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Auf Schritt und Tritt beobachtet, überall, jederzeit – ein Alptraum: Als Patrick, Lehrer an einer Highschool, im Nebenberuf Drehbuchautor, morgens wie immer die Zeitung aus dem Briefkasten holt, findet er dort eine mysteriöse, unbeschriftete DVD. Darauf sind er und seine Frau Ariana zu sehen, in allen Räumen ihres Hauses, beim Schlafen, beim Aufstehen, buchstäblich überall. Zunächst glaubt Patrick an einen dummen Scherz. Doch dann kommt plötzlich diese Mail: »Komm alleine, tu, was wir dir sagen – oder sie stirbt.« Für Patrick und Ariana beginnt ein tödliches Spiel …
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Seitenzahl: 654
Dies ist ein fiktives Werk. Alle in diesem Roman dargestellten Personen, Organisationen und Ereignisse sind entweder ein Produkt der Fantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet.
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Die englische Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel »Or She Dies« bei Sphere, London.
Deutsche Ausgabe 2024
Copyright © 2009 Gregg Hurwitz
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2024 Ronin Hörverlag: Ronin Hörverlag, Heusteg 47, 91056
Erlangen
Die Rechte an der Nutzung der deutschen Übersetzung von Wibke Kuhn liegen bei der Verlagsgruppe Droemer
Knaur GmbH & Co. KG Maria-Luiko-Str. 54, 80636 München
Umschlaggestaltung: by wayan-design unter Verwendung von Motiven von Depositphotos © Knut_Wiarda (Knut Wiarda), © appalachianview (Jonathan Bilous)
E-Book-Konvertierung: Open Publishing GmbH
ISBN: 978-3-98955-028-5 (E-Book)
Für Informationen wende dich an Ronin Hörverlag, Heusteg 47, 91056 Erlangen
www.ronin-hoerverlag.de
ODER SIE STIRBT
Gregg Hurwitz
Aus dem Englischen von Wibke Kuhn
Der Ausbrecher
Die Meute
Die Sekte
Das Tribunal
Blackout
Tödlicher Fehler
Gregg Hurwitz, geboren 1973, studierte Englische Literatur und Psychologie an der Harvard University sowie im englischen Oxford. Mit seinen Thrillern ist er regelmäßig ganz oben auf den englischen Bestsellerlisten zu finden. Seine Romane erscheinen weltweit in vierzehn Sprachen. Er lebt in Los Angeles.
Weitere Infos unter www.gregghurwitz.net
Für Kelly Macmanus,
die mich mit dieser Stadt bekannt gemacht hat.
Vor einem echten Idioten ist nichts idiotensicher.
Anonym
Oder sie stirbt
Weitere Titel von Gregg Hurwitz
Über den Autor
Inhalt
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Danksagung
Während ich den Wagen durch die Haarnadelkurve manövrierte, umklammerte ich fest das Lenkrad und bemühte mich, ja nicht weiter auf meinem Sitz zurückzurutschen. Wenn sich das Messer bewegte, das ich mir unter den Oberschenkel geklemmt hatte, würde es mir das Bein aufschlitzen. Ich hatte die Klinge gut festgeklemmt, und der Griff ragte so hervor, dass ich es jederzeit leicht herausziehen konnte. Beißender Gestank von verbranntem Gummi drang durch die Belüftung ins Wageninnere. Ich widerstand dem Drang, noch mehr aufs Gaspedal zu drücken – in Anbetracht der knappen Zeit durfte ich es nicht riskieren, dass die Polizei mich am Ende noch rauswinkte.
Ich schoss die schmale Straße entlang. Meine Hände am Lenkrad waren glitschig vor Schweiß, und mein Herz pumpte mir so viel Angst und Adrenalin durch die Adern, dass es mir den Atem nahm. Ich blickte auf die Uhr, blickte auf die Straße, blickte wieder auf die Uhr. Als ich nur noch wenige Blocks entfernt war, fuhr ich an den Straßenrand und brachte den Wagen mit quietschenden Reifen zum Stehen. Gerade noch rechtzeitig riss ich die Tür auf. Während ich mich in den Rinnstein erbrach, beobachtete mich ein Gärtner hinter seinem Rasenmäher mit undurchdringlicher Miene.
Als ich fertig war, ließ ich mich wieder in den Sitz fallen, wischte mir den Mund ab und fuhr etwas langsamer die steile Steigung hoch. Wie angegeben, bog ich in die Anliegerstraße, und innerhalb weniger Sekunden kam die Steinmauer in Sicht, dann das schmiedeeiserne Gittertor. Ich sprang aus dem Wagen und gab den Türcode ein. Ruckelnd öffneten sich die Torflügel. Die asphaltierte Auffahrt wurde von Jacaranda-Bäumen gesäumt und führte direkt ans hintere Ende des Grundstücks. Schließlich kam das Gästehaus in Sicht. Mit seinen Stuckwänden, dem flachen Ziegeldach und der leicht erhöhten Veranda war es größer als die meisten anderen Häuser in dieser Straße.
Ich blieb direkt am Fuß der Verandatreppe stehen, neben einem Topf mit Kakteen, und versuchte, wieder ruhig durchzuatmen. Nirgendwo war ein Lebenszeichen auszumachen. Ein gutes Stück vom Gästehaus entfernt konnte man das Hauptgebäude gerade noch durch das dichte Geäst erkennen, aber auch dort war alles dunkel und still. Die Stufen neben meinem Autofenster waren so steil, dass ich die Veranda nicht einsehen konnte. Im Grunde konnte ich fast gar nichts sehen, bis auf die Stufen. Wahrscheinlich war das auch so gedacht.
Ich wartete. Und lauschte.
Schließlich hörte ich, wie sich oben knarrend eine Tür öffnete. Ein Schritt. Noch einer. Dann erschien ein Männerstiefel auf der obersten Treppenstufe. Der andere Stiefel folgte. Knie wurden sichtbar, dann Oberschenkel, schließlich ein Oberkörper. Der Mann trug abgewetzte Jeans, einen unauffälligen schwarzen Gürtel, vielleicht ein graues T-Shirt.
Ich ließ meine Hand zum Griff des Fleischmessers wandern und umklammerte ihn so fest, dass mir die Handfläche weh tat. In meinem Mund spürte ich etwas Warmes – ich musste mir in die Wange gebissen haben.
Der Mann blieb an der untersten Stufe stehen, höchstens eine Armlänge vom Seitenfenster meines Wagens entfernt. Die Linie des Autodachs schnitt ihn genau in der Mitte ab. Ich wollte mich schon ducken, um sein Gesicht erkennen zu können, aber man hatte mich gewarnt, das lieber nicht zu tun. Er war sowieso schon zu nah.
Dann klopfte er mit den Knöcheln gegen die Fensterscheibe.
Mit der Linken drückte ich auf den Fensterheber, und die Scheibe glitt nach unten. Unter meinem Oberschenkel spürte ich die Messerklinge. Ich suchte mir einen Punkt an seinem Oberkörper aus, direkt unter den Rippen. Aber erst musste ich unbedingt noch etwas in Erfahrung bringen.
Kaum war das Fenster ganz unten, rückte seine zweite Hand in mein Blickfeld und ließ einen faustgroßen Gegenstand in den Wagen fallen. Als er in meinen Schoß fiel, stellte ich fest, dass er erstaunlich schwer war.
Ich blickte nach unten.
Eine Handgranate.
Ich schnappte nach Luft und versuchte, sie zu packen.
Doch bevor ich sie zu fassen bekam, detonierte sie.
Zehn Tage zuvor
In Boxershorts trat ich auf die kalten Fliesen meiner Veranda, um die Morgenzeitung hereinzuholen, die – wie könnte es anders sein – mitten in der Pfütze neben dem kaputten Rasensprenger gelandet war. In den Fenstern und Schiebetüren des gegenüberliegenden Wohnblocks, der außer der Postleitzahl wenig mit Bel Air gemeinsam hatte, spiegelten sich die grauen Wolken. Das passte haargenau zu meiner Laune. Der Winter in L. A. hatte wie immer spät begonnen und kam nur langsam in die Gänge. Aber gekommen war er doch, die Temperatur war auf acht Grad gefallen, und die Windschutzscheiben der geleasten Luxuslimousinen waren beschlagen.
Ich fischte die tropfnasse Zeitung, die glücklicherweise in Plastikfolie eingeschweißt war, aus der Pfütze und ging wieder ins Haus. Im Wohnzimmer ließ ich mich aufs Sofa fallen, riss die Verpackung der Times auf und zog mir erst mal den Unterhaltungsteil heraus. Als ich ihn auseinanderfaltete, fiel mir eine DVD in einer durchsichtigen Hülle auf den Schoß.
Ich starrte sie einen Moment an. Dann drehte ich sie um. Eine unbeschriftete CD, wie die Rohlinge, die man sich stapelweise abgepackt zum Selberbrennen kaufen konnte. Seltsam. Fast schon ominös. Ich stand auf, kniete mich auf den Teppich und schob sie in den DVD-Player. Um Ariana nicht zu wecken, stellte ich den Surround-Sound ab. Dann setzte ich mich vor den Plasmabildschirm, den wir uns voreilig gekauft hatten, als unser Kontostand noch nach oben tendierte.
