderes Kaliber als Sonnenstiche und Graffiti.
Der Fahrer wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, während er in sein Funkgerät sprach. »Ist das LAPD schon unterwegs?«
Aus dem statischen Geknatter konnte man mit etwas Mühe ein paar Worte heraushören: »Verstärkung unterwegs … Menge unter Kontrolle halten … Täter festhalten …«
Der Mann zupfte an seinem blauen Hemd. »Madam, bitte ziehen Sie sich wieder an. Hier sind doch Kinder anwesend.«
Doch ein Appell an den allgemeinen Anstand war vielleicht nicht der klügste Ansatzpunkt, wenn man einer verrückten Nackten gegenüberstand.
Auf dem Wilshire Boulevard, der parallel zum Zaun an der südlichen Seeseite verlief, stauten sich bereits die Autos. Gaffer waren auf die Überdachung einer Bushaltestelle geklettert, um besser sehen zu können. Unterdessen strömten weitere Passanten zum Schauplatz heran. Am westlichen Ende einer Caféterrasse des benachbarten Heimatmuseums drängten sich an allen Fenstern Gesichter, aus denen krankhafte Neugierde sprach. Ein Kameramann des Fernsehsenders KCOM stolperte über ein Kabel und stürzte, wobei seine Linse zerbrach und er sich die Handflächen blutig schürfte.
Als die Frau plötzlich den allgemeinen Aufruhr bemerkte, drehte sie den Kopf hektisch in alle Richtungen. Ihr Brustkorb hob und senkte sich in schweren Atemzügen. Als sie die vier Polizisten in ihren blauen Hemden durch die Menge auf sich zukommen sah, rannte sie den Zaun entlang. Die Umstehenden schnappten kollektiv nach Luft, einige schrien erschrocken auf. Am südlichen Ende des Sees gab eine Lücke im Zaun den Weg zu einer niedrigen, schmiedeeisernen Brücke frei. Geschickt sprang sie über deren Geländer, landete auf einem Matschstreifen und rannte zurück in die Nähe der Stelle, wo sie sich zuvor niedergekauert hatte, jetzt allerdings innerhalb der Einzäunung.
Drei der Polizisten blieben wie erstarrt auf der anderen Seite des Maschendrahts stehen, der vierte folgte ihr und hielt erst auf der Brücke inne. Einen seiner schwarzen Stiefel stellte er auf das Geländer. Die Augen der Frau irrten hin und her, erschrockene Pupillen zwischen weißen Halbmonden. »Könnt ihr ihr denn nicht helfen? Warum helft ihr ihr denn nicht?« Der älteste Polizist ging behutsam ein paar Schritte vorwärts und bedeutete seinem Partner auf der Brücke mit einer Handbewegung, sich nicht vom Fleck zu rühren. »Wir sind hier, um Ihnen zu helfen.«
Sie ging über gelbe Blumen den Abhang hinunter zum Ufer des Teersees, wo der Mammutvater und sein Baby standen. In die Stimme des Polizeiveteranen schlich sich ein Hauch von Panik: »Madam, bitte bleiben Sie jetzt einfach stehen. Bitte gehen Sie nicht weiter.«
Die Frau legte dem Mammutbaby den Arm auf die Flanke und starrte die zum Tode verurteilte Mutter an, die immer noch im Schlamm steckte und in ihrem ewigen Grab leicht hin und her schaukelte. Mittlerweile weinte die Frau, ihre Schultern zuckten und sie wischte sich mit der Rückseite ihrer schlanken Hand die Tränen von den Wangen. Die Luft schien elektrisch aufgeladen, als drohten schreckliche Geschehnisse.
Die übrigen beiden Polizisten bemühten sich redlich, die Zuschauer zu beruhigen, die dem älteren Beamten und der jungen Frau Ratschläge zuriefen. Die Frau schien jedoch völlig in sich versunken.
»Sie sollen ein Stück zurücktreten!«, rief der Veteran. »Macht Platz. Gebt der Frau hier ein bisschen Raum zum Atmen.« Er hielt seine Hand immer noch ausgestreckt, um seinen Partner auf der Brücke zurückzuhalten. Obwohl er seine Stimme ein wenig heben musste, damit die Frau ihn im allgemeinen Tumult überhaupt hören konnte, bemühte er sich, beruhigend zu klingen. »Mein Partner dort drüben heißt Michael. Er wird dort auf der Brücke warten, bis Sie sich bereit fühlen und er weitergehen darf. Und dann, wenn Sie entscheiden, dass es für Sie okay ist, dann können wir kommen und Ihnen helfen, sich um die Mammuts zu kümmern.«
An der Oberfläche des zähflüssigen Teers, in der Nähe des weiblichen Mammuts, zerplatzten ein paar Blasen und hinterließen einen Moment lang ein flaches Becken, bis sich die Kruste wieder darüber geschlossen hatte. Die junge Frau wandte sich erneut zum See. Der Polizist auf der Brücke war angespannt wie ein Retriever, der gerade ein Entenversteck aufgespürt hat.
»Warten Sie!«, rief der ältere Polizist. »Sprechen Sie mit mir. Sagen Sie mir, was ich tun kann.«
Sie hielt inne und starrte ihn an. Ihr Gesicht war plötzlich ganz ruhig, aber fest entschlossen. »Der Meister sagt, wir müssen nach Stärke streben, nicht nach Trost.«
Sie drehte sich wieder um und begann, auf die Oberfläche des Teersees zuzugehen. Der Polizist sprang von der Brücke und rannte los, aber er war noch ungefähr dreißig Meter entfernt. Der ältere Polizist brüllte, dass die Venen auf seinem Hals hervortraten, und die Zuschauermenge geriet in eine Art wahnsinnige hypnotische Bewegung, wie die Besucher eines Konzerts oder Fußballfans im Stadion. Die nackten Füße der jungen Frau betraten die schwarze Teerfläche, die unter ihr nachgab, sowie sie sich dem riesigen Mammutweibchen näherte, das knapp zwanzig Meter vom Ufer entfernt stand. Die Kruste gab mit einem schmatzenden Laut unter ihrem nächsten Schritt nach, die Frau stürzte und blieb mit dem rechten Knie und Ellbogen sofort auf der dünnen Teerschicht kleben.
Die Menge wogte vor und zurück, gleichzeitig angezogen und abgestoßen von diesem makabren Schauspiel.
Die junge Frau versuchte sich wieder aufzurichten, wobei sich eine klebrige Haut zwischen ihrem Arm und der Seeoberfläche bildete. Doch dann geriet auch ihre Hüfte in den Sog der klebrigen Masse, und sie fiel auf die Seite. Als Nächstes griff der Teer nach ihren Haaren. Eines ihrer Beine durchstieß die Kruste und versank in der braunen Flüssigkeit darunter, woraufhin ihr Körper langsam seitlich einsank. Sie ruderte weiterhin mit Armen und Beinen, in dem vergeblichen Bemühen, sich bis zu dem Mammutweibchen vorzukämpfen.
Der Polizist von der Brücke stand jetzt am Ufer, und sein älterer Kollege brüllte immer noch Anweisungen – »Holt ein Seil! Werft ihr verdammt noch mal ein Seil zu!« – und umklammerte die Drahtvierecke des Zauns mit seinen fleischigen Händen so fest, dass seine Finger ganz weiß wurden.
Die junge Frau kämpfte darum, den Kopf über der Oberfläche und vom Teer weg zu halten und zerrte so heftig an ihren festgeklebten Haaren, dass sich ihr Gesicht verzog. Abgesehen von ihren panikerfüllten Augen schien sie jedoch seltsam ruhig, fast so, als hätte sie sich in ihr Schicksal ergeben. Ihre Arme waren mittlerweile beide unterhalb der Oberfläche, ihr Unterkörper so gut wie ganz versunken. Besorgt beobachtete die entsetzte Menge das prustende Mädchen, während es wie ein zuckendes Bündel immer weiter einsank. Ihr Gesicht, ein letztes verbliebenes weißes Oval, war der Mittagssonne zugewandt und schnappte noch letzte Male nach Luft, bevor es ebenfalls unter der Oberfläche des Teersees verschwand.
Mit einem Schlag war die Menge still und erschlafft. Man hörte einen Menschen schluchzen, dann noch einen. Innerhalb weniger Sekunden erhob sich ein ganzer Chor von Schreien.
Der alte Polizist rief über sein Funkgerät einen Feuerwehrwagen mit einer frei beweglichen Leiter. Zwischendurch schrie er den Sicherheitsleuten zu, sie sollten einen Gartenschlauch auftreiben. Sein Hemd und seine Uniform waren komplett durchgeschwitzt, der dunkelblaue Stoff war von der Feuchtigkeit schwarz gefleckt. Als sein Partner ihn erreichte, starrte er noch immer die Delle im Teer an, die anzeigte, wo die junge Frau gerade verschwunden war.
