Der Vertrag - Der Mord an Olof Palme - John W. Grow - E-Book

Der Vertrag - Der Mord an Olof Palme E-Book

John W. Grow

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  • Herausgeber: SAGA Egmont
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Ein hochspannender Krimi über den Mord am schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme, der bis heute aktuell ist: Wer hat den Politiker 1986 kaltblütig auf offener Straße ermordet? Ein Mann kauft in Südafrika eine Waffe, und ein Schuldiger verlässt das Land. Doch wie hängt das alles mit dem Mord in Stockholm zusammen? Diese fiktive Erzählung führt einen hinter die Kulissen einer Zeit, in der jeder potenziell schuldig sein konnte, die Polizei im Dunkeln tappte und sich die Angst in Schweden breit machte... -

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Seitenzahl: 480

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John W. Grow

Der Vertrag - Der Mord an Olof Palme

Übersetzt Gesa Füßle

Saga

Der Vertrag - Der Mord an Olof Palme ÜbersetztGesa Füßle OriginalKontraktet: mordet på en statsministerCoverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 1997, 2020 John W. Grow und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726749564

 

1. Ebook-Auflage, 2020

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

 

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

ERSTER TEIL

Let’s talk about roses …

1.

Der Mann, der sich Ray Lambert nannte, wachte bereits beim ersten grauen Dämmerlicht auf. Er war schon immer ein Morgenmensch gewesen. Dass er heute einen Menschen töten würde, machte da keinen Unterschied.

Er blieb im Bett liegen und beobachtete, wie das schwache Licht, das durch den Spalt zwischen den Gardinen fiel, die unscharfen Konturen des Hotelzimmers langsam deutlicher erscheinen ließ. Im Laufe der Jahre hatte sein Schlafbedarf abgenommen und er wachte immer früher auf. Das zeigt, dass ich älter werde, dachte er. Es war Zeit aufzuhören, sich zurückzuziehen. Aber der finanzielle Aspekt hinderte ihn daran.

Er reckte sich und stand auf. Ging zum Fenster und zog die Gardinen auf. Als er das Fenster öffnete, schlug ihm die noch nachtkalte Luft entgegen. Mit ihr drangen die Geräusche der erwachenden Stadt ins Zimmer. Unten fuhr eine Straßenreinigung mit rotierenden Bürsten vorbei und ein einsamer Wanderer sprang zur Seite, um den Wasserfontänen auszuweichen, die den Gehweg überspülten. Aus der anderen Richtung kam ein Taxi mit ausgeschaltetem Taxischild. Noch herrschte die Nacht, aber der Himmel war rosa und die Straßenlaternen bereits erloschen.

Ray zündete sich die erste Zigarette des Tages an, aber dann bekam er einen Hustenanfall und warf die Zigarette nach nur ein paar Zügen in den Aschenbecher. Er sollte wirklich aufhören zu rauchen. Seine Kondition war grundsätzlich zwar gut, aber obwohl er fast täglich trainierte und sich in Form hielt, hatte er im letzten Jahr eine gewisse körperliche Trägheit empfunden. Er wurde schneller müde. Das Alter, dachte er, aber niemand, der ihn sah, würde glauben, dass er gerade dreiundfünfzig geworden war. Seine Haare wurden oben am Kopf dünner und auch etwas grau, aber für diesen Auftrag hatte er sie haselnussbraun gefärbt. Die feinen Linien um seine Augen verliehen ihm Charakter, fand er, aber er war nicht mehr jung, er sollte seine Zukunft planen.

 

Die afrikanische Morgendämmerung war kurz, aber es würde noch eine Weile dauern, bis die Sonne über den Berg kam.

Nelson Luwamba atmete tief ein und füllte seine Lungen mit der kühlen, feuchten Morgenluft. Der Sauerstoff machte ihn hellwach. Es fühlte sich an, als würde sein junges Blut kochen. Er fühlte sich stark. Er mochte diese Tageszeit am meisten, ehe die Hitze sich wie ein Deckel über alles und alle legte. Oft war er um diese Zeit wach. Aber heute war es anders. Sein Wecker hatte mitten in der Nacht geklingelt, damit er alles schaffen würde. Jetzt war er bereit und fühlte sich fast feierlich.

Die Limousine, ein blauer Chevrolet, war vorgefahren. Den Lappen, mit dem er den verchromten Kühlergrill geputzt hatte, verwendete er jetzt für seine schwarzen Schuhe. Der rote Staub würde da draußen schnell den Glanz zerstören, aber in der Stadt ist es anders, dachte er. Es war wichtig, einen weltmännischen Eindruck zu machen. Er schnipste ein Staubkorn vom Ärmel seines dunkelblauen Anzugs und richtete seinen Krawattenknoten.

In der Ferne hatte die Sonne begonnen, über den Berggipfel zu klettern, als Nelsons Vater auf die Veranda trat. Schnell steckte Nelson das schmutzige Tuch in die Tasche und eilte zum Auto. Ehrfürchtig hielt er die Tür auf. Ernst und fast wie ein Soldat stand er da. Sein Vater grüßte ihn mit einer spielerischen Verbeugung, als er auf dem Rücksitz Platz nahm. Er lächelte amüsiert und wohlwollend über die feierliche Ernsthaftigkeit seines Sohnes.

 

Der blaue Chevrolet rollte weich durch die Landschaft. Die Räder rotierten über den Asphalt. Der Motor war kaum zu hören. Niemals hätte Nelson es sich träumen lassen, dass er so bald hinter dem Lenkrad von etwas anderem als einem Schrotthaufen sitzen würde. Nicht genug damit, dass er alle Prüfungen und seinen Führerschein bestanden hatte, er hatte auch sofort einen Job bekommen, einen Traumjob, den sein Vater ihm besorgt hatte. Die Zukunft sah wirklich rosig aus.

Sie passierten Trauben von Menschen auf Fahrrädern und zu Fuß, die auf dem Weg zur Arbeit in der Stadt waren. An den Straßenrändern warteten zahlreiche frühe Busse.

Gleich würden die ersten Bruchbuden am Rande von Soweto auftauchen.

Nelson hätte gern das Radio angestellt, aber auf dem Rücksitz saß sein Vater und sah einen Stapel Papiere durch, wobei er nicht gestört werden wollte. Die Hitze des Tages wurde langsam spürbar und Nelson stellte die Klimaanlage an. Er genoss den Luxus. Ein kleines Lächeln wurde auf seinen Lippen sichtbar, als er sich vorstellte, welche Möglichkeiten ihm offenstanden. Traute er sich zu fragen, ob er das Auto leihen und mit ihm schon heute Abend eine Tour in die Stadt machen dürfte? Ein wohliger Schauer durchfuhr ihn. Er war so tief in seinen Gedanken, dass er es zunächst gar nicht wahrnahm, als sein Vater ihn von hinten ansprach:

„Nelson, ich treffe in zwei Stunden einen Minister in der Stadt. Du wirst warten und mich hinfahren und nach dem Treffen wieder zurück.“

Nelson nickte. Er dachte sich, dass es wohl besser wäre, seinen Vater erst auf dem Rückweg am Abend zu fragen.

 

Johannesburg erwachte in einem heißen, stickigen Dunst von Autoabgasen. Der Verkehr floss träge und ohrenbetäubend dahin. Die Gehwege wimmelten von Tausenden von Menschen auf dem Weg zur Arbeit. Die überfüllten Busse spuckten alle Viertelstunde eine neue Ladung schläfriger Lohnsklaven aus.

Die Läden waren bereits offen. Ray Lambert hielt an einem Tabakladen an. Ein älterer schwarzer Mann hatte gerade die Flugblätter der Zeitungen aufgehängt und Ray folgte ihm in den vollgestopften kleinen Laden. Der Inhaber, ein dicker Orientale mit blumigem Oberhemd, war gerade dabei, eingeschweißte Bündel mit amerikanischen Zeitschriften aufzureißen.

„Eine Schachtel Marlboro.“

„Normal oder Lights?“, fragte der Tabakhändler und legte das Messer beiseite. Er ging um den Tresen herum und streckte sich nach dem Regal dahinter.

„Normal – nein, lieber Lights“, entschied Ray sich um.

Der Tabakhändler holte die letzte Schachtel der begehrten Marke aus dem Regal. Er wandte sich um und rief über die Schulter in die hinteren Regionen des Ladens seiner Aushilfe zu, sie solle verdammt noch mal ihren trägen Arsch bewegen und endlich das tun, was er ihr aufgetragen hatte, nämlich das Regal auffüllen, wenn es leer war.

„Die glauben, sie bekommen ihren Lohn, ohne was dafür zu tun. Man muss ihnen alles dreimal sagen!“, grinste der Mann verbittert. Er schob Ray die Zigarettenschachtel rüber.

Ray gab ihm einen Schein und bekam sein Wechselgeld.

„Heute wird es heiß“, sagte der Tabakhändler und wischte sich mit dem Handrücken die Stirn ab, die bereits vom Schweiß glänzte. Ray nickte und verließ den Laden.

