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«Das Mysterium von Eleusis war das bestgehütete Geheimnis der Antike. Jedes Jahr, fast zwei Jahrtausende lang, zogen Wallfahrer auf der Heiligen Straße von Athen nach Eleusis, fasteten und umtanzten den der Göttin Demeter geweihten Brunnen im Vorhof des Heiligtums. Die Nacht verbrachten sie in der Mysterienhalle, einem großen fensterlosen Saal. Priester bereiteten einen 'heiligen Trank', den die Teilnehmer gemeinsam zu sich nahmen — und dann geschah es. Eine so unmittelbare und unaussprechliche Erfahrung, daß sie nur 'geschaut', aber nicht ausgesprochen werden durfte — bei strengen Strafen war es verboten, über das Erlebte zu berichten. Über zwei Jahrtausende haben sich die in Eleusis Initiierten daran gehalten, etwa die Philosophen Sokrates, Platon oder Aristoteles, der Tragödienautor Sophokles — alle waren sie nach Eleusis gepilgert.» Mathias Bröckers, tazPassend zur Ernennung des griechischen Eleusis zur UNESCO-Kulturhauptstadt 2023, machen wir mit diesem Reprint eines echten Klassikers der Drogenforschung einen gesuchten Band aus der Feder dreier Pioniere wieder verfügbar.
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Seitenzahl: 212
R. Gordon Wasson/Albert HofmannCarl A. P. Ruck
Das Geheimnis der Mysterien
Aus dem Amerikanischen übertragenvon Adrian Linder
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Verlag:
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FürRichard Evans Schultes,Ph. D., M. H. (Hon.)Pionier der Erforschung psychotroper Pflanzender Neuen Welt, Inhaber desPaul C. Mangelsdorf-Lehrstuhls für Naturwissenschaften,Direktor und Kuratorfür Ökonomische Botanik (Botanisches Museumder Harvard-Universität)
Vorwort
R. Gordon Wasson
Erstes Kapitel
Die Wassons auf dem Weg nach Eleusis
R. Gordon Wasson
Zweites Kapitel
Wassons Frage und meine Antwort
Albert Hofmann
Drittes Kapitel
Die Lösung des Eleusinischen Mysteriums
Carl A. P. Ruck
Viertes Kapitel
Ergänzende Daten
Fünftes Kapitel
Die Homerische Hymne an Demeter
Übersetzung nach Danny Staples
Sechstes Kapitel
Dokumentation
Carl A. P. Ruck
Zu den Abbildungen
Über die Eleusinischen Mysterien ist während so langer Zeit derart viel geschrieben worden, daß die vorliegende Publikation von Beiträgen zu diesem Thema nach einem Wort der Rechtfertigung verlangt. Fast zwei Jahrtausende lang wurde Jahr für Jahr (mit einer Ausnahme), sorgfältig abgeschirmt von der Außenwelt, in unserem Monat September das Mysterium gefeiert. Mit Ausnahme von Personen ›mit dem ungesühnten Blut eines Menschen‹ an den Händen stand die Teilnahme jedermann frei, der Griechisch sprach. Die Initianden durchlebten die Nacht im Telesterion von Eleusis unter der Leitung der beiden Hierophantenfamilien, der Eumolpiden und der Keryken, und sie gingen voller Staunen über die wunderbaren Erlebnisse wieder davon; wie einige von ihnen berichten, waren sie nie mehr dieselben wie zuvor. Die Zeugnisse über jene Nacht der ehrfurchtgebietenden Erfahrungen sind einmütig, und Sophokles spricht für die Eingeweihten, wenn er sagt: »Dreifach glücklich sind jene unter den Sterblichen, die, nachdem sie diese Riten gesehen, zum Hades schreiten; ihnen allein ist dort wahres Leben vergönnt. Für die übrigen ist da alles schlimm.« Äußerungen wie diese liegen in großer Zahl vor, doch bis jetzt wußte niemand, wodurch sie gerechtfertigt sein könnten. Darin sehen wir das Geheimnis der Eleusinischen Mysterien. Diesem Geheimnis haben wir – Carl A. P. Ruck, Albert Hofmann und ich – uns gewidmet und glauben nun die Lösung gefunden zu haben; nahezu 2000 Jahre nach der letzten Durchführung der Zeremonie und ungefähr 4000 Jahre nach der ersten.
