Der Verräter - Anthony Ryan - E-Book

Der Verräter E-Book

Anthony Ryan

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Beschreibung

Es war eine lange Reise für Alwyn Scribe. Als Bastard geboren und als Geächteter aufgewachsen, ist er jetzt ein Ritter und der engste Berater von Lady Evadine Courlain. Gemeinsam haben sie unzählige Schlachten gewonnen und dazu beigetragen, Ordnung in ein zerrüttetes Königreich zu bringen. Evadine Courlain ist schon längst nicht mehr die Frau, die Alwyn einst kannte und für die er durchs Feuer gegangen wäre. Als puritanische Wut zunehmend ihren wohlwollenden Glauben ersetzt, beginnt Alwyn sich zu fragen, was ihre wahren Motive sind und ob er diesen eigentlich noch dienen will. Während sich das Königreich also für eine letzte Schlacht rüstet, kämpft Alwyns Gewissen seinen eigenen Krieg – mit seinem Herzen. Jetzt muss er sich final entscheiden, auf wessen Seite er wirklich steht. Wie wird Alwyn sich entscheiden? »Der Verräter« bildet nach »Der Paria« und »Der Märtyrer« den fulminanten, spannungsgeladenen Abschluss der fesselnden epischen Fantasy-Reihe des New York Times-Bestsellerautors Anthony Ryan.

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EPUB
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Seitenzahl: 936

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Dies ist der Umschlag des Buches »Der Verräter« von Anthony Ryan, Sara Riffel

Anthony Ryan

Der Verräter

Der stählerne Bund 3

Aus dem Englischen von Sara Riffel

Klett-Cotta

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Hobbit Presse

www.hobbitpresse.de

J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH

Rotebühlstraße 77, 70178 Stuttgart

Fragen zur Produktsicherheit: [email protected]

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Traitor: Book Three of the Covenant of Steel« im Verlag Orbit, London

© 2023 by Anthony Ryan

Für die deutsche Ausgabe

© 2025 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte sowie die Nutzung des Werkes für Text und Data Mining i.S.v. § 44b UrhG vorbehalten

Cover: Birgit Gitschier, Augsburg; Illustration: © Federico Musetti

Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-608-98093-6

E-Book ISBN 978-3-608-12392-0

Inhalt

Karten

Was zuvor geschah …

Erster Teil

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Zweiter Teil

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Vierundzwanzigstes Kapitel

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Siebenundzwanzigstes Kapitel

Achtundzwanzigstes Kapitel

Neunundzwanzigstes Kapitel

Dreißigstes Kapitel

Dritter Teil

Einunddreißigstes Kapitel

Zweiunddreißigstes Kapitel

Dreiunddreißigstes Kapitel

Vierunddreißigstes Kapitel

Fünfunddreißigstes Kapitel

Sechsunddreißigstes Kapitel

Siebenunddreißigstes Kapitel

Achtunddreißigstes Kapitel

Neununddreißigstes Kapitel

Vierzigstes Kapitel

Einundvierzigstes Kapitel

Zweiundvierzigstes Kapitel

Dreiundvierzigstes Kapitel

Danksagung

Dramatis Personae

Gewidmet der Erinnerung an David Gemmell, der mich gelehrt hat, dass die Reise des Helden immer mehr Tragödie als Triumph ist.

Karten

Was zuvor geschah …

Schreiben an den Rat der Eminenzen des östlichen reformierten Bundes der Märtyrer – Notiz des Archivars: Fragment. Datum und Autor unbekannt, vermutlich jedoch einige Jahre nach dem zuerst entdeckten Fragment verfasst.

In meinen früheren Schreiben habe ich Euch als gesegnete Brüder des Rates angesprochen – das werde ich nun nicht mehr tun. Inzwischen ist mir klar geworden, dass Ihr nicht gesegnet seid, sondern verflucht. Diese Wahrheit verdanke ich dem Studium des Testaments von Alwyn Scribe. Die Wahrheit, wegen derer Ihr Meuchelmörder ausgesandt habt, um mich zu töten. Nun bin ich ein heimatloser, umherziehender Bettler, reich nur an unerwünschter Wahrheit. Und da dies die einzige Waffe ist, die mir verbleibt, werde ich sie auch einsetzen.

Zuvor habe ich berichtet, wie Alwyn Scribe von einem Waisenjungen aus einem Hurenhaus zum Vertrauten und Leutnant von Märtyrerin Evadine Courlain aufstieg. Es war ein langer Weg, gezeichnet von Verrat, Gewalt und zahllosen Geheimnissen – hier die zwei wichtigsten: Zum einen war König Tomas Algathinet der uneheliche Sohn seines Kämpen Sir Ehlbert Bauldry und saß daher zu Unrecht auf dem Thron von Albermaine. Und zum anderen war die angeblich himmlische Wiederauferstehung von Evadine Courlain in Wahrheit nicht das Werk der Seraphilen, sondern verdankte sich dem geheimnisvollen Wirken einer caerithischen Mystikerin namens Sackhexe. Des Weiteren beschrieb ich, wie die Märtyrerin von einer Allianz aus Klerikern des Bundes und albermainischen Adligen entführt und in einem Schauprozess angeklagt wurde. Das Eingreifen Alwyn Scribes und sein Duell mit Sir Althus Levalle führten zu Evadines Befreiung, unterstützt vom Angriff der Kompanie des Bundes und einer großen Menge Knechte, die der Märtyrerin treu ergeben waren. Und so flohen sie in den Shavine und nahmen den schwer verletzten Alwyn mit.

Alwyn erholte sich nur langsam. Die Verletzung, die Sir Althus ihm beigebracht hatte, verursachte ihm ständig wiederkehrende quälende Kopfschmerzen. Im Schlaf wurde er von Albträumen heimgesucht, in denen ihm sein ehemaliger Bekannter, der verdorbene und nicht zu Unrecht getötete Erchel erschien und merkwürdig genaue Vorhersagen zum zukünftigen Geschehen traf.

Die kurze Zeit des Versteckens im Wald endete jedoch mit der Ankunft von Evadines Vater Altheric Courlain, der eine Einladung zu Verhandlungen mit König Tomas überbrachte. Trotz einiger Bedenken riet Alwyn der Märtyrerin, dem Treffen zuzustimmen, und die Kompanie des Bundes machte sich auf den Weg in die Kathedralenstadt Athiltor. Unterwegs strömten zahlreiche Gläubige herbei, die die Zahl derer, die sich bereits im Wald unter Evadines Banner versammelt hatten, stark erhöhte. Der Ausgang der Verhandlungen in Athiltor ist gut dokumentiert und erfordert daher nur eine kurze Zusammenfassung: Nachdem Evadine König Tomas die Treue geschworen hatte, wurde sie offiziell als Märtyrerin anerkannt.

Nunmehr durch ihren Schwur an die Krone gebunden, sah sich Evadine gezwungen, in König Tomas’ Auftrag in das von Unruhen heimgesuchte Herzogtum Alundia zu reisen. Dort sollte sie die Ruine von Burg Walvern besetzen, um die Macht von König und Bund zu demonstrieren. Vor ihrer Abreise besuchte Alwyn die Bibliothek des Bundes, um mehr über Alundia in Erfahrung zu bringen. Dort begegnete er Aszendent Arnabus wieder, dem Kleriker, der den Schauprozess gegen die Märtyrerin angeführt hatte. Die rätselhaften Anspielungen des Klerikers auf die Sackhexe weckten Alwyns Argwohn, und er versuchte, Arnabus gewaltsam zum Reden zu bringen, wurde jedoch von Prinzessin Leannor, der Schwester von König Tomas, unterbrochen. Während dieses Treffens kam Alwyn zu dem Schluss, dass in erster Linie die Prinzessin und ihr Netzwerk aus Spitzeln dafür verantwortlich waren, dass sich ihr Bruder weiter auf dem Thron halten konnte.

Auf der Reise nach Alundia wurde Alwyn in seinen Träumen wiederholt von dem widerwärtigen Erchel heimgesucht. So weckte der lästige Geist ihn sogar einmal gerade rechtzeitig, damit Alwyn sich und Evadine vor dem Angriff von Meuchelmördern retten konnte, deren Auftraggeber jedoch im Dunkeln blieb. Nach ihrer Ankunft an der alundischen Grenze begleitete Alwyn die Märtyrerin zu einem recht angespannten Treffen mit Herzogin Celynne Cohlsair, der Gattin von Herzog Oberharth, und Roulgarth Cohlsair, dem Bruder des Herzogs und Oberbefehlshaber seines Heeres. Offensichtlich waren sie im Herzogtum nicht willkommen.

Unerschrocken führte Evadine die Kompanie des Bundes dennoch zur Burg Walvern. Die Festung befand sich in schlechtem baulichen Zustand, und Evadine ordnete an, sie wiederaufzubauen und Patrouillen ins Umland zu schicken. Alwyn und Wilhum Dornmahl, ein ehemaliger Adliger und Kindheitsfreund von Evadine, der jetzt der Kommandant ihrer Berittenen Garde war, entdeckten einen niedergebrannten Schrein und einige Pilger, die von fanatischen alundischen Ketzern getötet worden waren. Sie verfolgten die Missetäter, nahmen einige von ihnen fest und töteten die übrigen. Dabei befreiten sie auch die einzige Überlebende des Pilgermassakers, eine gewisse Mistress Juhlina, die Alwyn später nur noch die Witwe nennt.

Kurz darauf traf Roulgarth Cohlsair mit einem stattlichen Heer an der Burg ein und forderte die Herausgabe der Gefangenen. Die darauffolgenden Handlungen der Märtyrerin hatten Alwyn zufolge das Ziel, die schwelende Krise in Alundia zum Überkochen zu bringen: Sie erlaubte der rachsüchtigen Witwe, die Gefangenen hinzurichten und sie an der Burgmauer zu erhängen, worauf Roulgarth sich gezwungen sah, entweder die Burg zu belagern oder sich der Macht der Krone zu beugen.