Er ging weiter die Straße entlang. Mit seinem schwarzen Dokumentenkoffer in der Hand und dem eleganten hellen Baumwollanzug sah er aus wie ein ganz normaler Angestellter auf dem Weg ins Büro. Genau das war sein Anliegen. Er wollte nicht auffallen, durfte niemand sein, an den man sich erinnerte. Einer von vielen.

Aber eine Sache unterschied ihn deutlich von allen anderen im Strom der anzugtragenden Aktenkofferträger: In seinem Koffer befand sich eine tödliche Waffe.

 

Zwei Wochen zuvor hatte Ray Lambert das Gewehr von einem Waffenhändler in Kapstadt gekauft. Ray hatte ihn nicht zufällig ausgewählt. Er hegte einen starken Widerwillen dagegen, die Grenzen mit einer Waffe im Gepäck zu überqueren. Sobald er diesen Auftrag über seine Kontakte in London bekommen hatte, suchte er nach einem Waffenhändler mit einem passenden Hintergrund. Er hatte Graeme Mulholland gefunden, der schon viele Jahre umfangreiche illegale Waffengeschäfte machte, sowohl mit Mitgliedern des rassistischen Broederbunds als auch mit gewöhnlichen Kriminellen. Offenbar hielten ihn keinerlei Skrupel davon ab. Diese Eigenschaften machten ihn zu einem angemessenen Waffenhändler.

Mulholland hatte überhaupt nicht helfen wollen. Erst als Ray mit seinem Wissen über Mulhollands Vergangenheit auspackte und ihm außerdem eine Entschädigung versprach, hatte er eingelenkt, ohne Fragen zu stellen.

Einige Tage später hatte Ray ein nagelneues demontierbares Gewehr beim Waffenhändler zu Hause abgeholt. Beim Probeschießen hatte alles perfekt funktioniert. Er musste nicht einmal das Zielfernrohr einstellen – auf hundert Meter Entfernung hatte der Schuss fast exakt den Punkt getroffen, den er anvisiert hatte. Die Abweichung betrug nur wenige Millimeter.

Das Gewehr hatte 2000 Rand gekostet.

 

Ganz oben auf dem staubigen Dachboden eines älteren Mietshauses am Rande vom Johannesburger Zentrum hatte Ray Lambert den perfekten Platz gefunden. Vom Dachbodenfenster hatte er freie Aussicht auf den Platz und das ockerfarbene Kongressgebäude am anderen Ende.

Er zündete sich eine Marlboro Light an und sah zu, wie der blaue Rauch sich langsam durch das Sonnenlicht nach oben schlängelte, das durch ein Dachfenster fiel. Die Zigarette schmeckte schwach und harmlos, aber er dachte, dass das ein guter Übergang sein könnte, bevor er ganz aufhörte. Er sah auf die Uhr und stellte fest, dass er sich bereit machen sollte. Die letzten Wochen hatte er sein Opfer genau beobachtet und seine Gewohnheiten kennengelernt. Er holte eine kleine Filmrollendose aus Aluminium aus seiner Hosentasche, schraubte den Deckel ab und drückte die Kippe sorgfältig darin aus. Er steckte die Dose wieder in die Tasche und wandte sich zum Fenster.

Fast im selben Moment knackte es im Walkie-Talkie, das im offenen Dokumentenkoffer neben ihm lag. Eine Reihe kurzer Klicklaute, dann Stille. Das war das verabredete Signal.

Schnell griff Ray Lambert nach der Waffe und schob den Gewehrlauf ein paar Zentimeter durchs Fenster. Man konnte es von der Straße aus nicht sehen, das hatte er vor ein paar Tagen mithilfe eines schwarzen Astes an derselben Stelle überprüft. Von der Straße aus hatte er die Fassade abgesucht. Wenn man nicht wusste, wohin man genau gucken oder wonach man suchen sollte, war kein Unterschied zu merken.

Ray musste nicht länger als eine halbe Minute warten.

In ein paar hundert Meter Entfernung glitt unter ihm ein blauer Chevrolet zum Kongressgebäude.

 

Auf der breiten Treppe zum Eingang, der mit hohen Säulen im klassischen Stil geschmückt war, saß ein Schwarzer mit einem Kinderwagen voller Zeitungen. Als er das Auto des Gewerkschaftschefs sah, leuchtete sein Gesicht auf. Er stand auf, nahm eine Zeitung aus dem Stapel und faltete sie zusammen, um sie ihm dann mit der üblichen andächtigen Verbeugung zu überreichen. Seit vielen Jahren kaufte der alte Luwamba jeden Morgen eine Zeitung bei ihm und wechselte ein paar Worte mit ihm. Luwamba wusste inzwischen sogar die Namen der Zeitungsverkäuferenkel. Der Zeitungsverkäufer wiederum wusste, dass der neue junge Chauffeur Luwambas Sohn Nelson war. Er lächelte breit. Die Eröffnungsreplik lag ihm schon auf den Lippen.

Abgesehen von den Männern im blauen Auto und dem Zeitungsverkäufer war der offene Platz fast leer, bis auf zwei schwarze Männer. Der eine lag etwa fünfzig Meter vom Gebäude entfernt im Schatten eines Baumes auf einer Parkbank, der andere ging mit einer Weinflasche in der Hand quer über den Platz auf ihn zu.

 

Ray legte das Auge ans Zielfernrohr und stellte den Chevrolet scharf. Ein junger Schwarzer mit marineblauem Anzug stieg aus. Ray stellte fest, dass dies nicht derselbe Chauffeur wie an den vergangenen Morgen war. Der Chauffeur öffnete die Hintertür, nahm eine Aktentasche entgegen und half mit seiner freien Hand dem älteren Mann aus dem Wagen.

Ray sah, wie die beiden Männer sich gegenüberstanden. Der ältere legte seine Hand auf die Schulter des jüngeren und sagte etwas, das beide zum Lachen brachte.

Er zielte auf einen Punkt etwas über und vor dem Ohr des alten Mannes. Ray fühlte das wohlbekannte Kitzeln des Adrenalins, das durch seine Adern bis in die Fingerspitzen pumpte. Das kriechende Gefühl aus Unruhe und Unbesiegbarkeit. Eine angenehme, sinnliche, fast erotische Empfindung.

Er drückte den Abzug und der Schuss feuerte los.

 

Der Kopf des Gewerkschaftschefs schien zu explodieren und er wurde zu Boden geschleudert.

Nelson Luwamba verstand erst nicht, was passiert war, einige ewige Sekunden lang hörte sein Gehirn auf zu arbeiten. Überflutet mit dem Blut und der Gehirnmasse seines Vaters starrte er auf den leblosen Körper.

Im nächsten Moment fiel er auf die Knie und schlug die Arme um den Vater. Unkontrolliert schrie er los – ein Schrei der tiefsten Verzweiflung.

 

Ray Lambert schraubte schnell und routiniert die Waffe auseinander und steckte die Teile in den Dokumentenkoffer. Mit dem Blick suchte er alle Oberflächen ab, mit denen er in Kontakt gekommen war, um sich zu versichern, dass er keine Spuren hinterlassen hatte. Er schloss die Tasche und verließ den Dachboden. Seit dem Schuss waren weniger als zwanzig Sekunden vergangen.

Weitere zwanzig Sekunden später war Ray unten an der Treppe angekommen. Er blieb hinter der Tür stehen, die in die kleine Seitenstraße an der Nordseite des Hauses führte. Ehe er auf den Weg hinaustrat, zog er sich ein Paar dünne, milchweiße, fast durchsichtige Gummihandschuhe aus und stecke sie sich in die Tasche.

Er spazierte zügig vom Haus fort und bog in die nächste Straße ein. Nach etwa hundert Metern trat er durch die Tür eines Lokals.

Gleichzeitig hörte er die ersten Polizeisirenen.

 

Ray Lambert sah sich in der halbvollen Kneipe um. Am Tresen saß ein Mann im khakifarbenen, zerknitterten Baumwollanzug. Die zwei Männer zeigten mit keiner Miene, dass sie einander kannten.

Der Name des Mannes war Arnold Wyllie. Ein knapp vierzig Jahre alter Boere, den Ray als Helfer engagiert hatte. Er hatte den Namen und die Adresse von seinem guten Freund und Kollegen Samuel Wilson in London bekommen. Wyllie war ein Kleinganove und Betrüger, der wiederholt wegen Diebstahls und Betrugs im Gefängnis gesessen hatte. Für Ray spielte es keine Rolle, dass sein Auftrag war, einen schwarzen Mann zu töten, es war ihm komplett egal, dass die Tat eine politische Motivation hatte – aber für Wyllies Beteiligung war dieser Fakt entscheidend gewesen. In dieser Hinsicht war er Idealist. Ein hingebungsvoller Anhänger der Apartheid.

Wyllie las eine Zeitung und schien sehr mit den Cricket-Ergebnissen im Sportteil beschäftigt zu sein. Ab und zu nippte er abwesend an seinem Espresso. Er hatte sich in das Lokal gesetzt, sobald der blaue Chevrolet vorbeigefahren war. In seiner Innentasche steckte das Walkie-Talkie, mit dem er Ray das Zeichen gegeben hatte. Jetzt saß er hier und wartete. Auf dem Boden neben ihm stand ein Dokumentenkoffer, exakt das gleiche Modell wie Rays.