Die ersten drei Kapitel dieses Buches waren ursprünglich Vorträge, die von den Verfassern am Freitag, den 28. Oktober 1977, während der ›Zweiten Internationalen Konferenz über Halluzinogene Pilze (Second International Conference on Hallucinogenic Mushrooms)‹ auf der Olympic Peninsula (Washington) gehalten wurden.
R. Gordon Wasson
Mit diesem Büchlein eröffnen wir ein neues Kapitel in der Geschichte der fünfzigjährigen Disziplin der Ethnomykologie; ein Kapitel, das erstmals und in umfassender Weise unsere eigene kulturelle Vergangenheit ins Blickfeld rückt: unser Erbe aus dem alten Griechenland. Ethnomykologie ist ganz einfach die Untersuchung der Rolle von Pilzen – im weitesten Sinn – in der Vergangenheit der menschlichen Rasse; sie ist ein Zweig der Ethnobotanik.
Die englische Sprache besitzt kein Wort zur Benennung der höheren Pilze. ›Toadstool‹ (›Krötenschemel‹; der gebräuchliche englische Name für größere Blätterpilze, mit der Konnotation der Giftigkeit) ist eine abwertende Bezeichnung, die all jene Pilzgewächse umfaßt, denen der Benützer zu Recht oder zu Unrecht mißtraut. ›Mushroom‹ (›Pilz‹, mit der Konnotation der Eßbarkeit) ist ein mehrdeutiges Wort, das für verschiedene Personen verschiedene Gebiete der Pilzwelt abdeckt. In der englischen Originalausgabe dieses Büchleins wird ›mushroom‹ für alle höheren Pilze verwendet. Nun, da endlich die Welt diese Pilzgewächse in all ihren Myriaden von Formen und Farben und Gerüchen und Konsistenzen kennenzulernen beginnt, wird vielleicht dieser neuartige Gebrauch einem Bedürfnis entsprechen und allgemein akzeptiert werden.1*
Wir haben uns zu dritt dieser Darstellung angenommen. Dr. Albert Hofmann ist der Schweizer Chemiker, der durch die Entdeckung des LSD im Jahr 1943 berühmt geworden ist, aber er besitzt darüber hinaus eine enzyklopädische Kenntnis der Pflanzenalkaloide und wird unsere Aufmerksamkeit auf einige ihrer Eigenschaften lenken, die für die Eleusinischen Mysterien bedeutsam sind.
Da wir es mit einem zentralen Thema der antiken griechischen Zivilisation zu tun haben, lag es auf der Hand, daß wir die Mitarbeit eines Gräzisten brauchten. Im richtigen Augenblick erfuhr ich von Professor Carl A. P. Ruck von der Universität Boston, der seit einigen Jahren bemerkenswerte Entdeckungen auf dem schwierigen Gebiet der griechischen Ethnobotanik macht. Viele Monate lang haben wir drei die hier vorgelegte These studiert, und Rucks Beitrag wird den Abschluß bilden. Die Homerische Hymne an Demeter ist die Quelle für den Mythos, der Eleusis zugrunde liegt; die neue Übertragung in diesem Band stammt von Danny Staples.2
Meine Aufgabe in diesem ersten Beitrag wird sein, auf bestimmte Merkmale des Kultes der Rauschpilze in Mexiko aufmerksam zu machen.
