Das Tribunal - Gregg Hurwitz - E-Book

Das Tribunal E-Book

Gregg Hurwitz

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Beschreibung

Tim Rackley ist US Marshal in Los Angeles. Als seine sechsjährige Tochter brutal ermordet und der Täter wegen eines juristischen Formfehlers freigesprochen wird, gerät seine Welt aus den Fugen. Das Verlangen nach Rache wird übermächtig, und so schließt sich Rackley einer Organisation an, die sich das Ziel gesetzt hat, solche "Fehler" der Rechtsprechung zu beseitigen. Als skrupellose Mitglieder bei ihren Aktionen ein Blutbad anrichten, begreift Rackley, dass es eine Qual sein kann, sich zum Herrn über Leben und Tod aufzuschwingen...

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Dies ist ein fiktives Werk. Alle in diesem Roman dargestellten Personen, Organisationen und Ereignisse sind entweder ein Produkt der Fantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet.

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Die englische Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel »The Kill Clause« bei William Morrow.

An Imprint of Harper Collins Publishers, New York.

Deutsche Ausgabe 2024

Copyright © 2003 by Gregg Hurwitz

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2024 Ronin Hörverlag Heusteg 47, 91056 Erlangen

Die Rechte an der Nutzung der deutschen Übersetzung von Ulrich Hofmann liegen bei der Verlagsgruppe

Droemer Knaur GmbH & Co. KG Maria-Luiko-Str. 54, 80636 München

Umschlaggestaltung: by wayan-design unter Verwendung von Motiven von Shutterstock © Valentin Agapov

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN: 978-3-98955-026-1 (E-Book)

Für Informationen wende dich an Ronin Hörverlag, Heusteg 47, 91056 Erlangen

www.ronin-hoerverlag.de

DAS TRIBUNAL – GEGEN JEDE REGEL

Gregg Hurwitz

Aus dem Amerikanischen von Ulrich Hoffmann

Für Melissa Hurwitz, M. D.

Meine erste Leserin –

jedes Mal

Es gibt keine Gerechtigkeit.

Es gibt nur das Gesetz.

Altes Juristensprichwort

ÜBER DEN AUTOR

Gregg Hurwitz ist Anfang fünfzig und wuchs in der Nähe von San Francisco auf. Er studierte Englisch und Psychologie an der Harvard University sowie in Oxford (GB), wo er seine Magisterarbeit über Shakespeares Tragödien schrieb. Er hat Aufsätze in akademischen Zeitschriften publiziert, Drehbücher verfasst und bereits mehrere Spannungsromane veröffentlicht, die von der US-Kritik und Schriftstellerkollegen mit Lob bedacht wurden. Mit Das Tribunal gelang ihm in den USA der Durchbruch als Thrillerautor. Er lebt in Los Angeles.

INHALT

Das Tribunal – Gegen jede Regel

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

Danksagung

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1. KAPITEL

Als Bear kam, um ihm zu sagen, dass man Ginnys Leiche missbraucht und zerstückelt in einem Bach sechs Meilen von seinem Haus entfernt gefunden hatte, dass sie drei Leichensäcke gebraucht hatten, um ihre Überreste wegzuschaffen, und dass sie jetzt bereits auf dem Tisch des Leichenbeschauers lag, um genauer untersucht zu werden, fiel Tims Reaktion nicht so aus, wie er es erwartet hätte. Er wurde eiskalt. Er empfand keine Trauer – Trauer, würde er lernen, verlangte nach Perspektive, nach Erinnerung und brauchte Zeit, um sich auszubreiten. Die Nachricht traf ihn hart und schmerzhaft wie ein Schlag ins Gesicht. Und unerklärlicherweise empfand er sie als peinlich, obwohl er nicht wusste, warum. Seine Hand sank herunter, tastete nach dem Griff seiner Smith & Wesson, die er jedoch um 18:37 Uhr zu Hause nicht mehr trug.

Rechts neben ihm ging Dray in die Knie, mit einer Hand klammerte sie sich an den Türrahmen, ihre Finger krochen zwischen Angel und Tür, sie schienen geradezu nach Schmerz zu suchen. Unter der scharfen Kante ihres blonden Haars, am Rand ihres Nackens, glitzerte Schweiß.

Einen Moment lang erstarrte alles. Die Februarluft war schwer vom Regen. Ein Luftzug zerrte an den Flammen der sieben Kerzen auf dem rosa-weiß glasierten Geburtstagskuchen, den Judy Hartley im Wohnzimmer hochhielt. Bears Stiefel, an denen noch Schlamm vom Tatort klebte, verdreckten die Veranda, deren Steine Tim letzten Herbst auf Händen und Knien eingeschlämmt hatte.

Bear sagte: »Vielleicht wollt ihr euch setzen.« In seinem Blick lagen dieselbe Schuld und dasselbe Mitgefühl, die Tim selbst in solchen endlosen Situationen empfunden hatte, und Tim hasste ihn ungerechterweise dafür. Aber die Wut verschwand schnell, und zurück blieb nur eine schwindelerregende Leere. Die kleine Versammlung im Wohnzimmer spiegelte den Schrecken, der von dem leisen Gespräch an der Tür ausging, und hielt den Atem an. Eines der kleinen Mädchen sagte weiterhin Harry Potters Quidditchregeln und wurde streng zur Ruhe gerufen. Eine Mutter beugte sich vor und blies die Kerzen aus, die Dray nach dem Klopfen an der Tür voller Vorfreude entzündet hatte.

»Ich dachte, du wärst sie«, sagte Dray. »Ich habe gerade ihren Kuchen fertig …« Ihre Stimme begann zu zittern.

Als er sie hörte, bereute es Tim sofort, dass er Bear gleich hier an der Tür nach Einzelheiten gefragt hatte. Seine einzige Möglichkeit, die Bedeutung dieser Nachricht zu erfassen, hatte darin bestanden, sie in Fragen und Fakten aufzugliedern, sie in kleine Stücke zu zerlegen, die er verdauen konnte. Jetzt, nachdem er das vollbracht hatte, war ihm übel. Aber er hatte selbst an genug Türen geklopft – genau wie Dray –, um zu wissen, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie alles erfahren hätten. Besser schnell hineinwaten, ohne zu zögern, und sich gegen die Kälte wappnen, denn das eisige Gefühl würde ihre Knochen nicht so schnell verlassen, vielleicht niemals.

»Andrea«, sagte er. Mit zitternder Hand fuhr er durch die Luft; er suchte nach ihrer Schulter, fand sie nicht. Er konnte sich nicht rühren, konnte nicht einmal den Kopf drehen.

Dray senkte ihr Gesicht und begann zu weinen. Es waren Laute, wie sie Tim noch nie gehört hatte. Drinnen im Haus tat eine von Ginnys Schulkameraden es ihr gleich – eine verwirrte, instinktive Mimikry.

Bear ging in die Hocke, seine Knie knirschten, sein fülliger Körper kauerte sich zusammen, seine Nylonjacke umhüllte ihn wie ein Cape. Die gelben Buchstaben, blass und fahl, verkündeten DEPUTY US MARSHAL, falls das jemand kümmerte. »Liebes, halt durch«, sagte er. »Halt durch.«

Mit seinen riesigen Händen umfasste er ihren Bizeps und zog sie zu sich heran, so dass ihr Gesicht an seiner Brust ruhte. Ihre Hände fuhren durch die Luft, als fürchteten sie, etwas zu berühren, denn wer weiß, was sie dann täten.

Er hob bekümmert den Kopf. »Wir müssen noch …«

Tim streckte sich nach unten, streichelte den Kopf seiner Frau.

»Ich gehe.«

Die Riesenreifen von Bears zerschrammtem silbernen Dodge Ram holperten über die Sprünge im Asphalt, der schreckliche Scherbenhaufen in Tims Magen wurde durchgerüttelt.

Moorpark, zwölf Quadratmeilen mit Häusern an baumbewachsenen Straßen, etwa fünfzig Meilen nordwestlich von Los Angeles gelegen, kannte man vor allem deswegen, weil hier am meisten Gesetzeshüter wohnten. Es war ein preiswerter Country Club für die Anstandswauwaus, eine Zuflucht nach der Schicht auf den Straßen einer aus dem Gleichgewicht geratenen Metropole, mit der sie sich den Großteil des Tages herumplagten. Moorpark strahlte ein künstliches Fünfziger Jahre-Fernsehserien-Flair aus – es gab keine Tätowierstudios, keine Obdachlosen, keine Schüsse aus fahrenden Autos. Ein Mitarbeiter des Secret Service, zwei FBI-Familien und ein Postinspektor teilten sich mit Tim und Dray die Sackgasse, in der sie wohnten. Einbrüche hatten in Moorpark ein Nullwachstum zu verzeichnen.

Bear starrte geradeaus auf die gelben reflektierenden Streifen in der Mitte der Straße, sie kamen aus dem Dunkel und verschwanden wieder dorthin. Er fuhr aufmerksam, nicht wie sonst in sich zusammengesunken; er schien dankbar zu sein, etwas tun zu können.

Tim ging den Berg der verbleibenden Fragen durch und versuchte eine zu finden, mit der er beginnen konnte. »Warum hast du … warum warst du dort? Es ist kein Fall für die Bundesbehörden.«

»Die Sheriffs haben einen Abdruck von ihrer Hand genommen …«

Von ihrer Hand. Eine separate Einheit. Nicht von ihr. Voller Entsetzen fragte sich Tim, in welchem der drei Säcke man ihre Hand fortgetragen hatte, ihren Arm, ihren Oberkörper. An einem von Bears Knöcheln klebte ein wenig getrockneter Schlamm.