Seine Lippen bewegten sich kaum, als er vor sich hin sprach:
»Was zum Teufel kann einen Menschen nur dazu bringen, so etwas zu tun?«
Langsam zog sich der Teer über der Stelle zusammen, an der das Mädchen versunken war, bis sich wieder eine gleichgültige, glatte Oberfläche gebildet hatte.
Dray ging mit forschen Schritten durch die Küche und den Flur und wischte sich dabei die Barbecue-Sauce an ihrer olivfarbenen Sheriff-Uniformhose ab, die sie noch nicht ausgezogen hatte, seit sie von der Arbeit nach Hause gekommen war. Sie öffnete die Haustür, und das Bild, das sich ihr bot, traf sie wie ein LKW in voller Fahrt – ein stämmiger Detective in billigem Anzug, der die Seiten seines Notizbuchs über den Daumen schnellen ließ, neben ihm ein dunkler Ford Crown Victoria im Leerlauf, in dem sein Partner auf dem Beifahrersitz wartete. Offensichtlich zog er es vor, es diesmal seinem Partner zu überlassen, die nächsten Angehörigen zu informieren.
Der Detective füllte mit seiner breiten und selbstbewussten Gestalt den ganzen Türrahmen aus, was noch weiter zu Drays Irritation beitrug. »Andrea Rackley? Mrs. Tim Rackley?« Ihre Ohren dröhnten, als sie heftig den Kopf schüttelte.
»Nein.« Sie trat einen Schritt zurück und stützte sich auf dem Flurtischchen ab. Dabei stieß sie einen kleinen Kerzenständer mit einem Teelicht um, der über die Kanterollte und auf den Fliesen zersprang. »Nein.«
Der Mann runzelte die Stirn. »Geht’s Ihnen gut, Ma’am?«
»Ich hab gerade eben noch mit ihm gesprochen. Er war im Auto, auf dem Heimweg. Es ging ihm gut.«
»Bitte? Ich weiß nicht, was Sie eigentlich …«
Er ließ seinen Notizblock sinken, und sie sah, dass es nicht der Notizblock eines Detectives war, sondern ein in feines Leder gebundener PalmPilot. Erst jetzt nahmen ihre panisch umherirrenden Augen wahr, dass sein Anzug nicht von der billigen Sorte war, sondern aus feinem Kaschmir, dass das Auto ein kastanienbrauner Mercedes der S-Klasse war, und der Kollege kein Kollege, sondern eine Frau mit bleichem Gesicht, die auf ihn wartete wie ein wohl erzogener Hund. Eine Welle der Erleichterung überlief sie, doch zugleich stürzte ein Strom aus Satzfragmenten auf sie ein, dem sie selbst kaum folgen konnte: »Sie können nicht einfach an die Tür einer Polizistenfamilie kommen und fragen, ob ich die nächste Verwandte … Ich habe schon jemanden verloren, oh Gott …« Sie lehnte sich mit weichen Knien gegen die Wand und schnappte nach Luft. Da riss ihr ein Luftzug den Türknauf aus der Hand. Der überraschte Mann trat einen Schritt zurück, verlor das Gleichgewicht, fiel nach hinten und landete hart auf seinem gut gepolsterten Hinterteil.
Für den Bruchteil einer Sekunde konnte Dray noch Schmerz und Schrecken in seinen weit aufgerissenen Augen ausmachen, aber im selben Moment schlug auch schon die Tür zu.
Tim unterdrückte ein Gähnen, als er in die Sackgasse bog. Sein gestärkter Sicherheitspersonalanzug kratzte am Kragen und den Manschetten. Sein Schlagstock hing schwer an seinem Gürtel, zusammen mit einem Low-Tech-Funkgerät in der Größe einer kleinen Pralinenschachtel. Irgendwie sah das Teil eher so aus, als wäre es nach den Vorstellungen eines Spielzeugfabrikanten hergestellt worden. Ein gewaltiger Abstieg von seiner geliebten Smith&Wesson .357 und der eleganten Racals, die er als Deputy bei den US Marshals benutzt hatte – bis er seinen Dienst quittieren musste, weil er im Zusammenhang mit dem gewaltsamen Tod seiner Tochter sein gesundes Urteilsvermögen verloren hatte.
Gestern hatte er in den Hallen am Rande des Simi Valley, in denen er arbeitete, einen randalierenden Teenager ergriffen. Bei dieser Verfolgungsjagd war er in Schweiß ausgebrochen, zum zweiten Mal in den elf Monaten, die er nun schon die Lagerhallen der RightWay Steel Company bewachte. Den ersten Schweißausbruch verdankte er ganz unspektakulär einem Enchilada Mole von einem Straßenimbiss, den er unklugerweise in seiner Mittagspause hinuntergeschlungen hatte. Elf Jahre als Army Ranger, drei Jahre Türeneintreten beim Hausdurchsuchungskommando der US Marshals – und nun gehörte er zu diesem Versagerkommando, obendrein mit einem wesentlich bescheideneren Gehaltsscheck. Seine neuen Kollegen kamen schon außer Atem, wenn sie sich bückten, um ihre Schnürsenkel zu binden. Diese schienen mit so beunruhigender Häufigkeit aufzugehen, dass er die meiste Zeit dieses monotonen Morgens schon überlegt hatte, ob er nicht einen Kurs im Schnürsenkelbinden anbieten sollte. Doch als er sich bückte, um vor Lagerhalle fünf einen Schlüssel aufzuheben, und dabei ein Stöhnen ausstieß wie ein alter Mann, vergingen ihm seine Überlegenheitsgefühle sehr schnell, und er verzichtete für den Rest des Nachmittags auf Doughnuts. Er rief sich ins Gedächtnis, dass er für jeden Job dankbar sein musste, als plötzlich eine Bewegung auf dem Gehweg seine Aufmerksamkeit erregte. Dort stand ein Mann, der seinen Anzug prüfend musterte und mit der Hand die Hosenbeine abbürstete, als hätte er sich gerade etwas darübergekippt.
Tim gab Gas und hätte beinahe einen parkenden Lincoln Navigator mit getönten Scheiben gerammt. Dann bog er in seine Auffahrt ein und sprang heraus, während der Mann mit der Hand weiterhin seine Kleidung glättete. Eine Frau war aus dem Mercedes am Straßenrand gestiegen und stand nun schüchtern auf dem Gehweg.
Tim behielt sie im Auge und ging auf den Mann zu. »Wer sind Sie? Presse?«
Der Mann hob die Hände, als wollte er eine Niederlage einräumen. Er war immer noch ganz atemlos. »Ich bin hierhergekommen, um … mich mit … Tim Rackley zu unterhalten. Marshal Tannino hat mir Ihre Adresse gegeben.«
Die Erwähnung seines ehemaligen Vorgesetzten ließ Tim innehalten. Tannino und er hatten dieses Jahr so gut wie gar nicht miteinander gesprochen. Sie hatten sich sehr nahe gestanden, als Tim noch unter ihm arbeitete, aber Tim hatte ihn zum letzten Mal gesehen, als die Kontroverse, die er über sich und die Polizei gebracht hatte, auf ihrem Höhepunkt war.
»Oh«, sagte Tim. »Tut mir leid. Kommen Sie doch rein.« Der Mann klopfte seinen Hosenboden ab, der immer noch nass war vom Rasensprenger. Nervös blickte er zur Haustür hinüber. »Um ehrlich zu sein«, erklärte er, »ich habe ein bisschen Angst vor Ihrer Frau.«
Die Küche roch stark nach verbranntem Hähnchen. Dray hatte ihren Maiskolben für ein Glas mit drei Fingern breit Wodka stehenlassen. »Tut mir leid. Irgendetwas – das Klopfen, sein Gesichtsausdruck – hat mich wieder zurückversetzt in die Nacht, als Bear gekommen ist, um uns mitzuteilen, was mit Ginny passiert ist.« Sie legte ihre Brille mit Nachdruck auf den Stapel überfälliger Rechnungen.
Tim fuhr ihr mit den Fingern durchs Haar und legte ihr dann die Hand auf die Schulter. Sie lehnte sich mit der Stirn an seinen Hals.
»Ich dachte, mir bleibt das Herz stehen, als ich da an der Tür stand. Auf Wiedersehen, Andrea, hasta la vista, sayonara.« Sie hatte die Stimme gehoben, und Tim war sicher, dass das Ehepaar auf der Couch nebenan sie hören konnte.
»Er ist ein Freund vom Marshal«, sagte Tim sanft. »Komm, wir setzen uns hin, und dann sehen wir erst mal, was er will. Abgemacht?«
Dray trank ihren Wodka mit einem einzigen Schluck aus.
»Abgemacht.«
Sie gaben sich die Hand und gingen ins Wohnzimmer. Dray goss sich unterwegs noch etwas Wodka nach.