Ein paar visuelle Schluckaufs verzerrten das Bild, dann kam die beschauliche Nahaufnahme eines Fensters mit nicht ganz geschlossenen Fensterläden. Durch die Scheibe konnte ich einen Handtuchhalter aus gebürstetem Nickel und ein Standwaschbecken erkennen. Am Rand des Bildschirms sah man einen Streifen zartblauer Hauswand. Ich brauchte nur eine Sekunde, um das Bild aufzunehmen – es war mir so vertraut wie mein Spiegelbild, aber in diesem Zusammenhang doch seltsam fremd.
Es war eine Aufnahme unseres Badezimmers im Erdgeschoss, von außen durchs Fenster gefilmt.
Ein schwaches Pulsieren meldete sich in meinem Magen. Eine dumpfe Vorahnung.
Das Bild war körnig, offensichtlich mit einer Digitalkamera gemacht. Allerdings ohne Zoom, denn die Tiefenschärfe ließ zu wünschen übrig. Die Kamera war wahrscheinlich nur wenige Meter von der Fensterscheibe entfernt, und sie bewegte sich die ganze Zeit nicht; wahrscheinlich war ein Stativ benutzt worden. Kein Ton, nur völlige Stille, die mir über den Nacken kroch und sich unter meine Haut fraß. Ich war wie gelähmt.
Durch das Fenster und die halboffene Badezimmertür konnte man einen Streifen des Flurs erkennen. Ein paar Sekunden vergingen, ohne dass etwas geschah, dann ging die Tür auf. Das war ich. Ich trat ein, nur vom Hals bis zum Knie sichtbar, und überdies von den Lamellen der Fensterläden in Streifen geschnitten. In meinen blau-weiß gestreiften Boxershorts trat ich vor die Toilette und pinkelte. Ganz oben auf meinem Schulterblatt ein kaum erkennbarer blauer Fleck. Ich wusch mir die Hände am Waschbecken, dann putzte ich mir die Zähne. Ich ging hinaus. Der Bildschirm wurde schwarz.
Während ich mir selbst zugesehen hatte, hatte ich mir die Innenseite meiner Wange aufgebissen. Dümmlich glotzte ich an mir herab, um festzustellen, was für Shorts ich eigentlich an diesem Tag anhatte. Karierter Flanell. Ich dachte an den Bluterguss, und mir fiel ein, dass ich mir in der Woche zuvor den Rücken an einer offenstehenden Schranktür gestoßen hatte. Ich versuchte, mich zu erinnern, an welchem Tag das gewesen war, da hörte ich plötzlich, wie Ariana in der Küche herumklapperte. Sie machte Frühstück. Unsere Wohnung mit den breiten Türen ist ziemlich hellhörig.
Dass die DVD ausgerechnet in den Unterhaltungsteil der Zeitung gesteckt worden war, kam mir ziemlich hintersinnig vor. Ich drückte auf Play und sah mir das Ganze noch einmal an. Ein Scherz? Aber nichts daran war komisch. Im Grunde war es überhaupt nichts. Nur beunruhigend.
Ohne das Kauen an meiner Wange zu unterbrechen, stand ich auf und ging ins Obergeschoss, vorbei an meinem Arbeitszimmer mit Blick auf den viel größeren Garten der Millers, und ins Schlafzimmer. Dort warf ich einen Blick in den Spiegel – der Bluterguss war immer noch da, gleicher Fleck, gleiche Größe und Farbe. In unserem begehbaren Kleiderschrank fand ich den Wäschekorb, und ganz obenauf prompt meine blau-weiß gestreiften Boxershorts.
Am Tag zuvor also.
Ich zog mich an und ging wieder ins Wohnzimmer. Nachdem ich meine Decke und das Kissen beiseitegeschoben hatte, setzte ich mich aufs Sofa und sah die DVD noch einmal an. Ihre Laufzeit betrug genau eine Minute und vierzig Sekunden.
Selbst wenn das Ganze nur ein geschmackloser Scherz war – es war ungefähr das Letzte, was Ariana und ich derzeit brauchen konnten. Ich wollte sie nicht unnötig aufregen, andererseits wollte ich ihr aber auch nichts verheimlichen.
Bevor ich zu einem Entschluss gekommen war, erschien sie mit dem Frühstückstablett. Sie hatte geduscht, sich angezogen und eine Blüte aus ihrem Gewächshaus hinters linke Ohr gesteckt, was einen wunderbaren Kontrast zu ihrem dunkelbraunen, lockigen Haar bildete. Instinktiv schaltete ich den Fernseher aus. Sie blickte zum DVD-Player, wo immer noch das grüne Licht leuchtete. Ohne das Tablett loszulassen, schnipste sie mit dem Daumen gegen ihren Ehering, ein nervöser Tick von ihr. »Was schaust du da an?«
»Ach, bloß was von der Schule«, meinte ich. »Musst dir keine Gedanken machen.«
»Wieso sollte ich mir da Gedanken machen?«
Es entstand eine kurze Pause, während ich überlegte, was ich darauf antworten sollte. Mehr als ein gespielt lässiges Schulterzucken wollte mir nicht einfallen.
Mit dem Kinn deutete sie auf den schmalen Streifen Schorf an den Knöcheln meiner linken Hand.
»Was ist dir da denn passiert, Patrick?«
»Hab mich in der Autotür eingeklemmt.«
»Diese Tür ist neuerdings echt tückisch.« Sie stellte das Tablett auf dem Tisch ab. Pochierte Eier, Toast, Orangensaft. Ich ließ meine Augen auf ihr ruhen. Karamellbraune Haut, schwarzbraune Mähne, große dunkle Augen. Sie war ein Jahr älter als ich, aber ihren Genen hatte sie es zu verdanken, dass sie jünger wirkte als ihre fünfunddreißig Jahre. Obwohl sie im Valley aufgewachsen war, war sie ein wilder mediterraner Mix – griechisch, italienisch, spanisch, sogar ein bisschen türkisch. Und die besten Züge jedes Volkes hatten sich in ihren Gesichtszügen niedergeschlagen. Zumindest hatte ich es immer so gesehen. Als ich sie betrachtete, musste ich daran denken, wie unser Verhältnis früher gewesen war – da lag meine Hand beim Essen auf ihrem Knie, ich spürte die Wärme ihrer Wange, wenn sie aufwachte, und wenn wir im Kino waren, kuschelte sie den Kopf in meine Armbeuge. Mein Ärger auf sie begann zu verfliegen, also konzentrierte ich mich schnell auf den schwarzen Bildschirm.
»Danke«, sagte ich mit einem Blick auf das Frühstückstablett. Meine dilettantische Detektivarbeit hatte mich schon zehn Minuten meines Tagesplans gekostet. Offensichtlich war mir meine Nervosität deutlich anzumerken, denn sie sah mich noch einmal stirnrunzelnd an, bevor sie sich zurückzog.
Ohne das Essen anzurühren, stand ich auf und trat noch einmal vor die Haustür. Ich ging auf die Seite mit unserem Badezimmerfenster, die dem Haus der Millers gegenüberlag. Natürlich war auf dem nassen Gras unter dem Fenster unserer Nachbarn keine Spur zu sehen, und der Täter hatte es leider versäumt, ein hilfreiches Notizbüchlein, eine Zigarettenkippe oder einen zu kleinen Handschuh zu verlieren. Ich machte einen Schritt zur Seite, bis die Perspektive stimmte. Da überkam mich eine gewisse Vorahnung, und ich warf einen Blick über die Schulter, einmal rechts, einmal links, ohne dass das meine Nerven beruhigt hätte. Während ich durch die Lamellen der Fensterläden spähte, erwartete ich halb, mich gleich selbst mit gestreiften Boxershorts ins Badezimmer kommen zu sehen, wie in einer surrealen Zeitschleife.
Stattdessen erschien Ariana in der Tür und sah zu mir hinaus. »Was machst du da?«, las ich von ihren Lippen.
Der Schmerz in meinen Fingerknöcheln verriet mir, dass ich die Fäuste ballte. Ich atmete aus und entspannte die Hände. »Ich hab nur den Zaun überprüft, der sackt dahinten so weg.« Dabei deutete ich idiotisch auf den Zaun. Guck. Da. Zaun.
Schmunzelnd schloss sie die Fensterläden von innen und klappte den Klodeckel herunter.
Ich ging zurück ins Haus, setzte mich wieder aufs Sofa und sah die DVD ein viertes Mal an. Dann nahm ich die DVD aus dem Player und starrte auf das Logo. Dieselbe Billigmarke, auf der ich manchmal Fernsehserien aufnahm. Bewusst nichtssagend.
Ariana kam ins Zimmer und warf einen Blick auf das Frühstück, das ich immer noch nicht angerührt hatte. »Ich versichere dir, ich hab’s nicht vergiftet.«
Widerwillig musste ich grinsen. Als ich aufblickte, war sie schon auf dem Weg zur Treppe.
Ich warf die DVD auf den Beifahrersitz meines klapprigen alten Toyota Camry, dann blieb ich vor der offenen Tür stehen und lauschte der Stille in der Garage.
Früher hatte ich dieses Haus geliebt. Es lag ganz am Ende der Roscomare Road, in der Nähe des Mulholland Drive, und wir konnten es uns nur deshalb leisten, weil es im selben Viertel lag wie die Wohnblöcke mit dem bröckelnden Putz und die Einkaufsstraße. Auf unserer Straßenseite gab es nur Wohnhäuser, und wir redeten uns ein, dass wir in einem echten Wohnviertel wohnten und nicht nur an einer Verbindungsstraße zwischen zwei Wohnvierteln. Als wir einzogen, war ich so stolz auf das Haus. Ich kaufte Metallziffern zum Anschrauben der Hausnummer, reparierte das Verandalicht und riss die altjüngferlichen Rosenbüsche aus. Und bei allem, was ich tat, erfüllte mich so ein Optimismus, ich legte so viel Liebe hinein.