Der folgende Kampf um die Herrschaft über Burg Walvern wird von Alwyn als zermürbendes und langwieriges Unterfangen beschrieben, welches das Heer des Bundes nur deshalb überstand, weil König Tomas versprochen hatte, der bedrängten Märtyrerin zu Hilfe zu kommen. Doch erst als Herzog Oberharth persönlich mit seiner kompletten Armee eintraf, ließ sich das Heer der Krone unter der Führung von Prinzessin Leannor blicken. Der Herzog wurde im Kampf von Evadine erschlagen und die alundischen Streitkräfte, erschöpft von der Belagerung, danach schnell besiegt.

Ganz Alundia unterstand nun der Herrschaft der Algathinets, bis auf die Hafenstadt Hochsahl, wo Herzogin Celynne noch die Macht hatte. Gramerfüllt und, wie es heißt, dem Wahnsinn verfallen, lehnte die Herzogin alle Angebote zu Verhandlungen ab und zwang Leannor damit, einen Angriff zu befehlen. Alwyn beschreibt, wie er seinen militärischen Ruf weiter festigte, indem er den Hauptangriff auf die Mauerlücke anführte. Als er mit einer kleinen Vorhut zur Festung des Herzogs vorrückte, musste er zu seinem Entsetzen jedoch feststellen, dass Celynne und ihr gesamter Haushalt Gift geschluckt hatten, um einer Gefangennahme zu entgehen. Einzige Überlebende war die kleine Ducinda Cohlsair, die von Alwyn gerettet wurde, der sie schnell zu Betbruder Delric brachte, dem Heiler der Kompanie des Bundes.

Nachdem Hochsahl gefallen war, wurde Ducinda an den Hof von König Tomas geschickt, um dort mit Prinzessin Leannors Sohn Alfric verlobt zu werden. Die Prinzessin befahl Alwyn und Sir Ehlbert Bauldry, Roulgarth Cohlsair zur Strecke zu bringen, der jetzt eine schwindende Bande alundischer Rebellen anführte. Unter Einsatz seiner Fähigkeiten als Gesetzloser spürte Alwyn einen ehemaligen Rebellen auf, einen von Schuldgefühlen geplagten Halunken, der sich, nachdem ihm Reichtümer versprochen worden waren, dazu bereit erklärte, sie zu Roulgarth zu bringen. Mithilfe des Verräters folgten sie Roulgarth und dessen Neffen Merick Albrisend ins Gebirge an der Grenze zum caerithischen Reich.

Es kam zu einer Auseinandersetzung zwischen Alwyn und dem rebellischen Roulgarth. Bevor die beiden jedoch miteinander kämpfen konnten, gab der Verräter – von seinem eigenen Treuebruch offenbar in den Wahnsinn getrieben – einen lauten Schrei von sich, sodass sich vom Berg über ihnen eine gewaltige Lawine aus Schnee und Eis löste. Alwyn wurde von der Lawine fortgetragen und fand sich verletzt, aber überraschenderweise lebendig in caerithischem Gebiet wieder.

Während er bewusstlos unter einem Schneehaufen lag, suchte ihn erneut der Traumgeist Erchel heim, der ihm diesmal eine Vision des bevorstehenden Todes von König Tomas zeigte.

Nachdem Alwyn von einigen Caerithern eher widerwillig gerettet wurde, beschreibt er als Nächstes, wie ihn seine Bekanntschaft mit der Sackhexe davor bewahrte, getötet zu werden. Bei den Caerithern unter dem Namen Doenlisch bekannt, war sie offensichtlich eine bedeutende Persönlichkeit, der dieses Volk bedingungslos gehorchte. Roulgarth und Merick, die ebenfalls den Caerithern in die Hände gefallen waren, wurden von Alwyn vor dem Tod bewahrt. Während seiner Zeit bei den Caerithern freundete Alwyn sich mit einer Jägerin namens Lilat an, die ihm die alten Ruinen einer einstmals mächtigen Zivilisation zeigte. Nach einer Prügelei mit dem rachsüchtigen Roulgarth bat Alwyn den verbannten Adligen, ihn im Schwertkampf zu unterweisen, mit dem Hinweis, dass er ihm dann jeden Tag eine Tracht Prügel verpassen konnte.

Alwyns Zeit bei den Caerithern endete mit der Ankunft eines Mystikers namens der Eithlisch, eine körperlich beeindruckende Gestalt, die beinahe ebenso ehrfurchtgebietend war wie die Doenlisch. Der Eithlisch forderte Alwyn dazu auf, ihm ins Innere eines nahe gelegenen Berges zu folgen, einer weitläufigen Höhle, die mit uralten Knochen angefüllt war. Hier stellt Alwyns Erzählung den frommen Gelehrten vor die größten Schwierigkeiten, denn er beschreibt ein Ereignis, das sich nur als rätselhaft und unnatürlich bezeichnen lässt.

Alwyn behauptet, er hätte den alten Schädel einer Krähe berührt und sei daraufhin irgendwie in ein längst vergangenes Zeitalter versetzt worden. Er fand sich in dem Turm wieder, den Lilat ihm gezeigt hatte, und sah die Stadt vor sich, die nun keine Ruine mehr war. Dort unterhielt er sich mit einem Mann, der sich selbst als Historiker bezeichnete. Alwyn hatte den Eindruck, ihm schon einmal begegnet zu sein, wenn er sich auch nicht daran erinnern konnte. Er begriff, dass es sein zukünftiges Ich war, das mit dem Historiker gesprochen hatte. Dieser erwies sich als Autor des caerithischen Buches, das die Sackhexe Alwyn einst anvertraut hatte. Bevor die seltsame Vision endete, wurde Alwyn noch Zeuge, wie die Stadt von den eigenen Bewohnern zerstört wurde, und er erkannte, dass dies der Beginn der ersten großen Plage war.

Bei seinem Aufwachen fand Alwyn sich allein mit Lilat im Gebirge wieder. Sie teilte ihm mit, dass er zu seinem Volk zurückgeschickt worden war. Sie selbst hingegen sollte die Doenlisch finden. Roulgarth und Merick durften bei den Caerithern bleiben, der Eithlisch hatte dem alundischen Adligen den Titel Vahlisch, Schwertmeister, verliehen.

Gemeinsam wanderten Alwyn und Lilat durch ein verwüstetes Land zur Burg Walvern. Der Krieg war in Alwyns Abwesenheit noch hässlicher geworden, nicht zuletzt wegen der Gräueltaten, die im Namen der Märtyrerin begangen worden waren. Kurz darauf wurde Alwyn zum Kommandanten von Evadines Kompanie der Späher befördert und damit de facto zum Spitzel der Märtyrerin – eine Rolle, die ihm wie auf den Leib geschneidert war.

Nicht lange danach überbrachte ein königlicher Bote die Nachricht vom Wiederaufflammen des Prätendentenaufstands. Magnis Lochlain, der falsche Anwärter auf den Thron von Albermaine, hatte sich erneut erhoben und mit dem Herzog von Althienne ein Bündnis geschlossen. Als Vater der toten Herzogin Celynne hatte Herzog Guhlton Pendroke der Dynastie der Algathinets die Treue aufgekündigt, um Rache zu nehmen und seine Enkelin zurückzuholen.

Evadine, die sich durch ihren Schwur an König Tomas gebunden fühlte, lehnte Alwyns Ratschlag ab, einfach abzuwarten, wie die Unruhen enden würden, und dann mit dem jeweiligen Sieger Frieden zu schließen. Stattdessen marschierte das Heer des Bundes in Richtung Hauptstadt und sammelte unterwegs weitere Rekruten ein. Jedem, der sich mit dem Aufstieg der Märtyrerin beschäftigt hat, ist die nachfolgende Reise wohlbekannt. Sie erhielt den Namen »Opfermarsch« wegen der großen Zahl an einfachen Leuten, die unterwegs an Erschöpfung oder Hunger starben. Trotz dieser Verluste traf die Menge der Gläubigen dennoch mit dem Heer der Krone unter Führung von Prinzessin Leannor zusammen.

Zu diesem Zeitpunkt sandte der Prätendent eine Botin – die edle Desmena Lehville –, um der Prinzessin mitzuteilen, dass König Tomas bei einem Scharmützel gefangen genommen wurde. Dank Erchels Auftauchen in Alwyns Albträumen wusste er, dass die Behauptung falsch war. Ihm war klar, dass Evadines künftige Sicherheit von einem raschen Ende der Feindseligkeiten abhing. Er schlug deshalb Prinzessin Leannor vor, mit dem Prätendenten zu verhandeln. Unter dem Vorwand, sich seine Bedingungen anhören zu wollen, sollte Alwyn dabei von seiner Fähigkeit Gebrauch machen, Lügen zu erkennen.

Die beiden Heere trafen in einem flachen Tal nördlich der Hauptstadt Couravel aufeinander. Zu Alwyns Überraschung stellte sich bei den nachfolgenden Verhandlungen heraus, dass König Tomas nicht durch die Hand des Prätendenten, sondern durch Herzog Guhlton getötet worden war. Aus Wut über diese Enthüllung zog Prinzessin Leannor einen Dolch und erstach den Herzog, worauf die Schlacht begann. Da Alwyn das Heer des Bundes zuvor schon geschickt in Stellung gebracht hatte, konnte der Prätendent während des Kampfes festgenommen und seine Horde nach einem blutigen Gemetzel endgültig besiegt werden. Die Schlacht im Tal bildete den Schlusspunkt des Prätendentenkriegs.