Die Frau saß auf dem Sofa, ein goldenes Kreuz glitzerte auf ihrem Pullover. Der Mann stand vor den Schiebetüren aus Glas, die auf den Hof hinausgingen, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Seine stoische Pose wurde freilich etwas untergraben von dem feuchten Fleck auf seinem Hosenboden. Er drehte sich um, als hätte er ihr Eintreten gerade erst bemerkt, und nickte ihnen ernst zu. »Also, fangen wir an.« Er streckte ihnen eine große, rauhe Hand entgegen. »Will Henning. Meine Frau, Emma.«
Tim schüttelte ihm die Hand, aber Dray blieb mit verschränkten Armen, wo sie war. Hinter ihr standen acht Ausgaben des Buches In meinem Himmel im Regal, die sie von wohlmeinenden Bekannten geschenkt bekommen hatten. Die blauen Buchrücken bildeten einen deutlichen Kontrast zu ihrem hellen Haar. »Womit können wir Ihnen helfen?«
Will zog eine dicke Brieftasche aus seiner Gesäßtasche, öffnete sie und zog einen Schnappschuss heraus. Mit einer ungeduldigen Handbewegung bedeutete er Tim, sie zu nehmen, gleichzeitig wandte er aber das Gesicht ab, als wollte er nicht, dass Tim den Schmerz darin sah. Auf dem Foto posierte ein Mädchen, das offensichtlich gerade die Highschool abgeschlossen hatte. Hübsch, aber linkisch. Ein leichter Überbiss, ein etwas schief stehender Schneidezahn, traurige graugrüne, fast schon unglaublich große und schöne Augen. Glattes, schulterlanges Haar, an den Enden ein bisschen ausgewachsen. Ihr Hals war zu dünn für ihren Kopf und verlieh ihr eine gewisse Zerbrechlichkeit. Wenig betontes Kinn, volle Wangen. Die Sorte Gesicht, die in Fahndungsmeldungen als »herzförmig« bezeichnet wurde, ein Ausdruck, der Tim im Gedächtnis geblieben war, weil er bisher noch nie ein Gesicht gesehen hatte, auf das diese Beschreibung gepasst hätte.
Tims Augen wanderten zu dem vielfach veröffentlichten Foto von Ginny auf dem Kaminsims. Zweites Schuljahr. Ihr letztes.
»Tut mir leid«, sagte Tim. »Wann wurde sie umgebracht?« Von Emma auf dem Sofa hörte man ein leises Aufkeuchen. Das erste Mal, dass sie überhaupt einen Laut von sich gab. Will nahm Tim das Foto abrupt wieder aus der Hand und warf seiner Frau einen beschützenden Blick zu. »Sie ist nicht tot. Zumindest hoffen wir das. Sie ist … tja, vermisst, sozusagen. Nur, dass sie achtzehn Jahre alt ist …«
»Neunzehn«, verbesserte Emma. »Gerade geworden.«
»Richtig, neunzehn. Da sie nicht mehr minderjährig ist, haben wir gesetzlich keine Handhabe. Sie ist in eine von diesen Sekten geraten. Nicht wie die Zeugen Jehovas, sondern eine von diesen unheimlichen Sekten, die ihre Mitglieder einer Gehirnwäsche unterziehen, diese Selbsthilfegeschichten. Nur gefährlicher.«
»Haben Sie versucht …«, begann Tim.
»Die verdammte Polizei hat uns überhaupt nicht geholfen. Die wollen sie nicht mal als vermisst registrieren. Wir haben alles durch – FBI, CIA, LAPD –, aber für Sekten gibt es dort so gut wie keine Beauftragten. Solange die Leute nicht Amok laufen, kümmert sich kein Mensch darum.«
»Ihr Name?«, fragte Tim.
»Leah. Sie ist meine Stieftochter, aus Emmas erster Ehe. Ihr leiblicher Vater ist an Magenkrebs gestorben, als sie vier war.«
»Sie hat in Pepperdine studiert.« Emmas Stimme war brüchig und ein bisschen heiser, als müsste sie sich anstrengen, um überhaupt in hörbarer Lautstärke zu sprechen.
Tims Augen wanderten noch einmal zu Emmas Kreuzanhänger und erkannten diesmal die kleine Jesusfigur, die daran hing.
»Vor drei Monaten haben wir einen Anruf von dem Mädchen bekommen, mit dem sie das Zimmer teilte. Sie meinte, Leah hätte die Uni vorzeitig verlassen. Sie sagte, sie sei in eine Sekte geraten und wir sollten sie lieber gleich suchen, bevor wir sie nie wiedersehen.«
»Sie ist einmal nach Hause gekommen«, erzählte Will. »Am 13. März, aus heiterem Himmel. Meine Leute und ich haben versucht, sie zur Vernunft zu bringen, aber sie … na ja, sie floh durchs Badezimmerfenster und seitdem haben wir nichts mehr von ihr gesehen oder gehört.«
Er gehörte zu der Art Männern, die »Leute« haben.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte Dray. »Ich will nicht unhöflich sein, und ich verstehe auch, wie schmerzhaft das für Sie sein muss, aber was hat das alles mit Tim zu tun?«
Will sah Tim an. »Wir wissen Bescheid über Ihre … Arbeit. Marco – Marshal Tannino – hat bestätigt, dass Sie ein phantastischer Ermittler sind. Er hat gesagt, dass Sie ein großartiger Deputy waren …« Er hielt inne. »Tut mir leid, so hatte ich das nicht gemeint.«
Tim zuckte die Achseln. »Schon okay. Ich bin ja auch kein Deputy mehr.« Ein scharfer Unterton strafte seine Lässigkeit Lügen.
»Wir wollen unsere Tochter zurück. Wie, das ist uns egal, und wir werden keine Fragen stellen. Sie muss auch nicht glücklich darüber sein – sie muss einfach nur nach Hause kommen, damit wir ihr die Hilfe geben können, die sie braucht. Wir wollen, dass Sie das übernehmen. Für – sagen wir – zehntausend Dollar die Woche.«
Dray hob die Augenbrauen, und gleichzeitig schüttelte sie ganz leicht den Kopf in Tims Richtung. Wie üblich entsprach ihre Reaktion ganz der seinen.
»Ich habe keine Lizenz als Privatdetektiv«, erklärte Tim. »Und ich gehöre auch nicht mehr zur Polizei. Vor einem Jahr habe ich mich mit einer Bürgerwehr in Schwierigkeiten gebracht – vielleicht haben Sie davon in der Zeitung gelesen?« Will nickte energisch. »Mir gefällt Ihre Art, die Dinge anzupacken. Ich denke, dass Sie da etwas Gutes tun wollten.«
»Tja, ich finde das nicht.«
»Wie kann ich Sie zu einem Ja bewegen?«
Tim lachte kurz. »Indem ich die Spur ganz legal verfolgen dürfte.«
»Das ließe sich arrangieren.«
Tim machte den Mund auf und schloss ihn wieder. Er legte den Kopf schief und runzelte die Stirn. »Entschuldigen Sie, wer genau sind Sie eigentlich?«
»Will Henning.« Er wartete, dass sich bei Tim ein Aha-Effekt einstellte. Vergeblich. »Sound and Fury Pictures.«
Tim und Dray tauschten einen ratlosen Blick, dann zuckte Tim entschuldigend die Achseln.
»Die Schläfer. Unter Spannung. Der dritte Schütze. Kleine Kunstfilme dieser Art.«
»Bedaure …«, sagte Dray. »Haben Sie die geschrieben?«
»Ich bin kein Drehbuchautor. Ich habe diese Filme produziert. Meine Filme haben weltweit mehr als zwei Milliarden Dollar eingespielt. Wenn ich innerhalb von drei Tagen fünfzehn Blackhawk-Hubschrauber auf der Getty Plaza landen lassen kann, dann sollte ich wohl auch in der Lage sein, Sie wieder als Deputy einsetzen zu lassen.« Seine stahlgrauen Augen fixierten Tim. Dieser Mann war gewohnt, dass er bekam, was er wollte.
»Der Marshal hat dazu vielleicht seine eigenen Ansichten.«
»Über die kreativen Lösungen würde er gerne persönlich mit Ihnen sprechen.« Wie von Zauberhand erschien plötzlich Tanninos Visitenkarte zwischen seinen Fingern. Tim griff danach und fuhr mit dem Daumen über das golden geprägte Marshal-Siegel.
Auf der Rückseite stand in Tanninos charakteristischer Handschrift: »Rackley – morgen früh, 7:00 Uhr.«
Tim gab die Karte an Dray weiter, die sie ebenfalls kurz musterte und dann auf den Tisch warf. »Erzählen Sie mir von dieser Sekte«, forderte er seinen Besucher auf.
»Ich weiß nicht das Geringste über sie, nicht einmal ihren Namen. Wenn ich mir überlege, wie viel Geld wir schon für Informationen ausgegeben haben …« Will schüttelte angewidert den Kopf.
