Der Ausbrecher - Gregg Hurwitz - E-Book

Der Ausbrecher E-Book

Gregg Hurwitz

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Beschreibung

Walker Jameson, ein ehemaliger Elitesoldat, verbüßt eine fünfjährige Strafe wegen illegalen Waffenhandels in einem kalifornischen Hochsicherheitsgefängnis. Kurz vor Ende seiner Haft bricht er aus und beginnt in Los Angeles einen unerbittlichen Rachefeldzug. US Marshal Tim Rackley ist schnell klar, dass er einen absoluten Profi jagt, der mit allen Wassern gewaschen ist. Doch wofür müssen Jamesons Opfer eigentlich mit dem Leben bezahlen? Bei seiner Suche nach dem Ausbrecher stößt Rackley schon bald auf dubiose Machenschaften eines großen Pharmakonzerns – und auf eine menschliche Tragödie, die ihn tief erschüttert...

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Seitenzahl: 742

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Dies ist ein fiktives Werk. Alle in diesem Roman dargestellten Personen, Organisationen und Ereignisse sind entweder ein Produkt der Fantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet.

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Die englische Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel »Last Shot« bei William Morrow.

An Imprint of Harper Collins Publishers, New York.

Deutsche Ausgabe 2024

Copyright © 2006 by Gregg Hurwitz

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2024 Ronin Hörverlag: Ronin Hörverlag, Heusteg 47, 91056

Erlangen

Die Rechte an der Nutzung der deutschen Übersetzung von Wibke Kuhn liegen bei der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG Maria-Luiko-Str. 54, 80636 München

Umschlaggestaltung: by wayan-design unter Verwendung von Motiven von Shutterstock © Georgios

Tsichlis und Depositphotos © gyn9037 (Yongnian Gui)

E-Book-Konvertierung: Open Publishing GmbH

ISBN: 978-3-98955-526-6 (E-Book)

Für Informationen wende dich an Ronin Hörverlag, Heusteg 47, 91056 Erlangen

www.ronin-hoerverlag.de

DER AUSBRECHER – KEIN WEG ZURÜCK

Gregg Hurwitz

Aus dem Amerikanischen von Wibke Kuhn

Für Marjorie Hurwitz, meine Mutter

ÜBER DEN AUTOR

Gregg Hurwitz, geboren 1973, wuchs in der Bay Area bei San Francisco auf. Er studierte Englische Literatur und Psychologie an der Harvard University sowie in Oxford/Großbritannien, wo er sein Studium mit einer Arbeit über Shakespeares Tragödien abschloss. In den USA und Großbritannien gelang ihm mit dem Thriller Blackout der große Durchbruch. Seine Romane erscheinen weltweit in vierzehn Sprachen. Er lebt in Los Angeles.

INHALT

Der Ausbrecher – Kein Weg zurück

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

70. Kapitel

71. Kapitel

72. Kapitel

73. Kapitel

74. Kapitel

75. Kapitel

76. Kapitel

77. Kapitel

78. Kapitel

79. Kapitel

80. Kapitel

Neunzig Tage nach Walkers Tod

Danksagung

Weitere Titel von Gregg Hurwitz

1. KAPITEL

Die Stimmung im Knast war eigentlich wunderbar friedlich gewesen, bis sich Spook mit Klebeband Rasierklingen an den Händen befestigt und zwei Mitglieder der Arischen Bruderschaft und einen halben Wachmann aufgeschlitzt hatte. Damit lagen auf Terminal Island die Nerven endgültig blank, und die Bewohner mussten vorerst unrasiert bleiben – Wegwerfrasierer waren Gegenstände, die von den Wärtern nicht beliebig ausgegeben werden durften. Die restliche Woche musste sich Walker jeden Morgen mit den anderen Pensionsgästen in eine Schlange einreihen, um sich mit einem Scheißrasierapparat rasieren zu lassen. Nach jeder Rasur tauchte der Gefängniswärter den Scherkopf in eine blaue Desinfektionslösung.

Im August heizte sich der Knast regelmäßig auf. Die Luft bebte wie in Fieberschauern. Die Männer schliefen schlechter und wurden immer gereizter. Gewaltbereit. Manche, so wie Spook, wurden kreativ. Walker ging dem ganzen Scheiß aus dem Weg, wie immer. Er hielt sich vom Gefängnishof fern – da braute sich einfach zu viel Ungutes zusammen – und setzte sich stattdessen auf die aufeinandergestapelten Truhen in seiner Behausung, um seinen Ausblick zu genießen.

Zwei windgebeutelte Palmen, eine Reihe Müllcontainer, ein Anker auf einem Betonpfeiler vor dem Gebäude der Küstenwache auf der anderen Straßenseite – alles gefiltert durch zwei Lagen Maschendraht und ein paar flotte Kringel NATO-Draht. Keine großartige Aussicht. Aber mehr hatte er eben nicht. Er liebte die beiden Palmen – Sally und Jean Ann. Er liebte den Anblick ihrer Kronen, die das Abendlicht bis zuletzt festzuhalten wussten und immer noch in Gold badeten, während sich auf dem Boden die Schatten schon wie große Pfützen ausbreiteten. Wenn er sein Gesicht ganz fest gegen die Betonmauer presste, konnte er noch den Rand eines dritten Baumes ausmachen, aber den kannte er nicht gut genug, um ihm einen Namen zu geben.

Walker trat von den Gitterstäben zurück und betrachtete seine Behausung. Dieser Anblick war ihm ebenfalls vertraut. Die ganzen eins achtzig mal zwei fünfzig. Etagenbetten, Metall, aus einem Guss. Toilette und Waschbecken aus rostfreiem Stahl. Rein offiziell sollten die Wände eigentlich kahl bleiben, aber Walker hatte neben dem Fenster mit Kaugummi ein Foto von Tess an die Wand geklebt. Eigentlich vor allem deswegen, weil er nicht wusste, was er sonst damit anfangen sollte. Abgesehen von dem Bild und ein paar Brandflecken von den Zigaretten auf seiner Truhe hatte er in den zweieinhalb Jahren nicht allzu viele Spuren an diesem Ort hinterlassen.

Sein Zellengenosse, ein leise sprechender Vergewaltiger, der sich jetzt Imaad nannte, hatte da schon mehr Nestbauinstinkt an den Tag gelegt. Auf einem schwarzen Samtwimpel glänzte ein arabischer Spruch in goldener Kalligrafie. Daneben war mit Kleister eine Postkarte mit der Abbildung einer Moschee an der Wand befestigt, denn Wrigley enthielt ja – Allah behüte! – Gelatine. Ein Gebetsteppich, den er aus liebevoll zusammengedrehten Klopapierstreifen gewebt hatte, stand aufgerollt in einer Ecke. Auf dem ausgefransten oberen Ende, sicher über Bauchhöhe, lag ein Koran, dessen Ledereinband sich schon seit einer geraumen Weile von den Blättern gelöst hatte. Imaad, der sich tadellos benahm, dabei aber auf eine geradezu aggressive Art introvertiert war, tolerierte Walker so, wie Walker auch ihn tolerierte. Gestern hatte sich Imaad Ammoniak in seine Nudelsuppe geschüttet, woraufhin er sich so stark übergeben musste, dass man ihn vorübergehend auf die Krankenstation verlegte, wo er dem allgemeinen Getümmel erst einmal entzogen war. Ein guter Schachzug für einen vorbildlichen Gefangenen, denn der Rauch am Horizont war unübersehbar.

Nach Spooks Rasierklingen-Eskapade stand fest, dass Gorillas und Arier noch mehr Blut lassen würden. Und die Cholos würden auch nicht ungeschoren davonkommen. Einer von den Norteños war auf Abwege geraten und von einem Ficker aus Surrenos aufgerissen worden, was die Glut einer halbwegs eingeschlafenen Vendetta neu angefacht hatte. In den letzten Nächten lag eine fast schon unnatürliche Stille über dem Zellenblock. Die Sträflinge horteten Lebensmittel. Trotz der Hitze liefen die Bandenmitglieder nur in ihren Leinenjacken herum und polsterten ihre Unterhemden mit Zeitschriften und Zeitungen aus, um sich gegen Messerstiche zu wappnen. Die Atmosphäre war ungefähr so, als wäre die ganze Woche über Gas aus allen möglichen Ritzen gesickert – und nun hielt jeder die Luft an und wartete darauf, dass jemand das Streichholz anriss.

Auf Walkers rechtem Arm prangte ein dunkles Komma über seinem Bizeps – das Yin des Yin-Yang-Symbols. Tommy LaRue aus dem D-Block war der Tattookünstler, doch das Werk war unvollendet geblieben, da man seine Ausrüstung nach den Unruhen im Mai beschlagnahmt hatte. Walker hatte damals die Nadeln aus Unicor herausgeschmuggelt, wo die Gefangenen für einen Dollar zwanzig die Stunde schufteten. Sie nähten und packten und stellten so nützliche Dinge wie Papierschießscheiben her, damit die Polizisten das Erschießen von Häftlingen noch besser üben konnten. Walker hatte sich die Nadeln in die Hornhaut an seinen Fersen geschoben und zu LaRue geschmuggelt. Der band sie mit einem Schnürsenkel an die Spitze eines Bleistifts. Die Tinte kriegte man schon leichter – man musste einfach die Füllung einer Kugelschreibermine aufkochen in einem Löffel, wie Heroin, und die Farbe dann mit Zahnpasta und Seife vermischen. Der Schnürsenkel wurde mit der Tinte getränkt und die Nadel ritzte die Haut auf – und wenn es keine Razzia gegeben hätte, hätte Walker auch noch sein Yang bekommen. Aber da Kelly O’Connell sich bemüßigt gefühlt hatte, eine brennende Matratze aus der dritten Etage zu werfen, musste Walker drei Monate lang wie der letzte Vollidiot mit einer riesigen Kaulquappe auf dem Arm rumlaufen. Der Gerechtigkeit halber musste man aber sagen, dass Kellys Aufstand zumindest für kostenlose Unterhaltung gesorgt hatte. Erst das Bettzeug und der brennende Müll, der auf den Boden im Erdgeschoss hinunterregnete und dabei einen Funkenregen hinter sich herzog. Dann setzten sich die Häftlinge auf die bloßen Gitter ihrer Betten und sahen zu, wie die Mini-Bagger dort unten die verkohlten Haufen wegschaufelten. Das sorgte für ordentliches Aufsehen, aber sie hatten auch ihren Preis dafür bezahlen müssen. Einen Monat lang kleinere Strafmaßnahmen. Keine Basketbälle. Keine Zeitschriften. Kein Nachtisch.