Ray stellte seinen Koffer neben Wyllies und lehnte sich über den Tresen, während er sich eine Zigarette anzündete. Durch das Fenster zur Straße sah er, wie zwei Polizeiautos mit Sirenen und blitzendem Blaulicht vorbeirasten.

Arnold Wyllie sah auf die Uhr und legte die Zeitung beiseite. Mit einem Zug leerte er seine Kaffeetasse, beugte sich runter, nahm Rays Dokumentenkoffer und verließ das Lokal.

Ray versuchte, die Aufmerksamkeit des Bartenders auf sich zu lenken, während er mit dem Fuß Wyllies Koffer näher zu sich zog.

„Kann ich bitte einen doppelten Espresso haben?“

„Sofort!“

Der Bartender war am Fenster mit einem anderen Gast beschäftigt. Beide kommentierten laut die Geschehnisse auf der Straße, wo Menschen in Richtung Kongressgebäude rannten. Der Bartender machte keinerlei Anstalten, Rays Bestellung demnächst auszuführen.

Ray zögerte einen kurzen Moment, dann stand er auf und kehrte mit Wyllies zurückgelassenem Koffer auf die Straße zurück.

 

Pieter Boeck eilte die Treppen zu Norris‘ Büro im dritten Stock hoch. Immer zwei Stufen auf einmal. Er hatte unglaubliche Neuigkeiten. Er hatte gerade aus dem Radio erfahren, dass Luwamba ermordet worden war.

Luwamba, über den sie im letzten Jahr so viel diskutiert hatten, weil sein Handeln besorgniserregend für die wichtigen amerikanischen Interessen war. Jetzt war alles anders.

Er klopfte an die Tür zu dem Zimmer, das Norris während seiner Anwesenheit zur Verfügung gestellt worden war.

„Herein!“

Hinter einem riesigen Mahagonischreibtisch in einem auch ansonsten luxuriös eingerichteten Büro im dritten Stock der Botschaft in Pretoria saß Bertram Norris. Er war ein großgewachsener, blonder Mann in seinen Vierzigern, mit blauen Augen und Lachfalten, die ihm einen dauerhaft zufriedenen Ausdruck verliehen. Trotz der Hitze trug er einen dunklen Anzug mit Krawatte, sah aber dennoch cool und entspannt aus.

Er sah lächelnd von dem dicken Bündel Feldberichte auf, als Pieter Boeck außer Atem in das Zimmer stürzte.

„Mr Norris!“, keuchte er, noch abgekämpft von der Treppe. „Auf Luwamba ist geschossen worden!“

„Was?“ Norris fiel das Kinn herunter. „Was sagen Sie da?“

„Ich habe es im Radio gehört. Es gibt auch eine Sondersendung im Fernsehen!“

„Wann ist das passiert?“

„Gerade eben! Ein Scharfschütze bei der Kongresshalle, als Luwamba gerade hinein wollte.“

Norris stand auf und stellte den Fernseher in der Ecke an.

„Lebt er noch?“, fragte er.

„Nein, er war sofort tot!“, sagte Boeck. „Sein Kopf ist quasi in tausend Stücke zersprungen.“

Norris sank in den Sessel vor dem Fernseher und betrachtete mit ernster Miene die Reportagebilder vom Ort des Attentats. Ein aufgeregter Reporter stand vor einer Säule des Kongressgebäudes und sprach angespannt von den denkbaren Folgen des Mordes. Man befürchtete Demonstrationen und vielleicht Randale. War das hier der Auftakt für einen langen, heißen Sommer für Südafrika?

„Furchtbar!“, sagte Norris.

Boeck nickte. Was geschehen war, war furchtbar. Aber gleichzeitig spürte er Zufriedenheit. Der Mord hatte schließlich ihr Problem gelöst, als hätten die Götter eingegriffen, dachte er. Deus ex machina.

„Mr Norris, das kommt uns sehr gelegen“, sagte er leise und mit einem angedeuteten Lächeln.

Norris sah ihn kalt an.

„Das ist unglaublich zynisch, Boeck“, sagte er scharf und sah aufrichtig verstört aus über die rücksichtslose Direktheit. „Es ist grauenhaft. Ich hoffe wirklich, dass sie den Mörder so schnell wie möglich finden!“

Das Lächeln des jungen Angestellten erlosch unmittelbar, als hätte man ihm eine Ohrfeige verpasst.

„Aber Sie haben recht, dass sich die Situation dadurch verändert hat“, fuhr Norris mit milderem Ton fort. „Dies ist eine ganz neue Ausgangslage, zu der wir Stellung nehmen müssen.“

Norris verstummte und sah gedankenverloren aus dem Fenster.

Boeck versuchte die Falten aus seinem hellen Baumwollanzug zu streichen. Er spürte sein Hemd am Rücken kleben. Der Kragen musste fleckig vom Schweiß sein. Er steckte einen Finger in den Kragen und fuhr mit ihm an der Innenseite entlang. Er wagte es jedoch nicht, seine Krawatte zu lockern. Sein amerikanischer Chef hatte ja sogar einen zugeknöpften Anzug getragen, obwohl er allein in seinem Büro gewesen war.

„Boeck, halten Sie mich auf dem Laufenden, informieren Sie sich über die Geschehnisse“, sagte Norris nach einer kurzen Pause und stand auf. „Ich muss New York anrufen.“

„Okay, Mr Norris“, sagte Boeck erleichtert und eilte aus dem Zimmer.

Norris lächelte in sich hinein. Die Lachfalten um die Augen zogen sich zusammen. Er sah erleichtert aus. Er ging zum Fenster und stellte die Jalousien so ein, dass er auf die Straße sehen konnte. Das ging schneller als erwartet, dachte er. Weniger als zwei Monate, seit der Ball ins Rollen geraten war. Und nun war Luwamba tot.

Ein sehr kompetenter Killer, stellte er fest. Diesen Kontakt sollte man sich merken.

 

Bertram Norris arbeitete seit dem Ende der Sechzigerjahre für die CIA. Erst in Indochina, in den Siebzigern dann vor allem in Lateinamerika.

In Lateinamerika war es Norris‘ Aufgabe gewesen, so energisch und unsichtbar wie möglich amerikanisches Eigentum und amerikanische Interessen zu schützen. Das hatte vor allem bedeutet, verschiedene Diktaturregimes und deren Generäle zu unterstützen.

In diesem Zusammenhang hatte er Jack Pallon, einen amerikanischen Multimillionär kennengelernt, dessen Firma Pallon Enterprises Inc. Hektar um Hektar Obstplantagen in Lateinamerika gehörten. Pallon war Enteignung von den Staaten angedroht worden, in denen seine Tätigkeit die Wirtschaft komplett dominierte. Staaten, die den Namen „Bananenrepublik“ wahrhaftig verdienten.

Es gab notwendige Operationen, mit denen sich die CIA aus moralischen und politischen Gründen nicht befassen durfte. Operationen, die eher auf Privatfirmen und deren Gewinne abzielten als auf die amerikanische Sicherheitspolitik. Es kam drauf an, wie man es betrachtete. Norris‘ Auffassung dazu war eindeutig: Amerikanische Interessen gingen immer vor.

Manchmal musste einfach eingegriffen werden, obwohl die Organisation es nicht durfte. Es war wichtig, dass dieses Eingreifen nicht hergeleitet werden konnte, um nicht Ziel von Ermittlungen und Ausschussanhörungen zu werden. Es musste so weit wie möglich von der CIA und deren Personal entfernt geschehen. Die lenkende Hand musste unsichtbar sein. Das war Norris‘ Spezialität.

In einer südamerikanischen Republik hatte Norris bestimmte Gegner von Pallon eliminiert. Einen Politiker und einen General. Nicht persönlich, sondern mit der Hilfe von Vermittlern, die nichts mit der Arbeit der CIA zu tun hatten und in den meisten Fällen nicht einmal wussten, dass sie Vermittler waren oder woran sie gerade beteiligt waren. Die Morde wurden von angeheuerten Berufskillern ausgeführt, die mit den Kartellen verknüpft waren.

Pallon hatte seiner Dankbarkeit persönlich Ausdruck verliehen und Norris hatte sich das Haus in Vermont kaufen können.

Dass Norris sich nun in Südafrika befand, lag teilweise ebenfalls an Jack Pallon. Eine seiner Tochterfirmen war das Ziel einer Kampagne heftiger Kritik gegen ausländische Firmenbesitzer gewesen, die Luwamba initiiert hatte.

Aber Norris‘ Hauptaufgabe war, die Arbeit der CIA im Land neu zu organisieren.

Im Fernsehen hatte man nun einige politische Gutachter um einen Tisch im Studio versammelt und diskutierte die politischen Konsequenzen des Mordes. Mit einem Auge auf dem Fernseher nahm Norris das Telefon und drückte die Kurzwahl nach New York.

Auf der anderen Seite des Atlantiks ging Jack Pallon persönlich ans Telefon.

„Hallo, hier ist Norris!“

„Hallo, Bert, bist du noch immer in Afrika?“

„Ja, aber … das Fahrwasser hat sich verändert“, antwortete Norris.