Nach dem Sieg bat der eingekerkerte Prätendent darum, Alwyn vor seiner Hinrichtung noch sein Testament zu diktieren. Während ihrer gemeinsamen Zeit erfuhr Alwyn, dass Magnis Lochlain in Wahrheit der uneheliche Sohn von Arthin war, dem Bruder von König Tomas, der gestorben war, bevor er den Thron hatte besteigen können. Nachdem Alwyn Lochlains grausiges Ende mitangesehen hatte, gab er sich eine Zeit lang verbittert der Trunksucht hin, bis seine Spitzel ihm die Nachricht überbrachten, dass der Rat der Eminenzen eine eigene Kompanie aufstellte, um gegen die Märtyrerin vorzugehen.

Evadine gab Alwyn widerstrebend die Erlaubnis, die Dunkelfeste im Shavine auszukundschaften, wo sich die Kompanie aufhalten sollte. Bei seiner Ankunft wurden Alwyn, die Witwe, Holzmann und Tiler jedoch sofort gefangen genommen. Im Laufe seiner Gefangenschaft in der Burgruine traf Alwyn einen gewissen Danick Thessil wieder, einen Gesetzlosen, der eigentlich beim Massaker von Moosmühle ums Leben gekommen sein sollte. Er war nun der Kommandant der wachsenden Armee des Rates der Eminenzen. Auch der rätselhafte Aszendent Arnabus tauchte wieder auf, zusammen mit Durehl Vearist. Gemeinsam wollten sie Alwyn zwingen zu gestehen, wie sich die Wiederauferstehung der Märtyrerin in Wahrheit zugetragen hatte.

Nachdem Arnabus Alwyn gefoltert hatte, kehrte er später noch einmal allein in seine Zelle zurück und gab sich als uraltes, geheimnisvolles Wesen zu erkennen, das früher mit der Sackhexe im Bunde gewesen war. Jahrelang hatte er versucht, ihre verlorene Gunst zurückzugewinnen. Alwyn, der sich bereits mit seiner bevorstehenden Hinrichtung abgefunden hatte, wurde schließlich von Lilat befreit. Er hatte sie vor der Schlacht im Tal weggeschickt, sie war jedoch seinen Spuren zur Dunkelfeste gefolgt und hatte ihre rätselhafte Gabe, Zugänge zu alten Gemäuern zu finden, dazu benutzt, um ihn zu befreien. Gemeinsam retteten sie die Witwe und die anderen und versuchten, aus der Festung zu fliehen.

In die Enge gedrängt, stürzten sich Alwyns Gefährten in den Kampf, bei dem Holzmann jedoch getötet wurde. Kurz darauf trafen Evadine, Wilhum und die Berittene Garde ein, um die Soldaten des Rates in die Flucht zu schlagen und Alwyn und seine Begleiter zu retten. Alwyn folgte Arnabus in den Wald, stieß dort jedoch auf Durehl Vearist. Nur mit Mühe gelang es ihm, seinen rachsüchtigen Zorn zu unterdrücken und den Kleriker zu verschonen. Evadine zeigte dagegen keine solche Zurückhaltung.

Darin, meine verfluchten Brüder, liegt das, was Ihr die schlimmste Blasphemie nennen würdet. Kurz gesagt behauptet Alwyn Scribe, dass Durehl Vearist nicht, wie es in der Doktrin des reformierten Bundes heißt, durch seine Hand gestorben ist. Nein, er wurde ermordet, und es war die Hand der Märtyrerin, die das Messer hielt. Darüber hinaus besiegelte Alwyn die eigene Verdammnis, indem er sich mit Evadine Courlain lustvoll vereinte, während sie beide noch mit dem Blut des getöteten Klerikers besudelt waren. Selbst der faulste Geschichtsstudent weiß, dass sich alles, was danach kam, auf diese Sünde zurückführen lässt.

Natürlich habe ich noch mehr zu sagen und Eurem falschen Bund noch mehr Wahrheiten entgegenzuschleudern. Es ist meine sehnlichste Hoffnung, dass diese Wahrheiten Euren Untergang bewirken werden, verfluchte Brüder. Und weshalb Ihr ihn verdient habt, werde ich jetzt mit Freuden in allen Einzelheiten schildern …

Erster Teil

•••

Schwesterköniginnen nennt Ihr Euch, aber der Titel ist hohl. Die Seraphilen haben mir enthüllt, dass Eure Macht auf Täuschung beruht. Eure Missherrschaft gründet allein auf den Legenden Eurer sogenannten Götter und wird durch bloße Unterdrückung aufrechterhalten.

Lügnerinnen nenne ich Euch.

Diebinnen nenne ich Euch.

Mörderinnen nenne ich Euch.

Falsche Königinnen seid Ihr, während ich durch das Wirken des Bundes die einzig wahre Monarchin in einer Welt der Tyrannen bin. Ihr habt um meine Antwort gebeten. Hier habt Ihr sie.

Auszug aus Märtyrerin Evadines Epistel an die Schwesterköniginnen von Ascarlia

Erstes Kapitel

Was weißt du über die Maleciten, Alwyn?

Worte trieben durch den Dunst der Verwirrung, den die Sinneslust in mir hinterlassen hatte. Meine Brust, klebrig von Schweiß und mit Pflanzenresten vom Waldboden übersät, hob und senkte sich im Gleichtakt mit Evadines, die nackt und ebenso schmutzig war. Sie stöhnte leise, als ich mich regte. Ihre dunklen Locken streiften meine blinzelnden Augen, während ich zunehmend beunruhigt meine Umgebung betrachtete. Ein Dutzend Schritt entfernt lag Durehl Vearists Leichnam inmitten der Wurzeln einer alten Eiche. Seine halb geschlossenen Augen waren trübe und blicklos, aus dem tiefen Schnitt an seinem Hals floss kein Blut mehr. Evadines Werk, erinnerte ich mich. Der Mord der Märtyrerin … Oder die erste Hinrichtung der selbst gekrönten Königin.

Was weißt du über die Maleciten, Alwyn? Wieder hörte ich im Geist die Frage, die Sihlda mir vor vielen Jahren gestellt hatte. Es war ihre Stimme, ihr eindringlicher Tonfall, der eher Wissen vermitteln als aus einem herausholen wollte. Ich konnte mich noch an den Tag erinnern, als sie mich das gefragt hatte. Es war ganz am Anfang meiner Zeit in den Erzminen gewesen. Damals hatte sie gerade erst angefangen, mich zu unterrichten. Meine Versuche, die Buchstaben abzuschreiben, die sie mir zeigte, waren noch peinlich unbeholfen gewesen. Und ihre vielen Fragen enthüllten, wie beschämend unwissend ich, der junge Mann, der sich für so weltgewandt hielt, in Wirklichkeit war. Allerdings hatte sie mich damit am Haken. Das Versprechen dessen, was sie mir zu bieten hatte, war zu verlockend. Als sie sich nach den Maleciten erkundigte, antwortete ich deshalb sofort.

Sie sind die Quelle des Bösen auf der Welt, sagte ich. Diese Tatsache war allen, die mit dem Glauben an den Bund aufgewachsen waren, wohlbekannt – wenn ich auch selbst kaum gläubig war. Sie sind das Böse, und die Seraphilen sind das Gute.

So steht es in den Schriftrollen. Sihlda nickte zustimmend, aber wie immer endete ihre Lektion nicht mit einer Frage und einer Antwort. Aber hast du die Maleciten je gesehen? Oder ihre Stimmen gehört?

Natürlich hatte ich das nicht. Das hatte niemand. Selbst der fanatische Stallknecht, der gläubigste unter den Gesetzlosen, hatte nie behauptet, die Maleciten selbst gesehen zu haben, obwohl er zu meinem Leidwesen ständig über ihre Niedertracht geschimpft hatte. So läuft das nicht, erwiderte ich. Sie erscheinen nicht einfach, sie … Mein ungebildetes jüngeres Ich suchte nach den passenden Worten. Sie beeinflussen die Menschen, verschaffen sich Zutritt zu ihren Seelen.

Sie verschaffen sich Zutritt?, fragte Sihlda, und das leichte Zucken ihrer Mundwinkel und die gehobenen Brauen teilten mir mit, dass wir den Punkt erreicht hatten, auf den sie hinauswollte. Oder werden sie eingeladen?

Evadine stöhnte wieder. Es klang jetzt fragend. Sie zuckte zusammen und erstarrte neben mir. Ihre Augen weiteten sich vor Überraschung, als sie in meine schaute. Einen Moment lang wirkte ihr Blick anklagend. Ihr Stirnrunzeln und das Zusammenpressen der Lippen hatten sogar etwas Vorwurfsvolles an sich. Doch der Ausdruck verschwand sofort wieder, und an seine Stelle trat ein träges Lächeln. Dann legte sie eine Wange auf meine Brust. Als ich ihre Haut auf meiner spürte, warm, weich und wundervoll, regte sich erneut Lust in mir und ebenso beim Anblick ihrer schlanken Muskeln, die mit Erde und Blättern beschmiert waren. Wie lange hatten wir so eng umschlungen auf dem Boden gelegen?

Ich versuchte, mich an die Einzelheiten dessen zu erinnern, was geschehen war, stellte jedoch fest, dass alles ein traumähnlicher Wirbel aus entfesselter Leidenschaft und Verwirrung war. Ich würde die Tatsache, dass ich es – noch über und über mit Blut beschmiert – neben der Leiche eines ermordeten Klerikers wie ein wildes Tier getrieben hatte, gern dem Einfluss einer überirdischen Macht oder vorübergehendem Wahnsinn zuschreiben. Inzwischen wisst ihr jedoch sicher, verehrte Leser und Leserinnen, dass ich euch niemals anlügen würde. Die hässliche, ungeschönte Wahrheit ist, dass die Märtyrerin Evadine Courlain und ich, blutbesudelt, wie wir waren, uns freiwillig vereinigt hatten, und ich werde mich vor der Verantwortung für all das, was danach kam, nicht drücken, indem ich etwas anderes behaupte.