Walker warf einen Blick auf Tess an der Wand und merkte, wie sich seine Gedanken überschlugen und ihn mit allen möglichen Szenarios quälten. Dagegen half nur geistiges Ausklinken, das hatte er mittlerweile gelernt. Gewichte heben, Kopfhörer aufsetzen, sein Vier-Sterne-Ausblick.

Er gab sich gerade wieder der nächsten stummen Zwiesprache mit Sally und Jean Ann hin, da schickte Boss nach ihm. Walker mochte es nicht, wenn man ihn herbeizitierte, und bei jedem anderen hätte er die Aufforderung einfach ignoriert. Doch Boss hatte seit Monaten nicht mehr nach ihm geschickt, und wenn Boss einen sehen wollte, dann ging man.

Sweet Boy lehnte sich an den Türrahmen, stützte seine glatte Wange gegen das abgeknickte Handgelenk und wiederholte gerade seinen Auftrag, da sagte Walker: »Schon gut, ich hab’s gehört.«

»Boss hat aber gesagt, jetzt sofort.«

»Boss kann warten.«

Sweet Boys Lider flatterten, als hätte Walker sich gerade die Nase an der Robe des Papstes geputzt. Dann machte er ein verächtliches, kleines Geräusch in der Kehle und verschwand. Walker stand auf und streckte sich. Vom Eipulver vom Frühstück hatte er immer noch einen widerlichen Geschmack im Mund, deswegen bürstete er sich kurz die Zähne. Er schlug mit der Justizvollzugsgummizahnbürste auf den Waschbeckenrand, bevor er sie in eine Tasse aus dem Speisesaal fallen ließ. Als er sich vorbeugte, um auszuspucken, rutschte ein Titaniumkreuz aus seinem T-Shirt-Ausschnitt. In seinem ersten Monat im Knast hatte LaRue ihm die dünne schwarze Schnur – sie ähnelte eigentlich eher einem Schnürsenkel – für den Anhänger besorgt.

LaRue konnte alles besorgen, von albanischem Hasch bis zur E-Mail-Adresse von Catherine Zeta-Jones’ PR-Agenten, dem man schreiben konnte, um sich ein Autogrammfoto schicken zu lassen. LaRue war der Mann, den Walker noch am ehesten als Freund bezeichnen würde hinter diesen Mauern. Oder auch außerhalb. Er arbeitete für alle und keinen, und es gefiel Walker, wie LaRue höchst demokratisch jede Art von Bündnis ablehnte.

Walker trat auf die Empore hinaus und warf einen Blick über das hüfthohe Geländer nach unten, auf den Boden zwölf Meter unter ihm. Er konnte das Klirren der Gewichte und die Rufe der Bocciaspieler im Nordhof hören. Die Echos wurden von der hohen Decke verzerrt und zurückgeworfen.

LaRue eilte mit gesenktem Kopf auf ihn zu und drückte seine Ellbogen fest an den Körper, um die Schmuggelware zu sichern, die er gerade transportierte. Sie gaben sich die Hand und stießen sich kurz mit den Schultern an.

»Lass mal dein Tattoo sehen.« LaRue schüttelte den Kopf, während er Walkers einsames Yin musterte. »Das machen wir fertig, sobald dieser ganze Scheiß sich hier wieder gelegt hat.«

»Hast du eine Nachricht für mich?«

»Zum Mittagessen kannst du damit rechnen.« Er zauberte von irgendwo eine Zigarette her, drückte sie Walker in die Hand und ging wieder seiner Wege.

Walker steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen und setzte seinen Weg über die Empore fort. Boss Hahn, eine der Führungspersönlichkeiten der Arischen Bruderschaft, hatte die beste Zelle in der dritten Etage des J-Blocks, direkt neben dem Fernsehzimmer. Als Walker vor die Zellentür trat, versperrte ihm Kellys Arm den Weg, aber Boss nickte ganz leicht, der Arm verschwand, und Walker trat ein.

Ein rotes Tuch vor dem Fenster dämpfte das Licht zu einem sanften Glühen. Sweet Boy lag auf dem Bett und las einen Liebesroman. Boss’ Zellengenosse, Marcus, war gerade dabei zu kacken, wobei er ein Bein ganz aus der Hose herausgezogen hatte, für den Fall, dass eine unerwartete Schlägerei losbrechen sollte. Wenn man im Gefängnis sonst nichts lernte – das lernte man bestimmt: Jeden Moment kann man hinterrücks überfallen werden. Der Gestank vermischte sich mit dem Geruch der Ramen-Nudeln auf der Kochplatte. Nach einer Weile nimmt man solche Sachen einfach nicht mehr wahr. Marcus, dem starken Mann der Arischen Bruderschaft, fehlten oben zwei Schneidezähne, so dass er mit geschlossenem Mund lächeln und seinem Gegenüber dabei trotzdem noch die Zunge rausstrecken konnte.

Boss saß auf seiner Truhe, die sich unter seinem Gewicht bog, und beugte sich über ein Schachbrett aus Papier. Die Figuren waren aus Seife geschnitzt, die eine Hälfte unbehandelt, die andere mit Schuhcreme geschwärzt. Ein Kronkorken musste einen fehlenden Bauern ersetzen. Boss tippte gegen den Kopf eines Springers. Wurstfinger, die sich an den Nägeln trichterförmig verbreiterten. Sein Arm quoll derartig vor Muskeln über, dass die Wölbungen kreisförmig aneinanderstießen – Deltoideus, Bizeps, Unterarm. Wie Walker trug auch Boss die Gefängniskleidung: khakifarbene Hose, hellbraunes durchgeknöpftes Hemd. Seinen Einfluss konnte man nur an seinen Nikes erkennen – Walker trug die üblichen Leinenhalbschuhe – und an den rot-weißen Kartons, die sich gegenüber vom Bett an der Wand stapelten. Boss hatte Zigaretten bis zum Abwinken, und mit Zigaretten konnte man sich im Gefängnis so gut wie alles kaufen, vom kleinen Auftragsganoven bis zu einem Messer, das dem Rivalen plötzlich in der Nierengegend steckte. Auf Boss’ Hals war das Symbol der Arier eintätowiert: das Kleeblatt und dreimal die Sechs. Er war noch von der alten Schule. Mittlerweile war die AB schlauer und begann, ihre Abzeichen zu verstecken.

Kelly setzte sich wieder auf seinen Platz gegenüber von Boss. Der studierte weiterhin die Lage und trug einen leicht schmerzerfüllten Gesichtsausdruck zur Schau. Schließlich nickte er in Sweet Boys Richtung: »Warum bist du nicht sofort gekommen, als sie dir Bescheid gesagt hat?«

Walker zuckte mit den Achseln. Schob die unangezündete Zigarette von einem Mundwinkel in den anderen.

»Antworte gefälligst.« Kelly sprang auf und baute sich fünf Zentimeter vor Walker auf. »Was geht, GI Joe, willst du aufmucken, oder was? Nein? Lieber nicht? Dann antworte dem Boss, verdammt noch mal.«

Vier Männer. Sie konnten ihn selbstverständlich überwältigen, aber es wäre die Verletzungen nicht wert. Walker wiederholte sich sein Mantra. Sechzehn Monate. Zwei Wochen. Vier Tage. Boss machte ein zustimmendes Geräusch, obwohl niemand etwas gesagt hatte. »Walk redet nicht viel, weißt du. Der macht alles mit sich allein aus. Is doch so, oder, Walk?« Er nahm den Läufer hoch, tippte sich damit nachdenklich an die Lippen und setzte ihn dann wieder ab. »Die Dinge spitzen sich zu, und meine regulären Mitarbeiter stehen alle unter Beobachtung. Du kannst ebenfalls kämpfen, das wissen wir. Diese ganze Zeit, die du bei der Army warst. Du musst Spook für mich abstechen, wenn er wieder rauskommt.«

»Was krieg ich dafür?«

»Schutz.«

»Ich mein’s ernst.«

Boss schnaubte kurz, dann deutete er mit einer lässigen Handbewegung auf seine Marlboro-Wand. »Du kannst leben wie ein König, verdammt noch mal.«

Walker sah, wie Marcus sich den Hintern abwischte. »Danke trotzdem.«

»Du wirst ein Teil der neuen Ordnung werden.«

»Ich mochte die alte schon nicht.«

»Okay. Du willst also deine Zeit absitzen wie ein guter Christ und danach wieder raus in die Welt. Wie immer.«

»Wie immer.«

»Okay«, meinte Boss. »Okay, okay, okay.« Er hob langsam den Kopf und bedachte Walker mit dem berüchtigten Blick aus seinen starren blauen Augen. »Ich sorg hier für Ordnung. Vergiss das lieber nicht.« Und mit plötzlich aufflammender Wut fügte er hinzu: »Und bleib mir bloß aus den Augen, du Wichser.«

Sweet Boy ließ sein Buch auf die Brust sinken. Marcus und Kelly brauchten auch einen Moment, bevor sie sich wieder entspannten. Walker wartete ab, ob er hiermit entlassen war, aber Boss hatte seine Aufmerksamkeit schon wieder dem improvisierten Schachbrett zugewandt. Gedankenverloren fummelte er an den Köpfen der weißen Läufer herum.