» … das Gesicht war wohl schlimm, schätze ich. Teufel, Rack, es tut mir leid.« Bear seufzte so tief, dass es vom Armaturenbrett widerhallte. »Jedenfalls war Bill Fowler vor Ort. Er bestätigte die ID …« Er unterbrach sich, riss sich zusammen, formulierte es neu. »Er erkannte Ginny und rief mich an, weil er weiß, dass ich mit dir und Dray befreundet bin.«

»Warum hat er es uns nicht gesagt? Er war Drays erster Partner nach der Akademie. Erst letzten Monat war er bei uns zum Grillen.« Tim hob die Stimme, klagte an. In seiner Aufregung erkannte er den verzweifelten Versuch, einen Schuldigen zu finden.

»Manche Leute sind einfach nicht dafür gemacht, Eltern zu sagen, dass …« Bear ließ den Rest des Satzes aus, er fand ihn offensichtlich genauso abscheulich wie Tim.

Er nahm die Ausfahrt und donnerte über die Buckel auf der Rampe, so dass sie in ihren Sitzen auf und ab schnellten.

Tim atmete aus, er versuchte, die Schwärze loszuwerden, die seit der Abfahrt seinen Körper lähmte, grausam und methodisch. »Ich bin froh, dass du gekommen bist.« Seine Stimme schien von weit her zu kommen. Sie verriet wenig von dem Chaos, das er im Zaum zu halten und zu kategorisieren versuchte. »Spuren?«

»Reifenabdrücke, die aus dem Bachbett führen. Es war ziemlich schlammig. Die Deputies sind dran. Ich habe nicht wirklich … daran habe ich nicht wirklich gedacht.« In Bears Bartstoppeln schimmerte getrockneter Schweiß. Sein freundliches, überbreites Gesicht wirkte hoffnungslos erschöpft.

Tim dachte daran zurück, wie Bear letzten Juni Ginny in Disneyland auf seine Schultern gehoben hatte, er trug ihre dreiundfünfzig Pfund wie eine Tüte voller Federn. Bear war jung verwaist, hatte nie geheiratet. Die Rackleys waren im Grunde seine Ersatzfamilie.

Tim hatte drei Jahre lang als Mitglied des Escape Teams mit Bear zusammen Haftbefehle zugestellt, nach seinen elf Jahren bei den Army Rangers. Sie arbeiteten auch jetzt beim Arrest Response Team zusammen, der SWAT-artigen Truppe des Marshals, die Türen eintrat und so viele der zweitausendfünfhundert von Bundesbehörden gesuchten Verbrecher, die sich in der riesigen Metropole L. A. versteckten, einkassierte, wie sie in die Finger bekam.

Obwohl er noch fünfzehn Jahre von der vorgeschriebenen Pensionierung mit siebenundfünfzig entfernt war, hatte Bear in letzter Zeit begonnen, knurrig auf dieses Datum anzuspielen, als käme es bald. Um sicherzustellen, dass er es auch im Rentenalter noch mit genug Konflikten im Leben zu tun bekam, hatte Bear an der Abendschule der South West Los Angeles Legal Training Academy Jura studiert, und nachdem er zweimal durchgefallen war, hatte er schließlich letzten Juli bestanden. Er hatte sich von Chance Andrews – einem Richter, mit dem er oft zusammengearbeitet hatte – im Federal Building in der Innenstadt vereidigen lassen, und er, Dray und Tim hatten danach in der Lobby gefeiert. Sie hatten Cook’s aus Pappbechern getrunken. Bears Zulassung lag in der untersten Schublade seines Schreibtisches und staubte ein, es war nur eine präventive Maßnahme gegen mögliche Langeweile in der Zukunft. Er war neun Jahre älter als Tim, was man jetzt an den tiefen Furchen in seinem Gesicht erkennen konnte. Tim, der sich mit neunzehn verpflichtet hatte, verfügte über den Vorteil, sich dem Stress der Ausbildung mit seiner Jugendlichkeit entgegenstemmen zu können. Er war von den Rangers erfahren, aber nicht gealtert, weggegangen.

»Reifenspuren«, sagte Tim. »Wenn der Kerl so schlampig vorgeht, macht er noch mehr Fehler.«

»Ja«, sagte Bear. »Ja, das sicher.«

Er verringerte das Tempo und fuhr auf den Parkplatz, vorbei an dem quadratischen Schild, auf dem VENTURA COUNTY LEICHENSCHAUHAUS stand. Er parkte auf dem Behindertenparkplatz ganz vorne und warf seinen Marshal-Ausweis auf das Armaturenbrett. Sie saßen schweigend da. Tim presste seine Handflächen gegeneinander, quetschte sie zwischen die Knie.

Bear griff ins Handschuhfach und zog ein Fläschchen Wild Turkey heraus. Er nahm zwei Schlucke, ließ die Luft in die Flasche gurgeln, hielt sie dann Tim hin. Tim nahm einen halben Mund voll, spürte, wie der Alkohol rauchig und heiß in seinem Hals brannte, bevor er sich im Morast seines Bauches verlor. Er drehte den Verschluss zu, dann wieder auf und nahm noch einen Schluck. Er stellte die Flasche auf das Armaturenbrett, stieß seine Tür kräftiger auf, als nötig war, und sah Bear über die durchgehende Vorderbank hinweg an.

Jetzt – jetzt erst – begann er zu trauern. Bears Lider waren geschwollen und rot gerändert, und Tim fragte sich, ob er auf dem Weg zu ihnen nach Hause angehalten, in seinem Wagen gesessen und geweint hatte.

Einen Augenblick lang glaubte Tim, er würde zerbrechen, er würde schreien und nie wieder aufhören. Er dachte an die Aufgabe, die vor ihm lag – daran, was ihn hinter der doppelten Glastür erwartete –, und fand ein wenig Stärke irgendwo tief in sich, eine Stärke, von der er nicht gewusst hatte, dass er sie besaß. Sein Magen gurgelte hörbar, und er presste die Lippen aufeinander.

»Bist du bereit?«, fragte Bear.

»Nein.«

Tim stieg aus, Bear folgte ihm.

Das Neonlicht war gnadenlos hell, es brach sich auf den polierten Bodenfliesen und den Leichenschubladen aus Edelstahl an der Wand. Ein großer Klumpen lag leblos unter einem krankenhausblauen Laken auf dem mittleren Tisch, wartete auf sie.

Der Leichenbeschauer, ein kleiner Mann mit einem hufförmigen Haarkranz und einer alle Vorurteile bedienenden runden Brille, spielte nervös an dem Mundschutz herum, der an seinem Hals hing. Tim schwankte, seinen Blick auf das blaue Laken gerichtet. Die bedeckte Form war schrecklich klein und von unnatürlichen Proportionen. Der Geruch traf ihn überraschend, etwas widerlich Erdiges unter dem scharfen Duft von Metall und Desinfektionsmitteln. Der Whiskey schwappte in seinem Magen hin und her, als versuchte er herauszugelangen.

Der Leichenbeschauer rieb sich die Hände wie ein beflissener, ein wenig zurückhaltender Kellner. »Timothy Rackley, Vater von Virginia Rackley?«

»Stimmt.«

»Wenn Sie möchten, äh, können Sie nach nebenan gehen, und ich schiebe den Tisch vor das Fenster, damit Sie sie, äh, identifizieren können.«

»Ich wäre gern allein mit ihr.«

»Nun, da gibt es, äh, Fragen der Beweissicherung, also kann ich nicht wirklich …«

Tim klappte seine Geldbörse auf und zeigte seine fünfzackige Marshal-Marke. Der Leichenbeschauer nickte gewichtig und verließ den Saal. Trauer wird, wie die meisten Dinge, mit mehr Rücksicht behandelt, wenn man ein wenig Autorität dahinterlegen kann.

Tim wandte sich an Bear. »Okay …«

Bear betrachtete Tim einen Augenblick, sein Blick wanderte über das Gesicht. Irgendetwas, das er sah, musste ihn beunruhigt haben, denn auch er wandte sich ab und ging hinaus. Vorsichtig zog er die Tür hinter sich zu, so dass der Riegel nur leise klickte.

Tim betrachtete den Umriss auf dem Tisch, bevor er näher trat. Er war nicht sicher, welches Ende des Lakens er anheben sollte, er war nur Leichensäcke gewöhnt. Er wollte nicht das falsche Ende abheben und mehr sehen, als er unbedingt musste. Bei der Arbeit hatte er gelernt, dass man manche Erinnerungen niemals auslöschen konnte.

Er vermutete, dass der Leichenbeschauer Ginny mit dem Kopf in Richtung Tür gelegt hatte, und er tastete vorsichtig den Rand des Umrisses entlang, er machte die Ausbeulung ihrer Nase aus, die Augenhöhlen. Er war nicht sicher, ob sie ihr Gesicht gesäubert hatten, und er war sich auch nicht sicher, ob ihm das lieber wäre, oder ob er sie lieber so sehen wollte, wie sie zurückgelassen worden war, damit er dem Schrecken näher kam, den sie in ihren letzten Augenblicken durchlebt hatte.

Er schlug das Laken zur Seite. Er stieß die Luft aus, als hätte ihm jemand in den Magen geschlagen, aber er krümmte sich nicht zusammen, er zuckte nicht, er wandte sich nicht ab. Wut brannte in ihm, scharf und auf Zerstörung ausgerichtet, er betrachtete ihr lebloses, zerschmettertes Gesicht, bis das Gefühl abebbte.