»Wir … sollten uns anziehen«, sagte ich, obwohl ich es nicht wollte. Sie zu spüren, war wirkmächtiger als jedes Rauschmittel.

»Ja«, stimmte sie zu, drehte ihren Kopf in eine bequemere Lage und strich mit den Fingern über mein Gesicht. »Wir sollten …«

Die Maleciten. Eine andere Stimme, die eine andere Frage stellte, diesmal unausgesprochen. Eine Stimme, vor der ich zurückgeschreckt war, während ich mir selbst versichert hatte, dass sie offensichtlich log. Ich erinnerte mich, wie ich den Mann anfangs ausgelacht hatte, dann jedoch verstummt war, als ich seine ernste Miene sah. Ich hatte gerade die Erzählung beendet, um die er mich gebeten hatte, und die Ereignisse meines Lebens bis zum Zeitpunkt unseres seltsamen Zusammentreffens geschildert. Schließlich hatte ich den dringenden Wunsch geäußert, an Evadines Seite zurückzukehren.

Trotz allem?, fragte er, und in seiner Miene spiegelten sich Anklage und Verwirrung. Obwohl du weißt, was sie ist?

Ihre Mission ist komplex, das ist wahr, begann ich, doch er schüttelte ungeduldig den Kopf.

Nein, das meine ich nicht. Er beugte sich vor und riss dann begreifend die Augen auf, als er meine Züge betrachtete. Du weißt es noch nicht, murmelte er. Natürlich.

Was weiß ich nicht?, fragte ich. Der Tumult aus wütenden und wahnsinnigen Stimmen draußen kam immer näher. Unsere Zeit war gezählt.

Was du mir erzählt hast, sagte er und schloss dann seufzend die Augen. Was du mir erzählen wirst über Evadines wahre Natur.

Ich starrte ihn an, verwirrt, aber auch ängstlich. Ich wollte nicht, dass er weitersprach, doch er tat es trotzdem. Evadine, sagte er, dient den Maleciten.

Der ferne, aber unverkennbare Klang von Hörnern war es, der Evadine nun aufstehen ließ, wenn sie auch ärgerlich knurrte. Ein Jagdhorn, erkannte ich. Aber wer jagt wen?

»Ich frage mich, wo Ulstan hin ist.« Seufzend schaute sie sich nach ihrem Schlachtross um. Als sie es ein Dutzend Schritt entfernt an einem Wacholderbusch knabbern sah, kam sie auf die Beine und wischte sich Blätter und Erde von den nackten Rippen. Der Anblick ihrer blassen Haut, die an manchen Stellen gerötet war, rief erneut ein Aufwallen von Lust in mir hervor – auch wenn das unklug war. Ich zwang mich, den Blick abzuwenden. Leider fiel er sogleich auf das bleiche, schlaffe Gesicht von Durehl Vearist.

Oberster Kleriker des Reiches. Lauteste Stimme im Rat der Eminenzen, ermordet von einer Märtyrerin, deren Legende auf einer Lüge beruht …

»Alwyn.« Ich schaute hoch und begegnete Evadines ungeduldigem Blick. »Zieh dich an«, fügte sie hinzu und zog sich ihr schwarzes Baumwollhemd über den Kopf.

Wieder ertönte das Jagdhorn, näher diesmal, und ich beeilte mich, meine Sachen anzuziehen. Zum Glück war das schnell erledigt, da mir nach meiner jüngsten Gefangenschaft in der Dunkelfeste und meiner Flucht von dort nur noch Hose, Hemd und Stiefel verblieben waren und darüber hinaus ein Schwertgürtel und verschiedene gestohlene Waffen. Evadine war in voller Rüstung hergekommen und benötigte meine Hilfe, um sie wieder anzulegen, bevor das Huftrommeln herannahender Pferde durch den Wald hallte. Während ich ihr die letzte Beinschiene anlegte, fragte ich mich, wie das Ausziehen so schnell hatte gehen können.

Als ich durch die Bäume einen Blick auf ein Pferd mit Reiter erhaschte, zog ich mein gestohlenes Falchion. In der Feste hatten sich siebzig oder mehr Soldaten der Armee des Rates aufgehalten, von denen ein paar sicherlich Evadines Angriff entkommen waren. Das Schimmern einer vertrauten blau lackierten Rüstung ließ mich jedoch die Waffe senken.

»Wil!«, rief Evadine und hob die Hand zum Gruß. Der Hauptmann der Berittenen Kompanie des Bundes zügelte sein Pferd, gefolgt von sechs weiteren Reitern. Als sie sich uns näherten, fiel mein Blick erneut auf den ermordeten Vearist.

»Ein Gesetzesbrecher«, sagte Evadine. Ich drehte mich um und sah, dass sie mich mit ernstem Blick anschaute. »Gesetze, die von Bund und Krone erlassen wurden. Er hat den Tod verdient.«

»Ich weiß«, erwiderte ich leise, während Wilhum ein Stück entfernt stehen blieb und absaß. »Aber dennoch, erlaube bitte deinem Schreiber, die Wahrheit ein wenig zu verdrehen. Sie könnte mehr schaden als nützen.«

Ihre Miene wirkte verärgert – der Ausdruck einer Frau, die sich ihrer Überzeugungen sicher war, aber dennoch zu einer Lüge gezwungen wurde. Er war gleich wieder verschwunden, aber mir ist er als Evadine Courlains letztes Zugeständnis an die Vernunft in Erinnerung geblieben. Bald würde die Aszendentenkönigin nicht mehr feige ihre Verbrechen verbergen, die ihrer Ansicht nach keine waren.

»Also gut«, murmelte sie. »Dann verdreh sie von mir aus, mein Geliebter.«

»Evie.« Wilhum zog sich den Helm vom Kopf. Der Atem stand ihm dampfend vorm Mund, und sein besorgter Blick glitt über Evadines schmutziges Gesicht und ihre Rüstung hinweg. »Bist du verletzt?«

»Nicht ein Kratzer«, versicherte sie ihm.

»Mir geht’s auch gut«, sagte ich. »Allerdings habe ich durchaus ein paar Kratzer davongetragen.«

Wilhum musterte mich belustigt und schüttelte den Kopf. »Ich habe ihr gesagt, dass du dich auch ohne unsere Hilfe aus einer Falle herauswinden kannst.« Seine Belustigung schwand, als sein Blick auf die Leiche von Durehl Vearist fiel. Obwohl er schon lange an Evadines Seite war, war er nie übermäßig gläubig gewesen. Nun jedoch erbleichte selbst er bei dem Anblick, der sich ihm bot. »Ist das …?«

»Ja«, sagte ich. »Seine Eminenz Durehl Vearist. Er und ich wurden auf der Dunkelfeste gefangen gehalten. Aszendent Arnabus, der Halunke, der den Schauprozess auf Burg Ambris durchgeführt hat, hatte ihn in die Feste gelockt. Offenbar hatte Arnabus schon seit Jahren geplant, die Herrschaft über den Bund zu übernehmen.« Ich seufzte bedauernd und ging neben Durehl in die Hocke. »Er erzählte mir, Arnabus hätte ihm eingeflüstert, die Märtyrerin sei gefährlich. Außerdem hat er den Rat überzeugt, ein eigenes Heer aufzustellen. Erst als der arme alte Kerl gefangen genommen wurde, hat er seinen Fehler erkannt. Bei unserer Flucht sagte ich ihm, er solle in den Wald laufen, damit ich ihn später hier aufspüren kann. Anscheinend haben ihn Arnabus oder Danick Thessil vor uns entdeckt.«

»Danick Thessil?«, fragte Evadine.

»Der Kommandant der Armee des Rates. Ein ehemaliger Soldat und Gesetzloser, von dem ich glaubte, er sei in Moosmühle ums Leben gekommen. Allerdings nehme ich an, dass er heute anders heißt.«

»Ein Gesetzloser wird in diesem Wald viele Verstecke kennen«, gab Wilhum zu bedenken.

»Er wird sich nicht verstecken«, sagte ich. »Er und Arnabus werden auf dem schnellsten Weg nach Athiltor zurückkehren, um dort so viele Soldaten wie möglich zu sammeln. Wir müssen uns auf ein Dekret des Rates gefasst machen, in dem die Gesegnete als Ketzerin verurteilt wird.« Ich stand auf und sah Evadine mit einem entschuldigenden Stirnrunzeln an. »Ich weiß, du wolltest das vermeiden, aber der Bund der Märtyrer wird auseinanderbrechen. Eine Spaltung der Gläubigen steht uns bevor.«

»Die Gesegnete genießt die Liebe und Hingabe des einfachen Volkes und der Gläubigen«, sagte Wilhum.

»Nicht von allen. Der Bund in seiner derzeitigen Form besteht schon viele Jahrhunderte. Generationenlang hat er den Menschen Trost gespendet. Das wird nicht über Nacht einfach verschwinden.« Ich richtete den Blick auf Evadine. »Gebt Euch keinen Illusionen hin, Gesegnete. Wir werden wieder Krieg führen müssen.«

»Au! Verfff…!« Tiler biss die Zähne zusammen, während Ayin die Nadel durch die Ränder seiner tiefen Schnittwunde stach. Der Spitzel mit dem schmalen Gesicht zitterte vor Schmerz. Offensichtlich musste er ein paar deftige Flüche unterdrücken. Ayins Ruf war unter den Veteranen des Bundes wohlbekannt, und die meisten waren klug genug, in ihrer Gegenwart ihre Zunge im Zaum zu halten.

»Hör auf zu quieken, Schweinchen«, schimpfte sie und zog geschickt den Faden durch die Wunde.