Im frühen zweiten Jahrtausend vor Christus wurden in Griechenland die Mysterien von Eleusis begründet, und von da an hielten sie die alljährlich am Ritual teilnehmenden Initianden in ihrem Bann. Absolutes Stillschweigen über die Vorgänge war Pflicht: die athenischen Gesetze sahen extreme Strafen für den Bruch der Geheimhaltung vor, aber in der gesamten griechischen Welt, weit über den Einflußbereich von Athens Rechtssprechung hinaus, wurde das Geheimnis während der Antike spontan gewahrt, und seit der Aufhebung der Mysterien im 4. Jahrhundert n. Chr. ist dieses Geheimnis zu einem integrierenden Element in der griechischen Altertumskunde geworden. Es würde mich nicht einmal überraschen, wenn gewisse Altertumsforscher das Gefühl bekämen, wir hätten uns eines empörenden Sakrilegs schuldig gemacht, indem wir das Geheimnis ans Licht zerrten. Am 15. November 1956 hielt ich vor der ›Amerikanischen Philosophischen Gesellschaft‹ einen kurzen Vortrag über den mexikanischen Pilzkult, und in der darauffolgenden mündlichen Diskussion deutete ich an, daß uns dieser Kult zur Lösung der eleusinischen Mysterien führen könnte. Kurz darauf schrieb mir ein berühmter englischer Archäologe, ein Griechenlandspezialist, zu dem ich etwa 35 Jahre das beste Verhältnis gehabt hatte, in einem kleinen Brief folgendes: »Ich glaube nicht, daß Mykene irgend etwas mit dem göttlichen Pilz zu tun hatte, und auch nicht die Eleusinischen Mysterien. Darf ich ein Wort der Warnung beifügen? Bleiben Sie bei Ihrem mexikanischen Pilzkult und hüten Sie sich davor, überall Pilze zu sehen. Ihr Vortrag in Philadelphia hat uns gut gefallen, und wir möchten Ihnen empfehlen, sich so eng an diese Linie zu halten, wie Sie können. Verzeihen Sie die Offenheit eines alten Freundes.« Leider ist er nun ›Zu den Schatten im Hades‹ eingegangen – doch vielleicht sollte ich froh sein, daß er sich nicht verletzt fühlen muß durch meine ›Unverschämtheit‹, seinen wohlgemeinten Rat in den Wind zu schlagen.
Meine verstorbene Gattin Valentina Pavlovna und ich waren die ersten, die den Begriff Ethnomykologie verwendeten, und während der letzten 50 Jahre sind wir eng mit den Fortschritten in dieser Disziplin verbunden geblieben. Um dem Leser eine Ahnung von der unserer neuesten Entdeckung innewohnenden Dramatik zu vermitteln, werde ich zu Beginn die Geschichte unseres ›Pilzabenteuers‹ rekapitulieren, das genau die letzten 50 Jahre umfaßt. Es macht weitgehend die Autobiographie der Familie Wasson aus und hat uns schließlich auf direktem Weg nach Eleusis geführt.
Gegen Ende August 1927 verbrachten meine damalige Braut und ich unsere verspäteten Flitterwochen in einem Chalet in Big Indian in den Catskills, das uns vom Verleger Adam Dingwall zur Verfügung gestellt worden war. Sie war in Moskau geboren und entstammte einer Familie der russischen ›Intelligenz‹. Im Sommer 1918 war Tina im Alter von 17 Jahren mit ihrer Familie aus Rußland geflohen. Sie bildete sich an der Universität von London zur Ärztin aus und eröffnete nach harter Arbeit ihre Kinderklinik in New York. Ich war ein Zeitungsmann in der Finanzabteilung der Herald Tribune. An jenem ersten schönen Nachmittag unseres Urlaubs in den Catskills spazierten wir Hand in Hand einen Weg entlang, glücklich wie die Lerchen, alle beide überschäumend vor Lebensfreude. Rechts von uns war eine Lichtung, linkerhand ein Bergwald.
Plötzlich ließ Tina meine Hand los und schoß wie ein Pfeil in den Wald hinein. Sie hatte Pilze erblickt, eine Riesenmenge von Pilzen verschiedener Arten, die den Waldboden bevölkerten. Sie schrie fast vor Freude über die Schönheit dieser Pilze und sprach jede Art mit einem liebevollen russischen Namen an. Eine solche Pracht hatte sie nicht mehr gesehen, seit sie vor beinahe einem Jahrzehnt die Datscha ihrer Familie bei Moskau verlassen hatte. Sie kniete vor diesen Schwämmen3 in Anbetungsposen wie die Heilige Jungfrau vor dem Engel der Verkündigung und begann einige davon in ihrer Schürze zu sammeln. Ich rief ihr zu: »Komm zurück, komm zurück zu mir! Die sind giftig und faul. Das sind Giftpilze.4 Komm zurück zu mir!« Sie lachte nur noch mehr: für immer wird ihr fröhliches Lachen in meinen Ohren klingen. An jenem Abend würzte sie die Suppe mit den Pilzen, sie garnierte das Fleisch mit Pilzen, sie zog Pilze an Fäden auf und hängte sie zum Trocknen, für den Winter, wie sie sagte; meine Verwirrung war vollständig. Ich aß an jenem Abend keine Pilze. Außer mir und zutiefst verletzt, gab ich mich wilden Gedanken hin: Ich sagte ihr, ich würde als Witwer aufwachen.