Schließlich zog er eine Grimasse und lehnte sich mit seinem massigen Körper zurück. »Ich war noch nie besonders gut in Schach.« Ein resignierter Seufzer. »In wie vielen Zügen setzt er mich matt, Walker?«

Walkers Augen zuckten zum Schachbrett. »Drei.«

Dann machte er einen Schritt zurück und verließ die Zelle.

Picknicktische aus Plastik, fest am Boden verschraubt. Krümeliger Hackbraten, wässriger Mais, ein harter Kuchenwürfel auf einer weißen Untertasse. Trotz des Essens hatte Walker im Knast fünfzehn Pfund zugenommen, vor allem an den großen Rückenmuskeln und am Brustkorb. Ein Gefängniskörper, den man sich mit Hanteln und Gewichten holte, weil man ja sowieso nichts Besseres zu tun hatte. Das zusätzliche Körpergewicht – und gleich zu Anfang ein paar effektive Demonstrationen seiner Nahkampffähigkeiten – hatten ihm das Recht verschafft, allein zu essen. Ohne irgendwelche Verbündeten. Sogar LaRue ließ ihn bei den Mahlzeiten in Ruhe. Er flitzte stattdessen lieber durch die Gegend und betrieb im Speisesaal seinen florierenden Handel.

Darum war Walker auch einigermaßen angefressen, als Moses Catrell beim Abendessen an seinen Tisch kam und sich zu ihm setzte. Auf Moses’ Ebenholzunterarm wand sich der Drache der Black Guerilla Family um einen Gefängnisturm und hielt dabei einen Wärter in den Klauen.

»Das war eine reine Vergeltungsmaßnahme von Spook«, erklärte Moses und nahm damit den Faden einer Diskussion auf, von der Walker gar nicht wusste, dass er an ihr beteiligt war. »Boss hat ihn im Labor vergewaltigen lassen, von zwei solchen Superfickern. Mit acht Stichen mussten sie ihn nähen.« Walker hatte noch sechzehn Monate, zwei Wochen und vier Tage vor sich, und das Letzte, womit er sich abgeben wollte, war der Zustand von Spook Roberts Arschloch. Er würgte einen Mundvoll Hackbraten herunter und spülte mit einem Schluck Apfelsaft nach.

»Wenn Boss einen Gang höher schaltet«, fuhr Moses fort, »dann werden hier noch ein paar Leute sterben.«

»Ich hab keinen Ärger mit Boss. Ich halt mich aus seinen Angelegenheiten raus und er sich aus meinen.«

»Du bist der Einzige, der irgendwas gegen den Mist unternehmen könnte, der sich hier anbahnt.«

»Geht mich nix an.«

»Scheiße, du Blödmann.« Moses blies Luft durch die halbgeschlossenen Lippen. Walkers Auffassung von Altruismus schien ihn offensichtlich wenig zu beeindrucken.

Walker kannte diesen Typ – der wütende kleine Junge, der sich in seinem Gangsterkörper ganz groß vorkam. Der immer noch glaubte, dass das Leben ihn gerecht behandeln müsste. Der einfach nicht kapierte, dass die Welt sich nicht um Gerechtigkeit scherte, nicht, wenn es um solche gestrandeten Existenzen und zur Strecke gebrachten Gangster wie die Insassen von Terminal Island ging.

»Geh zu Boss und nimm die Friedenspfeife mit«, bat Moses. »Auf dich hört er.«

Walker ließ das Wasser von seinem Mais durch die Zinken seiner Plastikgabel tropfen. »Ach ja?«

»Ja, verdammt noch mal. Ich hab gehört, wie du kämpfen kannst.«

»Märchen.«

»Aha, und deswegen lässt dich also auch die AB in Ruhe?«

»Zieh mich da nicht mit rein.«

»Das ist also alles, was du dazu zu sagen hast?«

Walker überlegte kurz. »Verschwinde von meinem Tisch.«

Moses verzog den Mund zu einer einseitigen Grimasse, die er einstudiert hatte, um äußerste Empörung zu zeigen. Dann sah er Walker an, sog noch einmal die Luft durch die Zähne und zog sich zurück. Walker kippte den Rest seines Apfelsafts hinunter und fischte die letzten Maiskörner vom Teller. Als er aufblickte, sah er LaRue auf sich zukommen – nicht gerade im Lauftempo, aber mit seltsam energiegeladenen Schritten.

»Und?«, fragte Walker.

LaRue beugte sich vor, schnaufte heftig vor Anstrengung und flüsterte feucht gegen Walkers Wange: »Links.«

Walker tat sein Bestes, um die Nachricht mit Fassung zu tragen. Er fasste die Gabel so fest, dass seine Finger ganz taub wurden, genau wie der Rest seines Körpers.

LaRue bedachte ihn mit einem besorgten Blick, tätschelte ihm feierlich den Rücken und schoss wieder davon.

Walker schöpfte die Toilette leer, um durch das Abflussrohr die unteren Stockwerke belauschen zu können. Mit schräg gelegtem Kopf saß er vor der leeren Metallschüssel und hörte der Vergewaltigung unten in Boss’ Behausung zu. Die Geräusche von fünf oder sechs großen Männern, die sich schweigend in dem beengten Raum bewegten. Die kehligen Schreie wurden zwar von einem Stoffknebel erstickt, waren aber immer noch laut genug, um an Walkers Ohren zu dringen, und vielleicht auch an die Ohren des Gefängniswärters im Erdgeschoss, der an seinem elenden kleinen Tischchen vor dem einzigen Ausgang saß, einer stahlverstärkten Schiebetür. Der Junge, der hier seine Initiation erhielt, war aus Orange County, ein Surfertyp mit Zottelfrisur. Er war gebräunt und dünn und hatte nicht die geringste Chance. Der Zählappell lag fünfzehn Minuten zurück, und die Geschichte würde für ihn erst beendet sein, wenn sie für die anderen beendet war. Terminal Island war kein Hochsicherheitsgefängnis, es gab keinen zentralen Hebel, mit dem alle Zellen verriegelt wurden. Hier hatte man noch ganz altmodisch einen Schlüssel für jede Tür, und das wiederum bedeutete, dass nur wenige wirklich eingesperrt wurden und man sich nachts ziemlich problemlos im Gefängnis bewegen konnte.

Gut für die Wölfe, schlecht für die Schafe.

Schließlich verstummten die gedämpften Geräusche. Boss würde sich jetzt gleich auf den Weg zu den Duschen am Ende der Etage machen. Er war ein Gewohnheitstier, und mit der Hygiene nahm er es peinlich genau.

Walker setzte sich im Schneidersitz neben seine offene Zellentür und blickte in den schwarzen Abgrund, der hinter dem Geländer gähnte. Wenn es erst einmal ganz ruhig wurde, war die Stille beängstigend. Eine Lagerhalle aus Beton, die selbst schockiert darüber war, wozu sie genutzt wurde. Ab und zu zogen sich die Vollzugsbeamten Mokassins über und krochen in die Wände zwischen den Zellen, in denen die Rohre verliefen, um die Zellenbewohner auszuspionieren. Natürlich hörte sie jeder, wenn sie wie riesige Mäuse hinter den Wänden entlangschlurften.

Noch immer konnte er den Geruch des Tages wahrnehmen. Der Moschus eines schlecht gelüfteten Gebäudes mit hundert zusammengepferchten Männern. Darüber lagerten die Düfte von illegalen Kochplatten – Reis, Bohnen, Nudeln in Thunfischdosen. Er schloss die Augen und wartete, bis er die Empore quietschen hörte. Ein Quietschen, das hundertdreißig Kilo Lebendgewicht verriet, dazu die wohlbekannte Kadenz von Schritten. Er hatte genügend Zeit allein im Dunkeln verbracht, um das Stöhnen des Gitters unter seinen Füßen richtig deuten zu können, um die Männer an ihrem Atem zu erkennen. Seit seinen Tagen bei der Aufklärungstruppe hatte er sich nicht mehr so genau mit den Geräuschen beschäftigt, die die Menschen so von sich gaben.

Erst spürte er die Vibrationen am Boden, dann hörte er das Metall in Abständen von einer halben Sekunde schwach aufstöhnen. Noch ein paar Schritte, dann gesellte sich das Geräusch des rasselnden Atems dazu.

Das war die Melodie von Boss Hahn in Bewegung.

Walker stand auf und blieb im Dunkel seiner Zelle stehen. Er zählte die Schritte und schätzte ab, wie nah Boss schon war. Dann trat er mit einer Vierteldrehung auf die Empore hinaus und stand Auge in Auge mit Boss. Der große, dicke Mann hatte sich ein zerschlissenes weißes Handtuch um Hüfte und Oberschenkel geschlungen. Von der Anstrengung des Gehens verzog er die Lippen und entblößte dabei seltsam quadratische Zähne. Seine Wangen und sein Brustkorb glänzten von Schweiß. Zuerst drückte sich Überraschung auf seinem Gesicht aus, doch dann setzte er ein arrogantes Lächeln auf.

Walker drückte das harte Plastik gegen die Handfläche. Dann schwang er den Arm jäh nach oben und erwischte Boss ganz oben am Hals. Schwarz sprühte es in die Luft, der Mann grunzte und ruderte mit seinen fetten Armen, als wollte er das Gleichgewicht halten. Walker legte ihm eine Hand auf den bulligen, glitschigen Brustkorb, die andere unters Kinn, und dann stieß er Boss übers Geländer. Er verschwand in der Dunkelheit, und das Handtuch flatterte ihm weiß hinterher.