Das gleichmäßige Geräusch der vorbeifahrenden Autos drang in den dunklen Raum, der mich umgab. Ich drückte auf einen Knopf, und das Garagentor ging langsam auf. Dann verließ ich die Garage durch eine Seitentür und stellte mich hinter die Mülltonnen. Das Fenster über der Küchenspüle gewährte einen unverstellten Blick ins Wohnzimmer, wo Ariana gerade auf der Sofalehne saß. Es dampfte aus ihrer Kaffeetasse, die sie auf ihrem Pyjamaknie abstützte. Obwohl sie die Tasse sorgfältig umklammerte, wusste ich, sie würde den Kaffee nicht trinken. Sondern weinen, bis er kalt wurde, und dann würde sie ihn in die Spüle gießen. Wie immer blieb ich wie festgenagelt stehen. Ich wusste, ich hätte zu ihr gehen sollen, aber mein letztes Restchen Stolz hielt mich davon ab. Da saß nun die Frau, mit der ich seit elf Jahren verheiratet war, und weinte. Und ich stand hier draußen und gab mich meiner stummen, zerstörerischen Verzweiflung hin. Irgendwann trat ich vom Fenster zurück. Die bizarre DVD hatte mich noch dünnhäutiger gemacht. Ich brachte es einfach nicht über mich, mich noch mehr zu bestrafen, indem ich sie beobachtete. Nicht an diesem Morgen.
Als ich jung war, war ich verrückt nach Filmen. In einem heruntergekommenen Kino, das ich mit dem Fahrrad schnell erreichen konnte, wurden vormittags für 2,25 Dollar Wiederholungen gezeigt. Mit meinen acht Jahren verdiente ich mir das Geld dafür vierteldollarweise, indem ich Getränkedosen sammelte. Samstags war das Kino mein Klassenzimmer, sonntags meine Kirche. Tron, Young Guns, Lethal Weapon – im Laufe der Jahre waren diese Filme meine Spielkameraden, meine Babysitter und meine Mentoren gewesen. Wenn ich in der flackernden Dunkelheit saß, konnte ich in jede Filmrolle schlüpfen, die mir gefiel. Solange ich nur nicht Patrick Davis sein musste, das langweilige Kind aus einem Vorort von Boston. Jedes Mal, wenn ich den Abspann sah, konnte ich nicht glauben, dass diese Namen zu echten Menschen gehörten. Hatten die ein Glück.
Freilich hatte ich nicht nur Filme im Kopf. Ich spielte auch Baseball, worauf mein Vater sehr stolz war, und ich las viel, was meiner Mutter sehr gefiel. Aber die meisten Tagträume meiner Kindheit kamen vom Zelluloid. Wenn ich einfach nur abhing, dachte ich an Der Unbeugsame, wenn ich auf meinem Zehn-Gang-Rad dahinflitzte, wünschte ich mir, ich könnte gleich abheben wie E. T. Dem Kino verdanke ich es, dass ich in meiner ziemlich gewöhnlichen Kindheit doch vieles mit großen staunenden Augen erleben konnte.
Folge deinem Traum. Das hörte ich zum ersten Mal von meiner Studienberaterin an der High School, als ich auf dem Sofa in ihrem Büro saß und die Hochglanzbroschüren der University of California L. A. ansah. Folge deinem Traum. Den Spruch kritzelt einem jeder Promi auf seine Autogrammkarte, das wird mit jeder Erfolgsstory in der Oprah-Winfrey-Show wiedergekäut, von sämtlichen nervös schwitzenden Rednern auf Schulabschlussfeiern und von jedem billigen Guru. Folge deinem Traum. Und das tat ich dann auch, ich, der Sohn eines Teppichreinigers, und ich tauschte eine erstaunliche Kultur gegen eine andere, eine felsige Küstenlinie gegen einen weichen Horizont, meinen distanzierten Oberschichtakzent gegen die schleppende Sprechweise der Surferkids, Mädchen mit kurzärmligen Rollkragenpullovern gegen solche mit Sport-BHs.
Wie jeder andere Möchtegern-Drehbuchautor begann ich schon in der ersten Woche nach meinem Umzug an einem Skript herumzutippen, auf einem Mac Classic. Ich machte mir noch nicht mal die Mühe, meine Sachen auszupacken. Sosehr es mir an der UCLA auch gefiel, ich war von Anfang an ein Außenseiter, der seine Nase von außen an die Scheibe drückt und sowieso niemals kaufen kann, was er im Schaufenster sieht. Erst Jahre später wurde mir klar, dass in L. A. jeder ein Außenseiter ist. Manche haben es nur besser drauf, im Takt der Musik mitzunicken, die wir alle anhören sollen. Folge deinem Traum. Gib niemals auf.
Mein erster Glückstreffer stellte sich ziemlich bald ein, aber wie bei den meisten Dingen, die nichts kosten, kam er völlig unerwartet und war auch überhaupt nicht das, was ich suchte. Auf einer Party für Erstsemester mit posenden Teenagern, die gekünstelt laut lachten, sah ich sie. Sie stand an der Wand neben dem Ausgang, und ihre unzufriedene Miene wurde von ihren lebhaften, klugen Augen Lügen gestraft. Absurderweise stand sie da ganz allein. Ein Becher warmes Bier vom Fass hatte mir genug Courage verliehen, sie anzusprechen. »Du siehst so gelangweilt aus.«
Sie taxierte mich mit ihren dunklen Augen. »Ist das ein Angebot?«
»Ein Angebot?«, stammelte ich dümmlich.
»Ein Angebot, mich von der Langeweile zu erlösen?«
Sie gehörte wirklich zu der Sorte Mädchen, die einen nervös machen konnte, aber ich hoffte, dass mir das nicht anzumerken war. »Sieht so aus, als könnte das die Herausforderung meines Lebens werden.«
»Und? Bist du dabei?«, fragte sie.
Ariana und ich heirateten sofort nach unserem College-Abschluss. Irgendwie stand das nie außer Frage. Wir waren die Ersten, die heirateten. Geliehener Smoking, dreistöckige Hochzeitstorte, lauter gebannte Gäste mit feuchten Augen, als wäre es das erste Mal in der Geschichte der Menschheit, dass eine Braut mit langsamen Schritten zu Händels Wassermusik den Mittelgang zum Altar ging. Ari war umwerfend. Beim Empfang sah ich sie an und konnte meinen Trinkspruch nicht zu Ende bringen, weil es mir dermaßen die Kehle zuschnürte.
Zehn Jahre lang unterrichtete ich Englisch an der High School und schrieb nebenher Drehbücher. Mein Stundenplan ließ mir jede Menge Zeit, meinen Neigungen nachzugehen – Feierabend um drei Uhr nachmittags, lange Ferien, gerade im Sommer –, und ab und zu schickte ich dem Freund eines Freundes in der Filmindustrie ein Drehbuch zu, bekam aber nie eine Antwort. Nicht nur, dass Ariana sich kein einziges Mal darüber beklagte, wie viel Zeit ich über meine Tastatur gebeugt verbrachte – sie freute sich auch, wie glücklich mich diese Beschäftigung machte, genauso, wie ich ihre Begeisterung für Pflanzen und Zeichnungen an ihr liebte. Seit wir gemeinsam von dieser Erstsemesterparty geflüchtet waren, hatten wir das Gleichgewicht immer wahren können – nicht zu klettenhaft, nicht zu distanziert. Keiner von uns hatte es darauf abgesehen, berühmt oder so richtig reich zu werden. So banal es klingt, wir wollten das tun, was uns Spaß machte.
Doch irgendwie wurde ich diese nörgelnde Stimme in meinem Inneren nicht los. Ich konnte mich vom kalifornischen Traum nicht losreißen. Dabei ging es mir weniger um rote Teppiche und Cannes, sondern eher darum, selbst an einem Filmset zu stehen und zuzusehen, wie irgendwelche Schauspieler die Worte aussprachen, die ich eigentlich für bessere Schauspieler geschrieben hatte. Nur so eine Low-Budget-Produktion, die im Multiplex-Kino im hintersten, kleinsten Saal läuft. Das war doch nicht zu viel verlangt.
Es war ein knappes Jahr her, dass ich bei einem Picknick eine Agentin kennengelernt hatte, und sie war ganz begeistert von meinem Drehbuch für They’re Watching, eine Geschichte über eine Verschwörung, in der das ganze Leben eines Investmentbankers den Bach runtergeht, weil er in einer U-Bahn bei einem Stromausfall versehentlich den Laptop mit dem seines Nachbarn vertauscht. Schlägertypen und CIA-Agenten zerlegen sein Leben, als wäre es ein Stockcar-Auto. Er verliert jede Perspektive und dann auch noch seine Frau – die er aber am Ende zurückgewinnt. Schließlich kehrt er in sein Leben zurück, angeschlagen, aber klüger und dankbarer. Zugegeben, nicht gerade der originellste Plot, aber die richtigen Leute fanden ihn überzeugend. Tatsächlich bekam ich einen ordentlichen Batzen für das Drehbuch und eine anständige Zulage für die Überarbeitung. Ich kriegte sogar eine nette Rezension – in der Variety erschien mein Bild neben drei Zentimetern Text über einen High-School-Lehrer, der es geschafft hatte. Ich war dreiunddreißig Jahre alt und endlich am Ziel.