Es bestand kein Zweifel, dass Jack Pallon die kryptische Aussage von Norris verstand. Pallon grinste breit.

„Wunderbar, gut gemacht! Wann sehen wir uns?“

Norris‘ Augen waren nur noch schmale Schlitze und sein Lächeln zeigte seine gleichmäßigen, weißen Zähne.

„Ich reise bereits morgen ab.“

 

Arnold Wyllie saß in seiner Wohnung und wartete auf 10000 Rand in bar.

Er hatte den Dokumentenkoffer geöffnet und betrachtete mit großem Interesse die Teile des High-end-Gewehrs. Er spielte gerade mit dem Zielfernrohr herum, als es an der Tür klingelte.

Schnell legte er die Teile zurück und schloss den Koffer, ehe er den Mann hereinließ, den er als Dennis Clayton kannte.

„Das ist doch super gelaufen, Dennis“, sagte Wyllie zufrieden. „Ein Schuss und fertig. Elegant. Es war im Fernsehen, sie hatten eine Einstellung …“

„Keine Probleme auf dem Heimweg?“, fragte Ray Lambert.

Wyllie schüttelte grinsend den Kopf.

„Es waren ja alle auf dem Weg zum Kongresshaus. Ich habe den Bus in die andere Richtung genommen. Hast du das Geld dabei?"

Ray klopfte sich auf Höhe der Innentasche aufs Jackett und Wyllie lachte erleichtert:

„Willst du einen Whisky?“

Ray nickte und Wyllie ging ans hintere Ende vom Zimmer zu einem Barschrank im Bücherregal. Es standen kaum Bücher im Regal, abgesehen von ein paar prachtvollen Bildbänden über Afrika. Stattdessen war es voll mit Hunderten von Videokassetten und großen Mengen von Nippes. Ray fiel es schwer, Wyllies robusten Männerkörper mit den kleinen, akkuraten, durchsichtigen Tierfiguren aus farbigem Glas überein zu bringen, die in ordentlichen Reihen dastanden.

Während Wyllie am Barschrank damit beschäftigt war, Whisky in zwei Wassergläser zu füllen, zog Ray eine Flasche aus seiner Tasche. Er zog den Korken hinaus und tränkte ein Taschentuch mit dem Flascheninhalt.

Wyllie wurde von Ray überrumpelt, der ihm von hinten das Jackett runterzog, sodass seine Arme gefangen waren. Als Ray ihm das äthergetränkte Taschentuch auf Nase und Mund presste, warf er sich verzweifelt auf die Seite, um sich loszureißen. Die beiden Männer taumelten gegen das Bücherregal. Die kleinen, fragilen Glasfiguren regneten zu Boden und vermischten sich mit dem Glas der Whiskyflasche und der Wassergläser.

Ray ließ nicht los und endlich entspannte sich der Körper unter seinem Griff. Er ließ ihn zwischen die Glassplitter auf den Boden gleiten.

Ray erlaubte sich keine Pause. Er leerte den restlichen Inhalt des Ätherfläschchens über den bewusstlosen Wyllie. Ein Buch über die Tierwelt der Serengeti war zu Boden gefallen. Ray riss eine Seite raus und zündete sie mit seinem Feuerzeug an. Er ließ das brennende Papier auf den Teppich fallen.

Sofort flammten die äthergetränkten Objekte auf und Arnold Wyllie wurde von den Flammen bedeckt.

Ehe das Feuer sich ausbreiten konnte, verließ Ray die Wohnung. Das Gewehr ließ er zurück. Als er die Tür hinter sich schloss, wischte er den Türgriff sorgfältig mit einem Taschentuch ab. Der Griff war das Einzige, das er in der Wohnung angefasst hatte.

Er mied den Fahrstuhl und lief die Treppen hinunter. Auf der Straße ging er in schnellem Tempo vom Haus fort. Vor einem indischen Restaurant ein paar Meter weiter hielt er ein Taxi an.

 

Ray sank auf den Rücksitz. Er merkte, dass sein Puls noch schnell war, aber das intensive Pulsieren seines Blutes an den Schläfen ließ nach. Ein ruhiges Gefühl erfüllte ihn. Dies war ein gefährlicher und trügerischer Moment, das wusste er. Noch war die Gefahr nicht vorbei und er durfte sich noch nicht entspannen. Aber mit jeder Minute entfernte er sich weiter vom Tatort. Ray zündete sich eine Zigarette an.

Das Taxi hielt vor dem Hotel an. Ray bezahlte und ging hinein, um seine Taschen zu holen. Er hatte bereits ausgecheckt, sodass er wenige Minuten später erneut mit seinem Gepäck durch die Eingangstür trat. Er nahm ein neues Taxi zum internationalen Flughafen. Er passierte den Check-In und bekam einen Ausreisestempel in den Pass, der auf den australischen Bürger Dennis Clayton ausgestellt war.

Drei Stunden später saß er in einem Jumbo nach London. Sein fünf Wochen andauernder Auftrag in der Republik Südafrika war abgeschlossen.

2.

Lennart Waldenström hasste New York.

Er hasste das Gedränge und die Gewalt, die er zum Glück nicht persönlich erleben musste. Niemals würde er auch nur davon träumen, allein durch den bedrohlichen Straßendschungel zu spazieren, wo das Heulen der Polizeisirenen ständig präsent war. Er war dankbar, dass er sich in einer schallisolierten Limousine befand, die das dröhnende Inferno der 5th Avenue ausschloss, deren Mittelspur Manhattan in zwei Teile teilte.

Trotz seiner Abneigung gegen die Stadt hatte er mit den Jahren recht viel Zeit in ihr verbracht. Der Hauptgrund dafür war sein amerikanischer Freund Jack Pallon, in dessen Auto die beiden gerade auf dem Weg zum Kennedy Airport waren.

Lennart und Jack kannten sich bereits seit Kindertagen. Ihre Väter hatten bereits Ende der Zwanziger Geschäfte miteinander gemacht. Das Band zwischen den Familien war sehr stark. Sechs Jahrzehnte lang hatten sie miteinander verkehrt und die beiden Söhne, die ziemlich gleich alt waren, hatten viel gemeinsam. Die Sommer hatten sie oft miteinander verbracht, sowohl in Schweden als auch in den USA. Lennart hatte den zwei Jahre älteren und – wie es immer hieß – begabteren Jack immer bewundert.

Sie waren immer füreinander da gewesen, als wären sie Brüder. Geld kann dicker als Blut sein, dachte Lennart.

Wie Jack hatte Lennart eine umfangreiche Ausbildung genossen, vor allem als Banker. Nach seinem Bachelor in Jura und ein paar Jahren an einer amerikanischen Universität hatte er einen Job in einer von Pallons Banken in New York bekommen. Seine Laufbahn schien festzustehen, doch dann überwarf er sich mit seinem Vater. Es ging um eine Geldanlage, von der ihm sein Vater abriet, die Lennart aber auf Jacks Rat hin trotzdem durchführte. Aus einer unbedeutenden Meinungsverschiedenheit wurde eine ernste Vertrauenskrise zwischen Vater und Sohn. Lennart wurde zu einer von Waldenströms Firmen verwiesen, die mit der Erzsuche in Afrika befasst war.

Sein Vater Ernst Waldenström ließ stattdessen sein Wohlwollen über Lennarts Schwester Emelie scheinen, die er ins Hauptbüro setzte. Sie sollte so weit geschult werden, dass sie eines Tages den gesamten Konzern übernehmen können würde. Sie fing in der Bankfiliale der Familie in Hong Kong an, die damals die wichtigste war.

Doch zwischenzeitlich zeigte es sich, dass auch Emelie die Erwartungen nicht erfüllte. Schon nach einer Woche in Hong Kong verliebte sie sich Hals über Kopf in einen chinesischen Kaufmann mit europäischen Bräuchen und Gewohnheiten. Zu allem Übel war dieser Mann der Sohn eines von Ernst Waldenströms erbittertsten Feinden.

Ernst versuchte mit allen Mitteln, seine Tochter zum Nachhausekommen zu bewegen. Er reiste mehrfach nach Hong Kong, um sie zu überreden, aber sie weigerte sich, zur Vernunft zu kommen. Er drohte ihr damit, sie zu enterben. Auch das half nicht. Schließlich zwang ihn sein Stolz dazu, seine Tochter für immer zu verstoßen.

Er holte seinen Sohn Lennart nach Hause, der mittlerweile mehr als zehn Jahre in Afrika verbracht hatte. Während dieser Zeit hatte Lennart eine Familie gegründet und mit seiner Frau Anna-Lisa sieben Kinder bekommen, die bei seiner Rückkehr nach Schweden alle unter zehn Jahre alt waren.

Lennart wurde im Hauptbüro der Bank im Zentrum von Stockholm eingesetzt und bekam die Verantwortung für die Währungsabteilung. Als Lennart klar wurde, dass dies seine große Chance auf Wiedergutmachung in den Augen seines Vaters war, beschloss er, alle Demütigungen runterzuschlucken. Er entschied sich, mit allen Mitteln das Misstrauen zu besiegen und zu beweisen, dass er durchaus zu etwas nütze war.