Mit zitternder Hand zog er einen Stift aus seiner Tasche und zupfte damit eine von Ginnys Haarsträhnen – vom selben hellen Blond wie Drays – aus ihrem Mundwinkel. Das wenigstens wollte er in Ordnung bringen, trotz all der Schäden und Schmerzen, die ihr Gesicht zeigte. Selbst wenn er gewollt hätte, hätte er sie nicht berührt. Sie war jetzt ein Beweisstück.

Er war dankbar dafür, dass Dray die Erinnerung an diesen Anblick nicht mit sich tragen musste.

Vorsichtig legte er das Laken zurück über Ginnys Gesicht und ging hinaus. Bear sprang von einem der billigen grünen Stühle auf, und der Leichenbeschauer eilte zu ihm, er trank aus einem Papierbecher, der mit Wasser aus dem Wasserspender gefüllt war.

Tim wollte sprechen, brachte aber keinen Ton heraus. Als seine Stimme zurückkehrte, sagte er: »Das ist sie.«

2. KAPITEL

Schweigend fuhren sie zurück zu Dray, die Flasche schepperte leer über das Armaturenbrett. Tim wischte sich über den Mund, dann noch einmal.

»Sie sollte bloß um die Ecke bei Tess sein. Die Rothaarige mit den Zöpfen – zwei Blocks von der Schule entfernt, auf Ginnys Nachhauseweg. Dray hatte ihr gesagt, sie sollte dort nach der Schule hingehen, damit wir die Gelegenheit hatten … du weißt schon, ihre anderen Freunde, die Geschenke. Sie zu überraschen.«

Ein Schluchzen quoll seinen Hals herauf, und er schluckte, drückte es hinunter.

»Tess geht auf eine Privatschule. Wir hatten eine Vereinbarung, wir und ihre Mutter. Die Kinder konnten ohne Vorankündigung zum Spielen kommen. Niemand wartete auf Ginny, niemand konnte sie vermissen. Wir sind in Moorpark, Bear.« Seine Stimme brach. »Moorpark. Man muss nicht davon ausgehen, dass etwas mit deinem Kind passiert, wenn es ein paar hundert Meter weit weg ist.« Tim verschwand irgendwo zwischen den schrecklichen Gedanken, es war eine kurze Pause von dem furchtbaren Schmerz, versagt zu haben – als Vater, als Deputy US Marshal, als Mann. Es nicht geschafft zu haben, das Leben seines einzigen Kindes zu schützen.

Bear fuhr weiter und sagte nichts, und Tim war ihm sehr dankbar dafür.

Bears Mobiltelefon klingelte. Er meldete sich und sagte etwas, eine Abfolge von Worten und Zahlen, die Tim kaum mitbekam. Bear klappte das Handy zu und stoppte den Wagen. Tim bemerkte einige Minuten lang nicht einmal, dass sie angehalten hatten, dass Bear ihn anschaute. Als er hinübersah, wirkte Bears Blick furchtbar ernst.

Tim durchbrach seine allumfassende Erschöpfung. »Was ist?«

»Das war Fowler. Sie haben ihn.«

Tim spürte ein Knäuel von Gefühlen, düster, hasserfüllt und ineinander verwoben.

»Wo?«

»Neben dem Grimes Canyon. Eine halbe Meile von hier.«

»Wir fahren hin.«

»Da gibt’s nur gelbes Absperrband zu sehen. Wir wollen die Verhaftung nicht behindern, den Tatort kontaminieren. Ich dachte, ich bringe dich zu Dray –«

»Wir fahren.«

Bear griff nach der leeren Flasche, schüttelte sie, stellte sie zurück auf das Armaturenbrett. »Ich weiß.«

Sie fuhren einen langen einsamen Weg entlang, Kies knirschte unter den Reifen, sie kurvten bis ins Herz des kleinen Canyons. Eine umgebaute, alleinstehende Garage, die zu einem Haus gehörte, das vor langer Zeit niedergebrannt war, ragte dunkel und ein wenig schief neben einigen Eukalyptusbäumen auf. Die schmierigen Seitenfenster ließen ein wenig gelbe Innenbeleuchtung herausschimmern. Regen und Alter hatten das Sperrholz von den Wänden gehoben, und die Garagentür verrottete in großen Stücken. An der Seite stand ein weißer Pickup mitten im Unkraut, frischer Schlamm an den Reifen und den Kotflügeln.

Ein Polizeiwagen parkte schräg auf dem überwucherten Betonfundament des einstigen Hauses, die Blinklichter angeschaltet. Wie auf allen anderen Wagen der Flotte war darauf MOORPARK POLICE zu lesen, obwohl alle Zweimannteams aus geliehenen Deputies von Ventura County bestanden. Daneben stand ein Zivilwagen, das Blinklicht aufs Dach gesetzt. Ohne das zugehörige Heulen wirkte das stetige Blitzen irritierend. Fowler kam zu ihrem Wagen, hinter seiner Oberlippe steckte Kautabak. Er atmete schwer, sein Blick war scharf und leuchtend, er wirkte aufgeregt. Er ließ sein Holster aufschnappen, dann drückte er den Verschluss wieder zu. Die übrigen Detectives waren nicht zu sehen. Kein gelbes Absperrband, keine Tatortbegrenzung, keine Spurensicherung.

Bevor Tim aus dem Wagen steigen konnte, begann Fowler zu reden. »Gutierez und Harrison – sie sind von der Mordkommission – haben die Wagenspuren am Ufer identifiziert. Es sind wohl die Standards für Toyotas von ’87 bis ’89 oder irgend so ein Scheiß. Die Spurensicherung hat einen Fingernagel am Tatort gefunden …«

Tim sackte in sich zusammen, und Bear legte ihm zur Unterstützung eine Hand auf den unteren Rücken, wo Fowler es nicht sehen konnte.

» … und da drunter war ein bisschen weißer Lack. Autolack. Gutierez hat damit was auch immer gemacht, hat es für einen Radius von zehn Meilen gecheckt, gab nur siebenundzwanzig Treffer, kaum zu glauben. Wir haben die Adressen aufgeteilt. Dies war unser dritter Stopp. Es gibt richtige Beweise. Der Typ hat es nach ein paar Sekunden schon zugegeben. So funktioniert das sonst nicht.« Er hustete einen einzelnen Lacher heraus, dann wurde er blass. Seine Hand griff wieder nach dem Holster, er öffnete und schloss die Lasche. »Teufel, Rack, tut mir leid. Ich bin bloß … Ich hätte selbst kommen sollen, aber ich wollte mich an die Arbeit machen und dieses Dreckschwein kriegen.«

»Warum ist der Tatort nicht abgesperrt?«, fragte Tim.

»Wir, äh … er ist noch hier. Drinnen.«

Tims Mund wurde trocken. Seine Wut zog sich zusammen, als wäre sie ein Fallschirm, den jemand durch einen Serviettenring ziehen wollte. Die Konzentration schien zu verhindern, dass er Kummer empfand. Bear glitt neben ihn, wie ein Wagen, der an der roten Ampel steht und im Leerlauf Vollgas gibt.

»Was ist mit der Spurensicherung? Habt ihr die überhaupt angefordert?«

Fowler konzentrierte sich plötzlich auf den Boden. »Wir haben euch angerufen.«

Er trat nach einem Grasbüschel, das unter seinen Füßen knirschte. »Ich weiß, wenn mein kleines Mädchen –« Er schüttelte den Gedanken ab. »Die Jungs und ich wollten ihn nicht davonkommen lassen.« Er ließ die Sicherung seines Holsters wieder aufschnappen, zog die Beretta heraus, hielt Tim die Pistole hin, Griff zuerst. »Für dich und Dray.«

Die drei Männer starrten auf die Pistole. Bear gab ein Geräusch von sich, das tief in seinem Hals steckenzubleiben schien und sich nicht in einen richtigen Laut verwandeln wollte. Fowlers Gesicht war immer noch rot angelaufen vor Erregung, eine Vene pulsierte wie ein Blinklicht auf seiner Stirn. Irgendwo im Durcheinander seiner Gedanken begriff Tim, warum Fowler Bear auf dem Handy angerufen hatte, nicht per Funk.

Bear rutschte nah an Tim heran, blickte aber in die andere Richtung, hielt Fowler den Rücken zugewandt. Er sah hinaus in die Dunkelheit des Canyons. »Was willst du hier, Rack?« Er spreizte die Finger, dann ballte er die Fäuste. »Als Vater? Als Stellvertreter des Gesetzes?«

Tim nahm die Pistole. Er stieg aus, ging zur Garage, und weder Bear noch Fowler folgten ihm. Er hörte Geräusche durch die verzogene Tür. Leise Stimmen.

Er klopfte zweimal, spürte das zerfaserte Holz rau unter seinen Knöcheln.

»Moment.« Die Stimme gehörte Mac, Fowlers Partner, einem weiteren von Drays Deputy-Kollegen. Schritte. »Platz da.«

Die Garagentür schwang mit quietschenden Federn auf. Unbeabsichtigt theatralisch trat Mac zur Seite und präsentierte Tim Gutierez und Harrison, die rechts und links neben einem dürren Mann auf einer zerschlissenen Couch saßen. Jetzt erkannte Tim die Detectives. Dray hatte mit ihnen zusammengearbeitet, als sie noch in Moorpark patrouillierten; die Mordkommission hatte ihnen wahrscheinlich diese Gegend zugeteilt, weil sie sich auskannten.