Gib niemals auf, heißt es.
Folge deinem Traum.
Ein anderes Sprichwort wäre vielleicht passender gewesen.
Sei vorsichtig mit deinen Wünschen.
Schon bevor mir die Zeitungsartikel über mich und meine Filme entgegenflatterten, war es mit meiner Privatsphäre nicht mehr weither gewesen. Mein einziger Zufluchtsort war drei mal zwei Meter groß, hatte gepolsterte Sitze und immer noch sechs Fenster. Ein mobiles Aquarium. Eine fahrende Gefängniszelle. Der einzige Raum in meinem Leben, in den nicht einfach jemand hineinspazieren und mich dabei ertappen konnte, wie ich mir gerade die Tränen verkniff und mir einzureden versuchte, dass ich es mal wieder durch einen Arbeitstag geschafft hatte. Das Auto war ziemlich lädiert, vor allem das Armaturenbrett: Das Plastik hatte Dellen, über dem Tacho war die Abdeckung gesprungen, und der Knopf für die Einstellung der Klimaanlage hing nur noch am seidenen Faden.
Ich fuhr den Camry auf einen Parkplatz vor Bel Air Foods. Während ich die Gänge entlanglief, legte ich eine Banane und eine Tüte Studentenfutter in meinen Einkaufskorb sowie einen Eistee mit Ginkgo und Ginseng und noch eine Handvoll anderer Zutaten, die übernächtigten Typen auf die Sprünge helfen sollten. Als ich mich den Kassen näherte, fiel mein Blick auf Keith Conner, der mich von der Titelseite einer Vanity-Fair-Ausgabe ansah. Er lag in einer Badewanne, in der kein Wasser war, sondern nur Blätter, und die Schlagzeile lautete CONNER TAUSCHT GRÜN GEGEN GRÜN.
»Wie geht’s Ariana?«, erkundigte sich Bill, der mich zu seiner Kasse winkte. Hinter mir wartete eine nervöse Mutter mit Kind und lächelte ungeduldig.
Ein Plastikgrinsen erschien auf meinem Gesicht, so instinktiv wie ein nervöses Lachen. »Gut, danke.«
Ich stellte meine Einkäufe aufs Band, und er tippte sie ein und meinte: »Du hast eine von den letzten Guten abgekriegt, das steht fest.«
Ich lächelte. Die nervöse Mutter lächelte. Bill lächelte. Gott, was waren wir alle fröhlich.
Im Auto drückte ich auf den Metallstift, auf dem früher einmal der Knopf fürs Radio gesteckt hatte. Bitte, lenkt mich ab. Nachdem ich den Hügel hinuntergefahren war, bog ich auf den Sunset Boulevard, auf dem wie immer fast nichts mehr voranging.
Ich klappte die Sonnenblende herunter, an der mit einem Gummiband ein Foto befestigt war. Ungefähr sechs Monate zuvor hatte Ariana eine Online-Fotoseite aufgetan und mich wochenlang mit alten ausgedruckten Schnappschüssen gequält, die sie heimlich an allen möglichen Orten angebracht hatte. Ab und zu fand ich immer noch welche, Überbleibsel ihrer früheren Verspieltheit. Dieses hier hatte ich natürlich sofort entdeckt. Es zeigte Ariana und mich bei irgendeiner unerträglichen College-Veranstaltung. Ich trug ein Sakko mit Schulterpolster und – ich kann es leider nicht schönreden – hochgekrempelten Ärmeln, sie hatte ein bizarres Taftmonster an, das eher an ein aufblasbares Rettungsboot erinnerte. Wir schauten gleichermaßen unbehaglich wie amüsiert drein, weil wir uns schmerzlich bewusst waren, dass wir nur eine Rolle spielten, dass wir nicht dazugehörten, dass wir nicht hierherpassten wie all die anderen. Aber wir hatten trotzdem unseren Spaß dabei. Das konnten wir großartig.
Du hast eine von den letzten Guten abgekriegt, das steht fest.
Ich schlug aufs Armaturenbrett, um den Schmerz in den Knöcheln zu spüren. Und noch einmal und noch einmal. Der Wundschorf brach auf, und ein Stechen durchzuckte mein Handgelenk. Jetzt war der Knopf für die Klimaanlage endgültig im Eimer. Schwer atmend sah ich mit brennenden Augen aus einem meiner sechs Fenster.
Eine ältliche Blondine in einem roten Mustang musterte mich von der Nebenspur.
Automatisch knipste ich wieder mein Plastiklächeln an. Sie schaute schnell weg. Und als die Ampel auf Grün sprang, verzogen wir uns jeder wieder schnell in sein eigenes Leben.
Als ich mein Drehbuch verkauft hatte, war Ariana noch begeisterter als ich. Die Produktion begann relativ rasch. Bei den Verhandlungen mit den Studiovertretern, den Produzenten und dem Regisseur war ich zwar eingeschüchtert, gab mich aber bestimmt. Und Ariana sprach mir jeden Tag Mut zu. Ich kündigte meinen Job, was mir jede Menge Zeit ließ, mich manisch mit den Hochs und Tiefs des Projekts zu beschäftigen – ich interpretierte die Nuancen jeder zweizeiligen E-Mail, besprach Besprechungen, nahm auf dem Gehweg vorm Restaurant Handyanrufe entgegen, während drinnen meine Vorspeise kalt wurde und Ariana die ihre allein essen musste. Definitiv nicht die Kragenweite von Mr. Davis, Lehrer für amerikanische Literatur der zehnten Jahrgangsstufe. Ich musste mich für eine Rolle entscheiden, und ich entschied mich für die falsche.
Folge deinem Traum, heißt es immer. Aber niemand sagt einem, was man auf dem Weg dorthin alles aufgeben muss. Während They’re Watching vorbereitet wurde, sah sich meine Agentin an, was ich in der Zwischenzeit geschrieben hatte, und die Resultate entlockten ihr nicht mehr Begeisterung als die Drehbücher, die seit Jahren in meiner Schublade vor sich hin schimmelten. Da merkte ich zum ersten Mal, wie meine Erwartungen etwas sanken, wie bei einem Reifen, aus dem ganz langsam die Luft entweicht, und meine Agentin schien ebenfalls den Elan zu verlieren. Meine Konzentrationsschwierigkeiten wuchsen sich zu einer wahren Schreibblockade aus, und ich fand einfach nicht die Zeit, den Leuten um mich herum die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken. Ich war verloren in diesem Wirbelsturm der Möglichkeiten, ich war unsicher, ob aus diesem Film jemals etwas werden würde, ob ich das Zeug dazu hatte oder ob ich im Grunde doch nur ein Blender war.
Nach dem Vertrag für das Drehbuch veränderte sich unsere Beziehung, und Ariana und ich fanden einfach nicht mehr zur Normalität zurück. Wir hegten schweigend Groll und interpretierten die Gefühlslage des anderen ständig falsch. Der Sex wurde peinlich. Von Lust konnte keine Rede mehr sein, und wir liebten einander auch immer weniger. Unsere Verbindung und das Bewusstsein für die Stimmungen des anderen waren verlorengegangen. Wir konnten unsere alte Beziehung nicht wiederherstellen, hörten irgendwann auf, es zu versuchen, und begruben uns in unserer Alltagsroutine.
Ariana begann eine Mitleidsfreundschaft mit Don Miller, unserem direkten Nachbarn – zweimal die Woche Kaffeetrinken, ab und zu ein Spaziergang.
Ich erklärte ihr, sie sei naiv, wenn sie glaubte, dass er nicht in sie verschossen sei und dass diese Geschichte die Beziehung zu seiner Frau nicht beeinflussen würde. Ariana und ich hatten einander in unserer Ehe nie kontrolliert, deswegen sprach ich sie nicht mehr darauf an, aber das spiegelte nur meine eigene Naivität – nicht, was Ariana anging, sondern das Ausmaß unserer Gleichgültigkeit.
Obwohl ich es nicht recht zugeben mochte, hatte ich in diesem Jahr kaum noch Kontakt zu irgendjemandem. Ich hatte nichts mehr im Sinn außer dem Film, der dann tatsächlich irgendwann in Produktion ging.
Als ich mitten im Dezember ins eiskalte Manhattan beordert wurde, um meinen Pflichten bei der Überarbeitung des Drehbuchs nachzukommen, bekam ich eine Art Panikattacke. Dass der Regisseur Handys am Set verboten hatte, machte die Sache noch schlimmer, denn ich war viel zu schüchtern, um meine Frau über eines der Telefone anzurufen, die in den Trailern der wichtigen Schauspieler und Mitarbeiter installiert worden waren. Obwohl Ariana sich Sorgen um mich machte, konnte ich ihre Anrufe nur selten erwidern, und wenn ich es tat, blieben unsere Gespräche an der Oberfläche.
Am Set wurde bald offensichtlich, dass ich mein Drehbuch nicht nachbearbeiten, sondern vielmehr das aufschreiben sollte, was mir der fünfundzwanzigjährige Hauptdarsteller Keith Conner in die Feder diktierte. Er lümmelte in seinem Trailer auf dem Sofa, schlürfte irgendeinen schleimigen grünen Gesundheitsdrink und quasselte den halben Tag in das einzige Handy, das am Set erlaubt war. Er überschüttete mich mit seinen Kommentaren und Dialogänderungen und machte bloß ab und zu mal eine Pause, um mir Fotos von nackten schlafenden Mädchen zu zeigen, die er mit seinem Motorola RAZR geschossen hatte. Das hohe Wochenhonorar, das man mir zahlte, bekam ich nicht für meine Ideen, sondern fürs Babysitten. Zehntklässler waren weniger anstrengend.