Es dauerte jedoch zehn Jahre, bis Ernst Waldenström seinen Sohn endlich in sein Direktorenbüro bestellte und ihm offenbarte, dass er ihm die Leitung übertragen wolle.

Der eigentliche Grund dafür war, dass Ernst von seinem Arzt die Diagnose Lungenkrebs bekommen hatte und dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb – auch mit Behandlung hatte er nur noch ein knappes Jahr zu leben. Dies erwähnte er jedoch mit keinem Wort seinem Sohn gegenüber.

Schon zwei Monate später starb Ernst – doch nicht am Krebs, sondern an einem Herzinfarkt im Flugzeug von Stockholm nach London.

Lennart war vierundvierzig Jahre alt, als er die Verantwortung für das Imperium übernahm, in dem Schwedens größtes Privatvermögen lag.

Ernst Waldenström war nicht der Einzige im Konzern, der an der Kompetenz des schweigsamen und manchmal unberechenbaren Nachkommen gezweifelt hatte. Die Nachricht über die Machtverschiebung wurde mit großem Unwillen aufgenommen.

Doch das Misstrauen wendete sich bald: Schon sehr bald gelang es Lennart Waldenström, einen großen Firmenkauf in der Weißwarenbranche durchzuführen, was ihm viel Respekt einbrachte. Der Kauf erwies sich als sehr geglückt und fast unanständig ertragreich – und in einer Welt, in der Geld das einzige Maß war, veränderte sich die Einstellung der anderen über Nacht.

In den darauffolgenden Jahren machte Lennart eine Reihe weiterer glücklicher Geschäfte und wurde in kurzer Zeit zu einer von Schwedens einflussreichsten Persönlichkeiten.

Auch seine Achtung vor sich selbst wuchs und er spürte die Verpflichtung seiner Position. Er war nicht mehr nur für sich selbst verantwortlich, sondern für alle, die von ihm abhängig waren – vielleicht sogar fürs ganze Land. Gleichzeitig legte er sich eine hübsch bescheidene Art zu und pflegte sorgfältig seine Anonymität. Mit seinem Vater als großem Vorbild entzog er sich aller unnötiger Öffentlichkeit.

Er wurde ein Mann, der lieber ohne viel Aufhebens im Stillen arbeitete.

Die seiner Klasse entsprechende Erziehung hatte ihm die Ehrfurcht vor demjenigen vermittelt, dessen Vermögen und Macht er nun geerbt hatte. Nun ehrte und achtete er die Erinnerung an seinen Vater. Dass er ihn seit seiner Kindheit gehasst hatte, gab er nicht einmal sich selbst gegenüber zu. Ebenso wenig erkannte er, dass er seinem Vater mit den Jahren immer ähnlicher wurde.

 

Jack Pallon war ein kleiner, untersetzter Mann. Er näherte sich der Sechzig, sah aber aus, als hätte er diesen Meilenstein bereits passiert. Die Abwesenheit von Haarwuchs – sogar die Augenbrauen waren nackt – unterstrich den Eindruck, dass er sehr viel älter als Lennart Waldenström war.

Er trug eine viel zu große, runde Brille mit unvorteilhaft breitem, schwarzen Rahmen. Die Gläser vergrößerten die kleinen, hellblauen Augen und verliehen ihnen einen intensiven und fast unerträglichen Blick.

Die sollte er austauschen, dachte Lennart, aber das war kein Thema, in das er sich hineinhängte. Die beiden Männer kannten sich in- und auswendig. Es gab nicht viel in Jacks Leben, worüber Lennart nicht Bescheid wusste.

Jack Pallon war der Chef von einer der größten Firmen der Welt. Auch wenn sie inzwischen vielleicht mehrere tausend Tochterfirmen in unterschiedlichen Branchen hatte – er wusste nicht genau, wie viele – lag der Schwerpunkt im Obst. Obst aus der ganzen Welt, vor allem aus Südamerika und dem Mittleren Osten.

Jack selbst besaß einen großen Teil dieser riesigen multinationalen Firmen. Wie Lennart hatte er das meiste von seinem Vater übernommen. Sein Vater, William H. Pallon – oder Bill, wie dieser im Sinne der Bescheidenheit vorzog – war hingegen ein Selfmade-Man gewesen. Bill hatte mit den klassischen leeren Händen angefangen, hart geschuftet und sein Imperium von Grund auf aufgebaut.

Der Mythos um Bill Pallons Weg zum Reichtum war sehr nützlich. Der amerikanische Traum war noch immer lebendig und verschaffte ihnen in fast allen Belangen Sicherheit und Autorität. Dies wurde fleißig ausgenutzt und der Traum wurde als Schutzschild gegen jegliche Kritik an der Firma hergenommen. Von dieser Kritik hatte es über die Jahre reichlich gegeben, insbesondere, was die Besitztümer der Firma in Südamerika anging. Aber gegen den Mythos stand jede Kritik als unamerikanisch da.

Jack war der Jüngste von mehreren Geschwistern. Außer ihm gab es noch drei Schwestern. Aber Jack war der einzige Sohn und erbte somit selbstverständlich die Leitung des Familienunternehmens. Der alte Bill Pallon hatte schon früh die Weichen für Jacks Übernahme des Vermögens gestellt.

Die erste und wichtigste Voraussetzung war natürlich eine fundierte Ausbildung. Eine Ausbildung, die der Vater gründlich geplant und vorgegeben hatte. Jack war willens und interessiert. Noch dazu war er begabt genug für sowohl Studium als auch Geschäfte, stieß also auf keinen Widerstand.

Die zweite Voraussetzung war, dass Jack ein guter Christ blieb. In Bill Pallons Fall hieß das, jeden Sonntag in die Kirche zu gehen und die Baptistengemeinde in New York zu unterstützen, zu der die Familie schon immer gehört hatte.

Die dritte Voraussetzung war, dass er eine Frau mit dem gleichen Glauben aus derselben Gemeinde heiratete und dass sein Vater ihr zustimmen würde.

All das hatte Jack erfüllt.

Einige Monate, nachdem Jack geheiratet hatte, starb sein Vater an einer Gehirnblutung. Kurz nach der Beerdigung verließ Jack seine Frau. Sie bekam reichlich Unterhalt und war damit zufrieden. Auch für sie war die Ehe ein bloßes Geschäft gewesen.

Jack heiratete bald erneut. Diesmal eine Schauspielerin aus Kalifornien, mit der er rasch hintereinander drei Kinder bekam. Aber nach sieben Jahren relativen Glücks kam seine Frau bei einem Autounfall um und ließ Jack allein mit drei minderjähren Kindern zurück.

Ein Jahr später traf Jack eine achtzehn Jahre alte katholische Balletttänzerin, die sich in seine weltgewandte, vermögende Art verliebte und sich verführen ließ. Die hübsche junge Frau schmeichelte seinem Ego und er heiratete sie trotz des Altersunterschieds – er war doppelt so alt wie sie. Doch das Leben in der New Yorker Society langweilte die junge Frau. Schon nach einem halben Jahr hatte sie die Rolle der Stiefmutter von den drei kleinen Kindern satt, die sie nie so recht geliebt hatte, und auch den Mann, der ständig auf Geschäftsreise war. Als Jack eines Abends von einer zweitägigen Reise nach Guatemala zurückkehrte, war sie weg. Sie hatte ihn für einen jüngeren Filmproduzenten verlassen, der sie nach Europa mitgenommen hatte. Sie verließ Jack ohne Anspruch auf Unterhalt.

Die folgenden siebzehn Jahre lebte Jack allein. Gouvernanten ersetzten die Mutter der Kinder.

In Jack Pallon war etwas zerbrochen. Er hatte die junge, hübsche Tänzerin wirklich angebetet. Desillusioniert schloss er sich in sich ein. Immer häufiger ging er in die Kirche. An einem eiskalten Dezembersonntag traf er eine Frau, die sein Leben verändern würde.

Ellen Farray hatte sich aus Versehen in die Kirchenbank von Familie Pallon gesetzt. Sie war neu in der Gemeinde und wusste nicht, dass die prominenteren Gemeindemitglieder eigene, reservierte Plätze hatten. Als ihr ihr Fehler auffiel, war es zu spät. Der Gemeindepastor, Theodore Fuller, hatte bereits mit der Predigt begonnen.

Vorsichtig lehnte sich Ellen zu Jack, der gedankenverloren dasaß, und bat ihn mit leiser Stimme um Entschuldigung für ihren Fehler. Jack sah verwundert auf. Er hatte die fremde Frau nicht bemerkt, die beschämt neben ihn gesunken war.

Jack Pallon erzählte Lennart, dass er sich sofort in sie verliebte.

„Ich war gerade fünfzig geworden und sie war auch kein junges Täubchen mehr, aber ich fühlte mich wie ein junger College-Boy! Kannst du dir das vorstellen? Als alter Kerl! Ich hörte nicht ein verdammtes Wort von Pastor Fullers Predigt. Ich dachte einzig daran, wie ich sie kriegen konnte!“

Ellen saß so nah an ihm dran, dass er ihre Körperwärme spürte. Die betörenden Duftwolken von ihrem Parfüm machten ihn schwindlig.