Ein Augenblick kompletter Stille.

Dann schlug der Körper auf. Der Vollzugsbeamte schaltete das Licht ein, und da lag Boss, keuchend und zuckend, mit unnatürlich verdrehten Gliedmaßen. Das Blut floss träge aus einer Wunde hinter seinem Ohr und vergrößerte langsam die Blutpfütze, die sich bereits um seinen Oberkörper gebildet hatte. Ein Arm brachte noch eine paddelnde Bewegung über den Boden zustande, malte einen zittrigen Kreisbogen auf die Fliesen und erstarrte dann.

Der Gefängniswärter stierte auf die rosarote Leiche herab, deren Lippen zu einem perfekten O gerundet waren. Langsam trat er an die Stahltür, die den J-Block hermetisch abriegelte. Gleichzeitig tastete er nach dem Funkgerät an seinem Gürtel und fand es im zweiten Anlauf. Ein Moment atemlos gespannter Stille, während hundert Augenpaare aus fünfzig Zellen starrten. Dann plötzlich stieg ein Brüllen auf, wie aus einer einzigen Kehle, und alle Gefangenen stürzten gleichzeitig aus ihren Zellen.

2. KAPITEL

In voller Montur – mit Spider-Man-Schuhen, einer leeren Messerscheide am Gürtel, einem Evel-Knievel-Helm und einem Spitzbart aus Schokoladeneis – richtete sich Tyler auf. Sein weißes Hinterteil taumelte über dem Teppich, während er herzhaft nieste und seine gespreizten Finger mit Spinnwebe aus Rotz überzog. Beeindruckt musterte er das Resultat.

»Gesundheit«, sagte seine Mutter.

Zugabe.

»Gesundheit.«

Und noch eine.

»Na, das reicht jetzt aber.« Dray griff nach einem seiner rudernden Arme und zog Tyler an Bears Beinen vorbei zu sich heran, wo schon ein Taschentuch auf ihn wartete. Ty ließ seine Milch fallen und kickte sie schwungvoll über den Boden. Während sie über den Teppich rollte, verspürte Tim wieder einmal den größten Respekt vor dem Erfinder der Trinklerntasse. In einem Anfall geistiger Umnachtung hatten Tim und Dray kurz nach Tylers erstem Geburtstag im ganzen Haus neue Teppiche verlegt – weiße. Sie waren noch nicht so weit, den Teppich einfach dreckig werden zu lassen, und ihre Kleckerneurose zeigte deutlich, auf welche grundlegenden Fragen ihr Leben derzeit reduziert war.

Tim saß unterdessen beim Kamin und hatte gerade die letzten Teppichstreifen auf die Ecken des vorspringenden Kamins geklebt. Gestern hatte Tyler sich hier nämlich eine Schürfwunde am Schienbein zugezogen, und heute musste die vorlaute Kante den Preis dafür bezahlen. Bear, der auf jedem Knie einen Dessertteller balancierte, lümmelte sich auf dem Sofa.

Erst aß er seinen eigenen Teller leer und leckte den Zuckerguss ab, dann beäugte er sehnsüchtig Tims unberührten Nachtisch. Es war Tim von Anfang an nicht besonders klug erschienen, sein Stück vom Geburtstagskuchen – in der Mitte prangte da »urts« von »38. Geburtstag« – ausgerechnet der Obhut seines Partners anzuvertrauen. Bear hatte zwar ausladende Proportionen, war aber nicht von der schwabbeligen Sorte. Er war eher ein Monolith. Daher hatte er eine Menge Körpermasse zu unterhalten, und seine eiserne Loyalität geriet ernsthaft ins Wanken, sobald Essen ins Spiel kam.

Seitdem Tyler kreischend in ihr Leben getreten war, blieben Tim und Dray viel lieber zu Hause. Sie hatten einen Gang runtergeschaltet und richteten sich in einem sehr häuslichen Takt ein. Abendessen, wenn es draußen noch hell war. Zu Bett gehen, bevor Letterman anfing. In den sieben Jahren von Ginnys Leben hatten sie das ja schon gut üben können, und mit Tylers Geburt kehrten sie zu ihrem einstigen Familienleben zurück und genossen es umso mehr.

Bear war im Laufe des letzten Jahres immer öfter als Babysitter eingesprungen, wenn Tim und Dray abends einmal zu zweit ausgehen wollten. Zu Anfang war Drays Mutter mit geradezu religiösem Fanatismus bei ihnen einmarschiert. Sie brachte ihre zwiebellastigen Gerichte und ein schier unerschöpfliches Arsenal an unbegründeten Ängsten mit – »Auf diesem Toilettensitz solltet ihr aber lieber eine Kindersicherung anbringen.« Oder: »In diesem Saft ist alles Mögliche, bloß kein Saft.« Oder: »Wisst ihr eigentlich, wie schmutzig die Luft auf dieser Seite des Freeway ist?« Sobald Dray bemerkte, dass ihre Mutter Tims überbesorgte Haltung noch verstärkte, verbannte sie sie aus ihrem Haus. Sie trafen sich einmal pro Woche in einem Park oder einem Einkaufszentrum, also immer noch ungefähr fünfzigmal öfter als vor Tylers Geburt. Tims Vater, ein unverbesserlicher Betrüger mit jahrelanger Erfahrung, hatte an Tylers erstem Geburtstag eine Karte geschickt, auf der er verkündete, dass er seinen Enkel gern kennenlernen wolle, doch Tim hatte nicht geantwortet. Diese Karte war die einzige Korrespondenz, die es während ihrer mittlerweile einjährigen Funkstille gegeben hatte.

Dray ließ Ty los, der daraufhin um Boston herumwatschelte, Bears Rhodesian Ridgeback, und seinen Pyjama begutachtete, den er – wieder einmal – ausgezogen und von sich geworfen hatte. »Kaier heiß«, erklärte er.

»Du sagtest es bereits«, sagte Bear. »Mehrmals.«

Dray schien so ihre Zweifel zu haben, ob es eine gute Idee gewesen war, ihren Erziehungsurlaub beim Sheriff’s Department zu verlängern. Sie betrachtete Tims Werk und pustete sich zielsicher eine blonde Strähne aus der Stirn. »Hast du irgendeine Ecke vergessen?« Mit dem Zeigefinger fuhr sie über die teppichbezogene Stufe, die in den Garten führte, und über die Läufer, die den Küchenboden bedeckten, und den Schaumstoff, den Tim über die Ecken des Wohnzimmertischs geklebt hatte. »Hm. Glaub nicht.« Sie lächelte, aber nur mit dem linken Mundwinkel – das war ihr besonders gemeines Grinsen –, und das Haar fiel ihr über die hellgrünen Augen. Nach dreizehn Jahren Ehe war Tim manchmal immer noch überrascht, wie unglaublich durchscheinend die Farbe ihrer Augen leuchten konnte. Dray blickte zum Sofa und ihre ebenso beeindruckenden Augenbrauen verzogen sich streng: »Ich hab gesagt, das reicht jetzt mit Kuchen!«

Bear, Tyler und Boston setzten alle drei einen gekränkten Ausdruck auf.

Tim stand vom Kamin auf und klopfte sich den Staub von den Händen. »Nicht du, Bear.«

»Ach so.« Bear blickte nach unten und entdeckte, dass Tyler seine kleine Hand an ihm vorbeigeschmuggelt hatte und sie nun im Zuckerguss vergrub. »Du kleine Ratte! Weg da!«

Tyler quiekte auf und lief davon, so dass er gerade noch einem Stups von Bears Größe-einundfünfzig-Stiefeln auf sein nacktes Hinterteil entkam. Es tat gut, Bear wieder lächeln zu sehen. Vor drei Monaten hatte er seinen anderen Hund einschläfern lassen müssen, woraufhin er seinen Kummer mit täglich zwei Dutzend Donuts von Krispy Kreme erstickte, egal ob sie gerade im Sonderangebot waren oder nicht.

Wie Dray schon mehr als einmal vorgeschlagen hatte, brauchte Bear eine Frau.

Tyler watschelte hinter dem Sofa entlang, schleckte sich dabei die blau verschmierte Hand ab und näherte sich nun wieder Bear, um einen zweiten Anschlag auf dessen Teller zu verüben. »Denk nicht mal dran.« Tim holte sich sein Stück Kuchen zurück, das jetzt den Abdruck einer kleinen Hand trug. »Gute Arbeit«, meinte er zu Bear.

Der zuckte nur mit den Achseln. »Bin gerade nicht im Dienst.«

Nachdem Tim einen Blick auf die Uhr geworfen hatte – 21:05 Uhr –, stellte er seinen Teller jedoch wieder ab. »Na komm, mein Junge.« Er hob Tyler hoch und setzte ihn sich auf die Hüfte. »Sag schön gute Nacht.«

Ty warf Kusshändchen in alle Richtungen, indem er sich die klebrige Hand gegen das Kinn drückte und dann schwungvoll wieder nach vorne fliegen ließ.

»Gute Nacht, du Taifun«, sagte Bear.

»Nacht, Boton.« Eine weitere ungeschickte Geste galt dem Hund, was dieser mit einem feierlichen Blick würdigte. Tim ging aus dem Wohnzimmer.

In diesem Moment tönte Bears Handy los, der Signalton war eine schwache Imitation von Led Zeppelin’s »Kashmir«. Er stand auf, zog seine Jeans hoch und nahm sein Nextel vom Gürtel. Seiner Reaktion war anzumerken, dass es in dieser SMS um Dringenderes ging als um einen vertraulichen Informanten, der ihm einen Tipp verkaufen wollte.

Wie vorherzusehen, vibrierte anschließend Tims Handy, und Tyler horchte auf. Tim drückte Dray ihren Sohn in die Arme, hielt das Display schräg und runzelte die Stirn.