Nach etwas über einer Woche mit lauter Achtzehn-Stunden-Tagen bestellte Keith mich zu sich in den Trailer, um zu verkünden: »Ich glaube einfach, zu dem Hund meiner Figur passt kein Quietschespielzeug. Ich glaube, ein geknotetes Tau oder so was würde ihm eher liegen, weißt du?«
Woraufhin ich müde erwiderte: »Der Hund hat sich nicht beschwert. Und der hat wenigstens Talent.«
Die Spannung, die sich zwischen uns aufgebaut hatte, entlud sich so jäh und heftig wie bei zwei tektonischen Platten. Keith wollte mit anklagend ausgestrecktem Zeigefinger auf mich losgehen, rutschte aber auf den Skriptseiten aus, die er auf den Boden geworfen hatte, und knallte mit seinem wohlgeformten Unterkiefer auf die Tischplatte. Als seine Betreuer hereingestürzt kamen, log er, ich hätte ihn geschlagen. Die blauen Flecken waren beachtlich. Solange das Gesicht des Stars in so einem Zustand war, musste der Dreh für mindestens ein paar Tage unterbrochen werden. In Anbetracht der Location – Manhattan – würde das ungefähr eine halbe Million pro Tag kosten.
Nachdem ich den Traum meines Lebens realisiert hatte, vergingen genau neun Tage, bis man mich feuerte.
Während ich auf das Taxi wartete, das mich zum Flughafen bringen sollte, tröstete mich Sasha Saranova in ihrem Trailer. Das ehemalige Model aus Bulgarien hatte einen grandiosen Akzent und Wimpern, die von Natur aus länger waren als die meisten Eheverträge in Hollywood. Als Keiths Filmpartnerin musste auch sie seine Launen aus allernächster Nähe ertragen. Sie betüddelte mich nicht wirklich aus echter Freundschaft, aber ich war total am Boden und froh um jede Gesellschaft.
Ausgerechnet in diesen Minuten rief Ariana am Set an. Ich hatte auf ihre Anrufe seit drei Tagen nicht reagiert, weil ich befürchtete, dass ich unter dem ganzen Druck einfach zusammenbrechen würde, wenn ich ihre Stimme hörte. Zufällig war Keith zugegen und riss dem Produktionsassistenten das Telefon aus der Hand. Während er sich die Eisbeutel an den geschwollenen Kiefer drückte, erklärte er Ariana, dass Sasha und ich uns in ihren Trailer zurückgezogen hätten, wie jeden Abend, und dass wir wie immer darum gebeten hatten, nicht gestört zu werden. »Wegen nichts und niemandem.« Wahrscheinlich die beste schauspielerische Leistung seines Lebens.
Es war schon Ironie des Schicksals, dass ich Ariana genau in diesem Moment eine Nachricht auf ihre Voicemail sprach, in der ich ihr die Neuigkeiten mitteilte und ihr meine Flugzeiten durchgab. Ich konnte ja nicht wissen, dass Don Miller gerade mit dem Mitgliedsantrag der Drehbuchautoren-Vereinigung an unserer Haustür klingelte, die versehentlich bei ihm abgegeben worden war. Unzählige Male hatte ich mir vorgestellt, wie sie hinterher verschwitzt und von Reue geplagt meine Nachricht abhörte und sich nach meinem jämmerlichen Bericht selbst zusammenreimen konnte, dass Keith sie reingelegt hatte. Ein grauenvoller Moment.
Nach dem langen Flug nach Los Angeles, auf dem ich viel nachdenken konnte, stand Ariana blass und aufgewühlt am Gepäckband im Terminal 4 und erwartete mich mit noch schlimmeren Neuigkeiten. Sie log nie. Erst dachte ich, sie würde meinetwegen weinen, aber dann sagte sie: »Ich hab mit jemandem geschlafen.«
Auf der Heimfahrt brachte ich keinen Ton heraus. Meine Kehle fühlte sich an, als wäre sie voller Sand. Während ich fuhr, weinte Ariana weiter.
Am nächsten Nachmittag wurde ich mit den ersten juristischen Schritten konfrontiert, die Keith und das Studio eingeleitet hatten. Wie sich herausstellte, zahlte die Versicherung des Studios nicht bei Verletzungen, die Stars bei irgendwelchen Wutanfällen erlitten, also musste irgendjemand für die Kosten des Produktionsstopps zur Verantwortung gezogen werden. Keith hatte mich verklagt, um seiner Lüge noch mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen, und das Studio hatte sich seiner Klage angeschlossen.
Keiths Version der Geschichte sickerte zur Boulevardpresse durch, und ich wurde mit solch professioneller Eiseskälte verleumdet, dass ich nicht mal mitbekam, wie das Fallbeil herabsauste. Ich war ein Ex-Drehbuchautor, bevor ich Zeit gehabt hatte, wirklich ein Drehbuchautor zu sein, und meine Agentin empfahl mir einen kostspieligen Anwalt und ließ mich fallen wie eine heiße Kartoffel.
Sosehr ich mich auch bemühte, ich konnte mich nicht mehr dazu aufraffen, mich an den Computer zu setzen. Meine Schreibblockade war so massiv und unbeweglich wie ein riesiger Felsblock mitten auf dem leeren weißen Papier. Da konnte ich gegen meine Selbstzweifel nicht mehr an.
Julianne, mit der ich befreundet war, seit wir uns vor acht Jahren auf einem Filmfestival in Santa Ynez kennengelernt hatten, warf mir den Rettungsring zu: einen Dozentenjob für Drehbuch an der Northridge University. Nachdem ich zu Hause endlose Tage um mein Arbeitszimmer herumgeschlichen war, war ich froh über diese Chance. Die Studenten waren fähig und begeistert, und sie zu unterrichten, war mehr als bloß eine Erleichterung. Sie machten es mir nicht schwer mit ihrem Enthusiasmus, und ab und zu schimmerte in ihren Arbeiten auch mal echtes Talent durch. Ich hatte das Gefühl, dass sich meine Arbeit lohnte. Seit einem Monat unterrichtete ich dort, und langsam, aber sicher erkannte ich in gewissen Momenten mein altes Selbst wieder.
Trotzdem kehrte ich jeden Abend in ein Zuhause zurück, das sich für mich nicht mehr wie ein solches anfühlte, zu einer Ehe, die ich nicht mehr wiedererkannte. Und dann kamen die Anwaltsrechnungen, noch mehr Lustlosigkeit, und morgens wachte ich auf dem Sofa im Erdgeschoss auf. Über allem lastete das bleierne Gefühl, dass ich im Grunde schon tot war. Dass nichts mehr zu mir durchdringen konnte. Und anderthalb Monate lang war auch nichts mehr zu mir durchgedrungen.
Bis diese erste DVD aus der Morgenzeitung fiel.
»Komm, mach noch mal«, bettelte Julianne und stand auf, um sich ihre Tasse aus der Kaffeemaschine im Lehrerzimmer nachzufüllen. »Nur noch einmal.«
Marcello fuhr sich mit der Hand durchs geföhnte Haar und konzentrierte sich wieder auf die Arbeiten, die er zu korrigieren vorgab. Er trug eine alte braune Hose, Hemd und Sakko, aber keine Krawatte. Schließlich waren wir ja doch nur die Abteilung für Filmwissenschaft. »Tut mir leid, mir ist einfach grade nicht danach.«
»Du hast eine Verantwortung gegenüber deinem Publikum.«
»Ich bitte dich, lass mich endlich in Ruhe.«
»Los. Bitte.«
»Mein Instrument ist nicht bereit.«
Ich stand am Fenster und blätterte in der Variety. Auf Seite drei fand sich tatsächlich ein flüchtiger Artikel über They’re Watching – die Produktion war gerade abgeschlossen und die Erwartungen haushoch.
Über die Schulter rief ich: »Marcello, jetzt mach’s doch einfach, damit sie endlich den Mund hält.«
Er ließ seine Papiere aufs Knie sinken. »IN EINER WELT, IN DER ES NUR NOCH GENÖRGEL GIBT, STEHT EIN MANN GANZ ALLEIN.«
Diese Stimme hatte Millionen von Kinotrailern den richtigen Kick gegeben. Wenn Marcello richtig loslegte, dann ging es einem durch Mark und Bein. Julianne klatschte begeistert in die Hände. »IN EINER ZEIT, IN DER DIE KORREKTUR VON SEMINARARBEITEN ÜBERFÄLLIG IST, MUSS EIN MANN IN FRIEDEN GELASSEN WERDEN.«
»Schon gut, schon gut.« Gekränkt kam Julianne zu mir und stellte sich neben mich. Bevor sie sehen konnte, was ich las, ließ ich rasch die Variety sinken und starrte aus dem Fenster. Eigentlich hätte ich auch Arbeiten korrigieren sollen, aber seit ich diese DVD bekommen hatte, hatte ich Probleme, mich zu konzentrieren. An diesem Morgen hatte ich mich ein paar Mal dabei erwischt, wie ich Gesichter studierte und nach Anzeichen von Hass oder verhohlener Schadenfreude suchte. Julianne folgte meinem Blick. »Was guckst du denn da?«
Studenten strömten aus den umliegenden Gebäuden auf den Hof. »Das Leben«, erwiderte ich.