»Wie werben sie neue Anhänger an?«
»Das wissen wir auch nicht. Wir haben mit ein paar Sektenexperten gesprochen – Leuten, die ausgestiegenen Sektenmitgliedern helfen, Aussteige-Coachs oder wie auch immer die sich momentan nennen –, und die haben uns ein paar Binsenweisheiten aufgetischt. Ich würde sagen, viele Sekten haben es auf junge Menschen abgesehen, am College oder kurz nach dem Abschluss. Und sie werben gerne reiche Jugendliche an.« Er zog eine Grimasse. »Sie bringen sie dazu, ihnen ihr Geld zu überschreiben.« Sichtlich erregt fuhr er sich mit der Hand durchs Haar. »Leah hat eine Zwei-Millionen-Dollar-Zukunft drangegeben. Einfach so. Das Geld war für ihren ersten Independent-Film, für ihre Ausbildung, für ein Haus irgendwann mal. Ich habe ihr sogar ein Auto für vierzigtausend Dollar gekauft, bevor sie aufs College ging, damit sie das Geld nicht dafür hernehmen musste. Jetzt ist ihr Geld weg, sie hat sich von ihren Freunden abgewandt, von ihrer Familie.« Er nickte zu Emma hinüber, die passiv auf dem Sofa saß, mit gefalteten Händen und gerunzelter Stirn. »Sie hat nichts, sie hat niemanden, zu dem sie gehen kann. Ich habe ihr Briefe geschrieben, in denen ich sie anflehte, nach Hause zurückzukommen. Emma hat ihr Artikel über Sekten geschickt, was sie machen, wie sie arbeiten, aber Leah hat uns nie geantwortet. Ich habe versucht, sie zur Vernunft zu bringen, als sie damals hier war, aber sie wollte mir nicht zuhören.« Sein Gesicht hatte sich verfärbt, sein Ton war hart und leidenschaftlich. »Ich habe ihr gesagt, dass sie ihre ganze Zukunft wegwirft.«
»Das haben Sie zu einem Mädchen gesagt, das einer Sekte in die Hände gefallen ist?«, erkundigte sich Dray.
»Wir sind hier nicht wegen einer Familientherapie hergekommen. Wir sind gekommen, weil wir unsere Tochter zurück wollen. Und außerdem – was hätte ich denn sagen sollen? Versuchen Sie mal, mit einem Mädchen im Teenageralter zu reden, das sowieso auf alles Antworten weiß.«
Dray nahm einen Schluck von ihrem Wodka. »Das würde ich nur zu gerne.«
Tim drückte ihre Hand, aber Will redete weiter. »Leahs Treuhandfonds kann nicht mehr aufgelöst werden – ich hatte das extra so eingerichtet, weil es steuerlich das Günstigste ist. Daraus wird ihr jedes Jahr Geld ausbezahlt, und wir können nichts tun, um diese Zahlungen zu stoppen. Wenn sie zwanzig wird, bekommt sie noch eine Million, und dann bis zu ihrem dreißigsten Geburtstag jedes Jahr eine weitere Million. Diese Leute stehlen mir mein Geld.«
»Das Auto«, warf Tim ein. »Hat sie das noch?«
»Ja. Einen Lexus.«
»Ist es auf Ihren oder auf Leahs Namen angemeldet?«
Will überlegte kurz, während er zur Decke sah und am Verschluss seiner goldenen Uhr spielte. »Auf meinen.«
»Okay. Wenn Sie gehen, melden Sie dieses Auto als gestohlen. Die Polizei wird daraufhin die Augen offenhalten. Wenn sie ihre Tochter festnehmen, können sie sie festhalten, und wir kümmern uns dann darum, dass sie Ihnen übergeben wird.«
»Du lieber Himmel.« Will sah seine Frau aufgeregt an. »Das ist eine großartige Idee.«
»Hat sie Ihnen denn irgendetwas über diese Sekte erzählt?«
»Nein. Keine Namen, kein Ort, sosehr wir sie auch gedrängt haben.«
»Woher wissen Sie dann, dass es so eine Selbsthilfesekte ist?«
»Durch die Schlagwörter, die sie verwendet hat. Das war nichts Religiöses. Eher Sachen in der Richtung, wie sie ›ihre innere Quelle anzapfen‹ und ›ihre Schwächen annehmen‹ kann und solchen Müll.«
»Namen hat sie keine erwähnt?«
»Nein.«
»Wie hat sie von ihrem Guru gesprochen? Sie muss doch den Anführer erwähnt haben.«
Will schüttelte den Kopf, aber Emma sagte: »Sie hat ihn Meister genannt. Richtig ehrfürchtig.«
Ihr Mann musterte sie mit gerunzelter Stirn. »Hat sie das tatsächlich?«
»Sie sagten, die Sekte sei gefährlich. Haben Sie Morddrohungen erhalten?«
Will nickte. »Ein paar. Irgend so ein Gauner hat angerufen und meinte: ›Halten Sie sich da raus oder wir schlitzen Sie auf wie das Lamm, das Sie gestern Abend zum Dinner gegessen haben.‹« Emma hielt sich eine bleiche Hand vor den Mund, aber Will nahm es gar nicht wahr. »Hübsche kleine kreative Drohung, auf die Art haben sie uns wissen lassen, dass sie uns beobachten. Nach vierunddreißig Jahren in Hollywood bin ich an Drohungen und solchen Mist gewöhnt, aber ich lass mich nicht gerne herumschubsen. Doch erst als unser Ermittler verschwand, ist mir klargeworden, wie ernst es wirklich ist. Dann bekamen wir einen weiteren Anruf: ›Sie sind als Nächstes dran.‹ Wahrscheinlich dachten sie, wenn sie Leah töten, schlachten sie damit ihre goldene Gans, aber ihre Eltern – hey, kein Problem. Wir sind in diesem Spiel schließlich überflüssig.«
»Wer war der Ermittler?«
»Ein Privatdetektiv. Ehemaliger Sicherheitschef von Warner. Meine Leute haben ihn in Beverly Hills angeheuert.«
Tim spulte sein Gedächtnis zurück, wie aus einem verschütteten Instinkt heraus. »Sind das die Männer, die hier in der Sackgasse geparkt haben, in einem Lincoln Navigator mit getönten Scheiben, dessen Kennzeichen mit 9VLU anfängt?«
Will starrte ihn eine ganze Weile mit hochgezogenen Augenbrauen und offen stehendem Mund an. Schließlich setzte er sich. »Ja. Genau die.«
Tim ging durchs Zimmer zum Telefon, wo er sich Zettel und Stift griff. »Erzählen Sie weiter.«
»Dieser Privatdetektiv war ein kleiner, nervöser Kerl – Danny Katanga.«
»Und er wurde ermordet?«
»Er ist verschwunden. Letzte Woche. Er muss entscheidende Fortschritte gemacht haben.« Will stieß einen tiefen Seufzer aus. »In dem Moment haben wir uns entschlossen, zu Tannino zu gehen.«
»Wir haben überhaupt nichts mehr von Leah gehört, seit sie gegangen ist«, sagte Emma.
»Ich schreibe ihr immer noch, und hoffe auch immer noch, aber – nichts«, ergänzte Will.
»Wie können Sie ihr denn überhaupt Artikel und Briefe schicken, wenn Sie gar nicht wissen, wo sie sich aufhält?«
»Sie hat uns die Nummer eines Postfachs auf den Anrufbeantworter gesprochen, kurz nachdem sie das erste Mal verschwunden war. Wir sollten ihr ihre Post weiterleiten – wahrscheinlich, damit sie weiterhin die Schreiben über ihre finanziellen Angelegenheiten erhalten konnte. Wir nehmen an, dass dieses Postfach von der ganzen Sekte benutzt wird.«
»Sind Briefe wieder zu Ihnen zurückgekommen?«
»Nein«, erklärte Emma. »Sie werden weiterbefördert. Irgendwohin.«
»Wo ist dieses Postamt?«
»Irgendwo in North Valley«, antwortete Will. »Wir haben versucht, uns dort Einblick zu verschaffen – haben Sie eine Ahnung, wie schwierig es ist, der Post der Vereinigten Staaten Informationen zu entlocken? Wir haben mit irgendeinem Postinspektor gesprochen, der so tat, als würde er das Rezept für Coca Cola hüten oder so. Schließlich haben wir Katanga hingeschickt, damit der das Postfach überwacht, aber die Typen vom Postamt haben ihm die Hölle heiß gemacht, weil er damit in die Privatsphäre der Adressaten eindringe, also musste er sich auf den Parkplatz zurückziehen und die Dinge von dort aus beobachten. Er saß ein paar Tage mit einem Fernglas im Auto, aber sie ist kein einziges Mal aufgetaucht. Die Sekte macht das ganz schlau – wahrscheinlich schicken sie jedes Mal jemand anderes, um die Post abzuholen. Wenn sie sie überhaupt abholen.«
»Ich brauche diese Adresse.«
»Ich werde dafür sorgen, dass mein Assistent gleich morgen bei Marco anruft und die Adresse durchgibt. Aber passen Sie bloß auf mit diesem Postinspektor – das ist kein Witz. Der reißt Ihnen derartig den Arsch auf.«
Tim machte sich ein paar Notizen. »Haben Sie von diesen Drohanrufen welche aufgezeichnet?«
»Nein. Wir konnten aber immerhin den zweiten Anruf zu einem öffentlichen Telefon in Van Nuys zurückverfolgen. Dabei ist aber auch nicht mehr rausgekommen.«
»Diese Information hätte ich auch gerne.« Tim sah seine Notizen noch einmal durch. »Wie heißt Leah mit Nachnamen?« Da die Hennings ihn verblüfft ansahen, fügte er hinzu: »Sie sagten doch, sie ist aus Emmas erster Ehe.«
»Sie trägt meinen Namen. Ich habe sie adoptiert, als sie sechs war. Sie ist zwar meine Stieftochter, aber ich mache keinen Unterschied zwischen ihr und meiner eigenen Tochter.« Will räusperte sich. »Kann sein, dass ich zu sehr vorgeprescht bin. Ich wusste noch nicht, womit wir es zu tun hatten, also war ich ein bisschen voreilig. Rückblickend war das vielleicht nicht die beste Vorgehensweise.« Tim stellte fest, dass Will Henning anscheinend nie auf Einwürfe seiner Gesprächspartner einging, sondern immer an dem festhielt, was er sagen wollte.