In der Woche darauf war Jack wie berauscht. Er konnte die Frau nicht aus dem Kopf bekommen. Seine Mitarbeiter glaubten, dass er eine Grippe ausbrütete und legten ihm nahe, frei zu nehmen und sich zu Hause hinzulegen.

Am folgenden Sonntag ging Jack wie gewöhnlich zur Messe. Zu seiner großen Freude sah er Ellen dort. Sie erkannte ihn sofort wieder und nickte ihm freundlich zu, als er auf dem Weg zu seiner Bank im vorderen Teil der Kirche an ihr vorbeiging.

Auch diesmal konnte er sich nicht auf Pastor Fullers Betrachtungen konzentrieren. Ellen saß im allgemeinen Teil der Kirche. Ständig drehte er den Kopf und sah zu ihrem Platz. Wann immer sie seinen Blick traf, lächelte sie.

Meine Güte, ist sie hübsch, dachte er, und entdeckte zu seiner Verwunderung zum ersten Mal in seinem Leben, dass auch mittelalte Menschen schön sein können.

Jack hatte Glück. Er hatte hinterher noch etwas vor der Kirche rumgehangen und mit Ralph Miller gesprochen, obwohl es schneite und es kalt auf der Straße war. Ralph hatte das neue Budget für die Gemeindehausrenovierung besprechen wollen und Jack hatte interessiert zugehört. Ellen war nach dem Gottesdienst ebenfalls dageblieben, um sich Pastor Fuller und seiner Frau vorzustellen.

Als Jack sich von Ralph verabschiedete und sein Auto aufschloss, kam Ellen aus der Kirche. Er sah sie auf der glatten Treppe ausrutschen und hinfallen.

Jack reagierte blitzschnell und rannte zu ihr, um ihr aufzuhelfen. Sie konnte kaum auf ihren Fuß auftreten und er bot ihr sofort an, sie zu fahren. Er erfuhr, dass Ellen unverheiratet war und als Lehrerin arbeitete. Eine Woche später lud er sie in ein kleines italienisches Restaurant ein.

Es zeigte sich, dass Ellen sehr gläubig war. Ihr Mangel an Respekt für seine Position faszinierte ihn. Es war ihr komplett egal, dass er steinreich war. Sie interessierte sich vielmehr für ihn als Person – und für seine Kinder. Jack verfiel ihr haltlos.

Drei Monate später machte er ihr einen Antrag und sie sagte ja.

Jacks Religiosität war echt. Für ihn war das Treffen mit Ellen ein Zeichen des Herrn. Er spürte ein inneres Glühen, das er noch nie zuvor gekannt hatte. Sein neuer Zustand beeinflusste alles, was er tat, auch die Arbeit. Nicht so sehr, dass er seine oft ziemlich brüsken Geschäftsmethoden änderte, aber es schien, dass jetzt alles eine neue, fast heilige Bedeutung bekam. Er hatte eine christliche Pflicht.

 

Etwa eine Woche später wurde Lennart mitten in der Nacht von einem Anruf von Jack geweckt, der nicht an den Zeitunterschied gedacht hatte. Es gab diverse Dinge, die er besprechen wollte, und zwar so schnell wie möglich. Ob Lennart vielleicht nach New York kommen könnte? Ja, das konnte er.

Die beiden Männer hatten sich zwei Tage lang intensiv bei Jack zu Hause unterhalten. Lennart hatte zum ersten Mal Jacks neue Frau Ellen getroffen. Sie war tief gläubig und vor dem Essen wurde gebetet. Sie war die vierte Ehefrau und hatte Jack verändert, wie Lennart auffiel. Jack hatte eine neue Einstellung zur Welt. Am ersten Tag war alles noch recht formell gewesen und sie hatten sich über ein paar Vorstandsberichte von einer von Jacks Firmen unterhalten. Jack wollte Lennart in einem weiteren Vorstand haben, aber Lennart hatte dankend abgelehnt. Stattdessen hatte er selbst ein paar schnittige Ideen vorgeschlagen, die er in die Welt entlassen wollte.

Am zweiten Tag ging es um Jacks Grübeleien. Lennart war klar, dass sie der Hauptgrund waren, warum Jack ihn hatte treffen wollen. Geduldig hatte er seinem alten Freund zugehört, als er sich ausließ über seine Zukunftsangst, die Ausbreitung des Bösen und darüber, wie die Leader der Welt die Gefahren ignorierten, weil sie diplomatisch und politisch handeln mussten.

Im Großen und Ganzen teilte Lennart die Ängste seines Freundes, aber er stimmte ihm nicht zu, dass die Hauptursache im fehlenden Glauben an Gott lag. Ebenso wenig sah er sich als Werkzeug in Gottes Hand.

Lennart Waldenström war die neue Religiosität von Jack fremd. Er erkannte seinen Freund aus Kindertagen kaum wieder. Zwar war Jack immer konservativ gewesen, aber damals, während des Kalten Krieges, hatten sie gemeinsam über die paranoiden Übertreibungen der McCarthy-Ära lachen können. Jetzt hatte sich Jacks Konservatismus zu einem in der Öffentlichkeit fast lästigen Kommunistenhass ausgewachsen.

 

Lennart hatte ein Ticket für einen SAS Jumbo Richtung Stockholm-Arlanda gebucht und Jack wollte mit seiner privaten Boeing 747 auf Geschäftsreise nach Panama. Mit ihnen im Auto saß ein Mann, dessen Aufgabe Lennart nicht ganz klar war. Als er sich als Mr Norris vorstellte, hatte er geglaubt, dass er ein Geschäftsführer in einer von Jacks vielen Firmen war, aber dann hatte er herausgehört, dass er offenbar für die Regierung arbeitete. Dieser fast zwei Meter große Mann, der immer so aussah, als würde er lächeln, würde mit Jack nach Panama reisen. Er saß neben dem Fahrer und beteiligte sich nicht an der Unterhaltung auf der Rückbank.

„Dieser Kommunist schubst uns schon seit Vietnam nur herum!“, sagte Jack. Sein Gesicht hatte eine leicht pinke Färbung angenommen und die von der Brille vergrößerten Augen fixierten Lennart. „Ich mache mir seinetwegen Sorgen. Es heißt, dass er die nächste Wahl verlieren wird. Dann will man ihn in die UN holen. Viele wollen ihn dort haben. Das ist nicht gut. Viele machen sich Sorgen, ja, haben regelrecht Angst, Lenny.“

„Ich weiß“, sagte Lennart. „Zu Hause hält man auch nicht viel von ihm. Alle wollen ihn loswerden. Vielleicht verschwindet er mit der nächsten Wahl und dann bekommen wir sicher eine firmenfreundlichere Regierung, aber – und das ist das Hauptproblem – sie wird schwächer sein. Die Kurse werden fallen. Und am Tag drauf findet er sich sicher in der internationalen Arena wieder, wie du auch meinst.“

„Das wäre eine Katastrophe. Ich hoffe, du verstehst, wie ernst wir das nehmen – unsere Interessen in Südamerika werden darunter leiden. Und unsere Geschäfte, Lenny. Die Geschäftsbeziehungen zwischen den USA und Schweden werden leiden. Sprich mit deinen Leuten. Was sagen die? Ihr sollt wissen, dass wir hinter euch stehen. Wir stehen euch so lange wie möglich zur Seite. Wir … du musst versuchen, eine Lösung zu finden!“

Jack verstummte und trommelte mit den Fingern auf der Autotür herum.

Lennart lehnte sich gedankenverloren in den geräumigen Rücksitz der Limousine zurück und zündete sich einen Zigarillo an. Durchs Fenster sah er, dass sie das Zentrum hinter sich gelassen hatten und sich auf dem Highway befanden.

„Ich habe keine Ahnung, wie ausgerechnet ich eine Lösung finden soll“, sagte Lennart schließlich.

„Ich wünschte, du hättest so viel Gottvertrauen wie ich. Dann könntest du deinen Kummer in Gottes Hände legen.“

Jack lehnte sich vor und klopfte ihm leicht auf den Arm. Er lächelte mild. Die blauen Augen hinter den absurd vergrößernden Gläsern sahen ihn treu an. In dem Moment konnte Lennart nicht sagen, ob Jack nur so tat oder ob es ihm ernst war.

„Du stehst mir näher als meine Schwester, Lenny“, sagte Jack feierlich. „Wir beide haben so viel zusammen erlebt. Wir müssen auf unsere Freundschaft achtgeben.“

 

Lennart Waldenström verabschiedete sich am Eingang. Pallon würde mit dem Auto zum Privatterminal weiterfahren.

„Ich hoffe, du bist mit meinen Vorstandsleuten zufrieden“, sagte Lennart.

„Davon bin ich überzeugt“, sagte Jack. „Grüße an Anna-Lisa! Ach, und Lenny – das, worüber wir gesprochen haben … ruf mich an und erzähl mir, wie es läuft. Lass mich wissen, was für eine Lösung du findest.“

„Klar“, antwortete Lennart. Er war sich überhaupt nicht darüber im Klaren, welche Lösung von ihm erwartet wurde, aber er würde wie versprochen mit seinen Freunden sprechen. Er beugte sich zu dem dunkelblauen Samsonite-Koffer herunter, den der Chauffeur ihm vor die Füße gestellt hatte, aber Bertram Norris kam ihm zuvor:

„Lassen Sie mich den Koffer nehmen“, sagte er und hob ihn hilfsbereit hoch. Seine ebenmäßigen, weißen Zähne formten ein verbindliches Lächeln.