»Du bist vielleicht philosophisch«, meinte sie. »Du bist bestimmt Lehrer.«
In der Abteilung für Filmwissenschaft an der Northridge University gab es hauptsächlich drei Sorten von Dozenten. Erstens solche, die wirklich unterrichteten und gern dabei zusahen, wie ein junger Geist seine Talente ausgrub. Zu denen gehörte Marcello, obwohl er sich nebenbei durchaus einen gepflegten Zynismus leistete. Dann kamen die Journalisten wie Julianne, die in ihren schwarzen Rollkragenpullis aus dem Klassenzimmer schossen, um ihre nächste Rezension oder einen Artikel oder ein Buch über Franco Zeffirelli zu schreiben. Schließlich fand sich noch der eine oder andere Oscar-Gewinner, der sich im Herbst seiner Karriere von hoffnungsvollen Studenten bewundern und vergöttern ließ. Und dann gab es noch so Leute wie mich.
Ich beobachtete die Studenten, die auf ihren Laptops herumtippten und miteinander diskutierten. Die hatten ihr ganzes katastrophales Leben noch vor sich.
Julianne stieß sich vom Fensterbrett ab und verkündete: »Ich brauch eine Zigarette.«
»IN EINER ZEIT DES LUNGENKREBSES MUSS EIN TROTTEL DIE FÜHRUNG ÜBERNEHMEN.«
»Jaja, schon gut.«
Nachdem sie gegangen war, setzte ich mich vor die Arbeiten meiner Studenten, merkte aber, dass ich nur immer und immer wieder denselben Satz las. Also stand ich auf und streckte mich, dann ging ich zum Schwarzen Brett und betrachtete summend die Flyer, die dort hingen. Hier stand ich, Patrick Davis, ein Bild der Nonchalance. Mir wurde klar, dass ich eher mir selbst als Marcello diese Show vorspielte. Ich wollte mir nicht eingestehen, wie sehr mich diese DVD beunruhigte. Nachdem mich so lange stumpfe Gefühle beherrscht hatten – Depression, Lethargie, Feindseligkeit –, hatte ich ganz vergessen, wie es sich anfühlte, wenn sich echte Sorgen in die dünne Haut unter den Schwielen bohrten.
Marcello zog eine Augenbraue hoch, sah aber nicht von seiner Arbeit auf. »Mal ganz im Ernst«, sagte er, »geht’s dir gut? Du kommst mir irgendwie ein bisschen angespannt vor. Also, noch angespannter als sonst, wollte ich sagen.«
Wir hatten sehr schnell zu einem vertrauten Verhältnis gefunden. Nachdem wir eine Menge Zeit hier im Aufenthaltsraum verbrachten, hatte er oft mitgehört, wenn ich mit Julianne über mein Leben redete. Mit seinem brutalen und respektlosen Scharfsinn hatte er mir schon so manches Mal weitergeholfen. Doch jetzt zögerte ich mit der Antwort.
Julianne kam zurück ins Zimmer, machte gereizt ein Fenster auf und steckte ihre Zigarette an. »Sie führen gerade ein paar Eltern zukünftiger Studenten durchs Haus. Wahnsinn, was für vernichtende Blicke.«
»Patrick wollte uns gerade erzählen, warum er so zerstreut ist«, insistierte Marcello.
»Ach, da ist nichts. Im Grunde total blöd. Ich hab heute Morgen eine DVD bekommen, die mir jemand in die Zeitung gesteckt hat. Irgendwie fand ich das ziemlich unheimlich.«
Marcello runzelte die Stirn und fuhr sich über den säuberlich gestutzten Bart. »Eine DVD mit was drauf?«
»Ich bin drauf, sonst nichts.«
»Und was tust du?«
»Ich putz mir die Zähne. In der Unterhose.«
»Das nenn ich mal krank«, entfuhr es Julianne.
»Wahrscheinlich bloß ein Streich«, meinte ich. »Ich kann nicht mal behaupten, dass das Ganze irgendwie persönlich wäre. Kann sein, dass einfach irgendein Junge in der Nachbarschaft rumgeschlichen ist, und ich war der einzige Trottel, der bei offenen Fensterläden pinkeln ging.«
»Hast du die DVD noch?« Julianne hatte vor Aufregung ganz große Augen. »Komm, wir gucken sie uns mal an.«
Vorsichtig, um die frischen Schürfwunden an meinen Knöcheln nicht zu berühren, zog ich die DVD aus meiner Tasche und steckte sie in den Player, der im Aufenthaltsraum stand.
Marcello stützte die Wange auf einen schlanken Finger und sah zu. Als die Aufnahme zu Ende war, zuckte er mit den Schultern. »Ein bisschen unheimlich, aber nicht wirklich gruselig. Die Qualität ist allerdings das Hinterletzte. Ist das digital?«
»Ich schätze, ja.«
»Sind irgendwelche Studenten grade sauer auf dich?«
Auf die Idee war ich noch gar nicht gekommen. »Eigentlich fällt mir da niemand Besonderes ein.«
»Sieh doch mal nach, ob irgendjemand wegen dir durchfallen könnte. Und überleg auch, ob du irgendwelchen Mitgliedern der Fakultät auf den Fuß getreten sein könntest.«
»In meinem allerersten Monat?«
»Was deine soziale Kompetenz betrifft, hast du dich bisher nicht unbedingt mit Ruhm bekleckert«, gab Julianne zu bedenken.
Marcello deutete auf das Gebäude. »Die Fakultät ist voll von Leuten, die Filme machen. Und die meisten von diesen Filmen sind ungefähr so meisterhaft wie dieses Video, das wir hier eben gesehen haben. Also massenweise Verdächtige. Ich bin sicher, dass sich da jemand nur einen gemeinen Scherz erlaubt hat.« Er verlor das Interesse und wandte sich wieder seinen Korrekturarbeiten zu.
»Ich weiß ja nicht …« Julianne steckte sich eine neue Zigarette an der alten an. »Warum steckt man jemandem, dass man ihn beobachtet?«
»Vielleicht ist einer beim Spionageexamen durchgefallen«, scherzte ich.
Sie gab ein nachdenkliches Geräusch von sich. Gemeinsam betrachteten wir die Studenten, die unten aus dem Gebäude kamen. Mit den riesigen Fenstern, den Säulengängen und dem geschwungenen Metalldach war mir Manzanita Hall – ein Produkt der Wiederaufbauarbeiten nach dem Erdbeben von 1997 – immer seltsam gewagt vorgekommen.
»Marcello hat recht. Wahrscheinlich ist es nur Schikane. Und wenn das so ist, brauchst du dich nicht weiter drum zu kümmern. Aber es wäre auch möglich …« Sie blies den Rauch durch den Fensterspalt. »… dass es eine versteckte Drohung sein soll. Ich meine, du bist Dozent für Film und Drehbuchautor …«
»Ehemaliger Drehbuchautor«, sekundierte Marcello.
»Egal. Wer das hier gemacht hat, weiß wahrscheinlich, dass du jeden Thriller gesehen hast, der jemals im Kino gelaufen ist.« Sie hatte das Handgelenk abgeknickt, drückte den Ellbogen gegen die Hüfte und sah mit ihrer herunterbrennenden Zigarette aus wie einem Film noir entstiegen. »Das mit der Filmaufnahme als Hinweis, das ist doch aus Blow Up, oder?«
»Oder Blow Out«, sagte ich. »Oder Der Dialog. Obwohl mir diese Aufnahme ja nicht zufällig in die Hände gefallen ist. Sie wurde mir quasi ins Haus geliefert.«
»Trotzdem. Die wussten auf jeden Fall, dass du auf solche Kinosachen anspringst.«
»Aber warum macht jemand so etwas?«
»Vielleicht wollen sie was ganz Bestimmtes.«
»Und was, bitte, soll das sein?«
»Ein lang gehütetes Geheimnis lüften. Dich terrorisieren. Sich rächen.« Sie kaute auf ihrer Unterlippe und fuhr sich durchs lange rote Haar. Mir fiel auf, wie attraktiv sie war. Im Grunde musste ich mich immer bemühen, damit mir so etwas auffiel, denn wir hatten von Anfang an eine geschwisterähnliche Beziehung gehabt. Trotz ihrer italienischen Empfindlichkeiten war Ariana bemerkenswerterweise nie eifersüchtig gewesen, und das mit Recht.
»Hinter dieser DVD könnte auch irgendjemand aus dem Studio stecken«, schlug Julianne vor.
»Aus dem Studio?«
»Ja, von Summit Pictures. Da ist doch dieser kleine unwichtige Prozess gegen dich anhängig …«
»Ach ja«, meinte ich. »Der Prozess.«
»Du hast da eine Menge Feinde. Nicht nur die Geschäftsführer, sondern auch die Juristen, die Ermittler, die ganze Meute. Könnte doch sein, dass sich einer von denen einen üblen Scherz mit dir erlaubt. Die haben ja keinen Zweifel daran gelassen, dass sie nicht auf deiner Seite stehen.«
Ich überlegte. In der Sicherheitsabteilung des Studios hatte ich einen Freund, bei dem ich vielleicht einen Besuch riskieren konnte. Schließlich hatte die DVD ja im Unterhaltungsteil der Zeitung gesteckt. »Warum nicht sogar Keith Conner?«
»Stimmt«, nickte sie. »Warum nicht? Er ist reich, und er hat sie nicht mehr alle, und Schauspieler haben jede Menge freie Zeit. Und einen zwielichtigen Hofstaat dazu, der ihre Aufträge ausführt.«
Aus der Bibliothek hörte man den Gong, und Marcello verließ uns, nachdem er sich an der Tür kurz zum Abschied verbeugt hatte. Julianne zog stärker an ihrer Zigarette, und die Glut fraß sich rasch Richtung Filter. »Außerdem hast du ihn ins Gesicht geschlagen. Soweit ich weiß, finden Filmstars das nicht besonders toll.«
»Ich hab ihn nicht ins Gesicht geschlagen«, widersprach ich matt.