»Ich habe meine Leute diese Zettel hier in der ganzen Stadt verteilen lassen. Aber die Hinweise, die wir bekommen haben, führten alle ins Nichts.« Er zog einen Flyer aus seiner Gesäßtasche und glättete ihn, bevor er ihn an Tim weiterreichte. Noch einmal dasselbe Foto von Leah, darunter stand: »Zehntausend Dollar Belohnung für Informationen über den Aufenthaltsort dieses Mädchens, Leah Elizabeth Henning. Informanten, die anonym bleiben möchten, können diesen Zettel in der Mitte durchreißen, auf die eine Hälfte ihre Hinweise schreiben und sie uns schicken, und die andere Hälfte aufbewahren, damit sie später zugeordnet werden kann.« Dann folgte Leahs Beschreibung und eine Kontaktadresse.
Tim glaubte, eine entfernte Spur von Stolz in Wills Gesicht zu lesen, wahrscheinlich auf die draufgängerische Wortwahl des Flyers, den er mit seinen Leuten entworfen hatte.
Er gab ihm den Zettel zurück und zeigte sich unbeeindruckt.
»Jetzt weiß also jeder in der Sekte, dass Sie hinter ihr her sind, dass Sie der Feind sind. Schöne Bescherung.«
»Deswegen brauchen wir Sie, damit Sie das Ganze zu einem guten Abschluss bringen. Und wir werden Sie gut dafür bezahlen.« Will ballte eine Faust, umfasste sie mit der anderen Hand und ließ seine Hände auf dem Bauch ruhen.
»Wir müssen uns aus dieser Sache zurückziehen.« Emma warf Will einen liebevollen Blick zu, der erwidert wurde.
»Wir haben gerade unser erstes gemeinsames Kind bekommen. Ich werde nicht zulassen, dass die Kleine durch diese Angelegenheit in Gefahr gebracht wird.«
»Und wir machen uns sehr große Sorgen um Leah«, fuhr Will fort. »Wer weiß, was sie ihr antun? Wenn sie sie gehen lassen, kann sie Geheimnisse verraten, vielleicht sogar versuchen, ihr Geld zurückzubekommen. Sie brauchen sie entweder loyal oder tot.« Er rieb sich die Augen, so dass sich rundherum Falten bildeten. »Sie haben mich davon überzeugt, dass es ihnen bitterernst ist. Deswegen brauchen wir Sie, damit Sie möglichst unauffällig Nachforschungen anstellen. Jemand, dessen Spuren nicht zu uns oder zu Leah zurückverfolgt werden können.«
»Warum ist Leah davongelaufen? Als sie noch einmal nach Hause gekommen war?«
Emma wand sich sichtlich verlegen, Will senkte den Blick.
»Sie sind in ihrem Kopf. Sie war völlig verrückt, überzeugt, dass wir sie verfolgen. Sie hat an meinem Computer rumgespielt und alle E-Mails gefunden, die ich an die Polizei oder andere Stellen geschickt hatte.«
»Sie ist ein Computergenie.« Emmas stolzes Lächeln war zugleich tieftraurig. »Sie studierte Informatik. Eine richtige Einserstudentin, bis sie …« Ihre blassen Sommersprossen waren nur sichtbar, wenn das Licht im richtigen Winkel darauf fiel. »Sie können sich gar nicht vorstellen, was Eltern empfinden, die so etwas durchmachen müssen.«
Drays Körper versteifte sich. Emma sah es, und dann fiel ihr Blick auf Ginnys Foto auf dem Kaminsims. Sie errötete beschämt, und ihre Augen wurden feucht. »Natürlich wissen Sie das. Es … es tut mir furchtbar leid.«
Sie wühlte in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch, während ihr die Tränen über das Gesicht liefen. Tim reichte ihr eine Schachtel Kleenex. Dann legte Will ihr einen seiner kräftigen Arme um die Schulter und zog sie an sich, wobei er ihr zärtlich den Scheitel küsste. Die beiden Paare saßen ganz still, während Emma sich die Augen abtupfte.
»Furchtbar, ich sitze hier und weine, nach all dem, was Sie durchgemacht haben«, sagte sie. »Aber es ist einfach so schrecklich, zu wissen, dass sie irgendwo da draußen ist, bei diesen Leuten. Sie war gar nicht mehr sie selbst, als ich sie das letzte Mal gesehen habe. Als wäre eine andere Person an ihre Stelle getreten. Sie trug ein schmutziges T-Shirt und hatte einen Ausschlag auf dem Oberkörper, blaue Flecken auf den Rückseiten ihrer Arme und offene Wunden an den Knöcheln. Gott weiß, was sie ihr angetan haben. Gott weiß, was sie ihr weiterhin antun. Tag für Tag.« Sie drückte das zusammengeknüllte Taschentuch an die Lippen. »Wie sollen wir mit dieser Unsicherheit leben? Als Eltern?« Ein erstickter Laut drang aus ihrer Kehle, ein Mittelding aus Keuchen und Schluchzen.
Drays Gesicht rötete sich unter dem Ansturm der Emotionen, und sie wandte den Blick ab.
Zärtlich betrachtete Will Leahs Foto, bis er sich schließlich nach vorne lehnte und es auf den Wohnzimmertisch legte.
»Sie war so ein unglaublich liebes Kind.«
»Vielleicht ist sie das noch immer«, sagte Dray.
Tim studierte das Bild und bemerkte erst jetzt, wie abgegriffen es war. Eine Ecke war schon ganz entfärbt, wo Wills Daumen es berührt hatte, jedes der unzähligen Male, wenn er es aus der Brieftasche gezogen hatte.
»Ich werde Ihrer Tochter helfen«, versprach Tim.
Dray lag mit angezogenen Beinen unter der Bettdecke, das Gesicht zur anderen Seite gedreht. Unter der Decke war die Kurve ihrer Taille zu erkennen. Durch das Schlafzimmerfenster warf der Mond einen Flecken Licht auf den Boden, der ein Stückchen den Bettpfosten hochkroch und aussah wie eine halb heruntergestrampelte Bettdecke. Leichter Regen schlug gegen das Fenster – die ersten drei Frühlingswochen waren ungewöhnlich nass gewesen.
Tim glitt neben ihr ins Bett, legte ihr eine Hand auf die Hüfte und blätterte mit der anderen seinen Notizblock durch. Dray war mit ihren einunddreißig Jahren unglaublich fit, weil sie ihren Körper mit Selbstverteidigungsübungen stählte und mit Gewichten trainierte.
Tim, drei Jahre älter, konnte sich nicht mehr darauf verlassen, dass er durch seinen Job schlank blieb, deshalb hatte er angefangen, morgens laufen zu gehen und abends mit Dray Hanteltraining zu machen.