Tims Blick wanderte durch den Raum, er sah einen Haufen blutiger Lappen; eine Kleinmädchen-Unterhose mit blutigen Fingerabdrücken blähte sich an der gegenüberliegenden Wand im Windzug; eine verbogene Eisensäge, deren Zähne nur noch Stümpfe waren. Er musste sich zwingen, das alles wahrzunehmen, das Unvorstellbare zu denken.

Er trat vor, seine Schuhe rutschten auf dem öligen Beton. Der Mann war glatt rasiert, er hatte sich dabei am Kinn geschnitten. Er saß vornübergebeugt, klemmte die Ellenbogen in seine Leistenbeuge, seine Hände waren mit Handschellen gefesselt. Seine Stiefel waren wie Bears voller Schlamm. Die beiden Detectives traten zur Seite, als Tim näher kam, und richteten ihre Kunstfaseranzüge.

Mac sagte mit tiefer Stimme über Tims Schulter hinweg: »Das ist Roger Kindell.«

»Siehst du ihn, du Wichser?«, fragte Gutierez. »Das ist der Vater des kleinen Mädchens.«

Der Blick des Mannes richtete sich auf Tim, zeigte aber weder Verständnis noch Reue.

»Dass so etwas in unserer gottverdammten Stadt passieren kann«, knurrte Harrison, als führte er ein vorangegangenes Gespräch fort. »Die Drecksäcke ziehen nach Norden. Sie kommen näher.«

Tim trat vor, bis sein Schatten über Kindells Gesicht fiel, er löschte das dämmrige Licht der nackten Glühbirne aus. Kindell saugte an seinen Zähnen, dann senkte er sein Gesicht in die Hände, massierte sich mit den Fingern den Haaransatz. Seine Stimme klang unscharf, er verschluckte Buchstaben, ein wenig guttural.

»Ich-hab schon-gesagt, ich war’s. Lass-mich allein.«

Tim spürte seinen Herzschlag bis in die Schläfen, den Hals. Kontrollierte Wut.

Kindell beließ sein Gesicht in seinen Händen. Schwarze Halbmonde zeichneten sich unter seinen Fingernägeln ab – getrocknetes Blut.

Harrison löste seine Arme, die er über Kreuz gehalten hatte, voneinander; Schweiß schimmerte auf seinem elfenbeinfarbenen Gesicht. »Sieh ihn an. Sieh ihn an, Junge.« Keine Reaktion. Blitzschnell stürzte sich der Detective auf Kindell, er packte ihn mit den Händen an Hals und Wangen, stieß ihm ein Knie in den Magen und bog seinen Kopf zurück, so dass er Tim anschaute. Kindells Atem blähte seine Nasenlöcher, sein Blick war trotzig.

Gutierez wandte sich an Tim. »Ich hab eine Unregistrierte.« Tim schaute hinunter auf die dargebotene Ausbeulung am Knöchel des Detectives, wo sein Hosenbein endete, eine miese Waffe, die man am Tatort umklammert von Kindells toten Fingern zurücklassen konnte. Gutierez nickte. »Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen, mein Freund.«

Harrison ließ Kindell los, stieß seinen Kopf zur Seite, nickte Tim zu. »Du tust, was du tun musst.«

Mac hielt an der großen Öffnung der Garagentür Wache, er schaute vor und zurück und behielt die Dunkelheit im Blick, obwohl Bear und Fowler weniger als zwanzig Meter von ihm entfernt einen guten Ausblick auf die Straße hatten.

Tim wandte sich Kindell zu. »Lasst mich allein.«

»Alles klar, Mann«, sagte Gutierez. Er blieb neben Tim stehen und hielt ihm den Handschellenschlüssel hin. »Wir haben das Arschloch schon abgeklopft. Hinterlass bloß keine blauen Flecke an ihm.«

Mac drückte Tims Schulter, dann folgte er den beiden Detectives hinaus. Tim griff nach oben, packte den herunterhängenden Seilgriff der Garagentür, zog daran. Die Tür knirschte wieder, beschleunigte aber schnell und krachte zu. Kindell zwinkerte nicht einmal. Kalt wie ein Messer.

Er bemerkte die Beretta in Tims Hand, die auf den Boden zielte, und wandte den Kopf zur Wand, als wollte er sein Desinteresse kundtun. Sein Haar war kurz geschnitten, ein herausgewachsener Maschinenschnitt, der aussah wie Pelz. Tim stellte die Frage, bevor er darüber nachgedacht hatte. »Hast du meine Tochter getötet?«

Die Glühlampe gab ein eigenartiges Summen von sich. Die Luft schien Tim zu umschließen, feucht und schwanger mit dem Duft von Farbverdünner.

Kindell wandte ihm wieder sein Gesicht zu. Er hatte gleichmäßige Gesichtszüge, aber eine ungewöhnlich flache, hohe Stirn. Seine Hände lagen beisammen in seinem Schoß. Er sah nicht so aus, als würde er die Frage beantworten wollen.

»Hast du meine Tochter getötet?«, wiederholte Tim.

Nach einer längeren Pause nickte Kindell einmal langsam. Tim wartete, bis sein Atem sich beruhigt hatte. Er spürte, wie seine Lippen zitterten, er kämpfte dagegen an. »Warum?«

Wieder dieser eigenartige Rhythmus der Worte, als spräche er in Zeitlupe. »Weil-sie so sch-schön war.«

Tim zog den Schlitten der Beretta durch und drückte eine Patrone in die Kammer. Kindell stieß ein gedämpftes Schluchzen aus, Tränen traten in seine Augen. Das erste Anzeichen von Gefühl. Er schaute trotzig hoch zu Tim, selbst als ihm der Rotz aus der Nase lief und sich auf seiner Oberlippe sammelte. Tim hob die Pistole. Seine Hände zitterten vor Wut, deswegen brauchte er einen Augenblick, bis er in der Lage war, auf Kindells große Stirn zu zielen.

Bear lehnte an seinem Truck, die kräftigen Arme überkreuzt, und schaute die anderen vier Männer an.

»Man legt sich nicht mit der Familie eines Deputys an«, sagte Gutierez. Dann nickte er Bear zu, um ihn einzuschließen.

»Oder eines Marshals.«

Bear nickte nicht zurück.

Fowler mischte sich ein. »Denen ist inzwischen alles egal. Die kapieren gar nichts mehr.«

»Das ist die verdammte Wahrheit«, bekräftigte Gutierez.

»Wie der Typ, der mit dem Sarin-Nervengas in den Kindergarten marschiert ist. Ezekiel oder Jedediah oder so.« Harrison schüttelte den Kopf. »Das hat alles keinen Sinn mehr. Nichts.«

»Wie geht’s Dray?«, fragte Mac. »Alles okay?«

»Sie ist hart im Nehmen«, antwortete Bear.

»Das kannst du laut sagen«, sagte Fowler.

Dann wieder Gutierez. »Es wird ihr besser gehen, wenn Rack ihr die Neuigkeiten überbringt.«

»Kennst du Tim gut?«, wollte Bear wissen.

Der Detective verlagerte sein Gewicht von einem Schuh auf den anderen. »Ich habe viel von ihm gehört.«

»Warum überlässt du seinen Spitznamen dann nicht denen, die ihn kennen?«

»Hey, komm schon, Jowalski«, ging Mac dazwischen. »Tito hat’s nicht so gemeint. Wir stehen auf derselben Seite, wir hier.«

»Tun wir das?«, fragte Bear.

Sie warteten, sie sahen die geschlossene Garagentür an, sie wappneten sich gegen einen Schuss in der Stille. Die Grillen zirpten und erfüllten die Luft mit einem nervösen Lärmen. Mac wischte sich mit dem Unterarm über die Stirn, obwohl es eine kühle Nacht war. »Ich frage mich, was er da drinnen macht.«

»Er wird ihn nicht erschießen«, sagte Bear.

Die anderen schauten Bear erstaunt an. Fowler grinste herausfordernd. »Glaubst du nicht?«

Bear bewegte sich unzufrieden, dann legte er die Arme wieder über Kreuz, als wollte er seine Haltung einfrieren.

»Und warum wird er das nicht tun?«, fragte Gutierez.

Bear betrachtete ihn mit offenem Missfallen. »Weil er sich nicht euch Deppen für den Rest seines Lebens ausliefern wird.«

Gutierez wollte etwas sagen, bemerkte dann aber Bears angespannte Unterarme und klappte den Mund wieder zu. Die Grillen machten immer weiter. Die Männer versuchten, den Blickkontakt untereinander zu vermeiden.

»Scheiß drauf. Ich hol ihn raus.« Bear stieß sich vom Truck ab. Neben ihm sah sogar Mac klein aus. Bear tat einen Schritt in Richtung der Garage, dann blieb er abrupt stehen. Er senkte den Kopf und schaute zu Boden, erstarrt zwischen dem Weg nach vorn und zurück.

Tim zielte mit der Beretta auf Kindells Kopf, er stand still und steif, der Schattenriss eines Schützen aus Stahl. Nach einem Moment begann sein Schussarm zu zittern. Seine Augen wurden feucht, zwei Atemzüge erschütterten seine Schultern. Mit einer plötzlichen, überraschenden Sicherheit wusste er, dass er Kindell nicht töten würde. Seine Gedanken lösten sich von der Gegenwart, kehrten zu seiner Tochter zurück. Eine Trauer, so allumfassend, selbstsüchtig und niederschmetternd, dass sie die Grenzen seines Herzens zu sprengen drohte, übermannte ihn. Sie traf ihn mit voller Wucht, wie nichts, was er je empfunden hatte. Er senkte die Waffe und krümmte sich, er stemmte die Fäuste auf die Oberschenkel, als die Gefühle ihn überfluteten.