»Du hast Glück gehabt«, sagte ich zu Tiler, während ich seine Wunde betrachtete: ein zehn Zentimeter langer Schnitt, der sich vom Kinn bis zum Hals hinzog. »Ein Stück tiefer, und du würdest bei denen dort drüben liegen.«

Ich nickte zu den aufgestapelten Toten. Es waren hauptsächlich Soldaten aus der Armee des Rates, mit nur drei Ausnahmen: zwei von Wilhums Reitern, die im Gewühl gestorben waren, und eine massige Gestalt ohne Rüstung. Neben diesem Leichnam kauerte die Witwe. Sie hatte es auf sich genommen, Liahm Holzmann für das Begräbnis vorzubereiten, hatte ihm das Gesicht und die Hände gewaschen und sie auf seiner Brust zusammengelegt. Ich hatte nicht gewusst, dass die beiden Freunde gewesen waren, eigentlich konnte ich mich nicht entsinnen, dass die Witwe je viel mit dem ehemaligen Holzfäller geredet hatte. Aber Juhlina war immer schon seltsam gewesen und ihr Handeln nicht leicht zu durchschauen.

»Die Toten kümmern sich um die Toten«, zitierte Tiler ein bekanntes Sprichwort unter Gesetzlosen. Ich bemerkte den hungrigen Blick, den er den zusammengetriebenen Gefangenen zuwarf. Es waren etwa zwanzig, die ihrer fehlenden Rüstungen und Waffen wegen recht klein wirkten und sich unter den finsteren Blicken der Wachen wegduckten.

»Ihr habt es versprochen, Herr«, sagte Tiler in einem Tonfall, der mich daran erinnerte, warum ich ihn nicht mochte.

»Ich habe dir Danick Thessil versprochen«, sagte ich. »Du wirst also noch warten müssen, zumindest bis wir in Athiltor sind.« Ich wandte mich Ayin zu, die gerade die saubere Naht mit einem Knoten abband. »Wenn ihr beide fertig seid, durchsucht die Festung nach Schriftstücken. Die Leichen ebenfalls. Ich will jedes Stückchen Papier, egal, ob etwas draufsteht oder nicht.«

Ich fand Lilat auf einer verwitterten Säule sitzend, die einmal zum kleineren Westtor der Festung gehört hatte. Sie runzelte verwundert die Stirn, während sie zusah, wie ein Trupp Soldaten in der Nähe ein Massengrab aushob. »Ihr vergrabt sie in der Erde«, sagte sie auf Caerithisch, so wie immer, wenn wir unter uns waren. »Soll das die Erde fruchtbar machen?«

»Es ist …«, setzte ich an, verstummte dann jedoch. Ich hatte noch nie darüber nachgedacht, warum es bei uns Brauch war, die Toten zu begraben. Die Caerither brachten ihre toten Angehörigen, wie ich wusste, einfach in den Wald und ließen sie dort verrotten. Bis auf ein paar Auserwählte, die in den Berg gebracht wurden, erinnerte ich mich. Der Gedanke an den Knochenhaufen im Berg ließ mich unwillkürlich erschauern. »So machen wir das eben«, sagte ich und suchte nach dem passenden Wort. »Es ist Jurihm«, fügte ich hinzu. Je nach Betonung bedeutete das Wort Gewohnheit oder Tradition.

»Jurihm«, wiederholte die Jägerin und nickte vage. Sie erstarrte, als ihr Blick auf Evadine fiel, die ein Stück entfernt im ehemaligen Haupthof der Festung stand. Einer der Gefangenen kniete vor ihr, die Hände auf dem Rücken gefesselt, den Kopf gesenkt und zitternd unter ihrem Blick. Sie stellte ihm Fragen, die ich nicht hören konnte. Allerdings strahlte ihr Gesicht dabei nicht die Ruhe aus, die sie bei früheren Begegnungen mit Gefangenen an den Tag gelegt hatte. Ich wusste, dass sich ihre Einstellung unseren Feinden gegenüber in der Zeit unserer Trennung verändert hatte. Monatelang hatte sie mich für tot gehalten, und gleichzeitig hatte der alundische Aufstand getobt. In der Kompanie des Bundes erzählte man sich hinter vorgehaltener Hand Geschichten über ihre wütende Verurteilung alundischer Gefangener. Nicht wenige von ihnen hatten am Ende am Galgen gezappelt, weil sie sich geweigert hatten, der Ketzerei abzuschwören.

»Du hast mit ihr geschlafen«, sagte Lilat – die einfache Feststellung einer Tatsache, in einer Sprache, die niemand in Hörweite verstehen konnte. Dennoch zuckte ich ihrer Unverblümtheit wegen unwillkürlich zusammen. »Ich rieche sie an dir«, fügte sie zur Erklärung hinzu und sah mich weiter mit hochgezogener Augenbraue an.

Ihrem ruhigen Blick waren keinerlei Gefühle anzumerken. Ich überlegte, ob sie vielleicht eifersüchtig war, fand es aber unwahrscheinlich. Womöglich war sie wütend, weil ich unvorsichtig gewesen war. Selbst sie wusste, wie gefährlich das, was im Wald geschehen war, sein könnte. Ich war jedoch nach wie vor in der Lage, aus der Miene und Haltung eines Menschen Bedeutung herauszulesen. Und so wie sie jetzt die Brauen leicht zusammenzog, empfand sie offenbar etwas, das ich weit beunruhigender fand als Wut oder Eifersucht: Enttäuschung.

Da mir dazu nichts einfiel – was bei mir äußerst selten vorkommt –, konnte ich nur stumm ihren Blick erwidern, bis sie ihren wieder auf Evadine richtete. »Morkleth«, sagte Lilat. »Erinnerst du dich an dieses Wort?«

Das tat ich, aber mir gefiel nicht, was sie mir damit sagen wollte. »Sie ist nicht verflucht«, sagte ich.

»Es hat auch noch andere Bedeutungen. Der Mann, den du den Kettenmann nennst, er war morkleth. Nicht bloß verflucht, sondern ein Ausgestoßener. Er hatte nichts getan, was bei deinem Volk als Verbrechen gelten würde, dennoch hatte der Eithlisch verfügt, dass er geächtet und vertrieben werden sollte. Die Rolle des Eithlisch ist es, Menschen zu finden, die den Caerithern eines Tages gefährlich werden könnten.« Sie nickte zu Evadine, die einen Schritt näher an den vor ihr kauernden Gefangenen herangetreten war und ihm mit harter, fordernder Stimme Fragen stellte. »Er hätte nicht zugelassen, dass sie unter uns lebt. Ich frage mich, warum dein Volk es zulässt.«

Evadine dient den Maleciten … Ich zog mir den gestohlenen Umhang fester um die Schultern, um ein Erschauern zu verbergen. »Du verstehst sie nicht oder uns. Das hier ist nicht dein Land«, murmelte ich und wandte mich zum Gehen.

»Morkleth riecht immer gleich«, erwiderte sie, während ich mich entfernte. Ihre Stimme klang leise, aber ich hörte sie dennoch. »Egal an welchem Ort.«

Als ich den Hof erreicht hatte, war der Gefangene auf alle viere niedergesunken und hatte das Gesicht schluchzend auf die alten, rissigen Steinplatten gedrückt. »Wie viele von euch gibt es in Athiltor?«, fragte Evadine barsch und beugte sich vor. »Wie viele, du ketzerischer Hundesohn?«, schrie sie dem Mann ins Ohr.

»I-ich …«, brabbelte der Mann unter Tränen. »Ich bin nur ein … einfacher Soldat, H-Herrin. Ich bin bloß deshalb ins Heer des Rates eingetreten, weil sie mir für die erste Woche eine ganze Silbermünze bezahlt haben …« Sein Körper wies keine Folterspuren auf, sein Geständnis war demnach allein auf Furcht zurückzuführen.

»Silber?« Evadines Stirnrunzeln wurde noch finsterer. »Du hast für ein Stück Silber deine Seele verkauft?«

»I-ich habe … Kinder, Herrin«, brabbelte der Mann. »Ihre Ma ist letzten Winter gestorben, ich musste sie bei ihrer Großmutter lassen. Sie brauchen etwas zu essen …«

Die Erwähnung von Kindern, die bald Waisen sein würden, ob nun echt oder nur in Todesangst erfunden, schien Evadine kaltzulassen. »Ein Vater sollte seinen Kindern ein Vorbild sein«, sagte sie, und ihre Hand ging zu ihrem Dolch. »Selbst wenn es ihn sein Leben kostet.«

»Darf ich kurz mit dem Mann sprechen, Gesegnete?«, fragte ich und trat näher. Evadine warf mir einen wütenden Blick zu, doch dann beherrschte sie sich und nahm die Hand vom Griff ihres Dolchs. Ich lächelte und nickte vielsagend zu dem schniefenden Mann am Boden. Schließlich machte sie Platz, damit ich neben dem Gefangenen in die Hocke gehen konnte.

»Dann wollen wir dich mal aufrichten, ja?« Ich ergriff den Mann bei den Schultern und zog ihn sanft in eine sitzende Haltung. Sein Gesicht war das eines Mannes von etwa dreißig Jahren. Er hatte zahlreiche Narben, alte wie neue. Das typische Antlitz eines Soldaten, wobei sein Akzent aus Alberis zu stammen schien.

»Du bist weit von zu Hause entfernt, was?«, fragte ich, zog den Stopfen aus einer Feldflasche und hielt sie ihm an die Lippen. »Wie lange ist es her, seit du die erste Münze angenommen hast?«

»Jahre, Herr«, erwiderte er, nachdem er mehrere große Schlucke genommen hatte. Sein Blick folgte ständig Evadines groß gewachsener Gestalt, die auf dem Hof hin und her ging.