»Das ist ja vielleicht ein Typ, dieser Henning.« Ihre Stimme war langsam und müde. »Der ist doch in erster Linie gefrustet, weil nicht er die Dinge unter Kontrolle hat. Typisches Hollywood-Arschloch. Denkt, er könnte alles kaufen. Dich, die Polizei, seine Tochter. ›Ihre Zwei-Millionen-Dollar-Zukunft.‹ ›Ein 40.000-Dollar-Auto.‹ Ich kam mir vor wie bei Der Preis ist heiß.«
»Aber er leidet. Hast du gesehen, wie er ihr Bild angeguckt hat?«
Dray nickte kurz. »Ich habe Mitleid mit ihr und auch mit ihnen als Eltern, aber …« Sie drehte sich um und sah ihn über ihre Schulter an. »Nenn mich herzlos, aber wenn ein Mädchen einer Sekte beitreten und sich ihre Zukunft verderben will, na und? Niemand hat sie gezwungen. Sie hat sich selbst dafür entschieden.«
»Beim Ranger-Training haben sie uns auch psychologisch geschult. Es gibt Wege, wie man Menschen seelisch brechen und ihr Denken manipulieren kann. Dagegen kann man sich nicht immer wehren.«
Dray machte ein Geräusch, mit dem sie ihm signalisierte, dass sie seinen Einwand anerkannte, aber eher unverbindlich. Das bedeutete, dass sie erst noch länger darüber nachdenken musste. »Was, wenn sie schon tot ist? Was, wenn sie sie getötet und ihre Leiche schon weggeschafft haben?«
»Dann werde ich sie finden und den Eltern ein Begräbnis ermöglichen. Ihrer Unsicherheit ein Ende setzen – das ist etwas, das uns erspart geblieben ist.«
Sie nickte und drehte sich wieder um. »Löffelchen bitte.« Tim rutschte zu ihr und kuschelte sich von hinten an sie, woraufhin sie träge ihren Rücken krümmte. Sie hob den Kopf, und er schob den linken Arm darunter. Seine Wange lag auf ihrem Haar, seine Lippen berührten ganz leicht ihr Ohr.
Ihre Stimme war schon ganz schwach, sie war beinahe eingeschlafen. »Erzähl mir was von Ginny.«
Tim starrte ins Dunkel. Schließlich drückte er sie stattdessen.
Tim ging den Korridor entlang zum Büro des Marshal. Das Geräusch seiner Schritte wurde vom Teppich gedämpft. Vom frühen Aufstehen um sechs Uhr und dem betäubenden Summen der Klimaanlage war er ganz benommen im Kopf. Sein erster Besuch im Polizeigebäude, das hinter dem Bundesgerichtshof lag, erwies sich als noch unangenehmer, als er befürchtet hatte. Als er am imposanten Gerichtshof mit den breiten Treppenaufgängen vorbeigefahren war, hatte ihn die Scham übermannt, die ihn auch noch verfolgte, als er wenig später den altbekannten Weg einschlug. Er hätte das vergangene Jahr und den Rest seines Lebens als Teil dieser Institution verbringen können. Stattdessen patrouillierte er jetzt durch Eisenwarenlager, schlürfte BigGulp-Limo, spuckte die Schalen von Sonnenblumenkernen aus und wusste dabei jede Minute, dass er ganz allein an seiner Misere schuld war. Allein dieser Miete-dir-einen-Polizisten-Job war schon eine Art Buße.
Nachdem er die Eingangshalle betreten hatte, setzte er sich neben den alten Panzerschrank mit der verblichenen Abbildung eines Hirschs – ein Relikt von der Postkutscheneskorte eines Marshals im Jahre 1877. Die Assistentin des Marshals bedachte ihn durch die kugelsichere Scheibe mit einem förmlichen Nicken, aber in ihren Augen funkelte schon die Vorfreude auf den mittäglichen Tratsch, den sie heute zum Besten geben konnte. Zum ersten Mal seit seiner Entlassung aus dem Gefängnis kommt der berüchtigte Ex-Deputy zu Besuch; nachdem sein Verteidiger mit dem Staatsanwalt einen Deal zur Strafmilderung ausgehandelt hatte, dem Tim sich zwar widersetzt hatte, der aber zu guter Letzt doch durchgegangen war.
»Er erwartet Sie.« Sie hackte mit ihren langen Fingernägeln auf den Computertasten herum. »Gehen Sie einfach durch.« Tannino stand von seinem massiven Schreibtisch auf, um Tim zu begrüßen. Sie schüttelten sich die Hand, wobei Tannino ihn aus seinen dunkelbraunen Augen musterte. Tim mit seinen einsdreiundachtzig überragte den Marshall um mehr als zehn Zentimeter.
Von den vierundneunzig Marshals, die in den jeweiligen Distrikten der Vereinigten Staaten Dienst taten, war Tannino einer der wenigen, die tatsächlich wegen ihrer Verdienste den Posten erhalten hatten. Er hatte lange genug seinen Dienst auf der Straße abgeleistet, bevor er Schritt für Schritt in diese Stellung aufstieg. Traditionell war der Posten eines Marshal ein Ruheposten, ein Umstand, der sich seit den Anschlägen vom 11. September allerdings rapide änderte.
Tannino deutete auf das Sofa gegenüber von seinem Schreibtisch, und Tim setzte sich.
»Wie weit reichen Hennings Beziehungen?«
Tannino begann eifrig, einen bereits völlig blanken Bilderrahmen zu polieren.
»Sie können genauso gut gleich die Karten auf den Tisch legen«, meinte Tim. »Sparen Sie mir die Zeit.«
Tannino stellte das Foto zurück – es zeigte seine Nichte in ihrem weißen Firmungskleid, gebadet in weiches, engelzartes Licht. Der Mann seiner Schwester war vor ein paar Jahren an einem Herzinfarkt gestorben, und Tannino hatte stellvertretende Vaterpflichten übernommen, die hauptsächlich darin bestanden, eventuelle Kavaliere zu examinieren und seinen weniger beschäftigten Deputys Hintergrundrecherchen zu den Freunden seiner Nichte zu übertragen. Nun verschränkte er die Hände im Nacken und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Sein frisiertes, grau meliertes Haar sah noch altmodischer aus, als Tim es in Erinnerung hatte.
»Er sponsert Parteien in großem Maßstab – bei der Kampagne für Senator Feinstein ’98 hat er geholfen, vier Millionen zusammenzukriegen.«
Tim konnte unschwer erkennen, wie die Kette der Verpflichtungen von hier aus weiterging: Senator Feinstein hatte Tannino für seine Position empfohlen. Obwohl Tanninos Ernennung auch von Clinton genehmigt worden war, war es doch Feinstein, dem er seine Karriere verdankte, und so war er beiden Seiten zu Loyalität und Respekt verpflichtet.
»Sie setzen mich also wieder auf meinen Posten als Deputy ein, übertragen mir inoffiziell diesen Fall, sorgen dafür, dass der Sponsor schön weiterzahlt und halten sich gleichzeitig die Option offen, die Verantwortung in diesem Fall jederzeit zu leugnen. Wenn ich das Mädchen finde und sie geräuschlos mitnehmen kann, muss niemand unangenehme Fragen stellen, und ein brisanter Fall ist abgeschlossen. Wenn ich es vermassle, kann man mich wunderbar vom Tisch schubsen. Tim Rackley, der bekannte Mörder, dem die Waffe allzu locker sitzt – Scheiße aber auch, hat der doch glatt einen Alleingang gestartet, wir wussten gar nicht, wo er sich da wieder reinmanövriert hatte. Und schon versammelt sich der Mob mit Feuerhaken und Schaufeln, und Sie werden helfen, den Brand zu schüren.«
»Sie werden ja richtig zynisch auf Ihre alten Tage, Rackley.«
»Das war ein ganz schön langes Jahr, Marshal. Und ich kann es auf den Tod nicht ab, wenn man um den heißen Brei herumredet.«
»Soviel ich gehört habe, hat Kindell lebenslänglich bekommen. Ich dachte, dass hätte Ihnen ein wenig von der Last genommen.«
Vor fünf Monaten hatte Roger Kindell, der 36-jährige Mann, der Ginny getötet und zerstückelt hatte, auf lebenslängliche Haft ohne Chance auf Begnadigung plädiert, um der Giftinjektion zu entgehen. Die Schwarzweißfotos, die ihn bei der Tat zeigten, überall mit Ginnys Blut befleckt, ließen der Verteidigung nicht allzu viel Spielraum. Letztendlich waren Kindell die Hintertürchen ausgegangen.
»Rackley? Rackley?«
Tim blickte auf und landete wieder in der Gegenwart.