Als er bemerkte, dass er immer noch mühevoll atmete, richtete er sich auf, so gut er konnte. »Warst du allein?«

Wieder der Kopf: hoch, runter, hoch.

Gnadenlose Krämpfe in Tims Brust zwangen ihn, sich vornüber zu beugen wie ein arthritischer alter Mann. Seine Stimme klang rau, schwach und verständnislos: »Du hast einfach entschieden … entschieden, sie zu töten?«

Kindell zwinkerte und fuhr sich mit den gefesselten Händen über das Gesicht, wie ein Eichhörnchen, das sich putzte. »Ich sollte sie nicht töten.«

Tim richtete sich augenblicklich auf, seine Haltung festigte sich. »Was heißt ›sollte‹?« Keine Antwort. »War jemand bei dir?«

»Er hat nicht –« Kindell unterbrach sich, er schloss die Augen.

»Er wer? Er hat nicht was? Hat jemand dir geholfen, meine Tochter zu töten?« Seine Stimme zitterte vor Wut und Verzweiflung. »Antworte mir, verdammt noch mal. Antworte mir!«

Kindell blieb still, er scherte sich nicht um Tims Fragen, die Ovale seiner geschlossenen Augenlider sahen aus wie venendurchzogene Eier.

Das Garagentor öffnete sich mit einem Knall, das Licht fiel auf das Unkraut am Boden. Kindell taumelte heraus, Tim stieß ihn vor sich her, jetzt waren seine Hände hinter dem Rücken gefesselt. Tim ging hinter ihm, die Kette zwischen den Handschellen gepackt. Er zog daran, so dass Kindells Arme in die Luft ragten. Kindell schnitt eine Grimasse, gab aber keinen Laut von sich.

Bear und die anderen sahen stumm zu, wie sie näher kamen. Kindell stolperte und ging zu Boden, er fiel auf Knie und Brust. Sein Grunzen klang wie ein Bellen.

Kindell mühte sich aufzustehen. Er zeigte keine blauen Flecke oder andere Zeichen von Bestrafung. »Du A’schlo’. Du v’dammte’ A’schlo’.«

»Halt besser den Mund«, fuhr Tim ihn an. »Im Augenblick bin ich noch dein bester Freund.«

Bear atmete aus, ein tiefes Brummen, bei dem er die Wangen aufblies.

Fowler starrte Tim an wie eine Frau, die einen Korb bekommen hat. Gutierez und Harrison sahen ebenso unzufrieden aus.

»Können wir miteinander reden?«, fragte Fowler, die Muskeln um den Mund angespannt.

Tim nickte, dann ging er mit den drei Männern ein paar Schritte weg von Mac und Bear.

»Er ist ein gottverdammter Wichser«, zischte Fowler.

Tim sagte: »Allerdings.«

Fowler spuckte einen braunen Strahl ins Unterholz. »Du willst solche Arschlöcher in unserer Stadt frei rumlaufen lassen?« Tim sah ihm genau in die Augen, bis Fowler wegschaute.

»Was soll der Scheiß, Rackley? Wir haben dir einen Gefallen getan.«

Gutierez strich sich mit Daumen und Zeigefinger den Schnauzbart glatt. »Dieser Kerl hat gerade deine Tochter umgebracht. Wie kann es sein, dass du ihn nicht umlegen willst?«

»Ich bin keine Geschworenenjury.«

»Ich wette, Dray sieht die Sache anders.«

»Da hast du wahrscheinlich recht.«

»Jurys sind Scheiße«, sagte Fowler. »Ich traue den Gerichten nicht.«

»Dann zieh nach Sierra Leone.«

»Hör mal, Rackley –«

»Nein, du hörst mal zu.« Fünf Meter entfernt horchten Bear und Mac auf. »Hier läuft eine Ermittlung, die ihr möglicherweise mit eurer Gier, die Sache zu Ende zu bringen, in die Scheiße geritten habt.«

Harrison legte die Arme über Kreuz und beugte sich vor. »Die Sache ist glasklar.«

»Er hat sie nicht allein umgebracht.«

Gutierez stieß die Luft durch zusammengebissene Zähne aus.

»Was soll das denn heißen?«

»Es hat noch jemand damit zu tun.« Tims Hand zuckte, er klopfte mit dem Daumen auf seinen Oberschenkel.

»Das hat er uns nicht gesagt.«

»Tja, dann sieht es so aus, als wärt ihr am Ende mit euren Detective-Tricks.«

Bear kam herüber, seine Stiefel quietschten, er ließ Mac bei Kindell. Er schaute die anderen mit gerunzelter Stirn an und stellte sich schützend neben Tim. »Alles in Ordnung?«

»Dein Kumpel hier will Dinge kompliziert machen, die nicht kompliziert sind.« Gutierez starrte Tim an. »Du stellst dich an.«

»Das stimmt.«

»Woher willst du wissen, dass jemand anders damit zu tun hat?« Gutierez nickte mit dem Kopf zu Kindell, der immer noch flach auf dem Boden lag. »Was hat er gesagt?«

»Er hat nichts Eindeutiges erzählt.«

»Nichts Eindeutiges«, sagte Harrison. »Eine Eingebung, was?«

Bears Stimme wurde so tief, dass Tim sie in seinen Knochen spürte. »Du passt besser auf, was du sagst, nach dem, was er heute durchgemacht hat.«

Harrisons Grinsen verschwand sofort.

»Genau deswegen töten wir Menschen nicht ohne Verfahren.«

Tim betrachtete die drei Männer. »Ruft die Spurensicherung. Startet die Ermittlungen, sammelt Beweise.«

Fowler schüttelte den Kopf. »Was für eine Scheiße. Kindell hat uns reden gehört. Wie wir die Sache geplant haben.«

Gutierez hob abwehrend die Hände. »Schon gut. Wir gehen jetzt einfach ganz normal vor. Wenn dieses Arschloch sich bei der Verteidigung ausheulen will, steht sein Wort gegen unseres.« Er blickte Tim und Bear an. »Sind wir einer Meinung?«

Tim überlegte, ob er Gutierez davon in Kenntnis setzen sollte, dass das Letzte, worauf er in dieser Nacht Kraft zu verschwenden gedachte, Gutierez’ Angstzustände waren, aber er wollte sich ihm gegenüber keine Blöße geben.

Hinter ihnen half Mac Kindell auf die Beine.

»Ihr wart nie hier«, erklärte Harrison. »Wir halten zusammen, egal was passiert.«

Bear stieß ein verächtliches Grunzen aus. Sie gingen zurück zu den Autos, ihr Atem kristallisierte in der kalten Luft.

»Du bist ein verdammtes Glücksschwein«, sagte Gutierez zu Kindell, der endlich wieder auf den Beinen stand. Er stieß ihm einen Finger knapp unterhalb der Schulter in die Brust.

»Hast du mich gehört? Ich hab gesagt, du bist ein verdammtes Glücksschwein.«

»Lass-mich in ’uhe.«

Bear ging um seinen Truck herum, stieg ein, ließ den Motor an.

Mac räusperte sich. »Tim, Mann, es tut mir so leid … alles. Überbring Dray mein Beileid. Es tut mir wirklich leid.«

»Danke, Mac«, sagte Tim. »Ich werd’s ihr sagen.«

Er stieg zurück in den Truck, und sie fuhren davon, ließen die vier Deputies und Kindell zurück, die in der dunklen Nacht immer wieder von hellblauen Blitzen beleuchtet wurden.

3. KAPITEL

Bear hielt am Bürgersteig, Tim wollte aussteigen, aber Bear packte ihn an der Schulter. Sie waren schweigend nach Hause gefahren. »Ich hätte dich aufhalten sollen. Mich einmischen sollen. Du warst gar nicht in der Lage, so eine Entscheidung zu treffen.« Er umklammerte das Steuerrad.

»Das ist nicht deine Aufgabe«, sagte Tim.

»Es ist meine Aufgabe, nicht nur herumzustehen, während mein Partner vielleicht irgendein Dreckschwein in einem kurzen Augenblick nur allzu verständlicher Wut erschießt. Du bist ein Bundesagent, nicht irgendein blöder Deputy.«

»Die Jungs haben sich einfach nur ein bisschen aufgeregt.«

Bear schlug mit den Handballen heftig gegen das Steuerrad; es war selten, dass er so wütend wurde. »Blöde Arschgeigen.« Seine Wangen waren feucht. »Blöde, gottverdammte Arschgeigen. Sie hätten dich nicht hineinziehen sollen. Sie hätten die Ermittlungen nicht in Gefahr bringen sollen.«

Tim wusste, dass Bear seine Trauer in Wut verwandelte und sie einfach auf das nächstbeste Ziel richtete, aber er wusste auch, dass er recht hatte. Tim reagierte lediglich auf die Worte, denn er ahnte, wenn er sich jetzt auf Gefühle einließe, würde er zerbrechen. »Es ist ja nichts passiert.«

»Es ist aber auch noch nicht zu Ende.« Bear wischte sich wütend über die Wangen. »Und wir wissen noch nicht einmal, was diese Idioten angestellt haben, bevor wir kamen, wie gut sie das Gelände gesichert haben. Sie haben ja nicht nach Komplizen gesucht. Sie wollten auch gar keine Anklage erheben. Es ist nicht so, als hätten sie auf jedes i-Pünktchen und jeden T-Strich für den Staatsanwalt geachtet. Sie haben schließlich nicht mit einem Verfahren gerechnet.«

»Aber jetzt müssen sie alles ordnungsgemäß erledigen. Nachdem wir da waren.«

»Na toll. Jetzt ist also nicht nur der Fall von ihrer Kompetenz oder eher dem grandiosen Mangel daran abhängig, sondern wir sind es auch.« Bear schüttelte sich wie ein Hund, der aus dem Wasser kommt. »Tut mir leid, es tut mir leid. Du hast genug eigene Sorgen.«

Tim brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Ich seh mal besser nach meiner blöden Deputy-Frau.«

»Scheiße, so hab ich das doch nicht gemeint.«

Tim lachte, und Bear stimmte ein, sie wischten sich beide über die Wangen.