»Alles Gute zum Geburtstag«, sagte Bear trocken.

Doch Tim war schon auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer und steckte seine Smith & Wesson ins Holster. Dann beugte er sich vor und küsste Tyler auf die Stirn. Bear steckte noch schnell ein Haferflockenplätzchen ein.

Dray zog eine Augenbraue hoch. Doch Tim nickte nur kurz, gab auch ihr einen Kuss und folgte Bear hinaus.

3. KAPITEL

Auf dem Harbor Freeway beschleunigte Bear rasant, was seinem überbeanspruchten Dodge Ram ein Aufheulen und ein gestresstes Ruckeln entlockte. Sowohl bei einem Ausbruch aus dem Gefängnis als auch bei einer Vermisstenmeldung waren die ersten vierundzwanzig Stunden entscheidend. Seit 1979, als das Justizministerium die Verantwortung für entlaufene Gefangene vom FBI auf den Marshals Service übertragen hatte, fielen alle entflohenen Sträflinge aus staatlichen Gefängnissen in den Zuständigkeitsbereich der Marshals. Tim und Bear waren beim Büro in der Stadt vorbeigefahren, um die Akten mitzunehmen, die Guerrera in der Zwischenzeit hatte zusammensuchen können. Nach einem fragwürdigen Einsatz seiner Schusswaffe beim Erstürmen einer Lagerhalle im letzten Frühjahr war Guerrera vorläufig für leichten Innendienst eingeteilt worden. Er begleitete sie noch über den Flur bis zum Lift, wo sich die Aufzugtüren abrupt vor seinem neidischen Gesicht schlossen. Ein unangenehmer Moment für alle Beteiligten.

Bear, der stolze Taufpate, hatte mit Gummiband ein Foto an seiner zerfledderten Sonnenblende befestigt – es zeigte ihn, wie er Tyler an den Knöcheln festhielt und kopfüber vor einem Legoland-Empire-State-Building baumeln ließ. Lautstark hupend fuhr er an einer Mutter im Hummer vorbei, die sicher gerade unterwegs war, um ihre Kleinen vom Fußballtraining abzuholen. Auf ihrer Stoßstange prangte ein Aufkleber mit der Aufschrift KEIN KRIEG FÜR ÖL, und Bears Dodge, nicht gerade das benzinsparendste Modell, gab klappernd zu verstehen, was er davon hielt.

Tim blätterte einen Stapel Ausdrucke durch und verharrte bei einer Zusammenfassung von den Aktivitäten, die Walker Jameson ausgeübt hatte, bevor er verurteilt wurde. Er blinzelte, um die vom Faxgerät verzerrten Buchstaben am Rand noch lesen zu können. Soldat beim U.S. Marine Corps. Posten: Gewehrschütze, Infanterie. Wenn die kurze, inoffizielle Zusammenfassung seiner neun Jahre bei den Marines korrekt war, hatte Jameson an Kampfhandlungen in Jordanien, im Kosovo, in Somalia, im Sudan und im Irak teilgenommen. Nach dem elften September hatte er selbst gebeten, für eine Antiterrorismuseinheit geschult zu werden, und absolvierte die Fortbildung für Aufklärer und Scharfschützen in Quantico. Als fertig ausgebildeter Scharfschütze wurde er Hauptmann bei einer Elite-Aufklärungstruppe. Die Kopie eines grobkörnigen Fotos zeigte einen schlanken, kräftigen Mann, der mit der Faust ein Kampfmesser umklammerte. Sein mit Tarnfarbe beschmiertes Gesicht hatte er halb in den Schatten gedreht, so dass die Dunkelheit seine linke Gesichtshälfte schluckte. Das Gewehr hatte er umgehängt, den Kolben an der rechten Schulter, den Lauf am linken Knie.

Nach elf Jahren als Feldwebel bei den Army Rangers wusste Tim nur zu gut, wie viel Erfahrung Jameson sich im Laufe seiner diversen Einsätze angeeignet hatte. Aufmerksam studierte Tim das Gesicht des entflohenen Häftlings. Der hervorragende Nahkämpfer einer Elitetruppe, der auf Kosten des Steuerzahlers darauf trainiert worden war, so zu denken, zu schleichen und zu schießen, wie auch Tim es einmal gelernt hatte. Tim stellte das Foto aufs Armaturenbrett. Seine Augen wanderten zur letzten Zeile: Unehrenhaft entlassen. Degradiert. Sechs Monate Haft in Leavenworth. Keine weiteren Erklärungen.

»Erinnere mich dran, dass ich Guerrera bitte, mir Jamesons SRB zu besorgen.«

»Seinen wen?«, fragte Bear nach.

»Sein Service Record Book. Seine militärische Personalakte quasi.« Bear und er arbeiteten mittlerweile schon so lange zusammen, dass er manchmal vergaß, dass sich ihr gemeinsamer Wortschatz nicht auch auf den Militärjargon erstreckte.

Im persönlichen Bereich waren die Informationen über Jameson überraschend karg. Einunddreißig Jahre alt. Einmal verheiratet, seit langem getrennt lebend, die Scheidung aber noch nicht rechtskräftig. Keine Kinder. Eine Schwester, sieben Jahre älter als er. Während seiner Ehe hatte er in Littlerock gewohnt. Die ländliche Gemeinde mit ungefähr zehntausend Einwohnern lag achtzig Kilometer nordöstlich von L. A., ziemlich genau in der Mitte von ziemlich genau überhaupt nichts. Nach seinem letzten Einsatz und seinem Urlaub in Leavenworth war er nicht mehr zurückgekehrt. Angesichts dessen, was Tim über Littlerock wusste, war das nur zu verständlich.

Der Dodge nahm eine der Abfahrten nach Long Beach und flog auf einer grünen Hängebrücke über den Kanal. Als sie sich schließlich Terminal Island näherten, ging Bear vom Gaspedal. Auf dieser Insel, die gleichzeitig Bestandteil des Hafens von Los Angeles war, lag das Gefängnis, das schon so berühmte Insassen wie Al Capone oder Charles Manson beherbergt hatte. Containerschiffe fuhren von ihren Liegeplätzen los oder legten gerade an. Manche von ihnen waren so groß, dass man fast den Eindruck hatte, die Schiffe stünden still und das Land bewegte sich von ihnen weg, mitsamt dem Dodge obendrauf. Über ihren Köpfen verlief das weiße, gerippte Rohr einer Pipeline, das sich über die ganze Insel zog wie eine Einschienenbahn.

Jameson hatte eine fünfjährige Gefängnisstrafe bekommen, weil er Sprengstoff gehortet hatte. Bei einer Razzia der Bundespolizei war er aufgeflogen, als er zwei Kisten mit Handgranaten kaufen wollte. Wegen guter Führung war ihm ein Jahr seiner Strafe erlassen worden.

»Fünf Jahre für einen erstmaligen Verstoß gegen die Waffengesetze, das kommt mir ganz schön heftig vor«, meinte Tim. »Hat Guerrera noch irgendwelche Hintergrundinformationen mitgeliefert?« Als der verschlafene Marshal Tannino Tim im Büro beiseite genommen und ihm die Wichtigkeit einer schnellen Festnahme vor Augen gehalten hatte, waren Tim Teile von Guerreras mündlicher Zusammenfassung entgangen.

Bear hob die Stimme, um sich über das Rattern des losen Armaturenbretts und den Lärm eines vorbeifahrenden Müllautos hinweg verständlich zu machen. »Jameson weigerte sich, mit den Ermittlern zusammenzuarbeiten – er wollte keine Namen nennen, nicht mit einem versteckten Mikrophon Kontakt zu seinen Händlern aufnehmen, nichts –, darum haben sie dafür plädiert, sein Vergehen als besonders schwerwiegend zu betrachten. Dürfte ihn mehrere Jahre gekostet haben.«

Der Wachtturm kam in Sicht. Die dunkle Ebene des Hafens, die im Osten unter einem Streifen gepflegten Rasens glitzerte, unterstrich das leuchtfeuerartige Aussehen des Turms. Das Gefängnis erhob sich über einem starken Maschendrahtzaun, die Betonblöcke der Umzäunung waren blassgelb. Rollen von NATO-Draht bildeten ein dichtes und abschreckendes Gestrüpp. Hinter rostigroten Gitterstäben verbargen sich halbblinde Fenster und die tausendköpfige Sippschaft des Staatlichen Gefängnisses von Terminal Island. Im Westen stand ein ganzer Haufen Verwaltungsgebäude der Küstenwache. Sie sahen aus, als wollten sie das Gefängnis, dessen östliche Mauer schon über dem Wasser hing, jeden Moment vom Land drängeln. Wächter mit halbautomatischen Waffen liefen an den Mauern des Gefängnisses entlang, und im Wind konnte man schwach ihre Rufe hören. Das Licht des Wachtturms wurde von den falschen Quarzbrocken in dem schmalen Gang zwischen den Maschendrahtzäunen zurückgeworfen, und Tim musste blinzeln. Der Ausbruch musste wirklich so spektakulär gewesen sein wie behauptet. Tim dachte wieder an Jamesons beachtliche Ausbildung.

Bear zeigte dem Pförtner seinen Ausweis, woraufhin der Mann Tabak in einen Kaffeepappbecher spuckte und sagte: »Wächter erwarten Sie schon. Waffen bleiben im Auto.«

Sie fuhren durch das Tor, parkten und deponierten ihre Waffen ins Handschuhfach. Tim nahm noch schnell den Schlüssel für die Handschellen von seiner Schlüsselkette und klebte ihn sich unter seine Uhr.

Mit gerunzelter Stirn blickte er auf die Akte in seinem Schoß. Bear griff nach der obersten Seite und studierte sie gründlich, als könnte er so herausfinden, was Tim so beunruhigte. Tim kaute auf der Innenseite seiner Wange herum und musterte aufmerksam das bewegte Wasser im Hafen. In der Luft lag ein starker Teergeruch. Der ferne, sonore Laut des Nebelhorns eines Tankers ließ die Fensterscheibe vibrieren.