Es stellte sich heraus, daß sie recht hatte und ich nicht. Die besonderen Umstände dieser Episode scheinen den Lauf unseres Lebens geprägt zu haben. Wir begannen, bei unseren Landsleuten nachzufragen; sie bei den Russen und ich bei den Angelsachsen. Rasch fanden wir, daß unsere individuellen Einstellungen typisch für unsere Völker waren. Dann fingen wir an, Informationen zu sammeln, zuerst langsam, zufällig, mit Unterbrechungen. Wir stellten unseren jeweiligen Wortschatz für Pilze zusammen: der russische war ›endlos‹ und ist heute noch nicht vollständig; der englische war im wesentlichen auf drei Wörter beschränkt, von denen zwei nur ungenau definiert werden –, toadstool, mushroom, fungus.5 Die russischen Dichter und Romanciers erzählten in ihren Schriften oft von Pilzen und immer in einem liebevollen Kontext. Einem Fremden muß es vorkommen, als ob jeder russische Poet Verse über das Pilzesammeln schriebe, sozusagen als Prüfungsritual, um ernst genommen zu werden! In der englischen Literatur findet das Thema ›Pilze‹ fast kein Interesse: Chaucer und Milton erwähnen sie gar nicht, die übrigen selten. Für Shakespeare, Spenser, William Penn, Laurence Sterne (besonders viele Belege), Shelley, Keats, Tennyson, für Edgar Allan Poe, D. H. Lawrence und Emily Dickinson sind ›mushroom‹ und ›toadstool‹ unangenehme, sogar ›widerliche‹ Bezeichnungen. Wenn unsere Dichter sie überhaupt erwähnen, bringen sie sie mit Zerfall und Tod in Verbindung.
Wir begannen unsere Netze weiter zu spannen und dehnten unsere Untersuchungen auf alle Völker Europas aus, nicht nur auf die Deutschen, Franzosen und Italiener, sondern ganz besonders auch auf die Randkulturen außerhalb des Hauptstroms, wo archaische Formen und Glaubensinhalte am längsten überleben – die Kulturen der Albaner, Friesen, Lappen, Basken, Katalanen und Sardinier, Isländer und Färöer, und natürlich die der Ungarn und Finnen. Bei allen unseren Erkundigungen hielten wir nicht die Gebildeten, sondern die einfachen und ungeschulten Bauern für unsere besten Gewährsleute. Wir erforschten ihre Kenntnis der Pilze und die Verwendungen, die sie dafür hatten, wobei wir sorgfältig darauf achteten, auch die von Lexikographen oft vernachlässigten erotischen und ›schlüpfrigen‹ Nebenbedeutungen der Wörter zu notieren. Wir überprüften die gebräuchlichen Namen für Pilze in all diesen Kulturen und suchten nach den fossilen Metaphern, die in ihren Etymologien verborgen lagen, um herauszufinden, was diese Metaphern ausdrückten und ob aus ihnen eine positive oder eine negative Einstellung gegenüber den Pilzen, unseren ›erdnahen Geschöpfen‹, herauszulesen war. Eine unbedeutende Angelegenheit, mag man einwenden, dieser Unterschied in der emotionellen Einstellung zu wilden Pilzen. Aber meine Frau und ich dachten nicht so und brachten jahrzehntelang die meisten unserer freien Stunden damit zu, diesen Unterschied zu analysieren, zu definieren und auf seinen Ursprung zurückzuführen. Entdeckungen, wie wir sie gemacht haben, einschließlich der Wiederentdeckung des religiösen Bedeutungsgehalts der halluzinogenen Pilze von Mexiko, können der Faszination zugeschrieben werden, die sich für meine Frau und mich aus der kulturellen Verschiedenheit unserer beiden Völker ergab und uns zu der