»Soll ich noch … Kann ich reinkommen?«

»Nein«, sagte Tim. »Noch nicht.«

Bear parkte immer noch am Straßenrand, als Tim die Haustür hinter sich schloss. Im Haus war es dunkel und still. Jemand hatte zwei Löcher in die Wohnzimmerwand geschlagen, das Sperrholz war rissig gesplittert. Tim hatte Dray mit zwei ihrer Freundinnen zurückgelassen, die bei Ginnys Geburtstagsfeier hatten helfen wollen, war aber nicht überrascht, dass es jetzt still im Haus war. Wenn es Dray schlecht ging, wollte sie allein sein. Das hatte sie in einer Jugend mit vier älteren Brüdern und später in etwas mehr als sechs Jahren Polizeijob gelernt.

Er ging durch das kleine Wohnzimmer in die Küche. Die einfache Inneneinrichtung war über die Jahre durch Tims hohen Einsatz verbessert worden. Er hatte die Böden herausgerissen und Holzdielen in Fluren und Schlafzimmern verlegt, und er hatte die mit Messing überzogenen Kristalllüster durch versenkte Deckenstrahler ersetzt.

Auf dem Tresen stand Ginnys Geburtstagskuchen, noch ganz, die Oberseite voller Wachs. Dray hatte darauf bestanden, den Kuchen selbst zu backen, obwohl sie in der Küche nicht gut zurechtkam. Der Kuchen war ungleichmäßig, rechts höher als links, und die Glasur war mehrere Male in dem vergeblichen Versuch aufgetragen worden, sie glatt zu bekommen. Judy Hartley, ihre direkte Nachbarin, deren Kinder gerade ausgezogen waren, hatte angeboten, das Backen zu übernehmen, doch Dray hatte abgelehnt. Wie jedes Jahr an Ginnys Geburtstag hatte sie sich den Tag freigenommen, um über geliehenen Kochbüchern zu brüten, entschlossen und stur. Kuchen um Kuchen zog sie aus dem Ofen, bis sie einen zustande brachte, den sie für akzeptabel hielt.

Dray war nicht da, aber der Schrank, in dem sie den Schnaps aufbewahrten, stand offen. Eine Flasche No-Name-Wodka fehlte.

Tim ging leise durch den Flur zu ihrem Schlafzimmer. Das Bett, sorgsam aufgeschüttelt, war leer. Er sah ins Bad – auch kein Glück. Als Nächstes versuchte er es in Ginnys Zimmer, auf der anderen Flurseite. Dray saß im Dunkeln, die Zweiliterflasche zwischen den Beinen, der Schimmer einer Pocahontas-Nachtleuchte tönte eine Seite ihres Gesichts. Auf dem Teppich vor ihr lagen das schnurlose Telefon und ihr Palmpilot, dessen Hintergrundbeleuchtung noch glomm.

Ihr Gesicht war angespannt, verzerrt durch die Trauer. Vor drei Jahren hatte sie einen Fünfzehnjährigen geschnappt, der mit einem Arm voller Laptops aus einem Bürogebäude am Ventura floh. Er hatte mit einer vernickelten .22er auf sie geschossen, sie aber hatte ihn ihrerseits mit zwei Volltreffern erwischt. Als sie nach Hause gekommen war, hatte ihr Gesicht nicht ganz so schlimm ausgesehen wie jetzt. Sie neigte ihren Kopf leicht nach vorn, nachdenklich oder betrunken.

Tim schloss die Tür hinter sich, ging durchs Zimmer, ließ sich an der Wand neben ihr heruntergleiten. Er nahm ihre Hand, die schweißnass und fieberheiß war. Sie schaute nicht auf, drückte aber seine Finger, als wäre er alles, was sie noch am Leben hielte.

Er starrte Ginnys Bett an. Die Tapete, gelbe und rosafarbene Blumen, die jetzt in der Dunkelheit nur zu erahnen waren, hatte er genau so geklebt, dass das Muster auch über die Ecken des Zimmers hinweg fortgeführt wurde.

Tim dachte an Ginnys letzte Minuten im Leben, und dann fragte er sich, wo er um diese Zeit gewesen war. Er hatte seine Waffe in den Pistolensafe gelegt, als sie entführt worden war. Er hatte im Supermarkt rosa Kerzen gekauft, als sie zerstückelt wurde.

Dass er nicht wusste, wie Kindells Partner aussah, machte die Sache noch schlimmer, verhöhnte seine eingebildete Kontrolle über seine Welt. Die Vorstellung einer Partnerschaft war mehr als entsetzlich – zwei Männer, die gemeinsam ein Kind vernichteten, zwei Männer, die gemeinsam einen jungen Körper zerfleischten. Er sah Kindells Eierkopf vor sich und überlegte, ob es in der Hölle einen besonderen Ort für Kindermörder gab. Er stellte sich mögliche Qualen vor. Er war nie ein gläubiger Mensch gewesen, aber jetzt stahlen sich Gedanken aus den dunklen Ecken seines Hirns, aus den schattigen Winkeln, die dem Licht der Erkenntnis verborgen waren.

Drays Stimme, ruhig, heiser vom Weinen, riss ihn aus seinen Gedanken. »Ich war hier allein, heute Abend, ich hab hier mit Trina und Joan und der verfluchten Judy Hartley gesessen. Die anderen Kinder haben wir nach Hause geschickt und auf die positive Identifikation gewartet. Wir haben die Verwandtschaft angerufen, damit sie es nicht von … oder lesen …« Sie hob erschöpft die Hand, Haarsträhnen fielen ihr in die Augen. Sie nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche. »Fowler hat angerufen.«

»Dray …«

»Warum bist du nicht zu mir zurückgekommen?«

Er hätte nicht gedacht, dass seine Trauer noch Raum für Scham ließ, aber hier war sie, ungebrochen. »Es tut mir leid.«

Er empfand die Entfernung zwischen ihnen als einen körperlichen Schmerz in seinem Magen. Er erinnerte sich, wie er sich in sie verliebt hatte, absolut und erschreckend schnell. Keiner von ihnen hatte je gelernt, als Erwachsener etwas zu brauchen. Beide waren in der Kindheit enttäuscht worden, immer wieder, wenn sie sich auf jemanden verließen – aber da saßen sie dann, klammerten sich mit beständiger Aufmerksamkeit aneinander, redeten halbe Nächte durch und schmiegten sich vor den blau flackernden, stumm geschalteten Fernseher aneinander. Sie fuhren quer durch die Stadt, um sich zum Mittagessen zu treffen, weil sie es nicht von morgens bis abends ertrugen, den anderen nicht zu berühren. Jeder Augenblick der ersten Monate strahlte hell und klar – wie er mit der linken Hand steuerte und schaltete, damit er seine Rechte nicht aus ihrer nehmen musste, im Auto, nach dem Essen, nach einem Film, nach einem Abendspaziergang am Strand; das leise Geräusch, das sie von sich gab, wenn sie lächelte, knapp unterhalb eines Lachens, das Gefühl in ihrem Gesicht, wenn sie nach einem Kompliment errötete – wie feine Nadelstiche, erklärte sie –, dann musste sie die Wangen oberhalb ihres Grinsens mit den Fingerspitzen massieren, bis er schließlich begann, diese Aufgabe zu übernehmen. Erst letzte Woche hatte er sie zu einem Engtanz an sich herangezogen, als Elvis abends im Fernsehen wiederholt wurde. Ginny hatte so getan, als müsste sie sich übergeben, und war in ihr Zimmer gelaufen.

Und jetzt saß er mit seiner Frau im selben Zimmer, konnte sie aber kaum wahrnehmen in der Dunkelheit, die sich dicht um sie gelegt hatte, voll Schmerz und Schrecken und endloser Trauer.

Er mühte sich, Worte zu finden und die Verbindung aufrechtzuerhalten. »Er hat uns angerufen. Wir waren drei Meilen weit weg. Ich musste hinfahren, nachsehen.«

»Okay. Also bist du gefahren.«

Er atmete tief durch. »Und er hat gestanden.«

Sie versuchte, es sanft klingen zu lassen, aber er konnte ihre Frustration hören. »Tim, du bist der Vater des Opfers. Du wurdest illegalerweise an den Tatort gerufen, um einen Rachemord zu begehen. Erklär mir bitte, was es hilft, dass er es dir gestanden hat.« Sie stellte die Flasche schwungvoll auf den Boden. »Dieser Mann hat unsere Tochter entführt und getötet. Er hat sie zerfleischt. Und du bist zu ihm gefahren, du hast den Tatort gefährdet, die Verhaftung, und dann hast du ihn gehen lassen.«

»Ich glaube, er hatte einen Komplizen.«

Sie zog die Augenbrauen hoch. »Davon hat Fowler nichts gesagt.«

»Kindell sagte, er hätte sie nicht töten sollen, als hätte es eine vorherige Vereinbarung zwischen ihm und jemand anderem gegeben.«

»Vielleicht hat er auch nur sagen wollen, dass er sie nicht töten wollte. Oder dass er wusste, dass es verboten ist.«

»Vielleicht. Aber dann hat er sich auf jemand anderes bezogen – einen Er – und sich plötzlich unterbrochen.«

»Und warum beschäftigen sich Gutierez und Harrison nicht damit?«

»Sie wussten nichts davon.«

»Und jetzt überprüfen sie es?«

»Das sollten sie besser tun.«

Ginnys Nachttischwecker gab ein leises Klingen von sich, weil eine volle Stunde erreicht war; das Geräusch traf Tim hart und unerwartet, mitten ins Herz. Drays Gesichtszüge schienen auseinander zu fallen. Sie nahm schnell einen weiteren Schluck aus der Flasche. Einen Augenblick lang hatten sie so getan, als wären sie nicht betroffen, als wären sie bloß zwei Polizisten, die sich über einen Fall unterhielten.