»Warum sammelt ein Kerl erst Bonuspunkte für gute Führung, sitzt den Großteil seiner Strafe ab und bricht dann plötzlich aus?«, wollte Tim wissen.

»Die Wege des Sträflings sind unergründlich.« Bear ruckelte leicht am Autoschlüssel, um ihn aus dem Zündschloss zu bekommen. »Aber sobald wir den Grund rausgefunden haben, sind wir schon ein gutes Stück weiter.«

Am anderen Ende des Parkplatzes sahen sie einen Wachmann aus dem Gebäude kommen, der die Hand zum Gruß hob. Tim winkte zurück, und Bear und er lösten die Sicherheitsgurte.

Als Tim seine Tür aufgemacht hatte, hielt er noch einmal inne. »Sag mir noch mal kurz seine Beschreibung. Die von Jameson, meine ich.«

Bear hielt den Zettel in das schwache Licht. »Eins dreiundachtzig groß. Sechsundachtzig Kilo. Weiß.«

»Toll. Er sieht also aus wie jeder andere. Er sieht aus wie überhaupt niemand.«

Bear warf einen Blick auf das Foto auf dem Armaturenbrett.

»Er sieht so aus wie du.«

4. KAPITEL

Der Wachmann hinter seinem Pult bedachte sie mit einem herzlichen Nicken, als sie an ihm vorbei in das Zimmer gingen, in dem sich fünf Männer um Tische aus gefängniseigener Produktion versammelt hatten.

An der Tür blieb der Wärter, ein leicht hinkender, anspruchsvoller Beauftragter für indianische Angelegenheiten mit gestutztem Schnurrbart, stehen. »John Sasso ist unser Lieutenant, und das ist Daniel McGraw, unser Nachrichtenspezialist. Sie sind zu Ihrer Unterstützung hier. Wenn Sie mich nun entschuldigen wollen, ich muss mich jetzt um den Ansturm der Scheißmedien kümmern.«

Er zog sich zurück, und im Raum breitete sich wieder Schweigen aus. Weder Sasso noch McGraw – der stehen blieb, um seinen Ärger darüber zu demonstrieren, dass man ihn von wesentlich dringenderen Geschäften abgezogen hatte – grüßten sie, und die drei Gefängniswärter, die ihnen gar nicht erst vorgestellt worden waren, befassten sich weiter müde mit ihren Sandwichs und Akten. Die Stimmung war unbehaglich, aber Tim und Bear hatten mit nichts anderem gerechnet. Deputy Marshals waren Außenseiter, die zu Angelegenheiten der staatlichen Gefängnisse nur hinzugebeten wurden, wenn die Wärter oder die Nachrichtenspezialisten – die ihre Finger eigentlich immer am Puls des Lebens innerhalb der Gefängnismauern haben sollten – in ihrem Job versagt hatten.

Tim streckte eine Hand aus. »Tim Rackley. Und das ist mein Partner, George Jowalski.«

Während Sasso ganz nach Vorschrift gekleidet war – graue Hose, weißes Hemd, brauner Schlips und blauer Blazer –, zog sich McGraw eher so lässig an, wie es bei Mitarbeitern der SWAT-Teams üblich war: Seine kurzen Ärmel hatte er über den Bizeps hochgekrempelt, und die Hose mit Tarnmuster war in die ungeschnürten Stiefel gesteckt. An Sassos Gürtel hing jede Menge Ausrüstung: Funkgerät, Schlüsselringe, ein Schlagstock. Aus einer Tasche seines Blazers ragte ein Heft mit der Gefängnisordnung und ein blauer Block, der wahrscheinlich die Richtlinien der Gewerkschaft enthielt, wie Tim vermutete.

»Ich bring Sie mal zu Jamesons Zelle«, schlug Sasso vor. »Das müssen Sie gesehen haben, damit Sie’s glauben.«

»Wir würden gern zuerst die Aufnahme von dem Angriff ansehen«, sagte Tim. »Würde es Ihnen was ausmachen, sie mit uns anzuschauen?«

»Danke, die hab ich schon fünfzigmal gesehen«, gab McGraw zurück.

»Wir hatten gehofft, dass Sie uns Ihre Ansichten dazu mitteilen könnten.«

»Sauberer Schnitt mit einem selbst hergestellten Messer. Hat den Kerl in den Hals gestochen.«

Bear stellte sich auf Zehenspitzen und spitzte die Lippen, als wollte er gleich anfangen zu pfeifen – das konnte ja eine lange Nacht werden.

»Vielleicht könnten wir Ihnen ein paar Fragen stellen, bevor wir zur Zelle gehen?«, bat Tim.

McGraw zog ein Handy von seinem Gürtel und drückte eine Taste, um es zum Schweigen zu bringen. »Könnten wir das vielleicht schnell hinter uns bringen? Alle Hände voll zu tun hier, wie Sie sich sicher vorstellen können.«

»Wir tun unser Bestes«, versprach Tim. »Haben Sie diese Woche von den Informanten unter den Gefangenen irgendwelche Gerüchte aufgeschnappt?«

»Überhaupt nichts.«

»Ich habe gesehen, dass Jameson sich tadellos benommen hat.« Der Anflug eines Grinsens. »Bis heute.«

»Wie war er heute drauf?«

»Tja, wie sind Gefangene so drauf?«, erwiderte Sasso.

»Irgendwelche Auffälligkeiten?«, erkundigte sich Tim.

»Neuer Tag, gleiche Scheiße wie immer«, meldete McGraw sich wieder zu Wort.

»Wir können nicht die Stimmungsschwankungen jedes Gefangenen verfolgen«, fügte Sasso hinzu.

Bear räusperte sich. »Ach, so viel psychologisches Training, und alles umsonst.«

»Können wir uns mal seine Krankenakte ansehen?«, fragte Tim weiter.

»Steht nix drin«, sagte McGraw. »Der Kerl war total gesund.«

»Ich würde sie mir trotzdem gerne ansehen.«

»Vielleicht sollten wir auch noch eine Probe von seinem Toilettenwasser nehmen, ja?«

»Ist das ein Angebot?«

McGraws Funkgerät quäkte los, und er nuschelte hinein: »Ich hab doch gesagt, ich bin gleich da.« Dann blickte er wieder zu Tim und Bear auf. »Sehen Sie, ich bin sicher, dass dieser ganze Hintergrundscheiß hilfreich ist, wenn Sie einen Serienvergewaltiger jagen, aber hier drin sieht es anders aus. Hier ist es nicht wie auf der Straße. Wir haben Käfige und Gefangene. Das ist hier ein Dschungel, und hier gelten andere Regeln.«

»Sieht aber so aus, als wäre er nicht mehr hier«, bemerkte Bear gleichmütig.

»Ich war selbst mal eine Zeit im Gefängnis«, versuchte es Tim.

»Solange Sie nicht Vollzeit hier drin gewesen sind, wissen Sie gar nichts.«

»Ich war Vollzeit drin. Montag bis Sonntag, vierundzwanzig Stunden am Tag.«

McGraw blickte so verdutzt drein, dass Bear ihn aufklärte: »Er war selbst Häftling.«

Das brachte McGraw endlich zum Schweigen. Er musterte Tim. Dann sah man an einem kurzen Aufblitzen seiner Augen, dass er sein Gegenüber wiedererkannt hatte, und er setzte sich. Tims wilder Ausflug in die Selbstjustiz nach dem Mord an Ginny war den meisten – besonders in der Polizei – als eine Art Charles-Bronson-Legende in Erinnerung.

»Hören Sie«, beschwor ihn Tim, »wir sind nicht gekommen, um Ihnen Ärger zu machen. Unser Job besteht darin, Ihren Gefangenen aufzuspüren und wieder zurückzubringen, und um diesen Auftrag erfüllen zu können, sind wir auf Ihr Urteil und Ihr Fachwissen angewiesen.«

McGraw hielt Tims Blick stand, dann drehte er die Lautstärke seines Funkgeräts herunter.

»Irgendwelche Spuren außerhalb des Gefängnisses? Hat irgendjemand etwas beobachtet?«, wollte Tim wissen.

»Würden wir dann wohl hier stehen?«

»Irgendwelche Unregelmäßigkeiten bei den Sicherheitsmaßnahmen?«

»Vor ein paar Wochen hat eine Waschbärenfamilie so viel Chaos bei zwei unserer acht Bewegungsmelder an der Strandseite angerichtet, dass wir sie abgestellt haben. Aber nur diese beiden. An diesem Punkt können Sie aber nichts anderes tun als geradewegs aufs Meer hinausschwimmen – sobald Jameson versuchen würde, einen Bogen zu schlagen und zum Festland zurückzukommen, würde man ihn vom Wachtturm sofort sehen.«

»Gibt es irgendeine Chance, dass er übers Wasser entkommen sein könnte?«

»Ziemlich unwahrscheinlich, aber prinzipiell schon möglich. Draußen im Hafen haben wir noch eine zusätzliche Wache.«

»Wie sah die Mordwaffe aus?«

»Wir sind immer noch nicht ganz sicher. Sie wissen, dass sich hier drinnen die ganze Zeit schon was zusammengebraut hat, oder? Und dass wir hier letzte Woche eine Messerstecherei gehabt haben? Ich habe Ihren Mann – Guerrera? – am Telefon darüber informiert.« McGraw wartete ab, bis Tim nickte. »Nach dem Vorfall haben wir die Zellen durchsucht. Und alles einkassiert – Rasierklingen, Stifte, sogar Löffel. Ich habe also keine Ahnung, was Jameson als Waffe benutzt haben könnte, und auf der Aufnahme ist nichts zu erkennen.«

»Sah es so aus, als wäre Jameson in die Unruhen der letzten Woche irgendwie verwickelt gewesen?«, wollte Bear wissen. Als McGraw nicht gleich antwortete, fügte er hinzu: »Oder war er irgendwie gereizt oder nervös?«

Zum ersten Mal zögerte McGraw, bevor er antwortete. »Nicht, dass ich etwas bemerkt hätte.«

»Erzählen Sie uns bitte vom Opfer«, bat Bear.