Unterscheidung von ›Mykophilie‹ und ›Mykophobie‹ brachte (Begriffe, die wir für unsere Einstellungen einführten), nach denen wir die indoeuropäischen Völker in zwei Lager einteilen. Wenn diese unsere Hypothese falsch sein sollte, dann doch wohl auf einzigartige Weise, da sie solche ›Früchte‹ getragen hat. Aber sie ist nicht falsch! Dank der enormen Fortschritte in der Erforschung der menschlichen Psyche, die in diesem Jahrhundert gemacht wurden, ist heute allgemein bekannt, daß tiefliegende, früh im Leben erworbene Einstellungen von immenser Wichtigkeit sind. Daraus ergeben sich folgende Überlegungen: Wenn solche Merkmale die Einstellung ganzer Stämme oder Völker anzeigen und über die gesamte aufgezeichnete Geschichte hinweg unverändert geblieben sind – und besonders dann, wenn es bei benachbarten Völkern Merkmalsunterschiede gibt – dann stehen wir einem Phänomen mit weitreichenden kulturellen Implikationen gegenüber, dessen eigentlicher Ursprung nur in den ältesten Quellen der Kulturgeschichte zu finden ist. Unsere Karteien und unsere Korrespondenz nahmen immer mehr an Umfang zu, und schließlich, irgendwann anfangs der vierziger Jahre, setzten wir uns zusammen, Tina und ich, und fragten uns, was wir mit all unseren Daten machen sollten. Wir entschlossen uns, ein Buch zu schreiben, aber unser Beweismaterial enthielt so viele Lücken, daß es noch Jahre dauern sollte, bevor wir etwas zu Papier bringen konnten. Bei unseren damaligen Gesprächen stellten wir fest, daß sich unsere Gedanken in dieselbe Richtung bewegt hatten, doch waren wir zu scheu gewesen, sie auch nur dem anderen gegenüber zur Sprache zu bringen: sie waren allzu phantastisch. Beide hatten wir Einblick gewonnen in eine längst vergangene Zeit, lange bevor unsere Vorfahren die Schrift kannten; eine Zeit, in der jene Vorfahren einen Pilz als Gottheit oder Quasi-Gottheit betrachtet haben mußten. Wir wußten nicht, um was für einen Pilz oder um was für Pilze es sich handelte, und ebensowenig kannten wir den Grund dafür. In den Tagen des Frühmenschen war dessen Welt von religiösen Gefühlen durchwoben, und die unsichtbaren Kräfte hielten ihn in Bann. Unser heiliger ›Pilz‹ mußte wirklich wundersame Eigenschaften besessen haben, er mußte Ehrfurcht und Anbetung, Angst, ja Schrecken hervorgerufen haben. Als jener frühzeitliche Kult neuen Religionen und neuartigen, mit der schriftlichen Kultur aufkommenden Lebensweisen Platz machte, überlebten die vom alten Kult geweckten Emotionen, abgeschnitten von ihren Wurzeln. In einem Gebiet lebten Furcht und Schrecken weiter, entweder vor einem bestimmten Pilz (wie im Fall von Amanita muscaria) oder, auf Grund einer Entschärfung des emotionellen Brennpunktes durch Tabuisierung, vor ›Giftpilzen‹ (›toadstools‹) im allgemeinen; in einem anderen Gebiet war es aus bisher unbekannten Gründen der Geist der Liebe und Anbetung, der überlebte. Hier mußte die Erklärung des von uns entdeckten Gegensatzes zwischen Mykophobie und Mykophilie liegen. (Übrigens war im Englischen ›toadstool‹ ursprünglich der Artname für Amanita muscaria, den Götterpilz, dessen Schönheit seiner Göttlichkeit nicht nachsteht. Durch Tabuisierung verlor ›toadstool‹ seine Spezifität und umfaßt nun die gesamte Klasse der Pilze, die der Mykophobe scheut.)