Sie sah zu, wie ich ihr beim Rauchen zusah. Wahrscheinlich sah ich gar zu sehnsüchtig aus, denn sie hielt mir den Rest der Zigarette hin und fragte: »Fehlt’s dir sehr?«
»Das Rauchen nicht. Eher das Ritual. Auf die Packung klopfen, das silberne Feuerzeug, die Zille am Morgen, im Auto, zum Kaffee. Irgendwie hatte das immer was Beruhigendes. Man wusste, darauf kann man zählen, die Zigarette ist immer da.«
Sie drückte die Kippe seitlich am Fensterrahmen aus, ohne den Blick von mir zu nehmen. Sie schien verblüfft. »Versuchst du, sonst noch was aufzugeben?«
»Ja«, erwiderte ich. »Meine Frau.«
Als ich in unsere Auffahrt einbog, trat Don Miller gerade aus seiner Haustür. Als hätte er auf mich gewartet. Es war kurz vor zehn, und ich kam gerade vom Arclight Multiplex-Kino – zum Abendessen hatte es Popcorn und Maltesers gegeben. Ich hatte einem Studenten versprochen, mir dort einen Pseudo-Independent-Streifen anzusehen, aus dem er einen Kurzfilm stricken wollte. Gut, denn die anderen Filme hatte ich alle schon gesehen. Auf jeden Fall besser als zu Hause rumsitzen.
Als ich nach dem Poststapel griff, kam Don zu mir rüber. Ein kräftig gebauter, selbstbewusster Typ, dem man den ehemaligen Sportler immer noch ansah. Er räusperte sich. »Der … äh, der Zaun zwischen unseren Grundstücken ist an einer Stelle kaputt. Dahinten.«
Ich verlagerte das Gewicht des Wäschesacks aus der Reinigung, den ich mir über die Schulter geworfen hatte. »Hab ich auch schon gesehen.«
»Ich wollte meinen Kumpel fragen, ob er das reparieren kann. Wollte bloß wissen, ob das für dich okay wäre.«
Ich blickte auf seine Hände. Ich blickte auf seinen Mund. Er hatte sich einen Ziegenbart wachsen lassen. Animalische Wut kochte in mir hoch, aber ich nickte nur und meinte: »Ja, gute Idee.«
»Ich … äh, also ich weiß, dass für dich in letzter Zeit alles nicht so gut gelaufen ist, also hab ich mir gedacht, ich übernehm die Kosten.«
»Wir teilen sie.« Ich drehte mich um und ging zu meiner Haustür.
Er machte einen Schritt nach vorn. »Hör mal, Patrick …«
Ich sah auf den Boden, wo sein Stiefel über unsere Grundstücksgrenze ragte. Er erstarrte und folgte meinem Blick. Dann wurde er rot, zog den Fuß zurück und nickte, nickte und machte kehrt. Ich sah ihm nach, bis er in seinem Haus verschwunden war, dann setzte ich meinen Weg fort.
In der Küche ließ ich die Post und das Wäschepaket auf den Tisch fallen und kippte erst mal ein Glas Wasser hinunter. Ich lehnte mich gegen die Spüle, fuhr mir mit der Hand übers Gesicht und bemühte mich, den wachsenden Stapel würdevoller hellbrauner Kuverts auf der Arbeitsplatte zu ignorieren: Lauter Rechnungen von meinem Anwalt, der mal wieder seinen Vorschuss aufstocken wollte. Daneben lag ein Abholschein von der Reinigung, den Ariana mir tags zuvor hingelegt hatte. In der morgendlichen Aufregung hatte ich ganz vergessen, ihn mitzunehmen. Trotz allem versuchten wir immer noch, uns die Haushaltspflichten zu teilen, eine zivilisierte Fassade zu bewahren und den Treibminen auszuweichen, die unter der ruhigen Oberfläche lauerten. Sie brauchte den Hosenanzug am nächsten Tag unbedingt für ein wichtiges Kundengespräch. Vielleicht hatte die Reinigung ihn ja wundersamerweise mit der anderen Wäsche erledigt. Da fiel mein Blick auf den kleinen Stapel Post, der neben dem Abholschein lag. Der rote Umschlag unseres Video-on-Demand-Verleihs sah irgendwie anders aus. Das Blut stieg mir in den Kopf. Ich nahm den Umschlag und sah, dass er geöffnet und wieder zugeklebt worden war. Hastig riss ich ihn auf und schüttelte den Inhalt heraus: eine unbeschriftete DVD-Hülle.
Und darin eine unbeschriftete DVD.
Meine Hände zitterten, als ich die Disc in den Player schob. Ich bemühte mich, nicht überzureagieren, aber meine Haut war klamm und kalt. So ungern ich es zugeben mochte, ich gruselte mich wie als Kind, wenn wir uns am Lagerfeuer Gespenstergeschichten erzählt hatten. Es begann als schleichendes Unbehagen in den Knochen, das sich langsam nach außen arbeitete und mich auffraß.
Ich ließ mich rückwärts aufs Sofa plumpsen und drückte auf Start. Wieder eine Aufnahme unserer Veranda. Seltsam, wie Angst sich in Ungeduld verwandeln kann – irgendwann hält man es nicht mehr aus und wünscht sich nur noch, dass das Beil endlich herabsaust. Dieselbe miese Bildqualität. Der schräge Aufnahmewinkel deutete darauf hin, dass die Bilder vom Dach des Nachbarhauses aufgenommen worden waren.
Dons und Martiniques Dach.
Ich hatte das Sofa am Morgen sorgfältig wie ein Bett gemacht, aber das Laken war durch mein unruhiges Hin- und Hergezappel schon wieder verrutscht. Während ich die Fäuste gegen die Knie drückte, wartete ich, was ich als Nächstes auf dem Bildschirm sehen würde.
Natürlich wieder mich selbst. Beim Anblick meines eigenen Gesichts lief es mir eiskalt den Rücken hinunter. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich mich niemals daran gewöhnen würde, diese heimlichen Mitschnitte meines Alltagslebens auf DVD zu betrachten.
Nun erschien ich wieder auf dem Bildschirm und blickte mich nervös um. Ich hatte dieselben Sachen an wie jetzt. Ich wirkte hager und nicht gerade in Topform, mein Gesichtsausdruck war verstört. Sah ich im Moment wirklich so aus? Das vergangene Jahr hatte seinen Tribut gefordert. Als ich mein Drehbuch gerade verkauft hatte und mein Foto in der Variety erschien, hatte ich so viel jünger und zuversichtlicher ausgesehen.
Als ich von der Veranda trat, wackelte das Bild leicht, aber die Kamera blieb dran, und nach ein paar verschwommenen Sekunden wurde mein Bild wieder scharf.
Dieses kleine Detail raubte mir den letzten Nerv. Bei der letzten DVD hatte die Kamera wenigstens noch auf einem Stativ gestanden, als hätte jemand seinen Camcorder montiert und wäre später zurückgekommen, um sich die Aufnahmen zu holen. Aber dieser neue Clip ließ gar keinen Zweifel daran, dass jemand hinter der Kamera stand und meine Bewegungen aktiv mitverfolgte.
Ich beobachtete, wie ich ums Haus lief, mit gesenktem Kopf vorm Badezimmerfenster stehen blieb und auf den Boden starrte, meine Position veränderte und das nasse Gras genauer untersuchte. Der Kamin der Millers erschien im Bild. Ich sah mich um, und mein Blick glitt beunruhigend nah an der Position der Kamera vorbei. Fast wie bei Lars Thorwald in Hitchcocks Fenster zum Hof. Langsam wurde mein Gesicht herangezoomt, ich wirkte angespannt und wütend. Dann sagte ich irgendetwas zum Fenster, und die Läden wurden von innen durch Arianas unsichtbare Hand geschlossen. Ich stapfte zurück zur Veranda und verschwand im Haus.
Der Bildschirm wurde schwarz, und ich merkte, dass ich aufgestanden war und einen Schritt auf den Fernseher zugemacht hatte. Schwer atmend ging ich zurück zur Couch und setzte mich wieder. Ich fuhr mir mit der Hand durchs Haar und stellte fest, dass meine Stirn schweißnass war.
Ariana lag oben im Bett, ich konnte den laufenden Fernseher durch den Dielenboden hören. Wenn ich nicht zu Hause war, ließ sie gerne irgendwelche Sitcoms laufen, um sich nicht so allein zu fühlen. Sie war nicht gern allein zu Haus, wie ich schmerzhaft hatte erfahren müssen. Auf der Roscomare Road fuhren vereinzelt Autos vorbei, deren Scheinwerferlicht über die Wohnzimmerjalousien glitt.