Dray wischte sich mit dem Ärmel ihres Sweatshirts die Tränen von den Wangen, sie hatte ihn wie ein kleines Mädchen über ihre Hand gezogen. »Also ist der Tatort nicht ordnungsgemäß gesichert worden, und nun besteht auch noch die Möglichkeit, dass der Mörder nicht der einzige Mörder ist.«

»Das stimmt leider so ungefähr.«

»Du bist noch nicht einmal wütend.«

»Das bin ich. Aber Wut bringt nichts.«

»Was bringt denn etwas?«

»Das versuche ich herauszufinden.« Er schaute sie nicht an, aber er hörte sie einen weiteren Schluck aus der Flasche nehmen.

»Deine ganze Ausbildung – Spezialeinsätze, Kampftraining, FLETC –, ausgerechnet du solltest wissen, wie man unter Druck richtig entscheidet. Du hättest wissen müssen, dass du dort nicht hingehörst, Timmy.«

»Nenn mich nicht Timmy.« Er stand auf und wischte sich die Hände an der Hose ab. »Hör mal, Dray, wir sind jetzt beide kaputt. Wenn wir so weitermachen, bringt uns das auch nichts.«

Tim öffnete die Tür und ging hinaus. Drays Stimme folgte ihm in den kühlen Flur. »Wie kannst du nur so ruhig sein? Als wäre sie bloß ein weiteres Opfer, jemand, den du nie gekannt hast.« Tim blieb im Flur stehen, den Rücken zur offenen Tür. Er drehte sich um und kehrte zurück. Dray hatte die Hand über den Mund geschlagen.

Er fuhr sich mit der Zunge über die Zähne, hin und her, er wartete darauf, dass der Atem in seiner Brust wieder zur Ruhe kam.

Als er schließlich sprach, war seine Stimme so leise, dass sie kaum zu hören war. »Ich verstehe, wie ärgerlich du bist, am Boden zerstört. Das bin ich auch. Aber sag so etwas nie wieder.«

Sie ließ die Hand sinken. Ihr Blick war voller Entsetzen. »Es tut mir leid«, sagte sie.

Er nickte und verließ vorsichtig das Zimmer.

Im Schlafzimmer drehte Tim das Zahlenschloss des Pistolensafes, dann holte er eine SigSauer P226 neun Millimeter des Sondereinsatzkommandos heraus, die von ihm bevorzugte .357 Smith & Wesson, eine mächtige Ruger .44 Mag und zwei Fünfzigerschachteln neun Millimeter und .44. Für die .357 – seine Dienstwaffe – hatte er eine größere Auswahl an Munition; er entschied sich für Wad Cutter – Geschosse mit flachem Kopf, die saubere Löcher in die Zielscheibe stanzen – statt für die kupferummantelten oder die Hohlspitz-Patronen. Seine Dienststelle gab die Smith & Wesson mit Zehnzentimeterlauf aus, denn sie wurde oft verdeckt getragen.

Als er in Ginnys Zimmer zurückkehrte, hatte Dray sich noch nicht gerührt. »Es tut mir so leid«, wiederholte sie. »Wie konnte ich das nur sagen.«

Er kniete sich hin, legte seine Hände auf ihre Knie, küsste sie auf die Stirn. Die Haut war feucht. Ihr ganzes Gesicht roch nach Alkohol. »Schon gut. Wie geht noch das Sprichwort mit den Steinen und den Glashäusern?«

Sie schürzte die Lippen, nicht ganz ein Lächeln. »Wirf nicht mit Glashäusern, wenn du in einem Stein lebst?«

»Irgendwie so.«

»Du musst schießen gehen.« Es war keine Frage, sondern ein Vorschlag.

Er nickte. »Willst du mitkommen?«

»Ich muss hier noch eine Weile sitzen und ins Nichts schauen.«

Er wollte sie noch einmal auf die Stirn küssen, aber sie legte den Kopf in den Nacken und drückte ihre Lippen auf seine. Ihr Kuss war heiß und trocken und wodkadurchtränkt. Hätte er in sie hineinkriechen und dort leben können, er hätte es getan. In der Garage standen Tims silberner M3 BMW und seine Werkbank. Tim warf seine Waffen in den Kofferraum und ließ den Motor an, vorsichtig umrundete er Drays Blazer, der in der Auffahrt stand. Er fuhr an den Rand der Stadt, dann ein paar hundert Meter über einen kleinen Feldweg.

Er ließ den Wagen mit laufendem Motor auf einer kleinen Lichtung stehen und richtete die Scheinwerfer nach unten, bis sie ein Kabel erleuchteten, das sich zwischen zwei Pfählen spannte, etwa einen Meter fünfzig über dem Boden. Tim holte einen Stapel Ziele, eine Mischung farbiger Transstars und alter B-27, und hängte sie an das Seil. Dann hockte er sich in den Dreck, schob die Sig-Magazine ein, bereitete die Schnelllader für die Revolver vor. Sechs Patronen steckten in der zylindrischen Basis jedes Schnellladers, die Spitzen ragten auf wie Fänge, der Abstand passte zu den Einstecklöchern in der Revolvertrommel.

Er zielte mit dem linken Auge, war aber Rechtshänder, deshalb zog er aus einem hochsitzenden Holster auf der rechten Seite. Schulterholster sah die Polizei nicht so gerne, denn über Kreuz zu ziehen war immer ein Risiko für den Schützen, aber Tim zog sowieso lieber direkt aufwärts. Er fand, über Kreuz zu ziehen brauchte zu viel Zeit. Schulterholster wurden nicht ohne Grund Witwenmacher genannt. Er begann mit der Sig, schoss ein paar schnelle Kombinationen auf zehn Meter, um sich aufzuwärmen. Dann ging er zurück auf zwanzig. Dann dreißig.

Er schoss bemerkenswert genau, hatte in Kursen über städtische Guerilla-Einsätze geübt und dann im Malibu-Labyrinth an der Glynco weitergemacht. In dem sehr passend benannten Schießstand gibt es hochfahrende und schwingende Ziele, auf die sich angehende Deputies bei Blitzlichtgewitter, lauter Musik und irren Schreien mit echter Munition stürzten. Die Stimmung dort ist so aggressiv und die Umgebung so surreal, dass erwachsene Männer manchmal weinend herauskommen. Draußen müssen sich die Deputies dann gegen Schauspieler zur Wehr setzen, die Gesetzesbrecher spielen; einer war einmal ein bisschen zu gründlich mit Tim geworden – er hatte ihn in den Unterarm gebissen, so dass Tim ihn k. o. geschlagen hatte. Sein Atem bildete Wolken in der kalten Februarnachtluft, Tim schoss und schoss. Als er alle Neunmillimeterpatronen verbraucht hatte, sattelte er auf seine .357 um und trat auf einen Betonabsatz in etwa zehn Metern Entfernung.

Er stand in einem modifizierten Weaver, einer vorgebeugten Schussposition, die Füße schulterbreit auseinander, das linke Bein vorn. Die Umgebung passte zu seiner Stimmung – der nackte Boden und die Steine, die beiden Scheinwerferkegel, die sich durch die Nacht brannten, nur ein klein wenig Licht in einem unendlich trostlosen Universum. Die Papierziele im Licht, schwebende weiße Rechtecke, wippten wie Früchte an einem Baum. Die Leere der Dunkelheit öffnete sich um ihn herum wie ein ausgenommenes Tier, er starrte ins Nichts. Und alles, was zurückstarrte, war eine Reihe augenloser, zweidimensionaler Zielscheiben, die an einem Seil vor sich hin flatterten.

Seine rechte Hand fuhr herab, durchbrach die perfekte Ruhe, packte die Pistole. Kaum war der Lauf aus dem Leder gefahren, drehte er ihn, stieß ihn vorwärts, seine linke Hand flog bereits darauf zu, packte die rechte, wo sie den Griff hielt. Er zielte schon, während er noch die Arme streckte. Er drückte den rechten Arm durch, den linken hielt er ein wenig gebeugt. Der Abzug drückte genau gegen die Mitte seines rechten Zeigefingers, so dass er nicht nach oben rechts oder unten links verriss, und er betätigte den Double-Action-Abzug schnell und gleichmäßig, er erwartete keinen Rückstoß, verspannte die Hand nicht zu sehr. Der Revolver bellte, und durch den Brustkorb des Transstar wurde ein Loch gestanzt, genau in der Mitte. Er schoss noch fünf Mal in schneller Folge, hatte das Ziel nach jedem Schuss fast sofort wieder im Visier. Das Kordit stieg noch auf, da drückte er schon den Hebel an der linken Seite mit dem Daumen nach vorn, so dass die gut gefettete Trommel herausklappte. Mit der linken Hand holte er den Schnelllader aus seiner Bauchtasche, während er den Revolver nach hinten kippte, die Patronenhülsen hagelten wie Messingregen in den Dreck. Mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung richtete er die Pistole nach unten und füllte die Trommel, die sechs neuen Patronen glitten mühelos an ihren Platz. Er schoss noch sechs weitere Runden, bis die fünf Ringe des Transstar aussahen wie Schweizer Käse, bevor der leere Schnelllader in den Dreck fiel.