Es war in Mexiko, wo unsere Suche nach einem ›hypothetischen‹ heiligen Pilz erstmals zu einem Ziel führte. Am 19. September 1952 erhielten wir mit der Post zwei Briefe aus Europa: der eine kam von Robert Graves und enthielt einen Ausschnitt aus einer pharmazeutischen Zeitschrift mit Zitaten von Richard Evans Schultes, der wiederum Berichte einer Anzahl spanischer Mönche über einen merkwürdigen Pilzkult unter den Indianern Mittelamerikas erwähnte; der zweite war von Giovanni Mardersteig, unserem Drucker in Verona, der uns seine Skizze eines seltsamen archäologischen Objekts aus Mittelamerika sandte. Es war im Zürcher Rietberg-Museum ausgestellt. Der Gegenstand war aus Stein, etwa 30 Zentimeter hoch, offensichtlich ein Pilz, auf dessen Strunk oder (in der Sprache der Mykologen) Stiel ein strahlendes Wesen eingemeißelt war. Vielleicht hatten wir hier ganz in unserer Reichweite genau den Kult, nach dem wir suchten. Zuvor hatten wir uns entschieden, Amerika und Afrika bei unseren Forschungen auszulassen: die Welt war zu groß, und wir hatten alle Hände voll zu tun mit unseren Untersuchungen in Eurasien. Aber im Nu änderten wir unsere Absichten und die Richtung unserer Studien: wir konzentrierten uns auf Mexiko und Guatemala. Wir hatten einen wilden Pilz als Brennpunkt religiöser Anbetung postuliert – eine phantastische Annahme. Nun war er da, sozusagen vor der Haustür. Jenen ganzen Winter durchstöberten wir die Texte der spanischen Mönche des 16. Jahrhunderts, und welch ungewöhnliche Berichte gaben sie uns! Im Sommer des Jahres 1953 und noch viele Regenzeiten danach flogen wir hinunter nach Mexiko. Dank der großartigen Mitarbeit von jedermann dort gelang uns in der Nacht vom 29. auf den 30. Juni 1955 schließlich der Durchbruch: mein Fotograf und Freund Allan Richardson und ich nahmen mit unseren indianischen Freunden an einem mitternächtlichen Agapemahl teil, das durch eine Schamanin von außerordentlichem Rang geleitet wurde. Die Teilnahme eines Menschen anderer Rasse an einer solchen »Kommunion« konnte nun erstmals auch ›belegt‹ werden. Es war eine ›seelenerschütternde‹ Erfahrung. Die ›verrückte‹ Vermutung, die wir uns Jahre zuvor zuzuflüstern gewagt hatten, war endlich bestätigt worden. Und nun, beinahe ein Vierteljahrhundert später, sind wir in der Lage, einen anderen Pilz, Claviceps purpurea, als Schlüssel zum Geheimnis der Eleusinischen Mysterien anzubieten.
Daß es einen gemeinsamen Nenner zwischen dem mexikanischen Pilzmysterium und dem Mysterium von Eleusis geben könnte, war mir sogleich in den Sinn gekommen. Beide erweckten ein überwältigendes Gefühl der Ehrfurcht, des Wunders. Ich will die Diskussion von Eleusis Professor Ruck überlassen, aber ich möchte einen einzigen antiken Autor zitieren, Aristides den Rhetor, der im 2. Jahrhundert n. Chr. für einen Augenblick den Vorhang lüftete, als er sagte, was der Eingeweihte erfahre, sei ›neu, erstaunlich, der rationalen Erkenntnis unzugänglich‹, um dann fortzufahren: »Eleusis ist ein der ganzen Erde gemeinsames Heiligtum, und von allen göttlichen Dingen, die es unter den Menschen gibt, ist es das ehrfurchtgebietendste und das leuchtendste. An welchem Ort der Erde wurden wunderbarere Botschaften gesungen, und wo erweckten die Dromena größere Gemütsbewegung, wo gab es größere Rivalität zwischen Sehen und Hören?« (Hervorhebung von mir.) Und weiter spricht er von den ›unaussprechlichen Visionen‹, die zu empfangen das Vorrecht vieler Generationen glücklicher Männer und Frauen gewesen war.
Diese Beschreibung entspricht Punkt für Punkt der Wirkung des zentralamerikanischen Pilzrituals auf den Eingeweihten, bis hin zur ›Rivalität‹ zwischen Sehen und Hören. Die Gesichte nämlich, die man sieht, nehmen rhythmische Konturen an, und das Singen der Schamanin scheint sichtbare und farbige Gestalt zu erhalten.
Es scheint, daß es bei den Griechen eine Redewendung gab, wonach Pilze die ›Speise der Götter‹, broma theon, waren, und in einem Porphyrios-Zitat werden sie ›Zöglinge der Götter‹, theotrōphos, genannt. Die Griechen der klassischen Zeit waren Mykophoben. War nicht der Grund dafür, daß ihre Vorfahren das Gefühl hatten, alle Pilze seien ›durch Affinität‹ von der Aura des einen heiligen Pilzes angesteckt und müßten deshalb von den Sterblichen gemieden werden? Haben wir es nicht mit einem ursprünglichen religiösen Tabu zu tun?