»Warst wohl im Dienst des Königs?«, fragte ich. Mit Schmeicheleien hatte ich noch nie gegeizt. »Jedenfalls siehst du so aus.«

»Nur in der Armee des Herzogs. Ich hab mich mal bei der Kompanie der Krone beworben, aber der Feldwebel meinte, ich könnte nicht gut genug mit der Hellebarde umgehen. In Wahrheit wollte er bestochen werden, und ich hatte keine Münzen dabei.«

»Feldwebel.« Ich schüttelte verständnisvoll den Kopf. »Mistkerle, allesamt. Wie ist dein Name, Soldat?«

»Turner, Herr. Abell Turner.«

»Also gut, Abell Turner. Von einem Soldaten zum anderen mache ich dir ein faires Angebot. Dein Leben und deine Freiheit im Tausch gegen die Wahrheit. Wie klingt das?«

Sein Blick zuckte wieder zu Evadine hin, deren Stiefel auf den Steinplatten scharrten. Er wagte es, in ihre harte, ungeduldige Miene zu schauen, bevor er wieder mich ansah. Sein Gesicht war von der Verzweiflung eines Ertrinkenden erfüllt, der nach jedem Seil greift, und wenn es noch so zerschlissen ist. Dennoch waren seine nächsten Worte eine Überraschung. »Meine Männer, Herr. Sie sind nur arme Schlucker, so wie ich. Mit manchen hatte ich vorher zusammen gedient, sie sind bloß meinetwegen eingetreten …«

Er verstummte, als Evadines Stiefel erneut laut auf den Steinen scharrten, und senkte unter ängstlichem Erschauern den Kopf. Zum ersten Mal sah ich, dass die Wut der Gesegneten ebenso machtvoll sein konnte wie ihre Liebe.

»Auch ihnen werden Leben und Freiheit geschenkt«, versprach ich, ohne auf Evadines scharfes Ausatmen zu achten. »Aber die anderen und du, ihr werdet der Märtyrerin die Treue schwören müssen und euch dazu verpflichten, niemals mehr die Waffe gegen sie zu erheben.« Ich sah ihm tiefer in die Augen und fügte nüchtern hinzu: »Sonst werdet ihr mit weit mehr als mit eurem Blut bezahlen.«

Er schluckte schwer, und ich erkannte, dass er sich wahrscheinlich gleich übergeben würde. »Ich werde jeden Schwur leisten, Herr. Meine Gefährten auch, bei meiner Seele.«

Ich nickte und setzte ein schmales Lächeln auf. »Also gut. Der Mann, der euch angeführt hat, nicht der Kleriker, sondern der andere, der die Armee des Rates kommandiert, wie heißt er?«

»Hauptmann Sorkin, Herr. Ehrlich gesagt kann ich mich nicht erinnern, je seinen Vornamen gehört zu haben.«

»Und was weißt du über diesen Hauptmann Sorkin?«

»Mit dem Kriegshandwerk kennt er sich aus, so viel steht fest. Ich hatte schon weitaus schlimmere Hauptleute, aber selten einen, der so schnell zur Peitsche gegriffen hat. Prügel gibt’s beim heiligen Hauptmann reichlich.«

»Heilig?«, fragte Evadine, und bei ihrem barschen Ton krümmte Abell Turner sich wieder zusammen.

»So wird er genannt, Herrin«, sagte er zerknirscht. »Vom Aszendenten und den anderen Klerikern. Das ist sein Titel in der Armee des Rates.«

»War eure Garnison in Athiltor?«, fragte ich, um die Aufmerksamkeit des Mannes wieder auf mich zu lenken.

Er nickte. »Ja, Herr. Sechs oder sieben Wochen Ausbildung, bevor wir hierhergeschickt wurden.«

»Du erinnerst dich, dass die Gesegnete gefragt hat, wie viele Soldaten es in Athiltor gab. Sie und ich hätten darauf gern eine Antwort.«

»Ich habe gesagt, ich weiß es nicht. Und das war die Wahrheit. Dort trafen ständig neue Rekruten ein, und bei all den Arbeiten, die vor sich gingen, war es schwierig, den Überblick zu behalten.«

»Dann schätze wenigstens«, befahl Evadine.

»Fünf-, höchstens sechstausend. Zumindest als wir losmarschiert sind. Wie gesagt, es trafen ständig neue ein und …« Er zögerte, und ich sah ihm an, dass er einen Entschluss fasste. »Und es gab Gerüchte, dass noch mehr unterwegs waren, angeheuerte Schwerter aus dem Osten und von jenseits des Südmeers. Als wir aufbrachen, waren schon einige Dutzend von den wilden Bogenschützen dort, ich weiß nicht, wie ihr Heimatland heißt.«

»Vergundier«, sagte ich und tauschte einen Blick mit Evadine. Die tödlichen Fähigkeiten dieser Schützen hatten wir von der Belagerung der Burg Walvern noch in unschöner Erinnerung.

»Ja.« Turner nickte erneut. »Genau, Herr. Zerlumpt und schmutzig waren sie. Halsabschneider, allesamt. Mir kam es seltsam vor, dass der Bund Leuten wie denen Geld zahlt.«

»Du hast von Arbeiten gesprochen«, sagte ich. »Beschreibe sie.«

»Hauptsächlich wurde gegraben, Gräben und Schanzen. Ein paar Mauern wurden auch errichtet, aber sie waren nicht massiv wie bei einer Burg, weil es in Athiltor wenig Stein gibt.«

Ich befragte ihn fast eine Stunde lang, um möglichst viele Einzelheiten aus ihm herauszuholen. Am Ende bot sich folgendes Bild: Danick Thessil hatte in seiner neuen Erscheinung als Hauptmann Sorkin in der heiligsten Stadt des Bundes ein leidlich diszipliniertes Heer versammelt. Es würde zudem bald Verstärkung in Form einer großen Zahl Söldner erhalten und durch frisch errichtete Befestigungsanlagen geschützt sein. Hin und wieder mischte Evadine sich ein und stellte ein paar Fragen, die eindeutig in eine bestimmte Richtung zielten: »Wie hält es dein Hauptmann mit der Krone?«, oder »Welche Abmachungen hat Aszendent Arnabus mit den Algathinets geschlossen?«

Turner jedoch duckte sich nur unter ihrem finsteren Blick und stotterte: »W-während ich dort war, habe ich keinen Agenten der Krone gesehen, Herrin. Und der Aszendent hat zwar oft mit dem hei… dem Hauptmann geredet, aber ich selbst habe nie ein Wort mit ihm gewechselt.«

»Morgen früh«, sagte ich, nachdem ich sicher war, alles Wichtige aus ihm herausgeholt zu haben, »werdet ihr, deine Gefährten und du, euren Schwur leisten und dann von hier verschwinden.« Ich beugte mich vor und sah ihm in die Augen. »Wenn du weißt, wer ich bin, dann weißt du auch, dass ich jede Lüge sofort erkenne. Wenn ich morgen jemanden erwische, der auch nur im Leisesten unehrlich klingt …«

»Das werdet Ihr nicht, Herr.« Der Soldat drückte die Stirn auf die Steinplatten. »Und … ich danke Euch. Was über die Barmherzigkeit des Schreibers und der Gesegneten berichtet wird, ist offenbar keine Lüge.«

»Siebentausend ausgebildete Soldaten.« Seufzend hielt Wilhum die Hände ans Feuer. Es war schon spät, und Evadine hatte ihn zu sich gerufen, um unseren plötzlichen Reichtum an neuen Erkenntnissen mit ihm zu besprechen, ohne dass die restliche Kompanie es hören konnte. Als Veteran, der schon mehr Schlachten gesehen hatte als Evadine und ich, fand Wilhum die Neuigkeiten wenig ermutigend. »Hinter Gräben und Schanzen. Und dazu ein Haufen vergundischer Bogenschützen, und die Märtyrer allein wissen, wie viele weitere fremdländische Mistkerle uns erwarten.« Er sah Evadine an und verzog entschuldigend das Gesicht. »Das sind keine guten Aussichten, Evie. Mein Ratschlag wäre: Schick Alwyn und mich nach Athiltor, um die Lage auszukundschaften, und geh selbst nach Couravel zurück, um die Regentin an den Wert eures Bündnisses zu erinnern. Swain soll unterdessen das Heer sammeln und nach Athiltor marschieren. Zumindest können wir sicher sein, dass unsere Soldaten und Soldatinnen weiter zu dir halten, ganz gleich, was der Rat der Eminenzen verkünden wird. Wenn uns die Kompanie der Krone unterstützt, wird unsere Zahl ausreichend sein, um der Sache ein Ende zu setzen, auch wenn ich ungern noch vor dem Winter einen Feldzug beginnen möchte.«

»Mit der Regentin kann ich nicht verhandeln«, stellte Evadine fest. »Weil es eine solche Person nicht gibt. In Couravel gibt es nur eine Frau, die zufällig die Schwester eines unwürdigen Bastards ist. Die Familie Algathinet hat sich durch Intrigen, Mord und Täuschung auf dem Thron gehalten. Zweifellos hatten sie bei den Schurkereien, die sich hier abgespielt haben, ebenfalls eine Hand mit im Spiel, wenn auch im Verborgenen. Es ist Zeit, Wil. Zeit, meine Mission zu vollenden.«

Wilhums Miene wurde starr und ausdruckslos. Er sah sie schweigend an und richtete dann den Blick auf mich.

»Alwyn und ich sind uns bei dieser Sache einig«, sagte Evadine. »Es gibt keinen anderen Weg.« Sie holte tief Luft und ließ sie dann langsam wieder entweichen. »Um alles zu retten, muss ich alles aufs Spiel setzen. Ich muss Königin werden, die Aszendentenkönigin. Durch mich werden Krone, Bund und Volk vereint sein, und die zweite große Plage kann abgewendet werden. Nur dann kann dieses Reich Frieden finden.«

Wilhums Blick ruhte auf mir, und ich wusste, er hoffte darauf, dass ich Evadine zur Mäßigung aufrufen würde. Doch das konnte ich nicht, jedenfalls nicht damals. Ich war jetzt ebenso Evadines Gefangener wie Turner und seine Kameraden. Ich wusste, was ihre Worte bedeuteten. Was daraus folgen würde. Doch ich sah Wilhum mit einem Ausdruck ernster Gewissheit in die suchenden Augen.