Die Wad Cutter, die perfekt dazu geeignet waren, Löcher in Papier zu stanzen, hinterließen befriedigende Öffnungen. Gedankenlos wiederholte er den Vorgang, er verlor sich darin, er destillierte seine Wut in die präzisen Ausbrüche der Kugeln und presste sie heraus. Die Wut verließ ihn langsam, wie Wasser, das aus einer Wanne ablief, und als sie verschwunden war, versuchte er, die verbleibende Trauer ebenfalls zu formen und zu verschießen, es gelang ihm aber nicht. Er wechselte das Schießen aus dem Stand mit Bewegungsübungen ab, er schoss, bis seine Handgelenke schmerzten, bis seine Handflächen rau vom Rückstoß waren.

Dann lud er lange, schlanke .44 in die Ruger und schoss damit, bis das dünne Häutchen zwischen Daumen und Zeigefinger zu bluten begann.

Als er kurz nach Mitternacht nach Hause kam, war das Haus leer. Die Wodkaflasche stand auf Ginnys Fußboden, halb leer, die einzige Spur von Dray. Ihr Blazer stand immer noch in der Auffahrt, die Haube kühl.

Tim fuhr sechs Blocks zu McLane’s, dem halbauthentischen irischen Pub, der Macs Vater gehörte, und parkte zwischen den Crown Vics und Buicks. Die schwere Eichentür gab nach. Von ein paar Ausdauertrinkern und den Deputies und Detectives hinten am Billardtisch abgesehen, war der Laden leer. Jede Menge Schnauzbärte. Alte Polizei-Blinklampen hingen über den Regalen mit dem Schnaps. Eine typische Bullenbar. Der Barkeeper, ein Schönling mit hochgekrempelten Ärmeln, schaute vom Gläsertrocknen auf. »Tut mir leid, Mann, wir haben zu.«

Tim kümmerte sich nicht um ihn und ging an der Bar entlang auf die Männer weiter hinten zu. Mac, Fowler, Gutierez, Harrison, fünf andere. Dray stand zwischen ihnen, vorgebeugt, den Unterarm ausgestreckt, den Finger anklagend erhoben. Aus irgendeinem Grund hatte sie ihre Uniform angezogen, obwohl vorgeschrieben war, dass Polizisten nicht in Dienstkleidung trinken durften. Vom Alkohol verstärkt trugen die Stimmen weit.

» … wagen, meinen Mann in so eine Situation zu bringen. Zumindest hättet ihr mir – eurer Kollegin – anständigerweise Bescheid sagen können.«

»Wir dachten, er käme damit klar«, sagte Fowler.

»Weil er ein Mann ist?«

»Nein, weil, du weißt schon, die Militärausbildung.«

»Militärausbildung, genau. Deshalb hat er keine Gefühle.« Sie drehte sich ein wenig und sah die Detectives an, sie schwankte betrunken. »Was habt ihr über den Komplizen herausgefunden?«

Gutierez, der vorne stand, redete mit ihr wie ein Politiker – die Hände beruhigend gespreizt, Herablassung verkleidet als onkelhafte Beruhigung. »Wir überprüfen das. Aber im Gegensatz zu deinem Mann halten wir die Hinweise für nicht so aussagekräftig.«

»Der Konspirationstheoretiker«, murmelte jemand.

Fowler bemerkte Tim zuerst, dann wandten sich auch die anderen um, alle außer Dray. »Ich sag euch was.« Dray sprach undeutlich. »Ihr könnt mich verarschen, solange ihr wollt. Aber wenn ihr noch einmal etwas gegen meinen Mann sagt, schlag ich euch allen die Zähne ein.«

Der Barkeeper war jetzt hinter der Bar hervorgekommen, er folgte Tim, aber Mac winkte ihn weg. »Schon okay, Danny. Er gehört zu uns.«

»Tut er das?«, fragte Gutierez leise. Zwei der Deputies betrachteten Tim und flüsterten dann miteinander.

Tim wandte sich nur an seine Frau. »Komm mit, Dray. Lass uns nach Hause fahren.«

Dray bemerkte ihn endlich, tat einen Schritt, verlor das Gleichgewicht, setzte sich. Mac legte einen Arm um sie, um sie zu halten, seine Hand auf ihrer Schulter. Die anderen rückten auf ihren Stühlen näher an sie heran. Mac hob die freie Hand zu einer beruhigenden Geste. »Hey, Tim. Alles klar, oder? Wir dachten, es wäre gut für sie, jetzt rauszukommen, wenn man …«

»Schnauze, Mac.« Tims Blick löste sich nicht von Dray. Ihr Kopf kippte zur Seite. Mit geschlossenen Augen neigte sie den Kopf auf ihre Handfläche. Tim biss die Zähne zusammen, seine Mundwinkel zuckten. »Andrea, lass uns bitte gehen.« Sie wollte sich erheben, schaffte es aber nur, sich schwer auf den Tisch zu stützen.

Fowler nahm ein leeres Schnapsglas hoch, hielt es wie ein Fernglas vor das Auge und betrachtete Tim. »Nächstes Mal, wenn sich jemand für dich einsetzt, respektierst du es vielleicht«, nuschelte er. »Tito und ich haben für dich was riskiert, Mann.«

Mac nahm seinen Arm von Drays Schultern und erhob sich. Mac sah mühelos gut aus, sein Haar ein wenig verwuschelt, ein paar Bartstoppeln auf den Wangen – im Vergleich dazu war Tim bloß Bemühen und Disziplin.

»Jungs, wir hatten alle eine lange Nacht«, beschwichtigte Mac. »Lassen wir es gut sein.«

»Ja, lassen wir es gut sein mit unserem großen Anstandswauwau«, pflichtete ihm Harrison bissig bei.

Gutierez kicherte. Tim warf ihm einen Blick zu. Ermutigt durch die Erwartungen der anderen und das Leergut auf dem Tisch vor sich, starrte Gutierez zurück. »Denk mal drüber nach, mein Freund. Deiner Frau geht’s hier gut. Wir kümmern uns um unsere Leute.«

Dray murmelte ärgerlich vor sich hin.

Tim wandte sich um und ging zur Tür. Hinter sich hörte er Stimmen.

»… gut im Weglaufen …«

»… besser immer weiter …«

Tim erreichte die Tür und schob den Riegel vor, der metallisch klickte. Es wurde still in der Bar. Er ging wieder am Tresen entlang, die paar verbliebenen Trinker schauten ihm von ihren Hockern aus nach.

Er erreichte die Deputies und wandte sich zur Bar, weg von ihnen. Er nahm seine Smith & Wesson ab, die immer noch im Holster steckte, und legte sie auf den Tresen. Seine Geldbörse mit der Marke folgte, seine Jacke hängte er ordentlich auf die Lehne eines Stuhls. Er krempelte seine Ärmel hoch, auf beiden Seiten zwei Mal.

Als er sich wieder umwandte, waren die Deputies ein wenig nüchterner geworden. Er kam auf Gutierez zu. »Steh auf.« Gutierez rutschte auf seinem Stuhl herum, lehnte sich zurück, und versuchte lässig und sorglos auszusehen, aber das gelang ihm nicht. Tim wartete. Niemand sagte etwas. Ein anderer Deputy nahm einen Schluck Bier, stellte seine Flasche mit einem leisen Poltern wieder auf den Tisch. Gutierez schaute schließlich weg.

Tim zog seine Jacke wieder an, steckte seine Waffe und seine Marke ein. Er ging um den Tisch, aber Dray erhob sich bereits. Sie stützte sich schwer auf ihn, 135 Pfund Muskeln und Ausrüstung.

Er legte seinen Arm um ihre Hüfte und führte sie zur Tür.

Er entkleidete sie wie ein Kind, kniete sich hin, um ihr die Stiefel auszuziehen, während sie sich auf seine Schultern stützte. Dann deckte er sie zu, aber sie schob das Laken zur Seite. Sie schwitzte. Er küsste sie auf die feuchte Stirn.

Sie schaute zu ihm auf, ihr Gesicht faltenfrei und jung in der Dunkelheit. Ihre Stimme zitterte. »Wie hat er ausgesehen?«

Tim sagte es ihr.

Er wischte ihre Tränen weg, eine Wange mit einem Daumen, dann die andere.

»Erzähl mir, was passiert ist. In der Garage. Alles.«

Er berichtete ihr davon, er kämpfte selbst mit den Tränen, wischte die ganze Zeit über ihre weg.

»Ich wünschte mir, du hättest ihn getötet«, sagte sie.

»Dann hätten wir keine Chance mehr auf die Wahrheit.«

»Aber er wäre tot. Fort von diesem Planeten. Ausgelöscht.« Mehr Tränen, als Tim wegwischen konnte. Sie nahm seine Hand, drückte sie mit beiden Händen, ließ ihre Tränen über ihre Schläfen auf das Kissen rinnen. »Ich bin wütend. So wütend. Auf alles. Alle.«