„Danke, aber das ist nicht nötig, Sie müssen doch weiter!“, protestierte Lennart.

„So eilig ist es nicht. Lass dir von Bert helfen. Ich warte im Auto“, sagte Jack und scheuchte sie mit der Hand weg. Er blieb stehen und sah zu, wie die beiden Männer in der Abflughalle verschwanden, ehe er sich wieder ins Auto setzte.

Lennart ist ein kluger Mann, dachte er zufrieden, wenn er Zeit zum Nachdenken hat, findet er sicher eine Lösung.

 

Waldenström nahm die Brieftasche mit den Tickets aus der Innentasche und sah sich nach dem Check-In um, sobald er die automatischen Türen passiert hatte.

„Es ist der Tresen da hinten“, sagte Norris und zeigte auf ein SAS-Schild fünfundzwanzig Meter weiter, ohne dass Lennart ihn gefragt hatte.

„Danke“, lachte Lennart. „Ich hatte ihn nicht gesehen.“

Er fühlte sich von Norris‘ aufgedrängter Hilfsbereitschaft leicht bedrängt und fragte sie, wie schnell er ihn loswerden konnte, ohne unhöflich zu sein.

„Ich glaube, jetzt komme ich alleine klar“, setzte er an.

Aber Norris unterbrach ihn mit leiser, verbindlicher Stimme:

„Mr Waldenström, kann ich ein paar private Worte mit Ihnen wechseln?“

Lennart, der sich gerade seinen Koffer hatte schnappen wollen, den Norris abgestellt hatte, hielt verwundert inne. „Ja, natürlich?“

„Es betrifft Ihr Problem …“

„Mein Problem?“

„Ja, das, worüber Sie und Mr Pallon im Auto gesprochen haben. Ich kann Ihnen einen Uhrmacher in Zürich empfehlen.“

Waldenström verstand nicht, was Norris andeuten wollte, aber das unbehagliche Gefühl in ihm drin wuchs. Er sah ihn abwartend an.

„Wie bitte?“

Norris warf einen unauffälligen Blick durch die Halle und beugte sich ein Stückchen näher an ihn heran. Lennart roch sein teures Rasierwasser, das er zu ausgiebig benutzte.

„Der Uhrmacher kann Ihnen helfen … in Kontakt mit Spezialisten zu kommen. Eine spezielle Art von Handwerkern.“

„Ich verstehe Sie nicht“, sagte Lennart. „Wofür sollte ich Spezialisten benötigen?“

„Um unmögliche Probleme endgültig zu lösen!“, fuhr Norris geduldig fort.

Er betonte das Wort „unmöglich“ und sah in Lennarts gespannte Augen.

„Sie meinen …?“ Lennart ließ die Frage in der Luft hängen. Was er dachte, konnte er unmöglich aussprechen. Es war zu erschreckend. Unruhig sah er sich um.

„Ja! Nichts ist unmöglich!“, sagte Norris und grinste so breit wie ein Schuljunge. „Sehen Sie mal!“

Er zog eine Visitenkarte hervor und gab sie Lennart. Auf der maschinengeschriebenen Karte stand „14 Bahnhofstrasse, Zürich“. Lennart drehte sie um. Keine Telefonnummer, kein Name. Er sah Norris fragend an.

„Werden Sie sich an die Adresse erinnern?“, fragte er.

„Bahnhofstrasse 14, ja klar, ich kenne Zürich ganz gut.“

Norris nahm den Zettel und steckte ihn sich wieder in die Brusttasche.

„Gut. Über der Tür steht ‚Uhr und Optik‘. Der Uhrmacher ist um die sechzig, oben Glatze, weiße Haare an der Seite, man kann sich nicht irren. Arbeitet allein im Laden. Bestellen Sie eine Uhr namens ‚Clockwork tide‘.“

„‘Clockwork tide‘?“

Norris nickte.

„Ja. Sagen Sie, dass ein Tiefseetaucher ihn empfohlen hat.“

„Tiefseetaucher?“, sagte Lennart und kam sich blöd vor, weil er jedes Wort des Amerikaners wiederholte.

Norris nickte erneut, aber vermutlich sah Lennart skeptisch aus, denn Norris wurde plötzlich ernst und sagte mit gewissem Nachdruck:

„Geben Sie dort keine Details preis. Hinterlassen Sie einen versiegelten Brief. Der Uhrmacher sorgt dafür, dass der Spezialist ihn bekommt. Mit dem treffen Sie dann Ihre Abmachung. Und noch etwas: Gehen Sie nicht selbst hin. Bitten Sie jemand anderen darum. Je weniger die Person mit Ihnen zu tun hat, desto besser.“

„Verstehe“, sagte Lennart unsicher. „Danke für die Erklärung.“

„Keine Ursache!“, sagte Norris abrupt und streckte die Hand aus. „Und jetzt vergessen wir dieses Gespräch!“

Sein Händeschütteln war hart, amerikanisch und maskulin, und es fühlte sich so an, als wollte er jeden einzelnen Knochen in der Gegenhand brechen.

Homophob, dachte Lennart. Ein Land voller heimlicher Schwuler. Er mochte Mr. Norris nicht und fragte sich, wie Jack es mit ihm aushielt.

„Grüßen Sie Schweden!“, sagte Norris mit einem wolfsgleichen Grinsen, als sich die Flügeltüren hinter Lennart schlossen.

3.

Er hatte viele Namen – aber keiner war der richtige.

Vor einem knappen halben Jahr war er in Südafrika Dennis Clayton gewesen. Ein Jahr früher hatte er in Italien Marcello Capotti geheißen. Richard Miller, Paul Fischer, David Silbermann, François Munot … so viele Namen wie Aufträge.

Sein offizieller Name war Ray Lambert, auch gefühlsmäßig. Den benutzte er nie im Zusammenhang mit Aufträgen. Dieser Name war seine Zuflucht und musste sauber bleiben. Nur äußerst wenige Personen kannten ihn unter diesem Namen und wussten, womit er sein Geld verdiente.

Aber hinter all dem gab es noch einen Namen, den niemand außer ihm kannte. Seine echte Identität, sein erster Name, der seit 23 Jahren auf einem Grabstein in Angola verwitterte, von der Welt vergessen. Der Name, den niemand mehr aussprach. Der echte Name.

Er wurde 1931 als Oliver Bendini in Montreal in Kanada geboren. Seine Eltern hießen Emma und Simon Bendini. Sein Vater war ein angesehener und erfolgreicher Anwalt. Sein Vater fand freilich, dass er noch erfolgreicher gewesen wäre, hätte er keinen italienischen Hintergrund gehabt. Ständig stellte er verbittert fest, dass die richtig reichen Mandanten sich an anglo-sächsische Anwälte wendeten. Trotzdem ermutigte er seinen einzigen Sohn, dieselbe Laufbahn einzuschlagen. Er ermutigte ihn nicht nur, er verlangte es von ihm.

Seine Schulzeit verbrachte Oliver komplett im Internat. Keine andere Ausbildung war gut genug für Simon Bendinis Sohn. Nach der bestandenen Prüfung sollte Oliver umgehend in der trotz allem sehr gut aufgestellten Firma seines Vaters anfangen. Zuerst hatte er kategorisch abgelehnt, wurde dann aber von seiner Mutter überredet. Ihr konnte er nicht widerstehen.

Olivers Vater fand, dass man ganz unten anfangen sollte, wie er es selbst getan hatte. Dann sollte man sich Schritt für Schritt zu der Position hocharbeiten, die man verdiente. Der Vater prägte seinem Sohn gründlich ein, nie etwas als selbstverständlich hinzunehmen, vor allem nicht die Zukunft der Firma. Nur, wenn sein Sohn sich auf die Hinterbeine stellte und seine Arbeitsaufträge mit angemessenem Respekt und Bescheidenheit ausführte, konnte er damit rechnen, in die Gemeinschaft des Büros aufgenommen zu werden. Es würde nicht ohne harte Arbeit funktionieren, falls er das glauben sollte.

Olivers Vater ließ ihn Routinearbeiten ausführen, die Oliver langweilten. Die anderen Angestellten im Büro grinsten heimlich und waren zufrieden, dass der Sohn des Chefs keine Sonderbehandlung bekam.

 

Aber Oliver musste sich nicht lange in diesem aufgezwungenen Beruf bemühen. An einem frühen Novembermorgen 1955 veränderte sich das Leben der Familie Bendini.

Oliver hasste seinen Vater nicht. Dafür kannte er ihn gar nicht gut genug. Aber er liebt seine Mutter.