Er wandte sich wieder Evadine zu, seine Stimme schwach und kaum hörbar über dem Knistern des Lagerfeuers. »Du weißt, dass ich dir folgen werde, so wie ich dir seit der Schlacht auf dem Feld der Verräter bei jedem Schritt gefolgt bin. Denn ich schulde dir meine Treue, Evie.« Er hielt inne, holte tief Luft und fügte hinzu: »Aber du musst wissen, dass du mit diesem Vorgehen einen Krieg vom Zaun brichst, und zwar gegen Bund und Krone. Ich bin mir nicht sicher, ob wir stark genug für beides sind.«

»Beide zur selben Zeit zu bekämpfen, wäre natürlich Unsinn«, sagte ich. »Wir kümmern uns als Erstes um den Bund. Ein Sieg ist der beste Zunder für einen Aufstand – und das ist es, was wir anstreben, darüber sollten wir uns im Klaren sein. Erst triumphieren wir in Athiltor, dann verkünden wir den Aufstieg der neuen Königin.«

»Du redest so, als hätten wir den Sieg bereits in der Tasche«, sagte Wilhum. »Aber die Zeit ist ebenso gegen uns wie dieser heilige Hauptmann und sein Heer aus Ketzern. Wir müssen noch mehr Erkundigungen anstellen. Und das Heer sammeln, das wir mit Sicherheit brauchen werden, wenn wir die heilige Stadt stürmen wollen.«

»Ich werde gleich morgen früh meine besten Spitzel nach Athiltor schicken. Und Eamond wird in aller Eile nach Couravel reiten, um das Heer des Bundes herbeizurufen. Außerdem werde ich einen Brief an Prinzessin Leannor schreiben und ihr berichten, was hier geschehen ist. Darin werde ich deutlich machen, dass es Sache des Bundes ist, die Angelegenheit zu regeln. Sie wird die Krone sicherlich nicht in eine Spaltung der Gläubigen mit hineinziehen wollen. Vermutlich wird es ihr viel besser gefallen, als Friedensstifterin auftreten zu können, sollte die Auseinandersetzung sich hinziehen, was nicht passieren wird.«

»Das Heer des Bundes wird nicht ausreichen«, beharrte Wilhum. »Selbst wenn es rechtzeitig hier eintreffen sollte.«

»Das einfache Volk der Shavine-Marschen und von Alberis ist schon einmal dem Ruf der Gesegneten gefolgt. Die Leute werden es wieder tun.«

»Eine Menge unausgebildeter Bauern kann es mit echten Soldaten nicht aufnehmen.«

»Nein, aber ihre Anzahl könnte, falls nötig, den Ausschlag geben. Was unseren eigenen Mangel an erfahrenen Soldaten betrifft, habe ich eine Idee, wo wir mehr finden können.« Ich wandte mich Evadine zu und zuckte bedauernd die Achseln. »Aber ich muss Euch warnen, meine Königin, der Preis wird wahrscheinlich hoch sein.«

Zweites Kapitel

Die Mauern der Burg Ambris sahen sauberer aus, als ich sie in Erinnerung hatte. Die Streifen von Ruß und Abwasser, die einst die Seiten der Burg befleckt hatten, waren jetzt verschwunden, vermutlich wurden sie auf Befehl der Herzogin regelmäßig weggeschrubbt. Selbst während ihrer Jahre im Wald hatte Lorine ihre Umgebung stets sauber gehalten. Deckin herrschte über die Bande, aber Lorine war für das Lager zuständig, und wehe dem, der dort etwas schmutzig machte. Ich erinnerte mich, wie sie Erchel als Kind einmal mit einer Birkenrute den Hintern blutig geschlagen hatte, als er in Reichweite unseres Kochfeuers sein Geschäft verrichtet hatte.

Das angrenzende Dorf Ambriside war ebenfalls größer und sauberer geworden; statt des grauen Flechtwerks sah man jetzt überall weiße Mauern, und die Reetdächer waren weder löchrig noch verkohlt. Die Wiese, auf der Evadine einst auf einer Tribüne gestanden und auf ihre Hinrichtung gewartet hatte, war frisch gemäht. Kinder spielten dort, und eine Kompanie herzoglicher Soldaten führte ihre Übungen durch. Der Eindruck der Ordnungsliebe wurde noch dadurch verstärkt, dass die Soldaten, als sie eine große Gruppe bewaffneter Reiter auf der Straße zum Tor entdeckten, rasch Aufstellung nahmen und uns den Weg versperrten.

»Märtyrerin Evadine Courlain erbittet eine Audienz bei Herzogin Lorine«, teilte ich dem jungen Hauptmann mit, der vor der hastig gebildeten Absperrkette stand. Er musterte uns argwöhnisch, was ihn gar nicht mehr so jungenhaft aussehen ließ. Er hatte keine Narben im Gesicht, aber wie er mit dem Blick unsere Anzahl abschätzte, zeugte davon, dass er sein Handwerk verstand.

»Hauptmann Scribe, nicht wahr?«, erkundigte er sich und musterte die Berittene Kompanie, nicht feindselig, aber doch mit gebotener Vorsicht. Wie so oft blieb sein Blick am längsten bei Evadine hängen. Allerdings zeigten sich in seiner Miene weder Ehrfurcht noch Lust, wie es sonst oft der Fall war. »Ich habe Euren Kampf gegen den Prätendenten im Tal gesehen«, fügte er hinzu. »Ein beeindruckendes Schauspiel.« Sein Akzent ließ auf eine Herkunft aus dem einfachen Volk schließen. Ein Bauernjunge oder vielleicht ein Holzfällersohn? Lorine hatte schon immer ein gutes Auge für besondere Begabungen gehabt, ganz gleich, wo sie zu finden waren.

»Unter uns gesagt, er war als Schwertkämpfer höchstens mittelmäßig«, erwiderte ich ohne Groll, obwohl sich bei der Erwähnung des Prätendenten meine Stimmung meist verfinsterte. »Und inzwischen heißt es Sir Alwyn Scribe, aber warum allzu förmlich sein?« Ich nickte zu dem Banner, das über den Zinnen der Burg gehisst war. Der silberne Falke schien mit den Flügeln zu schlagen, während der rote Wimpel im Wind flatterte. »Die Herzogin ist da, nehme ich an?«

»Jawohl, Herr.« Er verneigte sich kurz, trat beiseite und bellte seinen Männern zu, dass sie eine Kolonne bilden sollten. Mir fielen die Geschwindigkeit und Präzision auf, mit der die Soldaten ihre Formation wechselten. Sie konnten es fast mit dem Heer der Krone aufnehmen. »Es ist mir eine Ehre, Euch zur Herzogin zu geleiten«, fügte der junge Hauptmann hinzu und verneigte sich erneut.

»Habt Ihr diese Männer ausgebildet?«, erkundigte ich mich, während ich Schwarzfuß die Straße entlang aufs Tor zu lenkte. Wie alles andere hier war auch die Straße kürzlich erst erneuert worden. War sie früher ein zerfurchter Feldweg gewesen, auf dem man bei Regen im Schlamm stecken blieb, war sie jetzt mit Pflastersteinen befestigt. »Sie kommen mir viel flinker vor, als ich sie in Erinnerung hatte.«

»Ja, Herr«, bestätigte der Hauptmann mit Stolz. »Das ist die Kompanie der Erwählten, die Leibgarde der Herzogin.«

»Das heißt, sie hat auch Euch ausgewählt.« Daraufhin erstarrte er und sagte nichts mehr, bis wir den Burghof erreicht hatten.

»Wenn die Gesegnete so freundlich wäre, einen Moment hier zu warten«, sagte er und verneigte sich wieder, »dann werde ich Eure Ankunft der Herzogin melden. Bitte bedient Euch an Futter und Wasser für Eure Pferde.«

»Also«, sagte Evadine, während wir unsere Reittiere zum Wassertrog führten. »Das ist die Frau, die dich aufgezogen hat, nicht wahr?« Sie sprach leise, doch ihre Haltung wirkte angespannt, was mir nicht gefiel. Ihre Züge waren starr, so als würde sie sich ein missbilligendes Stirnrunzeln verkneifen. Ich hatte ihr von meinem Aufwachsen in Deckins Bande berichtet, ohne etwas zu verschweigen – von Diebstahl und Mord, aber auch von den seltenen Momenten der Ausgelassenheit oder der Freundlichkeit, die meistens von Lorine ausgegangen waren.

»In gewisser Weise, ja«, sagte ich. »Allerdings sieht sie nicht so matronenhaft aus, wie du vielleicht vermutest.«

»Ich habe Geschichten gehört. Die Füchsin des Forsts wird sie genannt. Und andere Namen, die weniger nett sind.«

Als ich den scharfen Ton in ihrer Stimme hörte, beugte ich mich näher heran. »Es wäre am besten, wenn du mich die Verhandlungen führen lässt. Lorine mag zwar eine Söldnerin sein, aber sie hat dennoch ihren Stolz. Glaube oder Ansehen bedeuten ihr nur wenig.«

»Höre ich da etwa einen Befehl heraus, Hauptmann?« Evadines Blick wirkte spöttisch, als sie eine Augenbraue hob. Und es lag auch ein Versprechen darin, das in mir den dringenden Wunsch weckte, in dieser Burg nach einem möglichst abgeschiedenen Ort zu suchen. Unser Stelldichein im Wald war mir zwar nur undeutlich in Erinnerung geblieben, doch wie der Vorgeschmack einer jeden Droge erzeugte es ein wachsendes Verlangen nach mehr.