Ich will nicht behaupten, daß allein diese Alkaloide (wo immer sie in der Natur zu finden sind) Visionen und Ekstase hervorrufen. Ganz klar haben offenbar gewisse Dichter und Propheten, aber auch viele Mystiker und Asketen ekstatische Visionen empfangen, die den Ansprüchen der antiken Mysterien genügen und auch der Pilz-Agape von Mexiko entsprechen. Ich behaupte nicht, der Heilige Johannes von Patmos habe Pilze gegessen, um das Buch der Offenbarung zu schreiben. Aber die Abfolge der Bilder in seiner Vision, so klar geschaut und doch eine solche Phantasmagorie, bedeutet für mich, daß er im selben Zustand war, den ein ›Pilz-Rausch‹ hervorruft. Ebensowenig unterstelle ich auch nur für einen Augenblick, William Blake habe ›den Pilz‹ gekannt, als er diesen vielsagenden Text über die Klarheit des ›Sehens‹ verfaßte: »Was sie in der Vision gesehen, beschreiben die Propheten als wirkliche und existierende Menschen, die sie mit ihren imaginativen und unsterblichen Organen sahen; desgleichen die Apostel: je klarer das Organ, um so bestimmter das Objekt. Ein Geist und eine Vision sind nicht, wie die moderne Philosophie annimmt, ein wolkiger Dunst oder ein Nichts: sie sind geordnet und genauestens artikuliert, mehr als alles, was sterbliche und vergängliche Natur hervorbringen kann. Wer sich seine Vorstellungen nicht in stärkeren und besseren Zügen macht, und in stärkerem und besserem Licht, als sein vergängliches Auge sehen kann, der macht sich überhaupt keine Vorstellungen.« (Hervorhebungen von mir. Aus The Writings of William Blake, hrsg. v. Geoffrey Keynes, vol. III, p. 108). Jemandem, der nicht Blakes Gesichte hatte oder nie den Pilz zu sich nahm, müssen diese Worte rätselhaft vorkommen. Der Vorteil des Pilzes ist, daß er vielen, wenn nicht gar jedermann, diesen Zustand zugänglich macht, ohne die Kasteiungen eines Blake oder eines Johannes erleiden zu müssen. Er erlaubt es, klarer als mit unserem vergänglichen, sterblichen Auge, Blicke über die Horizonte dieses Lebens hinaus zu werfen, rückwärts und vorwärts durch die Zeit zu reisen, andere Ebenen der Existenz zu betreten, ja sogar (wie die Indianer sagen), Gott zu erkennen. Es dürfte kaum überraschen, daß vor allem das Gemüt zutiefst betroffen wird, und man fühlt, wie ein unauflösliches Band alle miteinander verbindet, die an der heiligen Agape teilgenommen haben. Alles, was man während dieser Nacht sieht, hat eine ursprüngliche Qualität: die Landschaft, die Gebäude, die Schnitzereien, die Tiere – sie sehen aus, als seien sie geradewegs aus der Werkstatt des Schöpfers gekommen. Diese Neuheit aller Dinge – es ist, als ob die Welt gerade erst begonnen hätte – überwältigt einen, und man wird verschmelzen mit ihrer Schönheit. Verständlicherweise erscheint einem alles, was geschieht, als beschwert mit Bedeutung, neben der das alltägliche ›Einerlei‹ trivial wirkt. All diese Dinge sieht man mit einer Deutlichkeit, die einen dazu bringt, zu sich selbst zu sagen: ›Nun sehe ich zum ersten Mal, zum ersten Mal kann ich direkt sehen, ohne daß sterbliche Augen dazwischentreten!‹
Platon sagt uns, daß es jenseits dieser vergänglichen und unvollkommenen Welt hienieden eine andere, ideale Welt der Archetypen gibt, in der das ursprüngliche, das wahre, das schöne Urbild der Dinge in Ewigkeit besteht. Dichter und Philosophen haben während Jahrtausenden über diese Auffassung nachgedacht und diskutiert. Mir ist klar, wo Platon seine ›Ideen‹ fand; ebenso klar war es jenen unter seinen Zeitgenossen, die in die Mysterien eingeweiht waren: Platon hatte im Tempel von Eleusis vom Trank genossen und die Nacht im Bann der großen Vision verbracht.