»Boss Hahn. Ein großes Tier in der Arischen Bruderschaft, hat drei Morde auf dem Gewissen. Ein bewaffneter Raubüberfall, der ein bisschen aus dem Ruder gelaufen ist. Er saß gerade seine zweite Strafe ab – lebenslänglich auf Raten sozusagen.«

»Hatte Jameson irgendwelchen Ärger mit ihm?«

»Nicht mehr als jeder andere auch. Boss hatte hier das Sagen.«

»Aber man kann nie wissen, wann ein Gefangener einem anderen doch mal in die Quere kommt«, meinte Sasso. »Was das Fass zum Überlaufen bringt. Die meisten hier sind gute Jungs. Der einzige Unterschied zwischen ihnen und dem Rest der Menschheit ist der, dass ihre Zündschnur kürzer ist.« Er hob den kleinen Finger hoch.

»Warum, glauben Sie, hat Jameson einen Ausbruch riskiert, wenn er nur noch ein Jahr von seiner Strafe abzuhocken hatte?«, fragte Tim. »Er hat sich doch die ganze Zeit so tadellos geführt. Warum jetzt?«

»Warum bricht überhaupt irgendjemand aus?«, entgegnete Sasso. »Um frei zu sein. Manchmal flippen die Leute einfach aus und halten es nicht mehr aus, ihre Strafe abzusitzen.«

McGraw schüttelte den Kopf, und zum ersten Mal spürte Tim einen Hauch von Rivalität zwischen den beiden. »Er musste fliehen. Man kann nicht Boss umbringen und danach hier drin überleben.«

»Verstehe«, sagte Bear. »Was hatte Jameson also gegen Boss?«

»Nichts«, antworteten Sasso und McGraw gleichzeitig.

»Mit wem hat sich Jameson zusammengetan?«, erkundigte sich Bear.

»Eigentlich mit niemand so richtig«, erwiderte Sasso.

»War er religiös?«

»Er trug ein Kreuz, aber in den Gottesdienst ist er nie gegangen«, sagte McGraw. »Ich überwache die Teilnahme persönlich.«

Kein Geistlicher, den man hätte befragen können. Noch eine Sackgasse also.

»Stand er sich gut mit seinem Zellengenossen?«, bohrte Bear weiter. »Imaad Durand?«

McGraw zog die Augenbrauen hoch und blätterte den nächsten Blätterstapel durch. »Bill, schmeiß mir mal Jamesons Akte rüber.« Einer der stummen Gefängniswärter schob ihm Walkers Akte über den Tisch, und McGraw blätterte sie durch. Entnervt stieß Bear die Luft aus – sie brauchten gerade die Art von Informationen, die normalerweise nicht in Akten aufgezeichnet wurden. Ohne die Augen von den Papieren zu nehmen, sagte McGraw: »Nicht besonders.«

»Hat er irgendwann mal weiblichen Besuch gehabt?«, erkundigte sich Tim.

»Besuche vom Ehepartner?«, fragte Sasso.

»In unseren staatlichen Gefängnissen gibt’s kein Verbrecher-Reproduktionsprogramm«, grinste McGraw.

»Schon richtig. Ich meinte ja auch nur ganz gewöhnliche Besuche«, sagte Tim.

McGraw blätterte in der Akte zurück. »Keinen einzigen.«

Bear pfiff, während er etwas in sein Notizbuch kritzelte.

»Hatte er irgendwelche Jobs?«, wollte Tim wissen.

McGraws Augen glitten über die Seite nach unten. »Essen, Unicor, Putzkolonne, Müllabfuhr, Wäscherei. Der übliche Scheiß eben.«

»Wie sah seine finanzielle Situation aus?«

McGraw blätterte um. »Er hatte ungefähr siebzig Dollar zusammengespart. Heute Morgen hat er zwanzig davon auf sein Kantinenkonto umbuchen lassen.«

»Wie sah der Kontostand davor aus?«

»Elf Dollar. Hätte noch eine Woche gereicht oder so.«

»Warum hätte er das Geld umbuchen lassen sollen, wenn er in der Nacht noch ausbrechen wollte?«

Als offensichtlich wurde, dass niemand Tim eine Antwort darauf geben würde, ging die Tür auf und ein junger Gefängniswärter trat ein. »Seht euch mal an, was wir da draußen gerade aus dem Abfallhaufen gezogen haben.« Mit dramatischer Geste ließ er einen Plastikbeutel aufrollen. Darin steckte eine blaue Zahnbürste.

»Lass mal sehen, Newlin.« McGraw legte den Beutel auf den Tisch und die Männer lehnten sich darüber. Der Hartgummistiel der Zahnbürste war messerscharf zugespitzt worden. Gut fünf Zentimeter waren rot verfärbt. Um den Griff hatte jemand Stoffstreifen gewickelt und festgeklebt. Ein Schnürsenkel diente als Aufhänger. Die Bürste selbst war durch die Asche geschwärzt.

»Wo hatte er den Klebstoff her?«, fragte Sasso. »Von Unicor?«

»Imaad hatte einen kleinen Becher für seine Poster. Kaugummi hat er nicht benutzt, weil er Moslem ist und die dürfen aus irgendeinem Grund keinen Kaugummi kauen. Also hat er aus Seife und Wachs seinen eigenen Kleber hergestellt, den er auch an Mitgefangene verkaufte.« Newlin sah Tim und Bear mit einem Anflug von Verlegenheit an und strich sich den sandfarbenen Schnurrbart glatt, den er sich zweifellos stehen ließ, um sein jungenhaftes Gesicht zumindest ein paar Jährchen älter aussehen zu lassen. »Ich arbeite seit sechs Monaten in der J-Einheit.«

Sasso lächelte obenhin. »Lang genug, um zu wissen, wo Sie hingehören, würde ich sagen.«

»Ja, natürlich. Entschuldigung.« Statt eines Büchleins mit den Gewerkschaftsrichtlinien hatte Newlin eine Schachtel Zigaretten in der Brusttasche. An seinem Gürtel hing neben der normalen Ausrüstung auch noch ein Bündel Latexhandschuhe. Wohlinformiert, locker und gut vorbereitet. Und als er von Walkers Zellengenossen sprach, hatte er ihn beim Vornamen genannt. Bear und Tim tauschten rasch einen beeindruckten Blick.

»Hören Sie«, wandte sich Tim an Sasso und McGraw, »wir haben schon genug von Ihrer Zeit in Anspruch genommen. Wenn es …?«

»Cary Newlin.« Der junge Gefängniswärter streckte erst Bear die Hand hin, dann Tim.

»… nichts ausmacht, könnte er uns ja die Aufnahme vorspielen und uns dann zu Jamesons Zelle bringen. Dann müssen wir Sie nicht länger beanspruchen.«

»Ich?« Newlin zuckte mit den Achseln, zum Zeichen, dass er einverstanden war. McGraw senkte den Kopf und hob die Hände, als wollte er ihnen seinen Segen geben. Sasso brachte sie hinaus und lieferte sie in der Kontrollzentrale am anderen Ende des Flurs ab.

Dort saß ein weiteres Team von zombieartigen Gefängniswärtern, die Tims und Bears Eintreten kaum zur Kenntnis nahmen. Mittels einer ganzen Reihe von Bildschirmen wurden hier sämtliche Gebäude des Gefängnisses überwacht. Auf dem Bildschirm, der mit »J« gekennzeichnet war, sah man Minibagger, die Haufen von qualmenden Abfällen wegschaufelten. Wächter liefen am Rand des Szenarios auf und ab, während die Arbeiter den brennenden Müll in Rollcontainer beförderten. Einige vereinzelte Wärter schwenkten Feuerlöscher und besprühten damit eifrig echte oder eingebildete Glutherde, so dass ihnen der Nebel wie in einem Science-Fiction-Film bis zu den Knien waberte. Die scheunentorartige Stahltür war zurückgeschoben worden, um Platz für die Bagger zu machen, während ein Wachmann mit einem M4 die drei Meter breite Öffnung bewachte und die Ausweise der passierenden Arbeiter und Gefängniswärter kontrollierte.

Newlin griff sich eine der drei Kassetten, die Sasso ihnen gegeben hatte, und spulte sie vor. Ein unbeleuchtetes Stück Empore, mit verschwommenen Streifen aufgrund der mittelmäßigen Qualität des Videos. Die Aufnahme war aus allernächster Nähe gemacht worden, die Sicherheitskamera musste direkt über dem Gang angebracht sein.

»Die Chefs sind Ihnen blöd gekommen, oder?«, erkundigte sich Newlin.