»In einer Hinsicht haben Sie recht: Wir können nicht offiziell nach dem Mädchen fahnden, weil sie erwachsen ist. Was wir tun können, ist, dass wir eine unauffällige Ermittlung zu ihrem Verschwinden einleiten und dann überprüfen, welche Optionen sich uns bieten. Wenn Sie sie finden, nehmen Sie sie vielleicht rasch und geräuschlos in Ihre Obhut, und dann können wir uns wichtigeren Dingen zuwenden.«
»Henning hat Geld. Warum engagiert er nicht einfach einen Typen, um sie zu kidnappen?«
»Erstens, weil es illegal ist. Zweitens sind solche Typen allesamt ehemalige Militärmachos. So sehr kann Henning sich einfach nicht exponieren. Er hat politischen Ehrgeiz – für das Geld, das er in die Kampagnen für die Senatswahl steckt, will er mehr als nur glänzende Abzeichen. Er hat sich schon halb aus seinem Geschäft zurückgezogen, hat in der Stadt einen guten Namen, das eröffnet den Weg zu einem Sitz im Kongress, vielleicht bringt er es von dort sogar noch bis zum Gouverneur. Eine verpfuschte Entführung würde das Aus bedeuten. Sie wissen ja aus erster Hand, was die Presse anrichten kann.«
»Außerdem gestaltet sich so eine Kampagne viel schwieriger, wenn die Tochter mit flatternder Robe am Flughafen rumtanzt, um neue Sektenmitglieder zu werben. Wäre doch zu dumm, wenn man darüber stolpern würde.«
»In diesem Raum geht es nicht nur um Politik, auch wenn Sie das vielleicht glauben.«
So sehr Tim die bürokratische Vetternwirtschaft auch ärgerte, er musste die nüchterne Herangehensweise des Marshal an die komplizierte Situation doch respektieren. Tannino war ein erfahrener Detective, der plötzlich in eine Position mit politischer Bedeutung aufgestiegen war – darum musste er sich gelegentlich den Gepflogenheiten anpassen, aber das bedeutete noch nicht, dass ihm das auch gefiel.
»Sie waren einer der besten Deputys, die ich jemals hatte. Verdammt noch mal, einer der besten, die ich überhaupt jemals erlebt habe. Und ich habe mich für Sie eingesetzt, als es darauf ankam. Dabei bin ich sicherlich an gewisse Grenzen gestoßen, aber ich habe mich für Sie engagiert. Machen Sie es sich also bitte nicht so verdammt einfach und schieben mir hier den Schwarzen Peter zu.« Tannino atmete tief durch und hielt einen Moment die Luft an. »Es wird langsam Zeit, dass Sie mal wieder was anderes zu tun bekommen, als Walzbleche zu bewachen. Lassen Sie sich für diese Aufgabe wieder als Deputy einsetzen. Sie wären hier wieder komplett in Amt und Würden, Sie müssten nicht mal zurück an die Polizeiakademie – zum Teufel noch mal, Sie können auch wieder mit Ihrem alten Partner Bear Lippenstifte tauschen wie früher. Ich kann Ihnen Ihre alte Gehaltsstufe garantieren, GS12, zuzüglich Bereitschaftsbonus, versteht sich.«
»Bin ich damit wieder komplett rehabilitiert?«
Tannino seufzte. »Ich will Sie nicht anlügen, Rackley. Nach der Show, die Sie hier letztes Jahr geliefert haben, dürfte der Versuch, Sie wieder ganz einzustellen, ungefähr so aussichtsreich sein, als würde man zehn Pfund Scheiße in eine Fünfpfundtüte schaufeln wollen. Wir können einfach mal sehen, wie sich die Dinge entwickeln, aber dieses Arrangement ist wahrscheinlich eher zeitlich begrenzt.« Er holte eine Dienstmarke und eine Smith&Wesson .357 – Tims bevorzugte, wenn auch altmodische Dienstwaffe – aus der Schublade und legte sie auf den Schreibtisch. Tim musterte sie eine gute Weile.
»Warum haben Sie mich nicht vorher angerufen?«
»Sie hätten nein gesagt. Ich wollte, dass Sie zuerst die Eltern kennenlernen.«
»Weil Will Henning so eine unglaublich strahlende Persönlichkeit ist?«
»Nein, weil sie echte Menschen sind, die wirkliches Leid durchmachen.«
»Sie sind also bereit, mir meine Schuld zu vergeben, solange der Sponsor mich als nützlich betrachtet?«
»Genau. Und Sie wollen auch immer noch unbedingt zurück in den Dienst. Warum?«
»Es mag sich abgedroschen anhören, Marshal, aber ich habe meinen Dienst bei der Polizei geliebt.«
»Für mich hört sich das nicht abgedroschen an, Rackley. Nicht im Geringsten.« Tannino wühlte in seinem Aktenschrank nach einem Diensteidformular, dann stand er auf.
»Heben Sie Ihre rechte Hand und sprechen Sie mir nach.«
Auf dem Weg zum Roybal Center’s Garden Level legte Tim seine Hand auf die .357 in ihrem Halfter. Die Dienstmarke ruhte schwer und tröstlich in der Gesäßtasche seiner Cargohose. Nach zahllosen Verzögerungen und endlosem Genörgel waren die Büros der Deputys zu guter Letzt aus ihrem schäbigen Gebäude ausgelagert worden. Jetzt mussten sie in einem Provisorium warten, bis sie schließlich den dritten Stock im Gebäude des Secret Service beziehen durften – der letzte Schritt auf der Leiter der Anerkennung, auch finanziell. Die säuberlich aufgereihten Schreibtische – billiges, dunkles Holz mit goldfarben glänzenden Griffen – und die beiden hüfthohen Raumteiler trugen dazu bei, Tims Verwirrung bei seiner Rückkehr ins Büro noch zu vertiefen. Auf der Südseite blickte man durch eine Reihe von Fenstern auf die Gärten hinunter.
Maybeck lief rot an, als er Tim entdeckte, aber Guerrera bedachte ihn zum Ausgleich mit einem freundlichen Nicken. Am anderen Ende des Raumes lehnte sich Denley zu Palton hinüber und machte hinter vorgehaltener Hand eine witzige Bemerkung. Tim blickte stur geradeaus, während er den Raum durchquerte und so tat, als wäre sein peripheres Sehen gerade außer Funktion. Das letzte Jahr hatte ihm ausreichend Gelegenheit gegeben, seine Fähigkeiten in puncto »nichts wahrnehmen und doch die Haltung bewahren« zu trainieren.
Die beiden Sprengstoffhunde, Precious und Chomper, winselten, als sie Tim witterten und wedelten mit den Schwänzen, aber da sie Befehl hatten, sitzen zu bleiben, sprangen sie nicht auf, um ihn zu begrüßen. Als Deputy Brian Miller die Reaktion seiner Hunde bemerkte, stand er auf, um einen Blick über die Trennwand zu werfen. Die anderen Deputys folgten seinem Beispiel und glotzten Tim an, als hätten sie vor lauter Neugier ihr Taktgefühl verloren. Ein paar neue Gesichter machten Tim seine Dienstpause nur noch schmerzlicher bewusst.
Geflüster von allen Seiten begleitete ihn zu seinem Schreibtisch, der leer war bis auf eine ausgeblichene Schreibtischunterlage und eine zusammengeknüllte Chipstüte. Die hölzernen Trennwände gewährten ihm eine vorübergehende Pause von den Blicken der anderen. Er legte seine Smith& Wesson auf den Schreibtisch, starrte sie an und dachte einen Moment darüber nach, wie bedeutend es für ihn war, wieder eine Waffe tragen zu dürfen.
Dann streifte er ein paar Gummibänder um den Griff, direkt unter dem Hahn. Er steckte den Revolver hinten in seine Hose, direkt oberhalb der rechten Niere, so dass er die Waffe jederzeit griffbereit hatte. Die Gummibänder verhinderten, dass sie durch seinen Hosenbund rutschen konnte.
Dann zog er den Marshal-Stern aus der Hosentasche und musterte ihn. Am Abend zuvor hatte er bei der Sicherheitsfirma angerufen und seine Kündigung mitgeteilt. Das Einzige, wofür sich sein Vorgesetzter interessierte, war, dass er die Uniform und den Schlagstock zurückbekam. Diese Bestätigung von Tims ungeheurer Ersetzbarkeit war nur noch der letzte Kommentar zu der Wertlosigkeit der Tätigkeit, die er während des vergangenen Jahres ausgeübt hatte.
Ein saftiger Schlag traf seinen Rücken und riss ihn aus seinem Selbsthass. Bears Stimme dröhnte ihm über die Schulter.
»Weißt du eigentlich, warum sie einen Kreis um diesen Stern gezogen haben?«
Ein schwaches Lächeln umspielte Tims Lippen. »Damit sie ihn dir leichter in den Arsch schieben können.«
Als er sich umdrehte und aufstand, wurde ihm eine stürmische Umarmung zuteil. Bis letztes Jahr hatten Tim und Bear in einer Einsatztruppe zusammengearbeitet, die bei besonders schweren Verbrechen mit den Elitesturmtrupps der Polizei kooperierte. Obwohl Bear neun Jahre älter war als Tim, sah er zu ihm und Dray auf, als wären sie seine älteren Geschwister. Als erklärter Einzelgänger hatte er nicht viele Freunde und nur wenige Vertraute, war für Ginny jedoch wie ein Onkel gewesen. Tim hatte ihm einmal das Leben gerettet und dafür ein Verdienstabzeichen bekommen. Bear revanchierte sich für diesen Gefallen, indem er unbeirrbarer als jeder andere an seiner Loyalität zu Tim festhielt.