Und die ganze Zeit, während der man solches sieht, singt in Mexiko die Priesterin; nicht laut, aber mit großer Würde. Die Indianer stellen seit jeher nicht gerne innere Gefühle zur Schau – außer bei diesen Gelegenheiten. Der Gesang ist schön, aber unter dem Einfluß des Pilzes kommt er einem unendlich zart und sanft vor. Es ist, als hörte man ihn mit dem Ohr des Geistes, befreit von allem Unreinen. Man liegt auf einer petate oder Matte; vielleicht, wenn man klug war, auf einer Luftmatratze und in einem Schlafsack. Es ist dunkel, denn alle Lichter sind gelöscht worden außer ein paar glühenden Kohlen auf den Steinen am Boden und dem Räucherwerk auf einer Scherbe. Es ist still, denn die strohgedeckte Hütte ist meist ein Stück weit vom Dorf entfernt. In der Dunkelheit und Stille schwebt jene Stimme durch die Hütte; einmal hört man sie aus der Richtung seiner eigenen Füße herkommen, dann direkt beim Ohr, nun wieder aus einiger Entfernung und dann wahrhaftig unter sich, mit einer fremdartigen bauchrednerischen Wirkung. Auch diese Illusion bewirken die Pilze. Jedermann erfährt sie, genau so wie die Eingeborenen von Sibirien, die Amanita muscaria gegessen haben und im Bann ihrer Schamanen liegen, während diese ihr erstaunliches Geschick mit bauchrednerischen Trommelschlägen vorführen. In Mexiko hörte ich, wie eine Schamanin auf entsprechende Weise eine höchst komplexe Wirkung erzielte: mit den Händen schlug sie sich auf die Brust, die Schenkel, die Stirn, die Arme, die in je eigenen Resonanzen ertönten; dabei hielt sie einen komplizierten Rhythmus und modulierte die Schläge bis hin zur Synkopierung. Der Körper liegt im Dunkeln, schwer wie Blei, aber der Geist scheint sich hinaufzuschwingen und die Hütte zu verlassen und gedankenschnell zu reisen, wohin er will in Zeit und Raum, begleitet von dem mit scharfen Ausrufen durchzogenen Gesang der Schamanin. Was man sieht und was man hört, erscheint als eins: die Musik nimmt harmonische Umrisse an, die ihren Harmonien sichtbare Form geben, und was man sieht, ist der Modalität der Musik unterworfen – der Musik der Sphären. ›Wo gab es größere Rivalität zwischen Sehen und Hören?‹ Wie treffend ließ sich die rhetorische Frage des alten Griechen auf die mexikanische Erfahrung anwenden! Sämtliche Sinne sind gleichermaßen betroffen: die Zigarette, mit der man von Zeit zu Zeit die Spannung der Nacht ›durchbricht‹, riecht, wie nie zuvor eine Zigarette gerochen hat; ein Glas gewöhnlichen Wassers ist unendlich viel besser als Champagner. An anderer Stelle schrieb ich einmal, die ›pilzberauschte‹ Person schwebe im Raum; ein körperloses Auge, unsichtbar, unstofflich; sehend, aber selber unsichtbar. In Wirklichkeit befinden sich alle fünf Sinne in körperlosem Zustand, alle eingestimmt auf höchste Sensitivität und Bewußtheit, und alle gehen auf seltsamste Art ineinander über, bis man, völlig passiv, zum reinen, unendlich feinen Empfänger von Eindrücken wird.
Während der Körper daliegt, ist die Seele frei, verliert jedes Gefühl für die Zeit; wach wie nie zuvor durchlebt sie eine Ewigkeit in einer Nacht und sieht die Unendlichkeit in einem Sandkorn. Was man gesehen und gehört hat, ist unauslöschlich im Gedächtnis eingeprägt. Endlich weiß man, was das Unsagbare ist, und was Ekstase bedeutet. Ekstase! Der Geist kehrt zu den Ursprüngen dieses Wortes zurück. Für die Griechen bedeutete ekstasis den Flug der Seele aus dem Körper.