Ich räusperte mich und unterdrückte den Drang, die Hand nach ihr auszustrecken. »Bitte«, sagte ich. »Lass mich einfach mit ihr reden, und ich werde der Aszendentenkönigin ihre Armee sichern. Und wenn es zur Verhandlung über den Preis kommt …«

»Der Preis spielt keine Rolle«, warf Evadine ein. »Versprich ihr, was immer nötig ist, aber erwarte nicht von mir, dass ich so tue, als würde mir die Sache gefallen. Wenn deine Fuchsmutter auch nur einen Funken Verstand besitzt, würde sie sowieso merken, dass es gelogen ist.«

Lorine Blousset, Herzogin der Shavine-Marschen, empfing ihre angesehene Besucherin in einem kleinen Gemach in dem Turm, der eine Verbindung zwischen Ost- und Nordmauer der Burg bildete. Obwohl das Zimmer alles andere als groß war, war es reich möbliert und mit einem riesigen Bärenfell ausgelegt. Auf besagtem Fell hockte die Herzogin, als Evadine und ich das Gemach betraten. Lorine trug ein bescheidenes Gewand aus graublauer Baumwolle, und ihr kupferfarbenes Haar flatterte, während sie mit einem kichernden kleinen Jungen rang. Überall lagen Spielzeuge verstreut, Kreisel und bunt bemalte Holzklötzchen, und der Junge hielt ein winziges Holzschwert in der Hand. Lachend griff er Lorine mit ein paar Hieben an. Sie scheuchte ihn über das Bärenfell und knurrte wie ein Ungeheuer, die Hände zu Klauen gekrümmt.

»Herzogin Lorine«, sagte der junge Hauptmann und ließ die Stiefel auf den Steinfußboden knallen. »Ich habe die Ehre, Euch vorzustellen …«

»Alwyn!« Lorine lächelte breit und verzog das Gesicht, als der Junge ihr mit dem Holzschwert gegen den Arm schlug. Wieder knurrte sie, zog ihn dann in ihre Arme und kam hoch. Das aufgeregte Lachen des Jungen legte sich, und er schaute mich mit neugierig gerunzelter Stirn an, als Lorine ihn zu mir brachte. »Bryndon«, sagte sie und hielt mir das Kind hin. »Sag Hallo zu deinem Onkel.«

Ich nahm den immer noch skeptisch blickenden Jungen mit unsicherem Lächeln entgegen, das mir ganz verging, als er mir mit seinem Holzschwert auf die Nase schlug. »Alles gut«, beruhigte Lorine mich. »Er schlägt nur Leute, die er mag.«

Als ich in das ernste Gesicht des Jungen sah, bemerkte ich das unverkennbare Funkeln von grünen Augen und das rötliche Schimmern seiner Locken – beides hatte er von seiner Mutter geerbt. Von seinem Vater sah ich in dem kleinen Gesichtchen nur wenig, aber das hatte natürlich nichts zu bedeuten. Es überraschte mich nicht, dass von beiden Elternteilen seine Mutter das stärkere Blut hatte.

»Herzogin«, sagte ich und wollte ihr den Jungen zurückreichen, doch zu meiner Verwirrung ließ der Kleine sein Schwert fallen und machte es sich in meinen Armen bequem. Er legte den Kopf an meine Brust, schloss prompt die Augen und steckte sich seinen kleinen Daumen in den Mund.

»Behalt ihn lieber auf dem Arm«, riet Lorine mir. »Er heult ganz furchtbar, wenn man ihn beim Schlafen stört.«

»Wie Ihr wünscht.« Ich rückte das Kind in meinen Armen zurecht und wandte mich Evadine zu. »Darf ich vorstellen …«

»Die Gesegnete höchstpersönlich.« Lorine trat zurück und verbeugte sich tief. »Die Märtyrerin beehrt mich in meinem Heim. Die Familie Blousset ist für ihre Frömmigkeit berühmt.« Sie richtete sich wieder auf und wandte sich an den jungen Hauptmann. »Dervan, sei so gut und richte Meister Dubbings aus, dass wir Gäste haben. Er soll für heute Abend ein Festmahl und Unterhaltung vorbereiten. Diese Jongleure von letzter Woche lungern sicher noch irgendwo hier herum. Es wäre schön, wenn sie sich ihr Essen verdienen würden. Finde eine passende Unterkunft für die edle Evadine und Sir Alwyn, und in der Kaserne ist bestimmt noch Platz für ihre Soldaten.«

Hauptmann Dervan zögerte. »Wünscht Ihr also, allein zu sein, Herrin?«, fragte er und blickte vielsagend zur unbewachten Tür.

Lorine hob die Brauen und schürzte scheinbar verwundert die Lippen. »Wenn nicht, dann hätte ich das doch gesagt, nicht wahr?«

»Selbstverständlich.« Dervan verneigte sich noch tiefer als zuvor und verließ mit steifem Rücken eilig den Raum.

»Und mach die verfluchte Tür zu!«, rief Lorine ihm nach, als seine Stiefel draußen im Treppenhaus widerhallten. »Ein pflichtbewusster junger Mann, aber es mangelt ihm etwas an Benehmen«, sagte sie, nachdem der Türriegel eingerastet war.

»Er klingt nicht wie ein Adliger«, stellte ich fest, worauf ein Lächeln auf Lorines Lippen trat.

»Ist er nicht aufmerksam, meine Liebe?«, fragte sie Evadine. »So war Alwyn schon immer. Er sieht alles, auch das, was er nicht sehen soll.«

»Mein Hauptmann hat viele Begabungen«, erwiderte Evadine. »Und ich danke den Seraphilen für jede einzelne davon.«

»Ja.« Lorines Fröhlichkeit schwand, und sie musterte Evadine eingehend, bevor sie sich wieder mir zuwandte. Ich sah einen Hauch von Begreifen in ihren Augen, als sie mein Gesicht betrachtete, das mit frischen Blutergüssen übersät war. »Ich bin sicher, dass er sehr nützlich für Euch ist. Was war es diesmal?« Sie hob die Hand und strich mit den Fingerspitzen über eine Schürfwunde an meinem Kinn, die ich dem wütenden Arnabus zu verdanken hatte. »Ketzer oder Verräter? Ich muss zugeben, dass ich nie erwartet hätte, einmal einer Frau zu begegnen, die sich noch mehr Feinde gemacht hat als ich. Auch wenn die meisten meiner Feinde vor Langem schon das Zeitliche gesegnet haben.«

»Ketzer und Verräter«, sagte ich. »Und der Grund für unseren Besuch.« Ich wollte das Gespräch gern auf unser wichtigstes Anliegen beschränken.

»Ahh. So bald schon wieder der nächste Krieg?« Lorine seufzte, wandte sich ab und ging zu einer Kommode, auf der eine Reihe kleiner Flakons standen. Es waren etwa zwanzig an der Zahl, alle von unterschiedlichen Farben und Größen. Sie nahm sich einen davon und hielt ihn ins Licht, das durch das einzige Fenster im Raum hereinfiel. Das Glas war leicht rosa verfärbt und warf einen bizarren Schatten auf die unverputzte Wand. »Parfüm ist mein letztes Laster«, sagte Lorine, zog den kleinen Kristallstopfen aus dem Flakon und schwenkte ihn. Selbst aus einigen Schritt Entfernung fing ich den Duft auf – eine angenehme Mischung aus blumigen Noten mit einem Hauch Zitrone.

»Das hier stammt von jenseits des Südmeers«, fuhr Lorine fort. Tonfall und Körperhaltung wurden dabei merklich verschlossener, und ihre Aufmerksamkeit war nun hauptsächlich auf Evadine gerichtet. »Nach dem, was mir berichtet wurde, müssen die Zutaten dieser Duftwässer mit Karawanen viele Kilometer durch die Wüste befördert werden, nachdem sie in fernen Ländern hergestellt wurden, die selbst unseren weltgewandtesten Gelehrten unbekannt sind. Als das letzte Blutbad tobte, war es mir so gut wie unmöglich, meine Sammlung zu vergrößern oder auch nur genug Getreide zu kaufen, um die Ärmsten in meinem Volk vor dem Hungertod zu bewahren. Sämtliche Arbeiter, die sonst die Ernte eingeholt hätten, waren in die Schlacht geschickt worden. Nach meiner Schätzung hat es mindestens einer von zehn nach der berühmten Schlacht im Tal nicht mehr nach Hause zurückgeschafft. Und wie du weißt, Alwyn, kenne ich mich mit Zahlen aus.«

Sie hielt inne und tauschte einen stummen Blick mit Evadine. »Aber nun ja«, fügte sie hinzu und verkorkte lächelnd den Flakon, »so ist das eben mit dem Krieg. Er ist schlecht fürs Geschäft, es sei denn, man handelt mit Waffen. Was ich nicht tue.«

»Wenn der Krieg an die Tür klopft«, begann ich und wählte meine Worte mit Bedacht, »dann kann man ihn nur selten einfach aussperren. Das ist Euch sicher klar. Ich würde einer Herzogin niemals vorschreiben, was sie zu tun hat. Ich bin bloß ein simpler Schreiber, trotz des Titels, den ich trage. Eines solltet Ihr jedoch wissen: Der Krieg kann den Handel unterbrechen, aber er kann auch neue Möglichkeiten eröffnen. Ein Mann, den ich früher einmal kannte, hat gesagt: Der Krieg ist ein Wolf, und schlau sind die Krähen, die sich an seiner Beute laben.«

Ein düsterer Ausdruck huschte über Lorines Miene, bevor sie den Blick abwandte und den Flakon wegstellte. Ich hatte gewusst, dass Deckins Worte eine Wirkung auf sie haben würden, mit Wut hatte ich allerdings nicht gerechnet. Mir wurde klar, dass ihre Liebe zu dem toten König der Gesetzlosen oder ihre Trauer um ihn noch längst nicht vorbei waren. Lorine stand so lange schweigend vor ihrer Sammlung, dass Evadine schließlich die Geduld verlor.