Olivers Mutter war Lehrerin. An diesem Morgen fuhr sie wie immer mit ihrem gelben Volkswagen zur Schule. Wie immer war sie spät dran und wie immer fuhr sie viel zu schnell. Ein paar hundert Meter vom Haus entfernt näherte sich seine Mutter der großen Kreuzung, wo der Weg die Hauptstraße zum Stadtzentrum kreuzte. Sehr rechtzeitig sah sie den großen, schweren Laster, der von links kam, und fuhr langsamer. Doch als sie auf die Bremse trat, um den Laster vorbeifahren zu lassen, bemerkte sie, wie glatt es war. In der vorherigen Nacht war der Eismeerwind über Nordkanada geweht und hatte alle Straßen in Glatteis verwandelt. Das Auto fuhr mit unverminderter Geschwindigkeit weiter, trotz blockierter Reifen, genau auf die Kreuzung zu. Und rutschte unter den Lastwagen.

Der Laster fuhr nach dem Zusammenstoß ebenfalls noch hundertfünfzig Meter weiter auf der spiegelglatten Straße, ehe der Fahrer ihn zum Halten bringen konnte. Der kleine Volkswagen Käfer war unter dem riesigen Truck zusammengedrückt und mitgeschleift worden. Es dauerte eine Stunde, ihn herauszuschneiden und den toten Körper von Olivers Mutter zu bergen.

Erst nach ihrem Tod wurde Oliver wirklich bewusst, wie viel seine Mutter seinem Vater bedeutet hatte. Sein Vater brach komplett zusammen und ertränkte seine Sorgen im Alkohol. Als die Nachricht von ihrem Unfall kam, weinte er zwölf Stunden lang und betrank sich dann hemmungslos. Am nächsten Tag trank er weiter. Und am nächsten. Und am nächsten. Er wurde nie wieder nüchtern.

Mit der Anwaltskanzlei ging es bergab. Simon Bendini war kaum dort, und wenn er doch auftauchte, war er betrunken. Die besten Mitarbeiter kündigten und die Mandanten blieben schnell weg.

Oliver ging nicht mehr zur Arbeit und niemand sagte etwas dazu.

Sechs Monate dauerte der Verfall, dann ging die zuvor so renommierte Kanzlei in Konkurs. Am Abend der Konkursanmeldung erschoss sich Simon Bendini durch den Mund mit einer Pistole. Oliver fand ihn einige Tage später im Wohnzimmer des Hauses.

 

Oliver floh vor allem, was mit Jura und der Vergangenheit zu tun hatte. Er hatte keinerlei Verwandte. Nichts hielt ihn zurück und er zog von Montreal nach Québec, wo er dem Militär beitrat.

Oliver mochte das Militärleben. Voller verzweifelter Energie vollzog er das harte physische Training. Seine Vorgesetzten waren beeindruckt und legten ihm eindringlich die Offiziersausbildung nahe. Das passte ihm hervorragend. Seine Begabung und sein Enthusiasmus führten ihn zu glorreichen Erfolgen. Nach sechs Monaten war er Hauptmann.

Aber seine Unruhe und seine Abenteuerlust trieben ihn weiter. Mit dreißig Jahren sah er diese Phase seines Lebens als abgeschlossen an und verließ das Militär. Er verkaufte die wenigen Dinge, die er noch besaß, und verließ Kanada für immer.

Oliver ließ jedoch nicht das militärische Leben hinter sich, denn das war neben Jura die einzige Ausbildung, die er hatte. Ein Leben als Jurist oder Kaufmann interessierte ihn nicht. Stattdessen fuhr er nach Afrika, wo er sich als Söldner in Angola anheuern ließ. Dort war ein regelrechter Freiheitskrieg ausgebrochen und die portugiesische Kolonialmacht versuchte mit allen Mitteln, den Aufstand zu ersticken. Oliver wurde als Hauptmann eingestellt und bekam die Befehlshoheit über eine größtenteils internationale Kompanie der portugiesischen Armee.

In Afrika wurde er zum Mörder.

Und zu Ray Lambert.

Als Oliver nach Angola kam, war er noch nie im Krieg gewesen und hatte noch nie einen Menschen getötet, obwohl er sechs Jahre lang Berufssoldat gewesen war. Aber in Afrika verlor er seine Unschuld. Als Soldat war Oliver furchtlos und legte oft eine Waghalsigkeit an den Tag, die an Todesverachtung grenzte. Er stand all dem Leiden um sich herum vollkommen eiskalt und indifferent gegenüber. Das führte dazu, dass ein Major in seinem Bataillon auf ihn aufmerksam wurde.

Oliver wurde eines Tages mit zwei anderen Befehlshabern – einem englischen Fähnrich und einem deutschen Sergeant aus der gleichen Kompanie – zu Major de Macedos Expedition beordert. Als sie sein Büro betraten, schickte der Major sofort seinen Adjutanten raus. Er wartete, bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte und wandte sich an die drei Männer.

„Ich möchte klarstellen, dass nichts, das in diesem Raum gesagt wird, weitergesagt wird. Verstanden?“

Er machte eine kurze Pause und sah sie an. Sie nickten.

Der Major nahm eine Zigarette aus dem Aschenbecher auf seinem Tisch. Plötzlich streckte er überraschend die Zigarettenschachtel zu den Männern und bot ihnen eine Zigarette an. Diese informelle Geste überrumpelte sie.

„Es geht um etwas, das außerhalb des normalen Diensts liegt“, fuhr er mit seiner Erklärung fort und zündete ihre Zigaretten an. „Darum kann ich Ihre Mitarbeit nicht anordnen, aber Sie werden es nicht bereuen. Ich habe Sie gut studiert und bin zu dem Schluss gekommen, dass Sie sehr gut dafür geeignet sind.“

Es ging darum, einen Mord an einem korrupten, hohen Bediensteten in der portugiesischen Verwaltung auszuführen. Ein Bediensteter, der ein politisches Risiko darstellte.

Aber es würde sich zeigen, dass der Grund kein politischer war.

Der Major wusste, dass Dr. António Campos, wie der Mann hieß, zu Hause ein kleines Vermögen verwahrte. Geld, an das er nicht mit sauberen Händen gekommen war.

Es war regelrecht ein rücksichtsloser Raubmord, den Major de Macedo geplant hatte und bei dem er sie dabeihaben wollte. Aber das sagte er nicht so direkt. Aber sie waren lang genug dabei, um es zu verstehen, doch auch sie sagten nichts, nicht einmal untereinander. Der Major würde beim Coup selbst dabei sein und die Belohnung würde reichlich sein. Vielleicht zehntausend Dollar pro Person. Auch daran waren sie gewöhnt. Wenn es bei einem Auftrag etwas zu plündern gab, taten sie es, aber es waren nie derartig hohe Summen.

Für Geld zu töten war den drei Söldnern nicht fremd. Und es war nicht schwer, sie zu überreden.

 

Das Haus stand auf einem Hügel am Rande des hippen Teils von Luanda. Es stand allein am Ende einer schwach beleuchteten Allee, in der sämtliche Häuser von ummauerten Gärten umgeben waren. Die ganze Gegend war geprägt von belaubtem, künstlich bewässerten Grün, im krassen Gegensatz zu den übrigen Teilen der Stadt und der ausgetrockneten Umgebung.

Das Haus war bewacht. Eine Wache stand am Tor, die andere patrouillierte auf dem Gelände. Der Major glaubte, dass sich im Haus eine dritte Wache befinden könnte.

Die Männer hatten den vom Regiment geliehenen Militärjeep in einer anderen Straße fünfhundert Meter entfernt geparkt. Während Major de Macedo im Auto wartete, verschwanden die drei Söldner Richtung Villa in der Dunkelheit. Oliver schlich sich hinter die Balustrade an der Auffahrt und näherte sich in ihrem Schutz dem Tor. Die Wache stand an einen Steinpfosten gelehnt im Tor unter einer Lampe. Es war viel zu hell. Oliver wartete ab. Nach einer Weile ging die Wache aus der Einfahrt raus und Oliver duckte sich ans Geländer. Er hörte Schritte in der Nähe. Es knirschte im Kies, dann wurde es still. Er lag still da und hörte, wie ein Streichholz angestrichen wurde, dann roch er Zigarettenrauch. Vorsichtig linste er über die Kante und sah gegen die Laterne die Silhouette des Mannes, der ein paar Meter von ihm entfernt rauchte. Er befand sich außerhalb des Lampenscheins im Dunkeln. Oliver spürte das Adrenalin durch seinen Körper pumpen – wie krabbelnde Ameisen an den Armen entlang bis zu den Fingerspitzen. Er wartete, bis die Wache ihm den Rücken zudrehte.

Im selben Augenblick sprang er über das Geländer, sprintete zu dem Mann und hielt ihm von hinten mit der linken Hand den Mund zu. Gleichzeitig hieb er ihm mit der anderen Hand das Bajonett schräg nach oben in den Brustkorb. Der Mann sank augenblicklich zusammen und Oliver zog ihn unter das Geländer. Oliver bemühte sich um eine ruhige Atmung. Das Blut rauschte durch seinen Körper und das vibrierende Geräusch an den Ohren und Schläfen war ohrenbetäubend. Wie in einem Stummfilm sah er seine zwei Kameraden über die Balustrade in den Garten rennen. Sein Kopf war leer. Reflexartig verließ er das Geländer und rannte hinter ihnen her.