Denley, der an der Kaffeemaschine stand, murmelte etwas in seinen Bart, und Bear warf ihm einen kalten Blick über die Trennwand zu. »Verpiss dich doch, Denley. Wenn du was zu sagen hast, dann beweg deinen Arsch hier rüber und spuck’s aus.«
Denley hielt einen tropfenden Kaffeefilter hoch. »Eigentlich, mein lieber Jowalski, habe ich nur gerade gemeckert, dass irgend so ein Schlauberger seinen gebrauchten Filter in der Maschine gelassen hat.«
Bears heldenhafte Entrüstung geriet ins Wanken. »Oh«, machte er nur.
Zum ersten Mal, seit er das Gebäude betreten hatte, musste Tim lächeln. »Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass ihr mir das Eingewöhnen leichter macht.«
Bear ließ sich in den nächsten Drehstuhl fallen, über den er an allen Ecken und Enden herausquoll wie ein Nashorn auf einem Einrad. »Tannino hat mich gestern gebrieft, und ich hab daraufhin schon mal ein paar Dinge abgecheckt. Zu dem Privatdetektiv, Katanga, konnte ich weiter nichts herausfinden. Der ist einfach verschwunden.«
»Und das Mädchen?«
»Ich bin die üblichen Verdächtigen durchgegangen – Telefon, Gas, Strom, Wasser, Breitbandanschluss. Wenn man sich ansieht, wer sie wann wo zum letzten Mal gesprochen hat, kommt man zu der Schlussfolgerung, dass sie zuletzt in einem Apartment in Van Nuys gewohnt hat. Hier ist die Adresse. Ich hab schon mit der Vermieterin gesprochen – so eine griesgrämige alte Schachtel. Leah hat ab dem 15. März ihre Miete nicht mehr bezahlt und dafür ihre Kaution dagelassen.« Zwei Tage nach ihrem Besuch zu Hause.
»Keine Nachsendeanträge, keine neuen Rechnungen auf ihren Namen. Sie ist einfach vom Radar verschwunden.« Bear hustete hinter vorgehaltener Faust. »Und was hast du?«
»Nicht das Geringste.«
»Tja, dafür bist du ja auch hier. Zaubertricks auf Basis von Scheiße.« Bear wischte sich die Hand an seinem Hosenbein ab. »Das Postfach gehört übrigens zum Postamt von San Fernando, ein Stückchen nördlich von Van Nuys, wo das Mädchen gewohnt hat. Ich schätze, wenn wir wirklich völlig verzweifeln, dann können wir jemanden darauf ansetzen, aber ich bin nicht sicher, ob Tannino so früh schon einen Kollegen abstellen würde für einen Ermittlungsansatz mit derart niedrigen Erfolgsaussichten.«
»Der Privatdetektiv hat es auch schon versucht, hatte aber kein Glück. Das heben wir uns einfach als letzten Notnagel auf.«
Bear strich die Chipstüte mit der Hand glatt und schien enttäuscht, dass sie offensichtlich leer war. »Diese Sekten ziehen eine ganz schöne Scheiße ab. Hast du beim RangerTraining nicht auch so einen Gehirnwäsche-Hokuspokus mitgemacht?«
»Eher Biofeedback, damit wir unsere Gedanken kontrollieren können, unsere emotionalen Reaktionen und unser Schmerzempfinden.«
Bear trug den zweifelnden Gesichtsausdruck zur Schau, den er für Diskussionen über political correctness und Steuererhöhungen bereithielt. »Wie machen sie das denn?«
»Sie haben uns mit Nadeln gestochen und uns Sonden in den Arsch geschoben. Wir haben immer gewitzelt, dass wir uns vorkommen wie an der Blue Oyster Bar in Police Academy.«
Die Weißkittel hatten ihm beigebracht, sich auf seinen Atem zu konzentrieren, seine Herzfrequenz, sogar seine Körpertemperatur. Irgendwann konnte er sie durch Willenskraft herabsetzen, auch wenn man ihm leichte Stromstöße versetzte oder mit Nadeln seine Fingerspitzen traktierte. Sie hatten ihn überall verkabelt und an einen Computer gehängt, und dann sollte er seinen Blutdruck senken und rosa Punkte von einem Bildschirm verschwinden lassen. Das Ziel bestand darin, so prahlte ein fischäugiger Mitarbeiter, seine Adrenalinreaktionen zu regulieren und die Schaltungen in seinem Instinktmuster von Angriff oder Flucht zu blockieren. Vier zwanzigminütige Sitzungen pro Tag, sieben Tage pro Woche.
Als Tim den Lehrgang absolviert hatte, konnte er seine Körpertemperatur konstant auf 36,5 Grad halten.
»Es gibt hier eine gewisse Schattenregierung.« Mühsam stemmte Bear sich aus seinem Stuhl hoch. »Wenn du mich brauchst, mein Pager ist an. Ich muss jetzt hinter so einem Idioten her, der in Inglewood aus einem Haus für frisch entlassene Sträflinge abgehauen ist, nachdem er seinen Mitbewohner verprügelt hat. Vergiss nicht, hier ist nicht alles glamourös.«
Er entfernte sich geräuschvoll und zog im Gehen seine Hose am Gürtel hoch.
Tim blieb noch einen Moment sitzen, die Ellbogen auf die Knie gestützt, den Kopf gesenkt. Es würde eine Weile dauern, bis er richtig in Schwung kam, aber der Instinkt stellte sich wieder ein, wie eine altbekannte Melodie. Er griff zum Hörer und rief erst die L. A. Times und dann die Weekly an, um sich mit der Kleinanzeigenabteilung verbinden zu lassen.
Zeitungen waren berüchtigt für ihre Pingeligkeit, wenn es um vertrauliche Informationen ging, also stellte er sich als Lee Henning vor und beklagte sich, dass man ihm für eine Anzeige für eine Haushaltsauflösung, die er vor ein paar Wochen geschaltet habe, zu viel berechnet habe. Noch ärgerlicher war er, weil sie seinen Namen falsch buchstabiert hätten. Keine der Zeitungen konnte die betreffende Anzeige in ihren Unterlagen finden. Auch beim Pennysaver und Recycler hatte er keinen Erfolg, aber schließlich landete er einen Treffer bei der New Times, einem Blatt mit niedriger Auflage, das sich hauptsächlich an Studenten und jüngere Leute richtete.
»Ja, hier hab ich’s«, meinte der Angestellte. »Leah Henning.« Er gab ein vergnügtes Glucksen von sich, das eher einem Schluckauf ähnelte. »Ich könnte mir vorstellen, dass die Käufer ein bisschen verwirrt waren, oder? Ist nur einmal geschaltet worden. Man müsste Ihnen fünfunddreißig Dollar dafür berechnet haben.«
»Wenn ich Ihre Erinnerung auffrischen darf, ich habe eine Rechnung über fünfzig Dollar bekommen.«
»Nein.« Man hörte das Geklacker von Computertasten. »Ich hab die Rechnung hier auf dem Bildschirm.«
»Können Sie mir bitte eine Kopie davon zufaxen? Und die Anzeige auch gleich noch, wenn Sie schon mal dabei sind?« Er wartete und trommelte mit den Fingern auf dem Schreibtisch herum, während er das Fax am anderen Ende des Raumes summen hörte. Da er wenig Lust hatte, sich im neuen Büro durchzufragen, ließ er sich einfach von dem Geräusch leiten, während er durch das Schreibtischlabyrinth lief. Die Faxe erwarteten ihn bereits.
Ein Vermerk auf der Rechnung zeigte, dass Leah in bar bezahlt hatte, was Tim reichlich seltsam fand. Er war mit Willam Abend zuvor noch einige Details durchgegangen, als er ihn und Emma zum Auto begleitete, und dabei hatte Will erwähnt, dass er Leahs Kreditkarten hatte sperren lassen. Aber sie hatte wahrscheinlich immer noch ein Bankkonto mit einem Scheckbuch. Bis sie das auch der Sekte überschrieb, wie ihren Treuhandfonds.
In Leahs Anzeige, die vor fast einem Monat erschienen war, wurde eine Kommode angeboten, zwei Nachtkästchen, ein Bücherregal, eine Matratze mitsamt Lattenrost, ihr Fahrrad und eine ganze Menge Computerausrüstung. Die zu verkaufenden Gegenstände passten auf das Profil eines Flüchtlings, der demnächst untertauchen will, oder einer Person, die nach Übersee zieht. Letzteres beunruhigte ihn, denn das war definitiv eine Möglichkeit. Er hatte keine Lust, die Hennings informieren zu müssen, dass ihre Tochter jetzt in einer Kolonie ihrer Sekte auf Teneriffa war und mit der Hacke auf dem Feld stand.
Er verließ das Büro, murmelte in sich hinein und zog die Blicke einiger Kollegen auf sich.