Da ich zu aufgewühlt war, um ruhig sitzen bleiben zu können, drehte ich rasch eine Runde im Erdgeschoss, schloss alle Läden, zog die Vorhänge vor und spähte dann nach draußen. War im Moment auch eine Kamera auf unser Haus gerichtet? Meine Gefühlslage war mir im Grunde selbst nicht ganz klar – da mischte sich Besorgnis mit Ärger, begleitet von einem gerüttelt Maß an Angst. Während von oben in regelmäßigen Abständen die Lacher vom Band ertönten, bewegte ich mich immer rascher und wurde fast hektisch. Erst der Unterhaltungsteil der Zeitung. Dann der Umschlag mit der DVD. Beides schien irgendwie auf Keith vom Studio hinzudeuten. Aber andererseits hatte unser Krach am Set die Boulevardpresse nur anderthalb Minuten beschäftigt, in Hollywoodscher Zeitrechnung war das sowieso schon wieder eine Ewigkeit her. Daher lag es durchaus nahe, dass jemand mich mit diesen Indizien absichtlich in die Irre zu führen versuchte.
Im Schlafzimmer der Millers ging ein Licht an. Das Dach war dunkel. Mir fiel wieder ein, wie Don gerade aus dem Haus getreten war, als ich heimkam. Und das zweite Video war nun einmal von seinem Dach aus aufgenommen worden – und zwar an diesem Morgen, als es für einen Fremden äußerst schwierig gewesen wäre, ungesehen dort hinaufzuklettern. Eigentlich lag es auf der Hand, Don zu verdächtigen.
Ich marschierte auf sein Haus zu, aber am Ende unserer Auffahrt hielt ich inne. Mir kam der Gedanke, dass ich vielleicht nur deswegen auf Dons Haus zulief, weil ich ihn eben kannte, weil ich wusste, mit wem ich es hier zu tun hatte. Natürlich war er ein Arschloch, aber andererseits – was für einen Grund hätte er, mich zu filmen?
Ich stellte mich auf den Gehweg vor seinem Haus. Ob eine Kamera auf dem Dach stand, konnte ich immer noch nicht erkennen. Der nächste logische Schritt wäre jetzt natürlich gewesen, auf sein Dach zu klettern, um nachzusehen. Aber wahrscheinlich sollte ich es gerade deswegen lieber lassen.
Ich drehte mich einmal um die eigene Achse und ließ meinen Blick über die anderen Dächer, Fenster und Autos unseres Blocks schweifen. In meiner Fantasie starrte aus jedem Schatten eine Kameralinse zurück. Doch soweit ich feststellen konnte, warteten weder heimliche Verfolger noch versteckte Kameras darauf, mich beim Erklettern des Millerschen Daches zu beobachten. Andererseits konnte ich es auch nicht ganz deutlich erkennen.
Ich brauchte einen besseren Aussichtspunkt, um mit Sicherheit festzustellen, ob die Kamera immer noch auf dem Dach stand. Von den Balkonen des Wohnblocks gegenüber ließ sich das Dach nur teilweise einsehen. Ebenso von den nächsten zwei Straßenlaternen beziehungsweise dem Telefonmast. Und das Dach des Supermarkts war einfach schon zu weit weg. Vielleicht konnte ich aus einer anderen Richtung besser aufs Dach sehen? Ich keuchte die Straße hoch und wieder runter und probierte verschiedene Perspektiven aus. Doch das Dach war zu flach, als dass ich den Punkt genau hätte sehen können, von dem aus ich gefilmt worden war. Irgendwann wurde mir klar, dass ich von unserem eigenen Dach aus den besten Blick haben würde.
Mit neuer Entschlossenheit trabte ich zurück zu unserem Haus. Als ich mich auf die Garage hochhangelte, fuhr mir der starke Wind unter das T-Shirt und in die Hosenbeine meiner Jeans. Eine Ulme verdeckte das gelbliche Licht der nächsten Straßenlaterne. Ich versuchte, mit meinen Turnschuhen so leise wie möglich auf den Dachschindeln aufzutreten. Oberhalb unseres Küchenfensters schwang ich ein Bein nach oben auf die Dachrinne des Obergeschosses.
»Hey!« Ariana stand unten in der Auffahrt. Sie trug eine Jogginghose und ein langärmliges T-Shirt und hatte die Arme um den Oberkörper geschlungen. »Was machst du da? Musst du schon wieder nach dem kaputten Zaun gucken?« Sie klang eher gereizt als sarkastisch.
Ich hielt in der Bewegung inne, das eine Bein in der Dachrinne. »Nein. Die Wetterfahne ist lose, die klappert die ganze Zeit.«
»Hab ich noch gar nicht gemerkt.«
Wir schrien fast. Bei dem Gedanken, dass die versteckte Kamera Ariana aufnehmen könnte – ganz zu schweigen von unserem Wortwechsel –, wurde mir immer unwohler. Meine Schultern versteiften sich, wie bei einem Wolf, dem sich angesichts einer Bedrohung die Nackenhaare aufstellen. »Weißt du was, geh doch einfach wieder rein. Du frierst doch. Ich bin gleich wieder da.«
»Ich muss früh raus, ich geh jetzt schlafen. Du hast also genügend Zeit, dir eine bessere Ausrede auszudenken.« Sie verschwand unter dem Dachvorsprung, und Sekunden später wurde die Haustür zugeknallt.
Unser Dach war ziemlich steil, so dass ich mich tief duckte und immer ein Knie und einen Unterarm fest auf den Dachziegeln abstützte. Wie eine Krabbe arbeitete ich mich diagonal ganz nach oben und zum Kamin am höchsten Punkt.
Auf dem Dach der Millers war keine Kamera.
Aber der Blick auf die Balkone, Straßenlaternen und anderen Dächer war tadellos, von hier aus konnte man ein eventuelles Versteck am besten ausmachen. Häuser, Bäume, Hinterhöfe, Autos, Telefonmasten – ich musterte die ganze Umgebung, bis mir die Augen weh taten.
Nichts.
Halb enttäuscht, halb erleichtert ließ ich mich gegen den gemauerten Kamin sinken. Gerade wollte ich den Abstieg beginnen, da sah ich im Dämmerlicht etwas aufglänzen. Ganz hinten am östlichsten Rand des Daches, direkt über meinem Arbeitszimmer, stand eine Digitalkamera elegant auf ihrem Stativ und sah mich aufmerksam an.
Mein Herz krampfte sich zusammen. Ich spürte das stille Grauen, die Art von Angst, wie man sie aus Alpträumen kennt, wenn der Horror von dem Verdacht abgemildert wird, dass es ja sowieso nur ein Traum ist. Das Stativ war nur wenige Meter vom Dachfirst entfernt und so eingestellt, dass die Kamera trotz der Schräge ein komplettes Bild einfangen konnte. Das Dach schützte die Konstruktion vor dem Wind, der, der Wetterfahne nach zu urteilen, ziemlich heftig wehte. Wer auch immer die Kamera hier aufgestellt hatte – nicht auf Dons Dach gerichtet, sondern auf die Stelle, zu der ich klettern musste, um auf Dons Dach zu blicken – hatte meine Handlungsweise vorhergesehen, hatte jeden meiner Gedanken vor mir gedacht. Über das dunkle Dach hinweg starrten die dunkle Linse und ich uns an wie die Revolverhelden beim Showdown auf einer staubigen Straße. Der Wind pfiff mir um die Ohren, und ich meinte fast, eine Melodie von Ennio Morricone zu hören.
Ich ließ den Kamin los und verließ mich ganz auf die Gummisohlen meiner Turnschuhe, während ich zu der Stelle kletterte, wo sich die Dächer trafen. Auf allen vieren, mit staubtrockenem Mund arbeitete ich mich vor. Von hier oben sah der Abstand zum Boden viel größer aus, und der Wind mochte zwar noch keine Sturmstärke haben, aber er machte die Sache trotzdem nicht gerade gemütlicher. Als ich den Dachvorsprung erreichte und nach unten blickte, schwindelte mir. Dann sah ich die Kamera zum ersten Mal aus allernächster Nähe.
Es war meine eigene.
Das ausgefahrene Objektiv war auf das Dachstück gerichtet, das ich gerade überquert hatte. Kein grüner Lichtpunkt, ich war also auch nicht gefilmt worden.
Unten heulten die Autos vorbei, Lichtkegel glitten über Metall und raubten mir kurzfristig die Orientierung. Ich lehnte mich vor und griff mir die Kamera. Keine Aufnahme gespeichert. Es war überhaupt nichts aufgenommen worden. Aber warum stand der Camcorder dann hier? Als Köder?
Im Schlafzimmer der Millers ging das Licht aus. Nicht weiter überraschend – es war ja auch schon halb elf. Aber irgendwie fand ich es doch seltsam, dass sie ausgerechnet in dem Moment die Lampe ausknipsten, in dem ich mir die Kamera geholt hatte.
Langsam arbeitete ich mich mit der billigen Canon – die ich so gut wie nie benutzt hatte – wieder zurück und sprang an einer Stelle vom Dach, wo ich weich im Efeu landete.
Als ich wieder im Haus war, setzte ich mich an den schmalen Esstisch aus dunklem Walnussholz – designt von Ariana – und drehte die Kamera in der Hand. Mit ihrem Zoom, den langlebigen Batterien und der Möglichkeit, die Aufnahme gleich auf DVD zu brennen, war das Ding ziemlich idiotensicher.
Ich ging in die Küche, klatschte mir kaltes Wasser ins Gesicht und blieb auf die Spüle gestützt stehen, während ich auf die geschlossenen Läden einen halben Meter vor mir starrte.