»Wie haben Sie das bloß erraten?«

»Weil Sie sich so eifrig auf mich gestürzt haben.« Er zwinkerte Tim und Bear mit einem leichten Nicken zu. »Ich kenn das doch selbst.«

Bear deutete auf die Aktivitäten, die gerade live auf den Videoüberwachungsbildschirmen des J-Blocks zu beobachten waren. »Was suchen die denn immer noch da drin?«

»Na ja, technisch gesehen hat bis jetzt noch kein Gefangener den J-Block verlassen«, erklärte Newlin. »Die einzige Tür nach draußen wurde im gleichen Moment blockiert, als Boss’ Körper auf dem Boden aufgeschlagen war. Wir denken uns, dass Walker vielleicht immer noch in irgendeinem Lüftungsschacht stecken könnte oder so. Obwohl das eher Wunschdenken ist, denn wir haben inzwischen jeden Zentimeter zweimal abgesucht. Er ist buchstäblich verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt, verstehen Sie?«

»Und wie haben Sie die Unruhen so schnell in den Griff bekommen?«

»Das waren keine Unruhen, bloß ein paar Wutanfälle. Wir sind nur auf die mittlere Sicherheitsstufe hochgefahren. Sobald der letzte Stuhl und der Fernseher durch die Luft gesegelt sind, verlieren die Gefangenen die Lust. Außerdem hatten wir gleich unsere gesamte Belegschaft und das DCT alarmiert, unsere Eingreiftruppe für alle Arten von Unruhen. Allein durch die Überzahl nehmen wir ihnen den Wind aus den Segeln. So können wir die Jungs ohne allzu viel Scherereien bewegen, sich wieder in ihre Zellen zu verziehen.«

»Haben Sie heute irgendeine Veränderung an Walkers Verhalten bemerkt?«

Newlin legte eine neue Kassette ein und drückte auf schnellen Vorlauf. »Mhm.«

Die Antwort überraschte Tim und Bear. »Ja?«, hakte Tim nach.

»Ja, allerdings. In der Nacht schlug seine Stimmung plötzlich um. Er war so still – okay, Walker war eigentlich immer still. Aber als er vom Abendessen zurückkam, war er so … ich weiß auch nicht, irgendwie völlig daneben. Wollte auch nicht mehr fernsehen.«

»Ist das vorher noch nie vorgekommen?«, erkundigte sich Tim.

»Nicht dass ich wüsste.«

Tim ließ den Blick über die Reihen der Überwachungsmonitoren schweifen, bis er bei dem Bildschirm mit der Beschriftung »SpS« gelandet war. Eine Reihe Picknicktische, in der Dunkelheit nur schwer auszumachen. »Können wir die Aufnahme vom Abendessen ansehen?«

»Hast du gehört, Earl?«

Einer der Beamten hob lethargisch den Daumen, ohne seinen Blick von den Monitoren zu nehmen.

Newlin drückte auf die Starttaste. Die Zeitanzeige unten rechts begann bei 20:24:32 Uhr. Boss Hahn tauchte auf. Sein Körper war mit einer glänzenden Schweißschicht überzogen, die Muskeln an seinem Oberkörper zeichneten sich über dem Handtuch deutlich ab. Er trat betont mit den Hacken auf und musste wegen seines gewaltigen Umfangs die Arme leicht abspreizen. Dann erschien plötzlich ein Schatten auf dem Bildschirm, und Walker stand vor Boss, den Rücken zur Kamera. Für den Bruchteil einer Sekunde geschah gar nichts, dann hob sich ein Arm, fuhr auf Boss’ Hals nieder, Boss wurde übers Geländer gestoßen und Walker verschwand in die Richtung, aus der er gekommen war. Einen Moment später vibrierte die Kamera leicht in ihrer Halterung – Boss Hahns Körper war unten aufgeschlagen.

Der ganze Überfall hatte sich innerhalb von drei Sekunden abgespielt.

Rasch füllte sich die Empore mit brüllenden Häftlingen, die durcheinanderbrandeten und sich gegenseitig herumschubsten. Innerhalb kürzester Zeit warfen sie Decken und Mikrowellengeräte von den Emporen. Ihre stummen Bewegungen und die unheimliche Beleuchtung verliehen der Szene die Atmosphäre eines düsteren, alten Films.

»Liegt seine Zelle hier runter?« Tim deutete in die Richtung, aus der Jameson auf dem Bildschirm gekommen und in die er wieder verschwunden war.

Newlin nickte. »Gerade eben außerhalb dieses Blickwinkels. Er könnte also in seine Zelle zurückgekehrt sein, genauso gut aber auch weiter über die Empore gelaufen und die Südtreppe runtergerannt sein. Allerdings kann man die Treppe komplett einsehen, und der diensthabende Beamte hätte ihn auf jeden Fall bemerkt.«

»Außer Jameson hat abgewartet, bis der Tumult losbrach, und ist dann abgehauen.«

»Stimmt. Zu der Zeit hatte der Beamte seinen Posten schon verlassen, hätte aber trotzdem die Tür verriegelt.«

»Ist auf den anderen Kassetten irgendwas zu erkennen?«

»Es wird immer nur ein Ausschnitt gefilmt, wie Sie eben gesehen haben. Wir haben in jeder Etage eine Kamera in der Mitte, so wie diese hier, und dann noch die große Kamera«, er zeigte auf den J-Block-Bildschirm, »die nur das Erdgeschoss und die Mitte der ersten Etage filmt. Wir haben schon ein Team drangesetzt, die sehen das alles durch. Bis jetzt haben sie aber noch nichts entdecken können.«

»Spielen wir doch noch mal die Aufnahme des Überfalls ab«, bat Tim. »Sagen Sie mir, was Sie da sehen.«

Boss flog aus dem Erdgeschoss wieder zur Empore und übers Geländer, landete auf seinen Füßen. Das Blut floss wieder in seinen Hals zurück. Er watschelte rückwärts, dann ging er wieder vorwärts, um sich erneut ermorden zu lassen.

»Da war ein echter Experte am Werk«, bemerkte Newlin.

»Allerdings.« In Tims Stimme schwang ein Hauch von Bewunderung mit. »Er hat genau zwischen dem Schädel und dem Kiefergelenk zugestochen, wo das Messer leicht eindringen kann. Nach dem Druck zu urteilen, mit dem das Blut herausschießt, muss er die äußere Halsschlagader durchstochen haben, die geradewegs vom Herzen hier hochläuft. Damit ist schnelles Verbluten garantiert – sieben Sekunden ungefähr. Jameson ist Rechtshänder, liegt also nahe, dass er auf dieser Seite zugestochen hat.«

Newlins Augen wanderten vom Bildschirm zu Tims Gesicht, und man merkte ihm an, dass er sein Gegenüber plötzlich mit ganz neuen Augen sah. »Woher wissen Sie, dass er Rechtshänder ist?«

»Auf Fotos aus seiner Zeit in der Armee ist zu sehen, dass er sich sein Gewehr von rechts nach links umgehängt hat.« Tim tippte auf den Monitor. »Können wir das bitte noch mal ansehen?«

Sie sahen sich den Ausschnitt noch ein paarmal an. Der Strahl, der aus Boss’ durchbohrtem Hals schoss, sah noch spektakulärer aus, wenn man ihn Bild für Bild in Zeitlupe verfolgte. Sie wollten gerade gehen, da sprang Newlin auf einmal aufgeregt von seinem Stuhl auf. »Moment mal. Da. Sehen Sie sich das noch mal genau an.« Als Walker auf Boss zutrat, um ihn übers Geländer zu schubsen, rutschte sein Hemd auf der linken Seite hoch und gab für einen ganz kurzen Moment den Blick auf die Säume mehrerer Unterhemden frei. »Und ich dachte mir doch noch, dass er irgendwie massiger aussieht. Er hat mehrere Schichten an.« Auf Bears verdutzten Blick fügte Newlin erklärend hinzu: »Er hat mehrere Lagen Hemden übereinander angezogen. So kann man sich gegen Angriffe mit dem Messer schützen. Und wenn man selbst jemand abgestochen hat, kann man eines ausziehen und sieht sofort anders aus.«

»Warum sollte er seine Kleidung wechseln?«, zweifelte Bear. »Er weiß doch, dass er gefilmt worden ist.«

»Außerdem war er doch der Angreifer«, fügte Tim hinzu. »Ich bezweifle, dass er Angst hatte, selbst mit dem Messer angegriffen zu werden.«

»Vielleicht hatte er die Hemden schon vorher angezogen«, überlegte Bear.

»Bisschen zu heiß hier, um vier Hemden übereinander zu tragen«, widersprach Newlin.

Bear nickte zustimmend. »Wirklich seltsam.«

Newlin stand auf und ging zur Tür. »Aber nicht halb so seltsam wie seine Zelle.«

5. KAPITEL

Im Gegensatz zu Sasso, der eine Ecke mit einer Drehung auf den Fußballen umrundete, um seinen Schwung nicht zu verlieren, schlenderte Newlin und ließ die Schlüssel dabei um seinen Zeigefinger kreisen. In dem überdachten Durchgang zwischen den zwei Blöcken drehten sich die Überwachungskameras mit, um den Weg der drei Männer zu verfolgen. Sie erreichten Block J und wurden prompt an der Tür aufgehalten.

»Ausweise und Dienstmarken.« Der Wachmann warf einen raschen Blick auf Tims und Bears Ausweise, ohne die Hände vom Schaft seines M4 zu nehmen. »Sie sind die Marshals, oder? Wenn Sie rausfinden, wie der hier abgehauen ist, haben Sie mehr auf dem Kasten als ich.« Er reichte Tim ein elektronisches Clipboard, wie es sonst UPS-Boten benutzen.

Tom musterte die Überschriften – Name, Rang, Zeitpunkt ein, Zeitpunkt aus – , bevor er seine Daten eingab. »Sie führen Buch seit dem Überfall, oder?«

»Niemand hat diese Schwelle überschritten, ohne hier unterschrieben und vor meinem Gewehrlauf vorbeimarschiert zu sein.«

»Können wir uns Ihre Aufzeichnungen kurz ansehen?«

»Sie waren mir alle bekannt«, erwiderte der Wachmann scharf. »Jeder, und zwar namentlich. Und ich schaue jedem ins Gesicht. Es ist völlig ausgeschlossen, dass unser guter Junge sich eine Uniform übergeworfen und an mir vorbeigelaufen sein könnte. Völlig ausgeschlossen.«

»Das ist doch nur ein Grund mehr, uns behilflich zu sein.«